Alex hatte nichts dagegen, den Dienstagvormittag-Lauftermin von den bequemen Freiberufler-elf-Uhr auf acht Uhr zu legen.

»Vorläufig«, hatte Mattes betont, »nur bis beim Magazin alles läuft und ich dann erst mittags dort erscheinen muss.«

Morgens um acht Uhr war Mattes früher höchstens mal nach einer unterhaltsamen Party auf dem Heimweg gewesen, hatte dabei aber niemals einen Gedanken an Sport verschwendet. Jetzt lief er mit Alex um den See, über dem noch Reste des Morgennebels zu sehen waren.

»So früh am Tag schon um den See rennen! Dass du zu so was fähig bist, hätte ich von dir nie gedacht«, lachte Alex.

»Ich bin zu vielem fähig, von dem du nichts ahnst«, behauptete Mattes, aber Alex grinste: »Nee, mein Freund, dazu kenne ich dich zu gut. Mich überraschst du nicht. Wie lief es eigentlich mit Saskia Hoffmann?«

»Sehr gut. Sie hat gute Antworten gegeben, und ich bastele da jetzt ein schönes Interview draus. Nicht mit dem üblichen Gewäsch. Allerdings weiß ich nicht, wie gut diese Pfeife von Grafiker fotografieren kann. Das Motiv war diesmal ja nicht der Hundesportverein mit seinen Vorsitzenden. So was kann er, und vielleicht auch seine komische Musikgruppe, aber ob es für ein Titelbild reicht? Ich kann ja keinen Amateur-Schnappschuss auf den Titel setzen und verkünden, das wäre jetzt stylisch.«

Vor ihnen bog Mina plötzlich quer über die Wiese ab und sprang auf eine Nordic Walkerin zu. »Das ist Astrid!«, rief Mattes überrascht aus und blieb stehen. Aus der Entfernung konnten sie sehen, wie Astrid mit den Stöcken fuchtelte, damit Mina aus dem Weg ging, sich dann umblickte und Mattes entdeckte. Mit ausholenden Bewegungen schritt sie auf ihn zu, immer umkreist von Mina, die ihr beständig vor die Füße lief. Schon von Weitem konnten sie sie mit Mina reden hören: »Nun hau schon ab! Lass meine Stöcke in Ruhe! Such dir eigene, hier liegen genug rum. Weg da!« Als sie näher war, rief sie anklagend: »Mattes, dein blöder Köter macht mich wahnsinnig. Der hat keine Ahnung von Nordic Walking. Erklär’ dem mal, dass ein ordentlicher Hund hinter einem her läuft und nicht um einen kreist!«

»Wieso rennst du jetzt mit Stöcken durch den Park? Ich dachte, joggen wäre dein Ding, nicht Skilanglauf ohne Ski.«

Astrid blieb vor ihm stehen und dozierte: »Nordic Walking verbrennt wesentlich effektiver die Fettreserven an den Problemzonen. Ich trainiere jetzt nach der Nordic-Power-Walking-Methode. Fünf Kilo in fünf Tagen. Der Geheimtipp aus der neuen ›Fit und fun‹.« Sie blickte ihn und Alex skeptisch an: »Und was macht ihr beide so früh hier? Ist doch gar nicht eure Zeit.«

Mattes sagte: »Wer viel vorhat, muss früh aus den Federn. Das war immer schon mein Leitspruch.«

Astrid lachte kurz auf: »Dein Spruch war doch immer: Der späte Wurm wird nicht gefressen. Und viel vorhaben? Wohl wieder einer deiner ›Außentermine‹.«

Genervt drängte sie mit einem der Stöcke Mina weg und sagte: »Wenn der blöde Hund ordentlich mitlaufen würde, könnte ich ihn ja mal mitnehmen. Würde dem auch mal ganz gut tun. Aber der kapiert ja noch nicht mal, dass er beim Intervall-Laufen in Intervallen laufen muss. Meinst du, der hat sich einmal angepasst? Nee, immer sein eigenes Tempo gelaufen und ständig musste ich stehen bleiben und gucken, wo er war.«

Mattes lachte: »Zieh doch deine Intervalle einfach durch, wie du sie haben willst. Der Hund bleibt schon an dir dran.«

»Eben nicht!«, regte Astrid sich auf. »Mich macht das nervös, wenn der Hund nicht genau neben mir läuft. Ich will trainieren und abnehmen und nicht gucken, wo das Vieh gerade rumhängt. Am Ende bin ich durch den Park durch und hab bei meinem Tempo den Hund abgehängt.«

