2006

 

3. Januar 2006, Paris

 

Morgen sind meine neuen Bücher in den französischen Buchhandlungen. Und schon kündet sich ein wahrer Sturm im Blätterwald an, ich meine die Kritiken, große Namen, große Plazierungen. Heute abend spricht Beigbeder auf Canal + über mich, es folgen Beiträge in den Sendern France 2 und France 3 und so fort, Sophie Patey (Pressefrau bei Actes Sud) spricht von einem literarischen Ereignis und was die Journalisten betrifft, von meinem Fanclub.

 

Ich hab mir, im Unterschied zu Handke, meinen Namen in Frankreich gemacht, denn als ich, vor nun dreißig Jahren, hier ankam, ging mir in französischen Augen kein Ruf und schon gar kein Ruhm voraus. Und so bin ich ein Pariser Schriftsteller geworden.

 

Was nun die Gleitenden Plätze betrifft, zu welchen ich mich unterm Thema ERSTLING für eine Berliner Zeitschrift mit Namen Lose Blätter äußern sollte, fällt mir ein, daß das in meinen heutigen Augen leicht »Landwirtschaftliche« oder (anders gesagt) Dampfwolkige, daß ein gewisser Überhöhungseifer, Rundungswille, Glaubensfanfarenton – ich meine etwas Unglaubwürdiges, den Dämpfer – daher rühren, daß ich diese Kurzprosa, Skizzen oder auch nur Fingerübungen als ein in einem bürgerlichen Korsett Gefesselter mit Beruf Museumsassistent und Zivilstand Familienvater schrieb und nicht als Künstler. Sie sind im übrigen alles anders als impressionistisch.

»Schatten auf Rasen« und »Ekklesia ländlich« sind am Rande des Surrealistischen, letzteres mit Ausflügen ins Groteske, »Flugmeeting am Sonntag vormittag« und »Wunschplatz Friseursalon« sind mit einem existentialistischen Hauch versehen oder eingetuscht (?), »Frau Leben« ist schon fast beschämend, nämlich programmatisch optimistisch. Oder täusche ich mich?

Alles ist Antritt. Alles ist Ansage. Und dennoch sollte dieses erste kleine Buch vor allem eine Stilprobe sein. Das geknebelte Ich und der Stilwille. Erst als ich mich aus den Knebelungen freimachte, in Rom, und alles mögliche über den Haufen warf und mich aussetzte und einen Mund und eine Nase voll Künstlerleben und entsprechende Freiheit schnappte, wurde das Egotistische und Egomanische und überhaupt die Entdeckung der Größe Ich glaubhaft. Doch um dieses Ich schriftlich unverschämt am Nacken zu packen und auf der Maschine hinzurattern, bedurfte es einer psychischen Aufladung (der Batterie) und einer (existentiellen) Notlage, und beides verschaffte ich mir in Barcelona in und mit der Liebesgeschichte mit Antonita und dem daraus folgenden bürgerlichen Trümmerhaufen. Und damit war die Voraussetzung für die Künstlerfreiheit gegeben.

Ja, Richard Stange hatte recht, wenn er mir in puncto Die gleitenden Plätze vorwarf, ich habe nicht die Dinge an sich, nicht das, was in meinem Sinne Leben heißen möge, sondern einzig deren Widerspiegelung in einer Gefühlswolke versprachlicht. Stange war Kritiker und Theaterschreiber und eine Art gescheiterte Existenz (als Schreibender), doch ein blitzgescheiter und boshafter Richter in Basel. Womöglich auch Trinker. Sein Einspruch ist in mir steckengeblieben trotz der Lobgesänge von seiten Frischs, Ingeborg Bachmanns, Carl Seeligs und Armin Kessers.

27. Januar 2006, Paris

 

Daß Höhlu nicht mehr ist. Er liegt in Beckenried begraben. Möchte sein Grab aufsuchen, möchte mich nach seinem Sterben erkundigen. Wir waren als Schüler ein Brüderpaar. Wir teilten den Traum des jugendlichen Lebensantritts, wenn möglich als Künstler. Oder wir träumten den Traum vom großen Abenteuer, Welteroberung, Liebestribut. Wir wuchsen beide nur halb behütet heran. Seine Eltern waren Diplomaten im Ausland, mein Vater war tot, anstelle einer Familie die Studentenpension, das Frauenhaus. Neulich in Genf dachte ich an unsere Radfahrt zu seiner Genfer Tante, die wir radelnd Tante Knarke/Knarke nannten. Sie wohnte nobel in der Genfer Altstadt, wo sie uns beherbergte. Hohl kam aus einer Art Oberklasse, ich aus unklaren Verhältnissen. Er kannte keine Geldsorgen, er hatte seinen Monatswechsel; ich verdiente mir mein Taschengeld mit Freizeit- und Ferienjobs. Beide heirateten wir früh, beide als Studenten. Er wurde wie der Vater Diplomat, später Botschafter wie jener. Ich studierte als Werkstudent und verlor nie die innere Gewißheit oder den tiefen Wunsch nach Dichterleben aus den Augen, bei allen Beschwerungen nie. Ich diente mich in harten Anläufen an meine Sache heran. In seinen Augen mochte es aussehen, als nähme ich das verflixte Kreuz auf mich. Während er ein heimlicher Schreiberling blieb, neben seiner Karriere, die ihn in gesellschaftliche Kreise entführte, die mir suspekt waren. Irgendwie mochte es so aussehen, als föchte ich für uns beide den Kampf aus. Wir entfernten uns und blieben innerlich unverbrüchlich geeint. Geeint? Ich nahm ihm sein Blendertum übel, das ja nur tiefe Konflikte überglänzte. Oder verbarg. Sein Gelächter übertönte und kaschierte etwas wie Verrat. Das war viel später. In der Schule, als wir uns der Matura und dem Eintritt ins Freie näherten, teilten wir dasselbe Wünschen, dasselbe Großhabenwollen des Lebens. Er bot mir in meinen klandestinen Verunsicherungen Schutz an. Ich war ausgesetzt, er war ein Prätendent mit Absicherungen. Wir waren ein Brüderpaar. Wir hatten uns erwählt. Wahlverwandte waren wir. Und blieben es im Inneren.

29. Januar 2006, Paris

 

Die Lethargie, eine latente Depression möglicherweise, die mich lebenslang in Abständen erfaßt und schlechterdings aktionsunfähig macht, ich habe darüber in verschiedenen Büchern nachgedacht, insbesondere im Bauch des Wals, ich komme darauf zu sprechen im Zusammenhang mit der Forelle, genauer gesagt mit Doris Krockauers Replik auf die Lektüre des Buchs. Sie meint, daß ich einmal mehr die Ursache der Krise – und um Krisenbehebung gehe es in allen meinen Büchern, die Krise ein literarisches Movens – nicht benannt, nicht charakterisiert, vielmehr verschwiegen habe, ausgespart. Ich dachte, die Krise sei die Verstoßung aus der Liebe, wenigstens habe ich diesen Hintergrund für das Umgetriebensein oder Leiden des armen Frank Stolp deklariert. Nun lese ich in Elisabeth Plahutniks Notizen in Verbindung mit einem biographischen oder monographischen Vorhaben zu meiner Person, sie habe von Anfang an die Vermutung gehabt, daß mein Auftreten, meine Erscheinung, Allüre, ein maßgeschneidertes Kostüm oder Tarnkleid sei, um eine tiefe, in frühkindlichen Umständen erlittene Beschädigung zu verbergen, und diese Tarnung gehe so weit, daß sie sich auch in den Büchern niederschlage, insofern die Erzählerperson überhaupt nicht mit der Lebensperson übereinstimme. Phänomen einer Rolle. Sie nimmt an, daß die weitestgehende Vaterferne und ein mütterlicherseits übergroßer Mangel an Zärtlichkeit, zärtlicher Zuwendung oder Aufmerksamkeit, den kleinen Pablo in eine vorzeitige und über die Kräfte gehende Autonomie verstoßen und daß die Autonomie sehr früh in eine Umerfindung des Ichs umgeschlagen habe, eine Selbsterfindung als Wappnung. Wäre dem so, dann käme die eingangs erwähnte und in meinen Büchern omnipräsente Gefahr der Lethargie bis Depression aus solchem Grundmanko, einer quasi angeborenen oder früh empfangenen Weltverlorenheit, Hinfälligkeit, Grundtrauer. Und der Lebemensch, Frauenmann, Betörer bis Triumphator sei Kompensation des Mangels oder eben Tarnung. Hier die brüchige Selbsterfindung, das Kämpferische bis Arrogante, Ichbezogenheit bis Egomanie, Liebesunfähigkeit. Was dazugehört, wäre mit Verausgabung bis Erschöpfung zu benennen. Der Packen ist ihm zu schwer geworden. Und im Grunde handelte die Forelle vor dem Hintergrund des Liebesverlustes von dieser Last und dem heroischen Versuch, sie abzuwerfen in einem hochakrobatischen Akt des Entfliegens, was auch Entkommen, Entschwerung, Erlösung heißen darf.

Ich komme auf diese Problematik zu sprechen, weil ich einmal mehr und jetzt inmitten eines niegekannten Erfolgs mit den beiden französischen Büchern in diese Lethargie falle, eine lähmungsähnliche Verwahrlosung, gegen die ich lebenslang ankämpfe; und weil ich etwa im Unterschied zu einem schon fast in Goetheschem Sinne allseitig offenen, unermüdlich schöpferischen, viele Anlagen auslebenden Handke der Inbegiff des Vernagelten und innerlich Eingekerkerten darstelle. Ja, das sorgsam Ausgesparte meiner Bücher, sind sie Krankenberichte im tiefsten? Es ist merkwürdig, daß sowohl Doris Krockauer wie Elisabeth Plahutnik als einzige ein Mitgefühl aufbringen für das hinter meinem Schreiben verborgene und dieses in Gang setzende, jedoch mit beträchtlichem Leiden verbundene, schreiende Unrecht, könnte ich sagen, das dem Menschen meines Namens in der ersten Frühe angetan sein muß und ihm den Packen aufbürdete.