Sie blickte auf eine dicke Uhr am Handgelenk: »Puls 95, na danke. Und ich muss noch 17 Minuten.« Sie guckte Mattes vorwurfsvoll an: »Wäre es für dich nicht besser, wenn du mal irgendwo arbeiten würdest, anstatt stundenlang durch den Park zu joggen?« Ihr Handy klingelte. In geschäftsmäßigem Ton meldete sie sich, hob erstaunt die Augenbrauen und fragte gereizt: »Was heißt das, Schule fällt aus? Sie kann doch nicht einfach im Bett bleiben und sagen, dass sie frei hat! Godehard, du packst sie sofort ins Auto und fährst mit ihr hin! Sieh nach, ob etwas auf dem Vertretungsplan steht! Nein, am besten gibst du mir das Fräulein mal selber an den Apparat. Wie, sie will nicht?« Ihre Stimme wurde streng: »Godehard, mir ist egal, ob sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hat und nicht mit mir reden will. ICH will mit ihr reden, und das ist Grund genug für sie, ans Telefon zu kommen.« Genervt schüttelte sie den Kopf, sah Mattes an und zuckte hilflos mit den Schultern. »Meike ist nicht in der Schule«, flüsterte sie ihm zu. »Wenn ich mich nicht um alles selber kümmere! Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Kannst einfach stundenlang durch den Park rennen, ohne Verpflichtungen und ohne Termine. Dein Leben möchte ich haben!« Sie wandte sich wieder an ihr Telefon und sagte streng: »Godehard, ich möchte, dass du jetzt Meike ans Telefon holst!«

Mattes raunte ihr aufmunternd zu: »Stress verbrennt Kalorien«, und setzte sich mit Alex wieder in Bewegung. Die Runde um den See konnten sie noch schaffen, dann würde er schnell duschen und war rechtzeitig an seinem Schreibtisch. Von wegen keine Verpflichtungen und keine Termine.

In der Redaktion lag ein Stapel druckfrischer ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ auf dem Tisch, die letzte Ausgabe des langjährigen Heftes. Mattes blätterte ein Exemplar durch und guckte zunehmen angewidert auf die Artikel über Hundeplätze, Zuchtschauen und die Fotos, auf denen grinsende Züchterinnen ihre Welpen präsentierten. Die ›Westfalen-Stube‹ pries ihre neue Kegelbahn an, und die Futtermittelhandlung Brenner hatte Trockenfutter im Angebot. Ganz plötzlich war er sicher, dass die Entscheidung für eine Neuentwicklung die einzig richtige war. Das Heft musste raus aus dem örtlichen und viel zu provinziellen Umkreis und ein überregionales Produkt werden. Vor allem musste der Mief verschwinden. Alle kleinen Anzeigenkunden raus und nur noch große, exklusive und ausgewählte Anzeigen rein. Wer für eine kleine Schrottkarre wirbt, bekommt keine Porschekunden. Das würde die Hauptaufgabe für Nadine werden. Die Frage war nur, ob sie das packen würde.

Nadine guckte skeptisch, als Mattes ihr seinen Plan darlegte. »Du hast bisher die kleinen Werbekunden betreut, das machst du auch weiterhin, nur eben drei Ebenen höher«, erklärte er ihr.

»Aber wie soll ich an die rankommen?«, fragte sie zaghaft. »Die lachen doch, wenn ich sage, wofür das ist.«

Mattes beugte sich nach vorne: »Es ist nicht mehr ›Hasso und Fina‹. Das neue Magazin ist modern und stylisch, und alle Kunden sollen es als Privileg sehen, in unserem Heft werben zu dürfen. Vor allem lachen sie nicht, wenn sie einen eigenen Hund haben, denn dann fühlen sie sich angesprochen und finden die Idee erst mal gut. Du musst über ihre Hunde an sie rankommen.«

»Aber woher weiß ich, ob sie einen Hund haben?«, wandte sie zögernd ein.

Mattes grinste: »Du wusstest doch auch, dass Saskia Hoffmann einen Hund hat. Sei einfach mal frech! Geh in eine Firma und sag, dass du mit dem Mitarbeiter sprechen möchtest, dessen Namen du leider nicht mehr weißt, der aber einen Hund hat. Sie werden dir alle Mitarbeiter aufzählen, die einen Hund haben. Dann such dir einen aus, erzähl meinetwegen, dass dein Hund den anderen gezwickt hat und du wegen des Schadens nachfragen willst, und schon spricht er mit dir.«

Nadine guckte ihn mit großen Augen an: »Aber ich hab doch gar keinen Hund!«

Mattes seufzte. »Natürlich nicht. Ist aber doch völlig egal. Es ist ja nur der Vorwand, um mit einem Hundebesitzer ins Gespräch zu kommen. Du stellst nach zwei Sätzen fest, dass es sich beim gezwickten Hund um einen anderen Hund handeln muss, aber der Fuß ist in der Tür. Dann einfach begeistert vom neuen Hundemagazin sprechen, dass man dort ganz wunderbar Werbung einsetzen kann und bis zu den richtigen Leuten durchfragen. Mehr als dich vor die Tür setzen können sie nicht.«

Nadine strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte langsam: »Was ist, wenn es in der ganzen Firma keinen einzigen Hundebesitzer gibt?«

»Dann hast du einfach Pech gehabt und versuchst es woanders. Wir haben doch nichts zu verlieren.«

Mattes versuchte optimistisch zu bleiben, befürchtete aber schon, Nadine einen Verhaltenskatalog für alle eventuell auftretenden Situationen ausarbeiten zu müssen. Doch da hob sie den Kopf: »Gute Idee. Ich weiß auch schon, wo ich anfange. Ich kenne einen, der beim Tennisclub arbeitet.«

Mattes strahlte: »Dann sofort los! Häng dich dran! Hier hab ich auch noch eine Liste ausgedruckt mit potentiellen Werbekunden. Guck, ob du was herausfinden kannst.«

Sein Telefon klingelte, und er hörte Peter Plattlers Stimme grunzen: »Kannste mal rüberkommen?«, und dann sofort das Klicken des aufgelegten Hörers. Typisch. Kein Wort zu viel. Wahrscheinlich würde er ihm jetzt erklären, dass die Fotos aus dem Café nichts geworden sind. Kein Wunder. Die Ausrüstung hatte zwar für ihn als Laien recht professionell ausgesehen, aber mit einem Peter Plattler am Auslöser nützte wohl die beste Ausstattung nichts. Der hatte ja nicht mal einen Blitz benutzt. Mattes ärgerte sich plötzlich, dass ihm das nicht schon im Café aufgefallen war. Das wusste ja sogar er, dass gute Fotos nur mit dem richtigen Licht möglich waren. Mist. Wie sollte er das Saskia Hoffmann erklären? Ob er sofort einen Studiotermin bei einem richtigen Fotografen ausmachen sollte? Die Nikotinwolken in Peters Zimmer waren dick wie immer. Kein Wunder, dass bei dem alles verlangsamt war, wenn die Hirnzellen im Dunst arbeiten mussten. Mattes ließ die Tür auf, damit der Rauch nach draußen ziehen konnte.

Gereizt fragte er: »Wäre es nicht besser gewesen, wenn du einen Blitz verwendet hättest?«

»Häh?«, grunzte Peter Plattler fragend.

»Na, bei den Fotos von Saskia Hoffmann.«

Peter guckte ihn verwundert an und stieß aus: »Wie kommst du denn jetzt auf die Fotos? Ich will dir das Layout zeigen.«

Na klar. Und die Fotos gar nicht mehr erwähnen. Als wäre er so blöd, die zu vergessen. Peter wies auf den Tisch, auf dem mehrere große Papierbögen den diversen Kleinkram darunter abdeckten. Für Mattes waren Layoutentwürfe nicht neu, darum verstand er sofort, was die grauen Textblöcke, die angedeuteten Überschriften und die anskizzierten Fotos zeigten. Er pfiff leise durch die Zähne. Wow! Das war bunt und hatte trotzdem einen dezenten Stil. Viel Luft um die Texte und Platz für großformatige Fotos. Interessiert blätterte er die verschiedenen Bögen durch.

»Das ist echt gut«, sagte er anerkennend.

Peter blies langsam Zigarettenrauch aus und meinte: »Wenn wir Hochglanzpapier hätten, wäre es edel. Ist leider zu teuer.«

»Das muss unbedingt auf Hochglanzpapier«, bestimmte Mattes. »Wenn wir ein Produkt der obersten Liga machen, dann gehört das dazu. Ich drehe das mit der Druckerei. Das ist, wie immer, Chefsache.«

Er zog grinsend die Augenbrauen hoch, da stockte er plötzlich in der Bewegung. Der Nikotinqualm hatte sich weitgehend verzogen und gab den Blick frei auf mehrere große Ausdrucke, die an der Wand hingen.

»Da sind ja die Fotos von Saskia Hoffmann«, rief er völlig überrascht aus. »Die sehen ja unglaublich aus!« Er ging näher heran und konnte es nicht fassen. Die waren nicht nur gut, die waren der Hammer.

Hinter sich hörte er Peter sagen: »Sie sind noch nicht alle fertig. Ich muss den Rest noch ausdrucken.«

Mattes blickte auf eine gelöst lächelnde Moderatorin, die durch weiches Sonnenlicht, das in Strahlen durch die seitliche Fensterscheibe fiel, sanft beleuchtet wurde. Es war eine zauberhafte Atmosphäre, die durch die zurückhaltenden Farben, einen leicht unscharfen Hintergrund und eine exakt auf die Augen eingestellte Schärfe erreicht wurde. In ihren Armen hielt sie einen Hund, der pfiffig in die Kamera blickte. Sensationell.

»Und alles ohne Blitz«, sagte Mattes verwundert.

Peter schnaubte durch die Nase: »Blitz! Mit Blitz wird alles kalt und leblos. Da kriegste nur fette Schlagschatten. Blende auf und an der Schärfe schrauben. Man muss die Haut atmen sehen, nur dann ist es gut.«

Mattes sah ihn erstaunt an: »Du bist ja richtig poetisch. Vielleicht solltest du Artikel schreiben.«

Ein unfreundliches Schnauben ließ erkennen, dass Peter das nicht vorhatte. Egal. Wenn der solche Fotos machen konnte und einfach mal so ein geniales Layout präsentierte, war er der richtige Mann für das neue Magazin.

Nadine hing am Telefon, als er in ihr Büro guckte. Er gestikulierte, dass sie sich danach bei ihm melden solle, und sie nickte ihm zu. Leise schloss er die Tür und ging zu Frau Althoff, wo Mucki bei seinem Eintreten schrill bellend aufsprang.

»Das kann ja wohl nicht mehr daran liegen, dass ich ihm fremd bin«, stellte Mattes genervt fest. »Der sieht mich seit einer Woche täglich und müsste es langsam mal kapieren.«

Frau Althoff sah ihn feindlich an: »Er ist hochsensibel und reagiert auf jede Veränderung. Auch er muss sich an einen neuen Chefredakteur erst gewöhnen. Außerdem liegt es daran, wie Sie das Zimmer betreten.«

»WIE betrete ich das denn?«, fragte Mattes und zählte auf: »Ich mach die Tür auf und komm rein. Machen Sie das anders?« Er sah sie ernst an: »Frau Althoff, Ihr Hund nervt. Sie müssen den irgendwie ruhig kriegen. Auf Dauer geht das nicht, dass der ständig kläfft.«

Erschrocken blickte sie ihn an. Was war los? Der Hund nervte – warum sollte er es nicht sagen dürfen?