4. Februar 2006, Paris

 

À propos Die gleitenden Plätze

Bei einem meiner letzten Besuche in Bern hielt ich mich an der Tramhaltestelle Helvetiaplatz auf und betrachtete den Eingang zum Historischen Museum. Und ich sah die »Schatten auf Rasen«, und ich fühlte dieselbe Verunsicherung wie dereinst. Die Schatten höhlten die grasige Oberfläche aus und eröffneten dem Auge (oder dem Sinnen) eine unsichtbare und möglicherweise bedrohliche Unterwelt, die Abgründigkeit … Es war das Umkippen des Realen ins Unfaßbare. Das Auge des Betrachters erlag dem Sog einer uneinschätzbaren (darunterliegenden) Ungeheuerlichkeit, so etwas war es: eine Art inneres Absacken.

Und ich stand, stand vor dem Portal und erfuhr das Schaudern wie dereinst. Vermutlich hatte sich das Auge von damals vor mein heutiges Auge geschoben. Ich will damit sagen: Ich war der damalige Assistent einen Moment lang, und sagte mir: Mensch, es ist nicht einfach ein Herüberwinken von Vergangenheit, ich bin dieser andere, nichts ist gelöst, das Gestern ist heute, nur daß inzwischen ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Ich erfuhr also nicht nur die Verunsicherung von vor einem halben Jahrhundert, sondern das Ich war mühelos austauschbar mit demjenigen von damals. Also erfuhr ich auch mühelos die Verunsicherung des eigenen Ichs. Warum nicht? Ist denn nicht die Fremdheit der Welt, die Fremdheit oder besser die Befremdung angesichts der fraglichen Größe Wirklichkeit unausgesöhnt die immergleiche? Und sie ist der Ansporn für das dichterische Vergegenwärtigen geblieben, Ansporn zum Versprachlichen oder sprachlichen Übersetzen, auch Aneignen mitsamt den Löchern oder eben Schatten des Ungeheuerlichen, und indem ich in ebendiesen immerselben Nöten und Anforderungen verhaftet bleibe, künstlerischen Aufgaben, könnte ich sagen, bleibe ich immer in der Gegenwart, insofern das Dichten mit Vergegenwärtigen zu tun hat, mit vergegenwärtigendem Anmichbringen des Daseins. Es geht nicht um Lösungen, es geht nicht um Dechiffrierungen, es geht um das Umgießen des Unerklärlichen (Befremdenden) in eine anschauliche Form des Befremdlichen oder Unbeantwortbaren, und dieser lebenslange Prozeß erbringt sprachliche Partituren einer in das Dasein verlorenen Existenz, Existenzschraffuren, in welchen sich die anderen wiedererkennen können.

10. Februar 2006, Paris

 

Neulich mit Igor auf die Frage gestoßen, wie ich zu dem Entscheid für die Kunstgeschichte gekommen bin. Genau wie Boris spielte ich mit dem Gedanken oder besser der Versuchung, das Gymnasium vorzeitig zu verlassen, weil ich (wie er) leben wollte und die Schule mich von dem Leben ausschloß, wie ich meinte. Allerdings wollte ich ein Dichterleben führen in der vagen Überzeugung, daß sich in einem solchen sowohl Freiheit und allergrößte Selbstverantwortung verheiße wie das Instrument verberge, dem Leben auf die Spur zu kommen, was wiederum hieß, sich dem Leben einzuschreiben und schreibenderweise zu nähern und zu vergewissern. Es ging überhaupt nicht um Boheme, sondern um einen Feldzug in einem van Goghschen Sinne. Um entsprechende Welteroberung. Die künstlerische Arbeit wäre die Wünschelrute auf der abenteuerlichen Reise. Nun, ich versuchte es ja auch vorzeitig auf der Kalabrienfahrt und Initiationsreise – und schlug fehl.

Ich kam zurück als ein Dichter in spe, der seine fehlende Ausrüstung erfahren hatte und eine dementsprechende Ohnmacht. Also doch Studium, aber welches? Es ging um Wissen, ich empfand den Wissensmangel als einen Mangel an Ausrüstung. Dachte ich wirklich an Geschichte? Ich war ja vollkommen autonom, womit ich das Fehlen einer väterlichen Aufsicht und Führung meine. Ich wuchs in diesem Sinne quasi elternlos auf, nun, ich hatte keinen Gesprächspartner zu Hause, keine Hilfe. Ich sage immer, ich hätte Kunstgeschichte gewählt, weil sich hier Geschichte mit Kunst und künstlerischem Lebenswissen, künstlerischer Lebensvermittlung vereine. Aber hatte ich einen Zugang zur Bildenden Kunst? Zur Musik wohl, aber zur Malerei, Plastik, Architektur? Könnte ich die Anregung durch Fritz Braaker empfangen haben, den Vater eines Schulfreundes, der eine Art Ersatzvaterrolle für mich spielte und Zeichenlehrer und eine geistige Autorität war. In der Gymnasialzeit verkehrte ich in einem Intellektuellenhaus, das voller Paul Klee hing. Ich weiß, ich wollte nicht Literaturgeschichte machen, weil ich fürchtete, das wissenschaftliche Zerreden von Literatur nicht ertragen zu können. War die Kunstgeschichte ein Ausweichmanöver, nur das, oder verbarg sich dahinter mehr? Oder ging es einzig um eine Art reduziertes Studium generale? Daß Wissenshunger im Spiel war, steht fest. Ich kann mich erinnern, mich zu einem Seminar über Platon eingeschrieben zu haben, auf griechisch. Warum hatte ich übrigens Philosophie, die mich im Grunde brennend interessierte, ausgelassen und dies bis heute? Warum hatte ich mich in der Schule von Nietzsche abgestoßen gefühlt und von Herder angezogen?

Es ist vielleicht auch interessant anzumerken, daß bei den Überlegungen zu einem möglichen Studienweg die pekuniäre Seite, die Frage nach dem Gelderwerb überhaupt keine Rolle spielte. Warum dachte ich ausschließlich an Selbstverwirklichung? Von zu Hause war materiell ja nichts zu erwarten. All das bleibt dunkel. Vermutlich stand tief in mir drinnen die Richtung und Ausrichtung fest, und die hieß Dichter.

11. März 2006, Paris

 

Im Grunde ist Stolp (Frank) schon auch ein Doppelgänger von Stolz. Im Grunde ist die Forelle einfach das Porträt eines Lebensunangepaßten und die »Odyssee« eines entsprechenden Verhaltensmusters. Im Grunde sind Stolz und Stolp Varianten desselben Typs oder Falls, und vielleicht gehört sogar der Mann um Dreißig in Untertauchen in dieselbe Familie – in welche natürlich der Ingenieur Nagel in Hamsuns Mysterien sowie Petschorin in Lermontows Ein Held unserer Zeit wie Puschkins Gefangener im Kaukasus wie Lenz und Werther und vielleicht tatsächlich auch Der Fremde von Camus gehören. Ich komme darauf, weil ich eben in einer Aufzeichnung aus dem Journal Das Drehbuch der Liebe über diesen Typus und mein Verhältnis dazu gelesen habe, für mich eine Schlüsselfrage.

 

Über den Beginn des Schreiblebens möchte ich bald einmal nachdenken, das ginge durchaus zusammen mit der vagen Idee, die frühen Blicke einzusammeln, also wohl eine Art Determination, und der verrückte Stolz/Stolp hat mit dieser erblichen Belastung zu tun. Im übrigen könnte ich womöglich all das in eine wiederaufgenommene Salve-Maria-Sache integrieren, das wäre dann ein dickes Forschungsprojekt.

14. März 2006, Paris

 

Völlig unverhofft die Mitteilung ins Haus geflogen, daß Pro Helvetia mir ein Werkjahr zugesprochen hat, für welches ich ein neues Projekt angeben muß, ich setze Salve Maria ein, in Ermangelung eines anderen Vorhabens, allerdings mit dem Hintergedanken, daß ich vielleicht ein anderes Buch, das der frühen Blicke? mit einfädeln könnte. Man wird ja sehen.

Für die Forelle beginnt sich ein gewisser Erfolg auszuzählen in der Weise, daß ich nach dem Berner Buchpreis und nach dem Stipendium des Deutschen Literaturfonds nun noch das gepolsterte Werkjahr einheimse.