»Wenn Mucki gehen muss, gehe ich auch!«, brach es aus seiner Sekretärin heraus, und Mattes war erschrocken über die Ernsthaftigkeit, mit der sie es sagte. In was für ein Wespennest hatte er denn jetzt schon wieder gestochen?

»Ich habe ja gar nicht gesagt, dass er gehen muss. Aber haben Sie keinen, bei dem der Hund tagsüber bleiben kann?«, erkundigte er sich.

»Mein Mann kommt nicht mit ihm zurecht«, sagte sie knapp. Ah, sie hatte also tatsächlich einen Mann. Der Arme. Wahrscheinlich trug er eine elektronische Fußfessel, damit sie ihn stets unter Kontrolle hatte. Sie jeden Tag im Büro zu haben war an der Grenze des Erträglichen, aber sie abends und nachts zuhause um sich zu haben war für ihn nicht vorstellbar. Vermutlich würde der Mann hervorragend mit Mucki zurechtkommen, dachte Mattes, aber sie konnte nicht ertragen, die Oberaufsicht abzugeben. Die Tatsache, dass es einen Mann gab, der sich irgendwann unüberlegt an Gisela Althoff gebunden hatte, setzte Mattes zu. Die war doch niemals ein sanftes Reh gewesen, auf das man hätte reinfallen können. Die hatte ganz sicher schon als Kind bestimmt, wer im Sandkasten die Förmchen bekam, wer die Schaufeln wegräumen musste und wer Schaukelverbot hatte. Jetzt sah sie allerdings immer noch erschrocken aus.

Er wechselte das Thema: »Können wir Tina zu etwas Sinnvollerem einsetzen als zum Kopieren? Quasi Phase zwei in der Praktikantenausbildung.«

Frau Althoff guckte ihn skeptisch an: »Was haben Sie sich vorgestellt?«

»Telefonieren?«, fragte Mattes.

Er sah, dass die Althoff energisch den Kopf schüttelte: »Unmöglich!«

»Aber sie kann doch hier nicht nur Kaffee kochen und Kopien ziehen. Warum haben wir sie, wenn wir sie nicht einsetzen können? Als Praktikantin soll sie etwas lernen.«

Die Althoff sah ihn an und sagte: »Sie ist nicht für uns hier, sondern für sich.«

Wieder eine Andeutung, die ihm nichts sagte.

»Was heißt ›für sich‹?«, fragte er nach.

Frau Althoff stand auf und ging an ihm vorbei zur Tür. »Tun Sie einfach so, als wäre sie nicht da. Tina ist voll beschäftigt und nicht für weitere Arbeiten einsetzbar.«

Mattes starrte ihr hinterher. Sie hatte einfach ihr Büro verlassen und ihn stehen gelassen. Mucki guckte ihn feindselig an und knurrte leise. Am besten wäre es, wenn er die Althoff zusammen mit ihrem Hund rauswarf. Das würde seine beiden größten Probleme gleichzeitig lösen. Es gab doch ganz andere Chefsekretärinnen, so langhaarige, nette junge Frauen, die ihre Chefs klasse fanden, die obersten drei Knöpfe ihrer Bluse offen ließen und ihnen mit endlos langen, übereinandergeschlagenen Beinen gegenübersaßen und Diktate entgegennahmen. Er dagegen hatte die Mädchenpensionats-Vorsteherin bekommen. Mit Autoritätspersonen hatte er schon immer seine Schwierigkeiten gehabt und war ihnen gerne aus dem Weg gegangen, und ausgerechnet so eine war jetzt seine persönliche Assistentin. Das Leben war grausam. Nadine kam in sein Büro: »Mein Bekannter nimmt mich heute Abend in den Tennisclub mit. Ich versuch’ mal, an die Hundehalter ranzukommen und rauszufinden, bei welchen Firmen die sind.«

Das war ein Anfang. Nadine schien sich einsetzen zu wollen. Mattes bot ihr einen Stuhl an, und sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.

Er erklärte: »Wir beide müssen uns Gedanken machen, was für Themen wir für das erste Heft realisieren können.«

Nadine sah ihn zweifelnd an: »Ich kann aber nicht ständig unterwegs sein, um Anzeigenkunden zu akquirieren, und gleichzeitig auch noch Artikel recherchieren und schreiben.«

»Doch, kannst du«, verlangte Mattes. »Wir müssen sofort mit der ersten Ausgabe reinhauen. Vergiss dein Privatleben, die nächsten drei Wochen gibt es nur das neue Magazin!«

Wenig begeistert guckte ihn Nadine an. »Da krieg ich Ärger mit meinem Freund.«

»Was ist wichtiger? Dein Freund oder dass wir ein Hochglanz-Premium-Magazin auf den Markt werfen?«, fragte Mattes und versuchte sie mitzureißen.

»Mein Freund«, entschied Nadine, ungewöhnlich forsch, sofort.

»Quatsch!«, widersprach Mattes. »Hör mal, du hast gerade die Gelegenheit, Redakteurin eines Nummer-Eins-Magazins zu werden. Das ist ein riesiger Karrieresprung von ›Hasso und Fina‹ zum Top-Hunde-Magazin. Dafür kann dein Freund doch auch mal ein paar Abende alleine zu Hause sitzen.«

Ihrem Gesicht konnte er ansehen, dass er sie noch kein Stück mitgerissen hatte.

»Wenn wir Erfolg haben, und da zweifle ich keine Sekunde dran, giltst du als Top-Redakteurin in der Szene. Du bist dann jung und schon ganz oben an der Spitze«, versuchte Mattes es erneut.

»Vielleicht will ich das gar nicht«, sagte Nadine ruhig.

Das brachte Mattes aus dem Konzept. Wenn sie nicht den Drang hatte, an die Spitze zu kommen, woher sollte sie ihre Motivation nehmen? Aber wenn Nadine nicht mitzog, die Althoff ständig alles boykottierte und Peter Plattler mal großartige Ideen hatte, sich dann aber auch wieder komplett verweigerte, konnten sie es nicht schaffen.

»Na, super«, sagte er. »Stellt doch mal euren Kopf an! Einmal kräftig Arbeit reingesteckt und das Ding läuft. Und wenn es einmal läuft, haben wir es doch wieder bequem. Es geht nur um das eine Heft!«

»Ich hab ja nicht gesagt, dass ich nicht mitmache, aber mir hat die Arbeit bei ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ gut gefallen. Von mir aus muss das jetzt nicht ein Premium-Magazin werden«, sagte Nadine abweisend.

Es gab Finder und Sucher, dachte Mattes, und er hatte eine natürliche Abneigung gegen Sucher, die sich anstrengten, um etwas zu erreichen. Aber es gab auch Sitzenbleiber. Nadines, die gar nichts wollten, und auf einmal fand er das noch viel schlimmer.

Nadine seufzte und legte dann einen Zeitungsabschnitt auf den Tisch.

»Das hab ich gestern gesehen. Auf dem Bild ist ein Hund mit einem brillantenbesetzten Halsband drauf. Ich hab gedacht, wir könnten vielleicht was über Luxus-Zubehör schreiben.«

»Aber klar«, sagte Mattes sofort. Vielleicht war Nadine gar kein Sitzenbleiber, sondern brauchte erst mal etwas Schwung und würde dann weiterlaufen.

»Informier dich, was es gibt an Halsbändern, Körbchen und wer weiß was für einen Mist. Da machen wir was draus. Aber nicht nur eine Fotostrecke, sondern auch einen informativen Artikel, ob so was sinnvoll oder vielleicht sogar schädlich ist. Außerdem werden wir an die Frage-Antwort-Rubrik gehen. Fürs erste Heft müssen wir uns die Fragen natürlich noch alle selber ausdenken. Wenn dir was dazu einfällt, lass es raus!«

Ihm fiel Astrid ein, die sich am Morgen mit den Nordic-Walking-Stöcken abgemüht hatte, und er rief spontan: »Und das Titelthema wird ›Abnehmen mit Hund‹. Alles über Joggen, Wandern und Sportarten, bei denen der Hund beim Fitnessprogramm mitmachen kann.«

»Das ist interessant«, lächelte Nadine. Mattes lächelte zurück und dachte: Ich muss mich nicht nur selber voll reinhängen, ich muss auch meine Mitarbeiter anschubsen. Ihm wurde bewusst, dass die ganze Sache eine Menge Kraft kosten würde.

Sie hatten genau drei Wochen Zeit, bis sie ein völlig neu konzipiertes, mit Fotos und Artikeln gefülltes und mit ausgesuchten Werbekunden bestücktes Magazin in die Druckerei geben mussten. Sie waren zu dritt plus einer Sekretärin, die sich um den organisatorischen Kram kümmerte, plus einer Praktikantin, die nur zum Kaffeekochen und zu dubiosen Kopieraktionen eingesetzt werden konnte. Realistisch gesehen war das nicht zu schaffen. Aber Mattes hatte noch nie auf realistische Betrachtungen Wert gelegt. Er hatte Visionen. Und eine dieser Visionen war es, dass sie mit Minimalbesetzung und in Rekordzeit ein sensationelles Magazin auf den Markt werfen würden. Peter hatte doch schon gezeigt, dass er mit unerwartet guten Ideen und Entwürfen aufwarten konnte, wenn er freie Hand bekam und motiviert war, und auch Nadine zeigte plötzlich, dass sie noch so etwas wie einen eigenen Antrieb besaß. Ganz abgesehen von Frau Althoff, die sowieso unaufhaltsam und unbeirrbar voranlief und es bei ihr nur etwas undurchsichtig blieb, ob sein Weg und ihr Weg wirklich ein gemeinsames Ziel hatten. Er war endlich Chefredakteur, und er hatte keine Lust, den Job in einem Monat wieder los zu sein, weil seine Mitarbeiter nicht im gleichen Maße wie er motiviert und von der Idee überzeugt waren. Es war seine Chance, die sich ihm unerwartet in den Weg gelegt hatte, und er würde sie, verdammt noch mal, nicht einfach liegen lassen! Aber sie hatten nicht ein halbes Jahr Zeit, um gemeinsam auf Betriebstemperatur zu kommen.