 

Was nun Maria betriff, so geht es, wie ich schon früher formuliert zu haben glaube, um das Problem der IMAGO. Maria hat dem jungen Menschen und Lebensanwärter mit ihrer italienischen Verspieltheit, die eine Art Frühmütterlichkeit (?) überdeckte, mit ihrer sanften Versprechensründe, ihrer zauberischen Güte etc. (die ja, wie er viel später erfährt, nackte Nöte eines traurigen Schicksals überdeckte … sie muß für Kind und Mutter und Bruder oben in Turin anschaffen) ein Bild zugespielt, das in eine wahre Brunnentiefe eines Bedürfens fiel, in eine tief in ihm verankerte Sehnsucht, Bedürftigkeit; sie verkörpert, damals, im damaligen Lebensmoment, alles mögliche, das ihm abgeht, einen Traum. Und dieses Bild ist in ihn gefallen und hat ihn gewissermaßen hörig gemacht, das heißt in ihre Umlaufbahn geschickt, das war nicht abzuwenden, das ist Wahlverwandtschaft oder eben Szondisches Gesetz. Er ist verzaubert. Er kennt sie nicht. Doch im ersten schicksalshaften Blicketauschen findet eine Vorwegnahme statt, im Grunde hat sich alles in diesem Blicketausch bereits abgespielt, in einem Zeitraffer, und alles übrige, das Irdische, ist nur noch Nachholen. Und im Nachholen Verpassen. Sie kennen sich nicht. Sie gehen aufeinander zu, ein jedes mit einer verschiedenen Hoffnung. Bei ihr wäre es Rettung, wie bei J. Conrad, Errettung aus einer qualvollen Erniedrigung und Beschneidung der Flügel. Er wäre der fremdländische Erretter. Und sie wiederum wäre für ihn was? Gott weiß es. Der Rest ist nur noch Nachvollzug, eine Art Abarbeiten in der Realität, auf diesen unteren Wegen. Es ist ein Verpassen. Ihre Sternbahnen berühren sich nicht. Die Liebe als Hörigkeit einer Imago. Das Leerausgehen.

Man könnte das Buch mit einem polizeilichen Verhör beginnen. Hat er sie umgebracht? Wie war es. Sagen Sie. Es gibt keine Erklärung. Les jeux sont faits. So etwas. Eine allertraurigste Geschichte. Ein jedes geht mit einem Packen Befrachtung einher. Ich möchte den Faden einer ganz anderen Geschichte einziehen in das Gewebe, ich nenne es den Faden der frühen Blikke. Der von den frühen Blicken ausgelösten tiefen Lebenserwartung oder Sehnsüchte. Ein Verpassen im Weltall. Und weder Schonung noch Erklärung noch Dahinterkommenkönnen. Alles geht seinen sturen kalten Gang. Den Gang einer Hinrichtung. Der Angeklagte legt den Kopf in die Hände. Er weiß nichts zu sagen.

17. März 2006, Paris

 

Meine Mutter. Ich sage immer, daß ich mir keiner Zärtlichkeit bewußt bin, sozusagen keiner Berührung, und dies vom Kleinkindesalter an. Ich frage mich, ob diese Vorstellung zutrifft oder Einbildung ist. Daß ich äffisch verwöhnt worden bin, wie mir meine Schwester vorsagt, mag stimmen oder zutreffen und ist mir vage erinnerlich. Eine Art Wunderkind? Ich sehe mich gewissermaßen auf einem Podium, unter Akklamationen. Ich war lange ein Heimwehkind, also alles andere als abgenabelt. Einmal, als Schwester und ich allein in ein Ferienhotel am Beatenberg verschickt worden waren, mimten wir Notfallhilferufe, bis man uns zurückzukommen erlaubte. Wir hielten es fern des heimischen Nestes nicht aus. Also muß es doch so etwas wie Nestwärme oder Geborgenheit gegeben haben. Ich sehe meine Mutter als junge Frau mit den Pensionären nicht gerade schäkern, jedoch spaßen. Sie muß für Komplimente empfänglich gewesen sein. Ich sehe sie als eine Art schöne modische Fremde, wenn sie von ihren Parisbesuchen zurückkam, von Onkel und Tante Bléreau. Ich sehe sie streng mit unseren Mägden verfahren, wenn diese einen Fehltritt begingen, die eine hatte sie bestohlen, Mutters Schmuck war verschwunden. Ich muß im Primarschulalter gewesen sein. Ich sehe sie auf dem Gemüse- und Fleischmarkt, einkaufen. Mutter wurde mit Ehrerbietung behandelt. Sie war ja auch eine Frau Doktor und hielt darauf, so genannt zu werden. Sie war eine stattliche Erscheinung und geachtete Dame. Innerlich war sie wohl eine Träumerin, ich denke, sie lebte andauernd und vor allem später in Jungmädchenträumen. Sie erzählte auch gerne von ihren Schulzeiten, von Lehrern, Ausflügen. Sie war ein Schwarmgeist. Auch am Klavier schien sie in schwärmerischen Träumen schwebend, Sonntag nachmittag, wenn die Wohnung uns gehörte: am Sonntag weder Mittags- noch Abendtisch für die Pensionäre. Sie war streng gehalten, wenn nicht unter der Fuchtel ihrer Mutter aufgewachsen und blieb ihr gegenüber gehorsam und jungmädchenhaft. Ich habe unklare, verklärende Erinnerungen an Sonntagnachmittagspaziergänge. Sie muß eine stolze Mutter gewesen sein, unterwegs mit dem Säugling im Kinderwagen unter den Bäumen im Bremgartenwald, im Lichtspiel und Vogelgezwitscher. Doch kann ich mich nicht erinnern, je geherzt worden zu sein, ich kann mich nicht daran erinnern, daß sie mit Worten und Gefühlen an meinen Erfahrungen oder Nöten teilgenommen hätte; daß sie je auf mich eingegangen wäre, kann mich nicht an Zuspruch oder Hilfestellung oder Rat, nicht an Mitleid oder Trostspendung erinnern. Später, als ich Gymnasiast, Student und selber Dr. phil. und Kritiker und Schriftsteller geworden war, ging ihr Stolz in ein Eingeschüchtertsein über, Bewunderung, blind, jedoch gab es nie einen Dialog, nur formelhafte Sprüche, Redensarten. Sie liebte die Gesellschaft meiner Freunde. Sie schien mir seelisch unterentwickelt, die Freunde aber sprachen immer bewundernd von ihrer stolzen schönen Erscheinung und Güte. Ich beschenkte sie, ich schenkte ihr Schmuck, auch nahm ich sie auf Autofahrten mit, wobei ich den Eindruck, eine Statue anstelle eines Menschen oder gar einer mütterlichen Person mitzuführen, nie los wurde. Nur einmal, in vorgerücktem Alter, als sie wieder berufstätig wurde und als Sekretärin oder dergleichen eigenes Geld verdiente und mich zu wunderbaren Essen mit vielen Gemüsen und mehrerlei Fleisch einlud, sah ich sie vorübergehend als selbständige Erwachsene oder gar Mutter. Letztlich ist sie wohl immer ein in die Jahre gekommenes Mädchen ohne eigene Meinung geblieben, leicht verschüchtert, in einem falschen Stolz aufrecht, gierig nach Aufmerksamkeit, ausgehungert mangels Bewunderung, so etwas. Man müßte meinen Frank Stolp vor solchem Hintergrund erklären. Denn das Stolpsche Psychogramm aus Lebensunwohlsein oder aus tief empfundenem Ungeliebtsein (?), bestimmt aus Mangel, kommt ja nicht aus dem Nichts oder aus Beliebigkeit. Der Mann hat keinen Hintergrund und Anhalt.

20. April 2006, Paris

 

Um auf den frühen Blick zurückzukommen und damit auf die Elternkonstellation: nicht nur kein Familienleben, nicht nur eine emotional unerreichbare, in sich eingeschlossene Mutter, nicht nur einen mehr oder weniger abwesenden Vater, in seiner Krankheit die mitgebrachte und uns Kindern unerklärliche Fremdartigkeit des Landesfremden noch weiter, schon fast bis zu einem Verblichensein (bei Lebzeiten) vergrößernd, sondern: so gut wie kein Kommunizieren zwischen den Elternteilen, nichts, das von einem Paar kündete, kein Fünkchen zwischen Mann und Frau, nicht das geringste erotische Knistern, nichts. Von daher kein Elternpaar, wenn auch Vater wenigstens in dem ihn mit Hochachtung und Ehrerbietung begegnenden Benehmen der Großmutter, die ihn nie duzte, etwas darstellte. Ich kann mich an keinen Wortwechsel zwischen Vater und Mutter erinnern.

Erinnern kann ich mich an den mit Onkeln, Tanten, Kusinen und Cousins bevölkerten langen Kaffeetisch am freien Sonntagnachmittag, wo es hoch herging zwischen den Geschwistern, ein Lachen und Sich-Necken, eine Zurückversetzung in deren einstigen Familienzusammenhalt, wenn nicht in deren Kindheit; und bei dieser Gelegenheit war Vater wiederum der Fremde, ein Anhängsel, der zwar durchaus integriert schien, wenn er auch nicht richtig mitmachte mangels sprachlichem und emotionalem Einvernehmen. Er saß gut angezogen und in seinem merklich anderen Umriß (Hintergrund) dabei, doch gehörte er gar nicht wirklich dazu.

Wir Kinder genossen neben der Fülle von Kuchen und Schleckereien die immer mehr ausartende Verwandten-Zusammengehörigkeit und vor allem die Späße, den Unsinn. Auch bei solcher Gelegenheit schienen Vater und Mutter nicht wirklich ein Paar.

Wenn ich zurückdenke, muß das im Kleinkindalter gewesen sein, denn später war Vater zu größten Teilen bettlägerig, und in meinem zwölften Lebensjahr starb er.

Es war die Zerstörung der Familie und deren »Untergang« im größeren Verband der Familienpension, Studentenpension, die daran schuld war. Die Familie wurde von den zahlreichen Invasoren an die Wand gelebt.

2. Mai 2006, Paris

 

Was ich jetzt im Zusammenhang mit der Maria-Geschichte notieren will, ist der Aspekt der Ausbeutung. Ich komme darauf zurück, nachdem ich neulich nachts einen Film von Mauro Bolognini mit Titel Bubu de Montparnasse gesehen habe. Übrigens bin ich bereits bei dem Film La ragazza con la valigia mit Claudia Cardinale auf den Gesichtspunkt des Mißbrauchs verfallen, der damit zu tun hat, daß jugendliche Liebhaber oder besser Freier bei schönen, blutjungen Freudenmädchen ja nicht einfach den Leib kaufen, die körperliche Liebe kaufen, sondern darüber hinaus in die Präliminarien der wirklichen Liebe, wie sie glauben möchten, oder doch der echten Verliebtheit eintreten und insofern die Geschäftsregeln brutal übertreten. Was mir bei dem Bolognini-Film aufging (und der jugendliche Liebhaber sträflich übersieht), ist der soziale Hintergrund, der die Mädchen auf die schiefe Bahn schickt: die Not, Armut, womöglich verbunden mit Unterstützungspflichten. Zum sozialen Hintergrund gehört die mangelnde oder fehlende (verpaßte) Schulausbildung, der Armutsstatus, Unausgerüstetsein, Unwissenheit. Und das einzige Gut, das auf dem Arbeitsmarkt einzubringen ist, sind Jugend und Schönheit. Der verliebte jugendliche Freier sieht nur letzteres, den Hintergrund kann er nicht und will er nicht wissen.

Das Verhältnis zwischen Zuhälter und Hure ist eine Art Liebesverhältnis, vor allem von seiten des Mädchens, für das der Macker alles bedeutet, Zugehörigkeit, Schutz, vielleicht Verehrung. Vor diesem Hintergrund muß man den Einbruch eines verliebten Freiers sehen, der nur ein weiterer und möglicherweise noch schlimmerer Ausbeuter ist, weil er sich nicht mit dem Status des Kunden zufriedengibt, sondern Liebe erleben möchte. Für ihn ist die Prostituierte eine Projektionsfläche, eine Spielfigur. Er setzt alles daran, sie in eine Liebende zu verwandeln. Ja, er will Liebe erwecken und Liebe erleben. Mag sein, daß das Mädchen bis zu einem gewissen Grade mitspielt, aus, sagen wir, romantischen Gründen, nach einer Weile aber mit echten Hoffnungen, der malavita entgehen zu können.

Nie habe ich Maria unter solchem Gesichtspunkt gedacht, ich meine die Geschichte, wenn es denn eine sein oder gewesen sein sollte. Ich war ja auch merkwürdigerweise nicht draufgängerisch. Ich habe sie nicht wirklich zu erobern versucht, doch habe ich sie seelisch dennoch mißbraucht, ich bin ja in ein privates Verhältnis mit ihr eingetreten, ich habe ihr Söhnchen auf meinen Schultern getragen und die Mutter kennengelernt anläßlich eines Besuchs. Ich habe sie ins Spital gebracht. Für Maria war das Spital bloß verlorene Zeit, sie hatte ja keine echten Aussichten nach einer möglichen Gesundung, und die Zeit ohne Arbeit war verlorene Zeit. Hinzu kommt in ihrem Falle das Glamouröse ihres Falterlebens in den Nachtklubs. Und das Spital war im Vergleich dazu unerträgliche Zurückversetzung auf die unterste Stufe einer wohl bis dahin nie ganz akzeptierten Realität.

15. Mai 2006, Paris

 

Bin eben von der großen Ingres-Ausstellung im Louvre zurück. Ich verehrte Ingres immer schon, und zwar als den erotischsten, den schönsten Frauenkörperdarsteller in der Kunst überhaupt, was einen wiederum auf die Frage des (feministisch angeprangerten) Sexobjektes bringen könnte, denn: Was war denn die ununterbrochene Frauenschönheitsreverenz in den Aktmalereien anderes als Begehren schürende Verherrlichung der weiblichen Hügellandschaft – als die fleischgewordene Schönheit schlechthin, als Berückung, Traum, Trost etc.? Und der Traum zielte ja nicht einfach auf einen Kniefall, minnesängerischen. Ingres ist der subtilste, erotischste Frauenleibbildner, so in der »Quelle«, im »Türkischen Bad«, in »Die große Odaliske« etc. Er ist Klassizist, aber er geht, zumal in seinen Porträts, darüber hinaus, hier greift er vor bis zu den Realisten, nähert sich einem Manet, er ist nicht Kolorist, sondern bleibt auf Lokalfarben und einen Schwarzton eingestimmt, allerdings mit kostbaren Farbakkorden in seiner Dunkelskala; und wie die Kleidung, das modische Gehabe als Stofflichkeit mitspricht und außerdem das Psychologische, die Charaktere. Er schlägt einen Bogen von der galanten Kunst eines Fragonard, Watteau bis hin zu einem Courbet (möchte man leicht übertreibend behaupten). Er ist noch nicht bis zur freien flächigen Eindruckskunst eines Manet vorgedrungen, seine Körper und Köpfe sind plastisch gebaut, hier das Erbe der Renaissance, er ist ja auch ein Italienreisender, ist zu den dortigen künstlerischen Quellen gepilgert, Raffael-Verehrer. Er ist ein außerordentlicher Zeichner. Sein Herkommenshintergrund ist die klassische Malerei mit ihrem Mythenfundus, er hat sich darin versucht, und zwar in Großformaten, doch liegt seine Stärke anderswo. Er ist aufgrund des napoleonischen Kaiserpompes von den mythischen Anleihen nicht ganz losgekommen, doch führt sein Blick – da wo er im Porträt das Individuum ins Auge faßt, die herrschende Noblesse ausschließlich – darüber hinaus, und er wird zum realistischen Beobachter, Beobachter des Welttheaters (wenn auch unter Ausschließung des niedrigen Volkes), ein Gesellschaftsmaler. Hier steht er bei aller Qualität unter einem Goya, der in seinen besten Porträts von einer halluzinatorischen Sensibilität und schlechthin magischen malerischen Zauberei fortgerissen wird. Ingres ist nicht revolutionär, er ist kein Wegbereiter, er ist Repräsentant seiner Epoche, kein Außenseiter, eher schon rückwärtsgewandt, ein Repräsentant seiner Klasse oder eben der tonangebenden Schicht, als Künstler ein verfeinerter Erbe und Fortsetzer, nicht dämonisch wie Goya, kein Zeuge wie Daumier mit dem Hohn oder der Entlarvung des Richterblicks. Er ist ein in einem idealistischen Gebäude fast schon autistisch Eingesperrter, an dem das Brodeln des Zeitgeistes und der künstlerischen Revolution abgleitet, er hat sich schon sehr bald in eine Zeitlosigkeit zurückgezogen und in alabasterne Szenen gehüllt, und wären nicht die erotischen Frauenkörper, diese herrlichen Verführungen, man könnte ihn für einen innerlich Exilierten, von seiner Gegenwart völlig Unberührten, einen Unrührbaren oder eben geistig Verirrten halten, starke Worte, es ist einfach nichts vom Puls seiner Epoche spürbar, Ingres muß in einer idealistischen Kunstvorstellung aufgegangen sein oder in einer imperialen Verklärung. Nur als Porträtist zeigt er Krallen. Welch ein Gegensatz zu Delacroix und den Vorbereitern des Realismus.

 

Fiel mir ein, wie ich als Maturand oder kurz danach, jedenfalls vor meinem Studium und damit vor meiner Verheiratung bei Susi Baumgartner eine Leonardo-Madonna kopierte, stundenlang. Bern, Egelgasse. Susi war Hausbesitzerin und Sängerin, sie war durch meine Schwester, die mit ihr musizierte, in unser Leben getreten, wo sie bald einmal eine wichtige, wenn nicht zentrale Rolle zu spielen begann: eine Freundin. Nun, sie war Hausbesitzerin, und Mutter und Schwester waren Wohnungsmieter in ihrem Mehrfamilienhaus. Sie hatte in der Zwischenkriegszeit in München gelebt, in der dortigen Boheme, weshalb ihr in meinen Augen auch etwas in historischem Sinne Exotisches anhaftete, nicht nur Vorkriegsdeutschland, sondern das München des Blauen Reiters, der Rilke und George, eine Künstlerstadt par excellence, da hatte sie gelebt, teilgenommen, und von diesem Vorleben brachte sie einen Touch von künstlerischem Schwung und künstlerischer Freiheit in unser verschlafenes Bern, was natürlich bei mir, der ich derlei nur vom Lesen kannte, auf fruchtbaren Boden fiel. Außerdem war sie eine der ersten, wenn nicht die erste Entdeckerin und Beglaubigerin meiner dichterischen Talente, sie gab mir diesbezüglich einen gewaltigen Kredit als einem buchstäblich Auserwählten, was mir schmeichelte, und drittens wurde sie, wenn auch auf eine fast keusche Art – keusch des Altersunterschieds wegen –, auch meine Geliebte, die nichts forderte, sondern den (genialen) Jüngling bei erotischen Gelegenheiten als ein Gottesgeschenk ansah.

Warum zum Teufel zeichnete ich, wo ich an überhaupt nichts anderes als ein Dichterleben dachte und mir meiner mangelnden Talente im Bildnerischen nur zu bewußt war? Ich porträtierte ja auch im Gymnasium Köpfe, so meine Großmutter und den Zimmerherrn Gattiker, und zwar auf eine penetrant realistische Weise; ich zeichnete auch Bäume; und als Student belegte ich Kurse in Fritz Braakers Zeichenschule. Ich war nicht begabt. Mag sein, daß das Zeichnen zu einer romantischen Vorstellung von Künstlerleben paßte, das Festhalten. Es ging aber in dem hartnäckigen Abkonterfeien von Köpfen von ferne auch um das Problem der Bemächtigung von Realität mit annähernd künstlerischen Mitteln, und schlußendlich war es eine angenehm erregende Beschäftigung. Was nun das Kopieren der da-Vinci-Madonna anbelangt, so ging das Bestreben weit darüber hinaus, es ging um eine Art Nachvollziehenwollen des mysteriösen Ausdrucks in dem Madonnengesicht. Im Grunde kommunizierte ich mit etwas Überirdischem, während ich Strich für Strich an der Vorlage hing und während Susi wie eine behagliche Katze auf ihrer Bettcouch lagerte und den Jüngling bewundernd betrachtete und während herrliche Musik den Raum erfüllte.