»Komm mit«, sagte er zu Nadine, die gerade aufstehen und gehen wollte, und ging vor ihr her auf den Flur. Dort hielt er die Hände wie Trichter vor seinen Mund und rief: »Hey! Alle mal herkommen!« Das war vielleicht nicht das seriöse Chefverhalten, aber es funktionierte. Peter Plattler steckte einen Kopf aus seinem Zimmer, Frau Althoff kam mit empörtem Gesichtsausdruck um die Ecke gerauscht und hinter ihr her wackelte Tina, neugierig grinsend, in der Hand einen Stapel kopierter Blätter. Mattes machte eine beschwichtigende Geste: »Tut mir leid, dass ich so auf dem Flur brülle, aber es ist wichtig. Ehe wir uns falsch verstehen: In drei Wochen müssen wir ein hammermäßig gutes Magazin in die Druckerei geben, oder wir können alle unsere Sachen packen! Das heißt, dass ab jetzt alle Energie in das neue Heft fließen muss. Die Erstausgabe muss es bringen, nicht die zweite oder dritte danach. Ich erwarte von jedem, dass er alles gibt, und ich möchte, dass wir uns ab jetzt jeden Tag zu einer festen Zeit treffen und uns austauschen, was zu machen ist, was es für neue Ideen gibt und wo es vielleicht hakt. Zusammen schaffen wir das, ich glaube fest an uns! Bis jetzt läuft alles nach Plan.«

»Ach, es gibt einen Plan?«, fragte Frau Althoff spöttisch, und es war für jeden zu hören, dass sie vielleicht an den Weihnachtsmann glaubte, aber nie im Leben an einen Plan von Mattes Reuter.

Mattes sah sie fest an: »Natürlich. Ich mache das nicht zum ersten Mal, und Sie können davon ausgehen, dass ich genau weiß, was ich tue.«

Wow. Er hatte sie einfach angelogen, und erstaunlicherweise sah sie so aus, als ob sie ihm glauben würde. Zumindest in Ansätzen. Vermutlich würde sie nachher ihre Informanten zusammenscheißen, die sie nicht vollständig über seinen Lebenslauf unterrichtet hatten. Sollte sie sich ruhig mal austoben. Ihm war es egal. Wichtig war jetzt nur, dass er sich wirklich mal einen Plan überlegte. Er war flexibel, er war geistreich, und er war allen Situationen gewachsen. Das hatte er in den fast vierzig Jahren seines Lebens immer wieder gezeigt. Warum, zum Teufel, hatte er ausgerechnet hier das Gefühl, wild, aber völlig wirkungslos mit den Armen zu rudern und den Überblick zu verlieren?

Aus Giselas Althoffs Büro schrillte das Telefon bis in den Gang, und Mucki begann zu kläffen. Mattes wusste nicht, wen er in diesem Moment lieber abschießen würde, den durchgedrehten Hund, das schrill klingelnde Telefon oder die fürchterliche Althoff. Genervt sagte er: »Stellen Sie den Hund ab!«, und sah Frau Althoff nach, die in ihr Büro eilte. Er konnte an den Geräuschen erkennen, wie sie in die Hundekeksdose griff, zuerst ihren Prinzen ruhigstellte und sich dann am Telefon meldete. Nach einer Pause hörte er sie sagen: »Das tut mir leid. Herr Reuter ist auf Geschäftsreise und erst in der nächsten Woche wieder da. Ja, ich werde es ihm ausrichten.«

Auf dem Flur herrschte Stille, als sie langsam aus ihrem Büro trat. »Das war Dr. Steinle-Bergerhausen vom Verlag«, sagte sie. »Er möchte wissen, was es mit dem Monatsmagazin auf sich hat. Er hat vermutlich mit jemandem aus der Druckerei gesprochen. Ich habe gesagt, dass Herr Reuter erst in der nächsten Woche wieder da ist. So haben wir etwas Zeit gewonnen.«

Mattes sah sie stumm an.

»Scheiße!«, murmelte Peter, verschwand in seinem Zimmer und schlug laut die Tür hinter sich zu.

Gisela Althoff lehnte sich an den Türrahmen und sagte halblaut: »Ich habe gewusst, dass es Ärger gibt.«

Berrys Frauchen grinste ihm zu, als er ihr am nächsten Morgen mit Mina im Park entgegenkam.

»Haben Sie einen neuen Job, weil Sie jetzt oft morgens schon unterwegs sind?«, fragte sie.

Er nickte. Sollte er ihr sagen, was er machte? Ein joviales »Ich bin Chefredakteur« würde sie ziemlich beeindrucken. Aber dann müsste er sagen, bei welcher Zeitung, und ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ fand sie bestimmt nicht prickelnd. Mist, er musste dringend einen Namen für das Magazin finden, ehe noch mal so eine Chance vorbeiging.

»Ich schreibe«, umging er weiträumig den Gefahrenpunkt und hoffte, damit ebenfalls Punkte zu erzielen. Schreiben klang immer nach Pulitzer-Preis, sensibler Seele und tiefen Gedanken.

Bei Berrys Frauchen wohl nicht, denn sie fragte sofort interessiert nach: »Was denn? Comedy-Dialoge, Krimis oder Werbesprüche?«

»Weder noch«, setzte er weltmännisch an und warf lässig ein »Ich bin Journalist« hin.