In Susis Wohnung war Raum oder besser Schonraum, sie nannte mich den finsteren Tronje (aus Wagners Nibelungen), also muß ich wohl nicht nur lustig und unterhaltsam, sondern auch verdunkelt gewirkt haben. Von alldaher die Wahl für das Kunstgeschichtsstudium? Könnte mitgespielt haben. Erinnere mich, wie ich in der Uni nach dem Zeichenunterricht eine Kommilitonin auf einem Gestell, möglicherweise Requisit für den Unterricht, obwohl es mir jetzt eher wie ein Schragen oder Tisch vorkommen will – vielleicht befanden wir uns ja in einem Laboratorium oder dergleichen –, gebumst habe; ich sage gebumst, weil keine Spur von Verliebtheit im Spiel war, einzig sexueller Hunger, und ich erinnere mich meiner eigenen Verwunderung darüber, daß die Studentin nicht nur sehr erfahren, sondern schon fast professionell mit mir umging, gekonnt. Es gab kein Danach.

19. Mai 2006, Paris

 

Den Film Van Gogh von Pialat gesehen. Ist mir sehr nahe gegangen, aus verschiedenen Gründen: einmal der wunderbaren (filmischen) Wiederheraufholung, Einbringung der damaligen Zeit und des zeitgenössischen Milieus wegen; zum anderen darum, weil mich Vincents Lebensumstände dermaßen berühren, als tauchte ich in eine zutiefst vertraute, fast schon eigene Lebensvergangenheit.

Auvers im Jahr 1890. Das Haus von Doktor Gachet. Das Gasthaus Ravoux, wo Vincent untergebracht war mitsamt dem einfachen Wirtsbetrieb im Erdgeschoß. Die Landschaft mit den merkwürdig schräg in die Weite verspannten Kornfeldern, die man von seinen Bildern kennt. Einzig die Kirche kommt nicht vor. Jedoch die Pariser Wohnung von Theo und dessen Gattin und das Bébé, das Vincents Namen trägt. Die Pferdekutschen, die in Bottichen waschenden Frauen, die in den bodenlangen Kleidern und mit koketten flachen Hütchen gekleideten eleganten Damen. Die Landpartien am Fluß, auf dem Kähne und Ruderer vorbeigleiten. Die Picknicks und anderen Vergnügungen im Freien, in der freien Natur, die mit Westen und Hüten auftretenden Herren, Bürgerjahrhundert. Sogar die Bordelle, herrliche Tanzvergnügungen. Die Eisenbahn nicht zu vergessen, die altertümlichen Wagen mit Türen für jedes Abteil. Und Vincent in seiner Arbeiterkleidung, mit oder ohne Strohhut, mit umgehängter Staffelei und Farbenkasten, wenn er in die Felder geht, um vor der Natur zu malen. Und die Tochter von Doktor Gachet, die im Film von Pialat ein Liebesverhältnis mit dem unberechenbaren, meist wortkargen Künstler eingeht. Jacques Dutronc spielt Vincent zurückhaltend und einigermaßen stereotyp, verschlossen und unberechenbar im Ausdruck, da ist nichts von dem aus den Briefen und der Biographie bekannten epileptischen Ungleichgewicht, nichts von dessen Eiferertum, fast nichts von den Ausbrüchen, Anfällen etc.: Auvers ist ja die Periode einer gewissen Beruhigung nach der Internierung in der Irrenanstalt von Saint-Rémy, einer scheinbaren Heilung, Stabilisierung.

Wie kommt es nur, daß ich mir dieses Leben Vincents so sehr zu eigen gemacht habe, daß es sozusagen zu meinem Erinnerungsfundus zählt. Übrigens sind die Bordellszenen eher bacchantische Feste mit viel weiblicher Freizügigkeit, nun, ein überbordendes Fest des Lebens voller Genußfreude, aber auch Kameradschaftlichkeit. Im Film sehnte ich mich in jene Bürgerzeit mitsamt dem dazugehörigen Künstlerleben zurück. Und nun kam mir wieder vor Augen, wie sehr mich Vincents künstlerischer Feldzug, genauer gesagt, dessen künstlerisches Erkämpfen und Sichaneignen der Wirklichkeit, das Lebenherstellen mit den handwerklichen Utensilien und geistigen Potenzen und Strategien als eine Art »Bauerntum«, als eine Art Säen und Ernten, als ein fortgesetztes Erkämpfen bis zum Grade der höchsten Erschöpfung, aber auch mit allen Verheißungen des dazugehörigen Glücks … beeindruckt, auf vorbildliche Art geprägt hat, als gäbe es keinen anderen Zweck auf Erden als solches Pionierdasein, das Künstlerdasein als einziger vorstellbarer Sinn des Lebens. Und in diesem Sinne kann ich auch meine frühe Neigung zum (naturalistischen) Zeichnen, Nachzeichnen (von Natur und Menschen) verstehen, und zwar trotz der Ausrichtung auf ein Dichterdasein: Es ist das Handwerkliche, das Buchstabieren mit dem Zeichenstift vor der Natur oder Vorlage, aber gewissermaßen an der Rippe der Schöpfung, eine Art Angenabeltsein an der diffusen Größe Wirklichkeit mit dem demütigen Zeichenstift, es war diese hingebungsvolle Tätigkeit ohne nennenswerte Ambition und jenseits von Geltungssucht, es war dieser Dienst an einer Sache, was mich antrieb. Im Grunde war es ein Glücksstreben. Und das Glück lag im handwerklichen Nachbilden, einer Hingabe. So muß es gewesen sein, denn mit einer diesbezüglichen Laufbahn habe ich nie auch nur insgeheim geliebäugelt. Möglicherweise gehört diese bescheidene Früherfahrung auch zu der Motivierung für das spätere Kunstgeschichtsstudium.

 

Zu Vincent wie zu Robert Walser gehört die Erfolglosigkeit zu Lebzeiten, und zwar bis zum Grade der Selbstverneinung sowie der gigantische Nachruhm. Zu beiden gehören die Armut und die Hinwendung zu den Armen (den Bedeutungslosen). Aber auch das Interniertsein in der Irrenanstalt. Nebst der bis zur Askese reichenden Schwierigkeit im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Im Film ist Vincent ungelenk und unberechenbar, aber nicht blockiert im Umgang mit Frauen. Das Liebesverhältnis mit der blutjungen oder minderjährigen Tochter des Doktor Gachet hat Pialat wohl aus dem Bedürfnis nach einem Romanzenbeigemisch in den Film eingebaut. Pialat ist Van-Gogh-Kenner, er hat in seinen Anfängen gemalt und Vincent bewundert. Das spürt man. Die van Goghsche Welt mitsamt dem dazugehörigen historisch-gesellschaftlichen Hintergrund wird in seinem Film auf eine kompassionelle und traumhaft schöne Weise präsent, ich denke, mit Van Gogh möchte er ein Stück eigene Herkunft ans Licht bringen, anders läßt sich die künstlerische Traumsicherheit im Umgang mit dem Stoff nicht erklären.

Der Film ist nicht nur von der Malerei des französischen Bürgerjahrhunderts geprägt, sondern auch von der dazugehörigen Literatur. Er ist im besten, im Schillerschen Sinne sentimentalisch. Und was die Hauptfigur betrifft, wohltuend diskret. Wie leicht wäre es gewesen, diesbezüglich dem Kitsch zu verfallen.

1. Juni 2006, Paris

 

Der frühe Blick

Gut, ich hatte keine Auflehnungsphase, kein Kräftemessen mit dem Vater, nichts von Ablösung. Ich hatte aber auch kein väterliches Vorbild, der Vater war wie ein stiller Gast, eine Toleranzfigur, Fremdling oder Ausländer, ich sage Ausländer, weil nicht von dieser, ich meine, von unserer (bernischen) Welt, und seine Welt, sein Herkommen blieb pure Fama, es gab ja keine Angehörigen von seiner Seite, die ihn uns nähergebracht hätten, indem sie ihn in einen sicht- und erlebbaren Umkreis gebettet hätten. Auch sein Beruf ging aus der auf dem Briefkasten mit »Untersuchungslaboratorium« mehr verschwiegenen als definierten Bezeichnung nicht hervor; ich wußte natürlich, daß er Chemiker war, doch was tat er da oben in seinem Laboratorium? Wo kam er her, womit beschäftigte er sich? Er erfand irgendwelche Heilmittel, soviel ging eben gerade in meinen Kinderkopf. Die berufliche Beschäftigung blieb weitgehend unerklärlich. Und damit seine soziale Stellung und Geltung. Mein Vater war kein Mensch zum Anfassen, auch nicht zum Bewundern und Liebhaben. Er führte ein von uns abgehobenes Eigenleben im Hause. Weder Auseinandersetzung noch Auflehnung, kaum Gespräche, keine Hilfe, keine Führung, keine Züchtigung, keine wirkliche Nähe. Auch keine Furcht. Ehrfurcht? Ein aus den Wünschen eingegebenes Bewundern vielleicht, ein Bewundernwollen, ja wofür denn? Für seine stille und noble (?) Erscheinung. Ganz wenig nähergebracht haben ihn mir die Lauterburgs, die ihn manchmal, als er schon krank war, im Rollstuhl abholten und in ihr schönes Haus mit Garten brachten. Die Lauterburgs, Bruder und Schwester, angesehene Berner, und wenn er sich im schönen Garten mit ihnen und möglicherweise weiteren Gästen unterhielt und ich zufällig zu ihnen stieß oder mir Einlaß verschaffte, sah und spürte ich, daß mein Vater hier nicht nur Ehrerbietung, sondern eine Art Bewunderung genoß. Die Lauterburgs waren gebildete Menschen und begütert und ansehnliche, eindrückliche Personen, der Mann ein bekannter Maler phantastischer Richtung, die Schwester Romanistin. Im Garten wurde diskutiert und philosophiert und politisiert, und hier kam Vater nicht nur zu Wort, sondern bildete den Mittelpunkt. Viel später, lange nach Vaters Tod, sagte mir der Maler, ein Koloß, mein Vater sei der genialste Mensch gewesen, der ihm je begegnet war. Und Martin Lauterburg war kein Provinzler, sondern hatte in der Münchner Boheme oder Künstlerwelt der Vorkriegszeit eine Rolle gespielt, und Bruder und Schwester, beide unverheiratet, hatten über das Bernische hinausgehende, internationale Beziehungen und Ausrichtungen. Sie waren der einzige väterliche Hintergrund, den das Kind meines Namens als Augenunterricht erfahren durfte. Nebst spärlichen fragmentarischen Bildern, Momentaufnahmen: wenn er uns in dem großen Wagen in die Ferien fuhr und gleich wieder abreiste. Wenn er den Wagen in die Garage fuhr und mich einsteigen ließ und wir beide Hand in Hand zu Fuß nach Hause spazierten. Als ich ihn zufällig in der Trambahn entdeckte und den Eindruck von einem gutangezogenen stillen feinen Herrn mitnahm …

Doch das alles gehört in die erste Kindheit und bildete das armselige Material an Vatererlebnissen, aus welchen ich mir das Andachtsbild des fernen und bestimmt nicht verächtlichen Erzeugers zusammenklitterte, ein Bild, das an Bedeutung immer zunahm und der Pol innerer Ausrichtung, vor allem auch im Zusammenhang mit russischen Dichtern und der dazugehörigen Seeeele wurde. Der Vaterverlust machte mir zu schaffen – ich war von Stund an unfähig, dem Unterricht zu folgen, und mußte das Schuljahr repetieren.

25. Oktober 2006, Paris

 

Was meinen Biorhythmus angeht, so müßte ich eigentlich jetzt Ende Oktober aus meiner Lethargie erwachen. Bislang schlief es in mir beharrlich: Arbeitsgedanken zogen allerhöchstens wie ferne Schiffe an meinem Horizont vorüber. Ich teilte den Tag in die Abschnitte zwischen den Essen ein, wartete wie ein Heiminsasse auf das Heranrücken der Stunde und machte mich an Vorbereitungen. Danach Fernsehen mit mehr oder weniger innerer Teilnahme bis zur Schlafesmüdigkeit. Froh um Ablenkung, Reisepflichten, so neulich London zusammen mit Valérie und letzte Woche Köln und Neuss/Selikum (Lesung Atelier Hoehme und Besuch bei Peter Henning). Beim Fahren im Zug zwischen Lektüre und Schlummern, in dieser Verantwortungslosigkeit (im fliegenden Abteil) angenehme Halbwachheit. Intermezzo-Zustände. Soviel zum Biorhythmischen. Hinzu kommt eine Art innere Starre angesichts des bereits vertraglich eingesetzten Projekts Salve Maria, das ich zwar zusammen mit Colette vor zwei Jahren sowohl aufgenommen wie alsogleich verschleudert habe (Titel: Maria, Maria). Ich habe das »Buch« (?) schon so oft begonnen im Verlauf meines Schriftstellerdaseins und bin immer gescheitert. Von daher natürlich auch – verständlicherweise – die sture Abwehrhaltung. Vielleicht werde ich fürs Schreiben dieses Buches auf Computer umstellen. Das könnte eine Hilfsmaßnahme sein. Ich könnte mit der Arbeit herumziehen, bis ich Wurzeln schlage. Aber vielleicht gehört die innere Obdachlosigkeit zum Thema oder doch zur Voraussetzung für das Schreiben gerade dieses Buches. Es gehörte ja auch damals die Entdeckung meiner tiefinneren Treulosigkeit (Ungebundenheit) bzw. Heimatlosigkeit zum Liebesschock bzw. »Erlebnis«.

Wie konnte ich mich in dieses »Abenteuer« stürzen (darauf einlassen) bei meiner Ehe- und Familienbindung? Ist es Zufall, daß ich gerade jetzt, ich meine zum jetzigen Zeitpunkt, im gewissermaßen hohen Alter und vertraglich gezwungen, mich auf eine Begebenheit meiner jungen Jahre, meiner Römer-Zeit, einzulassen, zu Hoehme zurückfinden mußte, dem längst verstorbenen Gefährten von damals und Zeugen dieser Geschichte?

Ich müßte den damaligen deutschen Botschaftsrat, an dessen Namen ich mich jetzt nicht erinnern kann, noch einbringen, der mich zu Empfängen einlud und nach Abgang der Gäste auf nicht gerade zähneknirschende Art, doch über seinen eigenen Schatten springend, wenn denn das etwas besagen sollte, verwöhnte. Duldete? Vermutlich war ich sein Alibi für etwas oder sein Sorgenkind, oder ich verkörperte die Freiheit nah an der Grenze des Verkommenseinkönnens.

Ich will mich jetzt noch nicht auf die Frage festlegen, was in dem Stoff stecke. Ich kann ja irgendwie immer dann erst loslegen, wenn ich die Fährte und damit den begrabenen Hund wittere, womit ich die tiefere Thematik, die für eine weitere Menschheit womöglich von Belang sein könnte, meine. Diese Thematik ist bei mir immer eine überaus subtile, mehr auszuschweigende und einzukreisende als publik zu machende, und damit mag der Umstand meiner kleinen Leserschaft zu tun haben. Die meisten Erfolgsbücher haben eine in der Aktualität oder Geschichte möglichst skandalös verankerte Thematik, was soll’s.

Natürlich ist Maria von vornherein gleichbedeutend mit Illusion. Einer Illusion verfallen und dies in vollem Bewußtsein der Sachlage, und dieser Illusion das halbe eigene und das ganze Leben der Angehörigen, wenn nicht opfern, so doch aufs Spiel setzen. Was wäre die Illusion? Vielleicht müßte ich viel weiter gehen in der Novelle, als ich es in der Biographie wagte. Ich hätte mich auf die Liebesgeschichte eingelassen, hätte Frau und Kinder verlassen, wäre zusammen mit Maria abgestiegen in eine miese Armeleuterealität, in welcher sich der Falterstaub der Verheißung sehr schnell in den Staub der miesesten Stubenluft verwandelte. Ich hätte auch meine eigenen Lebensaussichten vertan, ich hätte mich mit einer vielleicht bald einmal gehaßten Prostituierten zusammengefunden, in den scheußlichsten Umständen. Was wäre der Abtausch gewesen?

Eine Art Joseph Conradsche Verbannung. Der Traum der Liebe ist der Traum der Neuwerdung, ein falsch verstandener Akt der freien Entscheidung zu einem anderen Ich und damit verbundenen, frei gewählten anderen Leben. Man wird als viele geboren und endet und stirbt als einer. War Maria das Angebot eines Gefährts zu einem anderen Leben, einer anderen Ich-Erfindung? Und hätte ich sie, kaum des Irrtums gewahr, kältesten Herzens geopfert, um, ja um was dagegen einzutauschen? Eine Art Lebensverweigerung … Hat es mit dem Vater zu tun? War es Valérie, die mir in London neulich zu verstehen gab, ich müßte einmal den Dreckskerl von einem verantwortungslosen Vater ans Licht bringen? Die Ankunft in Rom wie eine Auswandererfamilie. Die zwei kleinen Kinder. Die junge hübsche schon ein wenig von Bitterkeit oder Enttäuschung benagte Gattin. War es das, was der deutsche Botschaftsrat in mir spürte, den Mut zum Abstieg (so nah am Lebensbeginn), der Karriere-Klotz, der dann ja auch sehr bald seinen ersten Botschafterposten antrat? Vielleicht war ich der glänzende Pokal eines ihm unmöglichen, unvorstellbaren und darum nur um so kostbareren Mutwillens zum Untergang, was er in meiner verantwortungslosen Person hätschelte. Der Ablaß. Sündenablaß. Er hätte mich ja einfach rausschmeißen können, mich, den letzten Gast, den unwichtigsten überdies.

Eine Art Onetti-Geschichte. Angesiedelt in miesem Lebensabstellraum ohne Glanz ohne Flitter ohne Traum. Ich bin ja in Wirklichkeit bis an die Schwelle einer solchen Abstiegsniederung gegangen, zu ihr in die anrüchige Pension gezogen, wo einfach kein Aufenthaltsangebot winkte, und noch später habe ich vorübergehend ein Zimmer bei einer römischen oder deutsch-römischen Aristokratin Nähe Campo de’ Fiori gemietet, mit Maria-Hoffnungen im Hinterkopf, Hoffnungen, sie empfangen zu können; und in diesem Zusammenhang kommt mir die Piazza Argentina in den Sinn, weil sich dort eine Bar mit Neonschrift wie für eine Ambulanzstation befand, ich stellte mir die Bar als amourösen Treffpunkt vor, so etwas. Also bis an eine Schwelle der Abstiegsrealisierung geschritten; und hinzu kam Marias Einlieferung ins Spital, ein Akt der Zusammengehörigkeit. Alles sieht jetzt aus der riesigen Rückblickdistanz romantisch oder literarisch aus, ich wollte wohl zusammen mit Maria ein Romankapitel erleben. Es müßte allerdings mehr dahintergesteckt haben, sonst hätte ich viel früher aufgegeben. War es Liebe? Wohl kaum.