»Aaah«, sagte Berrys Frauchen und hinter ihrer Stirn konnte er weitere Fragen erahnen. Das war ihr alles noch zu diffus. Zum Glück kamen Berry und Mina auf die Idee, quer über die Wiese zu rennen, und mussten laut zurückgerufen werden.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Berrys Frauchen und lachte. »Für mich sind Sie immer der Mann mit der Mina.«

»Ich bin Mattes Reuter.«

»Dann schreiben Sie keine Bücher. Wenigstens keine erfolgreichen, sonst würde ich den Namen kennen. Ich bin nämlich Buchhändlerin. Beatrice Wagner«, stellte sie sich vor.

Endlich hatte Berrys Frauchen einen Namen. Sie rief Berry zu sich und leinte ihn an.

»Dann vielleicht bis morgen, Herr Reuter«, sagte sie, und er korrigierte: »Mattes.« Ein Versuch war es wert. Sie guckte hoch und lächelte.

»Bis morgen – Mattes.«

Bingo!

In der Redaktion hatte Nadine schon auf ihn gewartet.

»Ich habe jetzt Kontakt zum ›Royal Dogs Club‹, ein sehr elitärer Club, der ganz neue Wege geht. Da kommt nicht jeder rein. Die Hunde müssen in ihrem Stammbaum einen Verwandtschaftsgrad zu einem Hund eines europäischen Königshauses nachweisen können. Total abgedreht. Das wäre was für einen Artikel. Die sitzen aber in Hamburg.«

Mattes ließ sich die Unterlagen reichen und überflog sie.

»Das sieht gut aus. Sind die einverstanden, dass wir einen Bericht über sie machen?«

Nadine strahlte zufrieden: »Ja, du kannst vorbeikommen.«

»Ruf an, mach einen Termin aus, und dann soll die Althoff Flüge für mich und Peter buchen. Gut gemacht. Wie war es im Tennisclub? Hast du dich an jemanden ranmachen können?«

Ihre Augen blitzten: »Ging ganz einfach. Ich hab mir einen Cocktail geholt, bin durch den Laden geschlendert und hab immer erzählt, ich hätte mir einen Welpen geholt. Die Hundebesitzer sind sofort drauf angesprungen, und dann habe ich ihnen vom neuen Magazin erzählt und dass ich kaum hinterherkäme, weil die Werbekunden total wild auf die Seiten sind. Und dass wir aber nur exklusive Kunden nehmen können, weil die Leser exklusiv sind. Ich habe jetzt drei Leute, die unbedingt einen Termin mit mir ausmachen wollen. Der eine ist von der Deutschen Bank, der andere hat irgendwelche dicken Autos, die er verleiht, und einer ist Vorstand im Golfclub.«

Treuherzig sah sie Mattes an: »Dem Chef von der Bäckerei Günther und so ’nem Typen, der anbot, wir können in seiner Disco plakatieren, habe ich abgesagt. War das O. k.?«

»Perfekt!«, grinste Mattes. Die kleine graue Maus überraschte ihn. Respekt. Sie war auf der richtigen Spur und schien hartnäckig zu sein. Vielleicht war es gerade von Vorteil, dass sie harmlos und unauffällig aussah und die dicken Fische ihr gar nicht zutrauten, dass sie auf der gezielten Suche nach passenden Werbekunden eine echte Schwindlerin war.

Für ihn wurde es Zeit, an die Frage-Rubrik zu gehen. Vielleicht sollte er sich jetzt schon einschlägige Hunderatgeber im Buchhandel besorgen, ehe er an die Antworten zu komplizierten Fragen ging, überlegte er.

Ihm fiel Tante Thea ein, die ihren Arco nicht verstanden hatte. Warum hatte sie nie kapiert, dass Arco auf ihre Handlungen reagierte und sie sich nur anders hätte verhalten müssen, um einen netten Hund zu haben? Naja, gut, sie hatte auch das Verhalten ihres Mannes nicht verstanden, aber der hatte zumindest nie mit gefletschten Zähnen unter der Küchenbank gesessen und sie bedroht. Mattes musste lachen, als er sich seinen Unterhemd tragenden Onkel geifernd unter der Bank vorstellte. Mit Arco dagegen führte Tante Thea offene Machtkämpfe. Sie wusste, dass er ausrastete, wenn sie ihm einen Knochen wegnehmen wollte, und trotzdem gab sie ihm immer wieder die größten Exemplare, die er besonders erbittert verteidigte.

Als Junge hatte er danebengestanden, wenn es Tante Thea darum ging, den abgenagten Knochen von Arco zurückzuerobern. Es waren nervenaufreibende und hochspannende Kämpfe gewesen, bei denen am Ende immer Tante Thea gewann. Arco zog sich mit seinem Knochen immer auf den strategisch günstigen Platz unter der Kücheneckbank zurück. An zwei Seiten schützten ihn Wände, die beiden schmalen offenen Seiten der Eckbank waren von ihm aus überschaubar und gut zu verteidigen. Schon wenn Tante Thea zu nahe kam, knurrte er tief grollend los. Sobald sie Anstalten machte, an seinen Knochen zu gelangen, wurde er zum erbitterten Beschützer seines Eigentums. Stöhnend rückte sie die quietschenden und polternden Stühle und sogar den Tisch weg und stocherte dann mit einem Besen unter der Küchenbank herum, um an Arco vorbei an den Knochen zu kommen. Dabei knirschte sie erbittert »Du verfluchter Sauhund!«, und ließ weitere Bemerkungen los, für die Mattes in der Schule zumindest dickes Nachsitzen bekommen hätte.Während dieser Aktion knurrte Arco drohend und gab ihr zu verstehen, dass er sofort zubeißen würde, wenn er sie irgendwo erwischen würde. Ersatzweise verbiss er sich aggressiv in den Besen. Mattes hielt sich in sicherer Entfernung auf und beobachtete die sich immer wiederholende Szene mit gruseligem Schauern.