Wenn ich nun im Falle dieser Maria-Geschichte an den Niedergang denke, den Untergang, die Verluste …, dann sind wir ja schon wieder nah an der Selbstauslöschung, was meinen Stolz ebenso wie meinen Stolp antrieb und offensichtlich zu meinen Lebensleitfigurenvorstellungen zählt, warum nur müssen meine Helden, obwohl charmant und in einem oberflächlichen Sinne durchaus keine Lebens- und Kostverächter, immer von dieser Obsession durchdrungen sein? Und woher meine tief eingeborene Untreue? Warum war ich durch jede Passantin abzulenken, das heißt vom Weg, von Pflichten und Treueschwüren abzubringen, wenn nur die Depesche eingefallen war (wie ich es nenne)?

Wonach dürstete ich? Um das darauffolgende Ungenügen, um die Enttäuschung, die naturnotwendige, hernach gegen die Frau und Auslöserin des Traums zu wenden? Heißt Depesche in meinem Wortgebrauch Amors Pfeil? Wäre ja kitschig, wenn.

Es ist auf jeden Fall eine altmodische Geschichte. Das Ankommen der Familie in Rom im Februar, einem Februar zur Regenzeit, diluviale Verhältnisse. Die kleinen Kinder, die jungen oder blutjungen Eltern, die sich in eine Cafébar Nähe Institut, Via degli artisti, wagen, Neulinge, fast Einwanderer. Marco Albisetti hat uns, glaube ich, empfangen und irgendwie eingewiesen, auch in Grottaferrata eingewiesen. Grottaferrata die Familienunterkunft in einem Mietshäuschen, das ich über Michael Stettler, meinen Vorgesetzten am Museum, vermittelt bekommen habe. Er hat mich dann ja auch bald besucht, wir schauten uns in einem Kino Kapò an, und draußen, als wir uns trennten, der Direktor und sein ehemaliger Assistent, mußte ich mich erst an das (mir fremde) römische Tageslicht gewöhnen, um von der mit meiner Verpflanzung zusammenhängenden Verstörung ganz zu schweigen, weil die Verstörung durch das im Kino erlebte KZ vervielfacht war. Mir war, als sei ich dem KZ entkommen, wo war ich, wer war ich, und dann sah ich die junge Maria in ihrem roten Regenmantel vorbeigehen und lief ihr nach. Lief ihr nach, und nun kam das Albergo oder heißt es der Albergo?, das Hotelzimmer, in welchem wir uns nur kosten und nicht miteinander schliefen, wir traten in das von den Umarmungen vorgegaukelte Versprechen, ich in eine Verzauberung, ein, und da hätte die Episode enden müssen, denn mehr war nicht drin. Ich wäre ins Institut und zu meinem Vorhaben zurückgekehrt, wenn ich nur ein Vorhaben gehabt hätte, stattdessen hatte ich nur diese gefährliche Freizeit spendiert bekommen, den Römer Aufenthalt. Und ich trat in die Geschichte meiner tiefen Verunsicherung ein, es war ja die Gunst eines neuen Lebensanlaufs, den mir das Stipendium und das von Gönnern spendierte Geld offerierten, ich in Rom, in raren Momenten mit dem Hochgefühl eines Rastignac, eines Welteroberers. Nur hatte ich in Wirklichkeit keine Stelle, keine gesellschaftliche Position mehr, kein Einkommen, kein bürgerliches Weiterkommen, wenn erst das Romjahr abgelaufen und Stipendium verbraucht wären. Nur wußte ich es nicht. Ich war in Rom, um den Schriftsteller in mir ausschlüpfen zu lassen, war die Erwartung der in Bern Zurückgelassenen. Und ich hatte wohl eine fürchterliche Angst des Versagens, ich war der deklarierte Hochstapler. Und nun griff ich nach der ersten sich bietenden Möglichkeit einer anderen Lebenswahl, und zwar in Gestalt von Maria.

5. November 2006, Paris

 

Warum nannte ich manchmal die Maria-Geschichte eine Ohrfeige im Weltall? Das Weltall wäre das Undefinierbare eines Vorhandenseins; und die Ohrfeige wäre Strafe und Verhöhnung. Liegt hinter der Strafe die Sünde der Anmaßung? Wieso Sünde? Was wäre die Anmaßung? Nicht mit der Liebe spielen? Nicht unter dem Vorwand der Liebe eine Frau zur Mitspielerin auswählen? Was sollte gespielt werden? Mitspielerin im großen Spiel der Schriftstellerwerdung? Schmerz und Schmerzensgeld? Schmerz, um etwas zur Glut zu entfachen? Glut, um das Potential eines Schreibbeginns anzureichern? Oder besser einer Phönixsituation? Auferstehung aus der Asche? Mißbrauch – weil Mitspielerin Degradierung bedeutet? Und die Degradierung bis zum Opfer reichte. Ist nicht auch in der Forelle so etwas mit Carmen im Spiel? Nur daß diese nicht einfach so mit sich umgehen läßt. Heißt das Spiel Orpheus und Eurydike? Wäre das das Grundmuster? Aus dem Schmerz um den Verlust das Dichten legitimieren. War das nicht schon so ähnlich in der Vera/Lara-Geschichte des Jünglings? Und warum mußte ich, kaum daß das Romjahr hinter mir lag, in Barcelona wiederum eine Liebesgeschichte anstiften und jetzt mit der armen Antonita? Wie ich in Zürich nach dem dritten Abschied und dem inneren Begräbnis dieser Liebesentflammung, jetzt bereit, den Canto hinzufetzen, das schöne Foto von A., das sie mir mitgegeben hatte, ebenfalls zerfetzen mußte und die Fetzen in die verschiedenen Senklöcher der Abwässer warf? Damit das Bild ja nicht wieder zusammengesetzt werden könnte. Antonitas Effigium aus der Welt schaffen. Ging es immer (nur) um die Entzündung einer Illusion, Illusion einer Unerreichbaren; und um die Herstellung von Einsamkeit, Liebes- und Gottverlassenheit zum Zwecke des Schreibenkönnens. Sich an der Liebe, am Leben vergehen. Ist das Grundmuster dieser Erbsünde die Ausstoßung aus dem Paradies durch Vicenta, die mich zum Dichter gemacht hat? Von all diesen Wiederholungen ist die Maria-Geschichte die allertraurigste. Hier geht es außerdem um eine nichtvollzogene Liebe.

11. November 2006, Nationalfeiertag, Paris

 

Zurück zu Maria. Ich frage mich, was der Zauber, was die Anziehung war, die mich 1960 so weit gehen hieß. Ich muß nicht nur geblendet, sondern überwältigt gewesen sein von ihrer Schönheit oder Lieblichkeit, den Augen, dem Mund, der Haut. Es gilt ja eine Schallmauer der FREMDHEIT zu durchbrechen. Und wichtig ist die Fremdheit der anderen Sprache, der anderen Herkunft und damit der anderen Geschichte: der Hintergrund. Ich trete aus dem Munde der Schönen, wenn sie meinen Namen ausspricht mit ihrer nur ihr zugehörigen Stimme, die die andere Sprache spricht. Das Angenommenwerden, das Empfangensein. Es ist wie Taufe, wie auf die Welt kommen. Genau dasselbe geschah mit Antonita in Barcelona. Und im Grunde war es schon mit Brigitte der Fall. Was wäre die alles Denkbare übersteigende Wundermacht solcher Erhörung? Was wäre die aus der Tiefe quellende Dankbarkeit, vermischt mit Ungläubigkeit? Ist die Frau dank ihrer Schönheit und mit der Macht der Liebe nicht nur die Erlöserin (aus dem Mangelnden), sondern geradezu die Erfinderin deiner selbst, und zwar als vollwertiges Mitglied der Menschheit, als Mitmensch? Mann? Die Geburt des Mannes aus den Netzen der Liebe. Oder den Schleiern, Harmonien der Liebe? Ich deliriere. Es hat mit Erweckung zu tun. Muß mich nach der abgründigen Verunsicherung, die dem ewigen Begehren vorausgeht und Pate steht, fragen. Es geht ja weit über den Sexappeal hinaus, was ich die Depesche nenne, es hat aber mit der geschlechtlichen Vereinigung und deren Verheißung zu tun. Ich spreche andauernd in biblischen Termini. Sei’s. Mein Ausgangspunkt war ja die Frage, welche Macht es vermag, mich nicht nur vom Wege, sondern von allen Zugehörigkeiten abzubringen, was es mit der notorischen Disponibilität zur Untreue auf sich hat. Hatte ich mich nie wirklich vermählt? Blieb der Fremdling in mir immer quälend lebendig? Oder wäre der Fremdling einfach der Jüngling, der ewige Lebensanfänger, einer, der nie Fuß gefaßt hat? War dieser Fremdling, auch dann, wenn ich mit den Meinen familienvereint lebte, untergründig tonangebend und sehnte sich nach den unausdenkbaren Wundern der Erhörung – darum das unermüdliche Verlangen nach Frauengunst? Statt Fremdling käme der Begriff des Einsamen in Frage und damit des Strolchs. Gewiß ist, daß das Begehren ungestillt andauerte und damit die Disponibilität zum Weglaufen. Zur Untreue. Oder wäre das Verlangen einfach das Verlangen nach mehr (nach dem Höchsten)? Ich wollte natürlich nicht eingefangen werden (heißt es im Fell der Forelle). Wollte nicht Fuß fassen, sondern auf den Flügeln der Liebe enteilen. Verschwinden.

 

Dieses Theoretisieren führt zu nichts, es sei denn, ich könnte die Gestalt des Helden (jenes anderen Ichs) Fleisch werden lassen. Ver-wirklichen. Annäherungsversuche.

 

Ich bin ja in der Ergründungsarbeit dieses Helden im Fell der Forelle um einiges weitergekommen. Es ginge also um die Fortsetzung der Erschließung jenes Personenraums. Insofern könnte Maria bzw. die Maria-Geschichte im Tonfall der Bekenntnisse jenes Hochstaplers und Mörders Frank Stolp weitergehen. Les dire d’un paumé inspiré. Die weiteren Eröffnungen des armen Frank Stolp. In einer Weise ist ja die Forelle die Fortsetzung von Hund.

20. November 2006, Paris

 

Zu Gerd Hoehme, in dessen einstigem Atelier in Neuss-Selikum ich vorgelesen hatte, fällt mir beim Durchblättern der mir überreichten Publikationen mit den vielen großen Reproduktionen ein: das Spechtgesicht, die leicht mörtelige Haut, das umsichtig freundlich Verhaltene, das Gran Abgewandtheit und die große Portion tief angelegter Güte. Die Feinheit, die fast über Paul Klee hinausgehende Sensibilität, Kostbarkeit seiner Veranlagung. Er ist ein hochgradiger Ästhet im Gewande eines modernen hinterfragerischen Geistes, und es spukt ein Gran Sentimentalität durch sein Wesen. Der Begriff Lauterkeit gehört dazu. Und die schnellen Wagen, die er fährt, der einstige Kriegspilot, der mehrmals abgeschossen, verletzt und gefangengenommen worden ist. Und der den Krieg, ich weiß nicht wie, losgeworden ist mit einem Abwerfen der Uniform? die er gleich mit dem Kittel des Malers vertauschte. Er hat kaum vom Krieg gesprochen, er war Flieger und sogar Staffelkommandant gewesen, glaube ich. Er stammt aus der Nähe von Dessau. Er hat Celan gekannt. Er ist ohne lange Umwege zur Avantgarde vorgestoßen und hat sehr schnell Erfolg gehabt. Als wir zusammen in Rom waren, schien er mir, natürlich im Gegensatz zu mir, ein gemachter Mann. Er war zehn Jahre älter. Er spielte schon in der Truppe der Berühmten mit (und ich damals nicht viel mehr als ein unbeschriebenes Blatt). Er war unangetastet von Hochmut, Erfolgsallüren. Sehr verhalten und nach innen gekehrt, und es gab ein paar Züge Skepsis in dem ansonsten von einem reinen Toren nicht sehr weit entfernten Gesichtsausdruck. Neigung zum Intellektualisieren, was in meinen Augen seinem ästhetischen Fluidum zuwiderlief, und etwas aufgesetzt wirkte. Er war ja auch sehr bald Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie geworden, darum möglicherweise der Hang zum Theoretisieren. Akademiekollege war Beuys, ebenfalls Kriegsflieger a.D. Bei jenem hat der Krieg zentrale Spuren hinterlassen. Hoehme war Flieger und als Mensch eine Vogelart, ein ganz ganz leicht komischer trauriger Vogel. Bei aller Einfachheit selbstgewiß. Wir waren viel zusammen in Rom, viel Gespräch, viele Diskussionen. Am schönsten die gemeinsame Fahrt in dem damals noch verhältnismäßig bescheidenen Sportwagen durch die Berge nach München, die in meinen Text »Canto auf die Reise als Rezept« eingegangen ist. Wir starteten den Tag nach meiner ersten Begegnung mit Maria. Wäre ich nicht abgefahren anderentags, hätte die Maria-Geschichte möglicherweise einen anderen Verlauf genommen. So habe ich Maria gleich in ein unantastbares Heiligenbildchen verwandelt oder Ex-voto-Bild. Bin ich davongespurtet? Als ich neulich den ergreifenden Film von Zurlini nach Buzzatis Buch Die Tartarenwüste sah, dachte ich, in der Figur des Maria-Gegenspielers könnte ich nicht nur den Fortsetzer des Frank aus der Forelle, sondern auch etwas von jenem blutjungen Offizier einbringen, der in der Festung, in Erwartung der Angreifer, nicht nur seine Jugend, sondern sein Leben verspielt, verliert. Auch ein junger Mensch, auch ein Lebensantritt. Novize. Das Wort könnte ein Schlüsselwort sein. In meiner Salve-Maria-Geschichte würde ich meine eigene Familie womöglich weglassen. Das könnte die Thematik nur verstärken.

Das frühe freiwillige Ausscheiden aus dem Leben. Gilt für den jungen Offizier und warum nicht für den Mariaversehrten? Warum nur die »Unbeflecktheit«? Ging mein Held gleich ins Kloster (nach der empfangenen Ohrfeige im »Weltall«)?

19. Dezember 2006, Paris

 

Mein Geburtstag. Früh einige Anrufe bekommen, und jetzt wieder beim Durchsehen der Journaleintragungen dieses Jahres, immer in der Hoffnung, daß eine Leitidee für Salve Maria herausspringe. Mein Eindruck dieses verkorksten Jahres (das so triumphal begonnen hatte): daß ich hauptsächlich um das Thema des frühen Blicks herum notiert habe und an einigen wenigen Stellen auf ein Goldäderchen gestoßen sein dürfte. Kindheit = was ist die Last, was ist der Packen – um es mit einem Zitat aus der Forelle zu sagen.

Wenn meine Kindheit ein Sprachdornröschenschlaf genannt zu werden verdient, meint das Erwachen Erlösung durch das Wort. Erlösung von Schmach und Halblebendigsein. In der Sprachfreiwerdung ist alle Hoffnung geballt. Ich hatte keine andere Möglichkeit zu werden als diejenige, die Dichtung in mir freizumachen. Was ja auch lebendig werden und vor allem auf die Welt kommen meint. In der Sprachmöglichkeit kam ich zu mir und – fast hätte ich gesagt – zu Gott. Es ist das Wirklichwerden durch sprachliches Wirklichmachen. Und darum geht es bei mir in erster Linie: um das Sagen von was immer, dies im Gegensatz zu Themen und Handlungen.

Ich sehe mich in einem van Goghschen Sinne unterwegs. Ich nenne es auch meine (Lebens-)Expedition. Aber wohin führt die Expedition, die Suche? Zum Wesentlichwerden? zum Entbrennen? Durchtönt- und Innesein? Ist mein ewiger Versuch anzukommen und auf die Welt zu kommen der Wunsch nach Erweckung? Nahe zu kommen – wem? Haben meine Bücher nur die Beschreibung dieser Übung oder Einstimmung zum Thema?

Die Sehnsucht wäre die EINHEIT REINHEIT? Und das durchlaufene Jammertal des Alltags wäre nur eine Art Staffage oder Abfall bei dieser Einübung? oder Lokalisierung? Verstofflichung … Sind meine Helden Glücksritter? Auf das Kreuz des Lebens genagelte Heilssüchtige. Die sich immer in den Schoß der Frau verkriechen müssen, ins Dunkel der vorgeburtlichen Umhüllung. Letzteres ist vorgegriffen. Was mich beschäftigt, hat mit Handke zu tun, und zwar im Sinne der Gemeinsamkeit wie radikalen Verschiedenheit.

Beide befinden wir uns auf einer Glücks- oder Gralssuche, bei beiden hat das Wort Wanderschaft oder Lebensunternehmung eine Bedeutung. Handke sehe ich als einen Lebensscholaren. Sein Grundmuster sind die Lehr- und Wanderjahre, sein Ziel die Ansichbringung des Lebens im Goetheschen Sinne, auch die dazugehörige Erhellung und Erweiterung, gespeist von einem reichen Fächer von Neugierde. Vervollkommnung gehört dazu. Aber auch Bildung. Lehr- und Wanderjahre, Bildungsromane. Gottfried Keller und mehr noch: Karl Philipp Moritz. Anton Reiser. Und hier komme ich ins Spiel. Hat nicht der überaus merkige Hugo Leber seinerzeit im Du meinen Canto einen Anton Reiser genannt? Geht es in meinen Texten um die sprachliche Beschwörung von Läuterung, worin die Höllenfahrten durch die niederen Verstecke des (unbekannten) Ich nicht ausgespart sind? Sind wir nicht beide durch ein Sehprogramm an die Welt gekettet? Der große Unterschied liegt im Epischen, bei Handke weitausholend, bei mir mit einer Art Verbot belegt. Er ist, wenigstens im Anspruch, der Vervollkommner. Ich bin der ewige Anfänger. Ich lechze nach Anfang und Verheißung. Bei uns beiden wären religiöse Unterströmungen zu bemerken oder anders gesagt Heiligkeitsanfänge. Bei mir ist Sünde im Spiel, er ist heidnischer. Stimmt das? Ich lege mich bei den Frauen mit der Sünde ins Bett. Die Sünde ist nicht das Unterleibliche, sondern eine Art tiefer Lieblosigkeit oder vielleicht auch Benutzung zum Ritt in die Tiefe. So etwas?