Warum versuchte Tante Thea, mit Gewalt an den Knochen zu kommen? Wieso warf sie nicht einfach ein Stück Wurst in den Flur, schlug die Tür hinter Arco zu, wenn der dorthin gerannt war, und angelte dann in aller Ruhe den Knochen unter der Bank hervor? Seinen Vorschlag, ein Seil an den Knochen zu binden und ihn einfach wegzuziehen, wenn sie ihn wiederhaben wollte, hatte sie als Kinderkram abgewunken. Mattes musste lachen. Damals war ihm zwar schon klar gewesen, dass die Mitglieder seiner Familie alle völlig bescheuert waren, aber einen Rest von Respekt hatte er ihnen zugestanden, weil sie Erwachsene waren und damit in einer anderen, für ihn oft unverständlichen Welt lebten. Er hatte nicht gewusst, warum sie sich so blöd verhielten, aber er hatte insgeheim gehofft, dass ein Sinn hinter ihren Handlungen lag, der sich ihm später, wenn er ebenfalls erwachsen war, erschließen würde. Heute vermutete er, dass Tante Thea damals genau diese Kämpfe haben wollte. Arco lag vielleicht stellvertretend für Onkel Günther unter der Küchenbank, und endlich war mal was los in der Beziehung. Auch Machtkämpfe waren eine Form der Kommunikation. Es war Tante Thea nicht um eine friedliche Behebung der Situation gegangen, sondern um den Kampf, aus dem sie immer als Siegerin kam. Es war ihr persönlicher Triumph, den Knochen wiedererobert zu haben. Jedes Mal.

Wenn Mattes zurückdachte, fiel ihm auf, wie spannend er alles gefunden und wie aufmerksam er es beobachtet hatte. Und nicht nur beobachtet, sondern er hatte auch versucht, Erklärungen zu finden. Schon damals war er sicher, dass Tante Thea die Ursache für den Stress war und dass sie Arco auf irgendeine Weise unbewusst dressiert hatte, damit er genauso wild wurde, wie sie das wollte. Dass sie ihn dann zwar »Sauhund« nannte, ihn aber trotzdem mehr liebte als jeden Menschen um sich herum. Sie hatte ihn dressiert, so wie er im Teenageralter Snoopy, dem kleinen Spitz-Mischling seiner Tante Gerlinde, kleine Kunststückchen beigebracht hatte. Es war ganz leicht gewesen. Er hatte einfache Kommandos gegeben, beim richtigen Verhalten eine kleine Belohnung hervorgezogen, und der völlig unerzogene Snoopy war plötzlich in der Lage, aufmerksam zuzuhören und auf Kommandos zu reagieren. Er tat mit sichtlicher Freude am gemeinsamen Spiel, was Mattes ihm sagte, während er sich sonst nach Belieben selbständig machte und freiheitsliebend durch die Gegend zog. Aber im Gegensatz zu Tante Thea hatte Tante Gerlinde nie das Bedürfnis gehabt, Machtkämpfe durchzuführen. Sie war ebenso freiheitsliebend wie ihr Hund und ließ ihn lachend machen. »Ach, der kommt schon zurück«, rief sie unbesorgt, wenn er mal wieder verschwunden war. Das war bei ihr allerdings nicht ganz unproblematisch, denn manchmal fuhr sie mit ihrem Mann, der Rheinschiffer war, den Fluss entlang, und sie hatten sogar einmal zwei Tage länger in Antwerpen liegen bleiben müssen, weil Snoopy im Hafen an Land gesprungen und verschwunden war.

Wahrscheinlich hatte Mattes später, als er Mina bekam, keine Probleme mit ihr bekommen, weil er so viel falsches Verhalten beobachtet hatte, dass ihm klar war, was er vermeiden musste. War es darum jetzt wirklich nötig, dass er sich irgendwelche Hundebücher zulegte, um dort Antworten für die Fragerubrik zu finden, wenn ihm selber sofort auffiel, wo das Problem liegen könnte? Vielleicht saß er nicht zufällig in einer Hunde-Redaktion, sondern im tiefen Unterbewusstsein hatte ihn etwas gedrängt. Er fand Hunde interessanter als alle anderen Tiere. Und er würde ein richtig gutes Magazin machen. Nicht nur Hochglanz im Papier, sondern auch im Inhalt. Und mit dem neuen Namen würde es anfangen. Der war entscheidend. Mattes nahm ein Blatt Papier und schrieb groß ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ drauf und strich den Namen mit kräftigen Bewegungen aus. So. Weg. Verschwunden aus dem Zeitschriftenmarkt. Die Welt war reif für das neue Magazin. Jetzt musste ihm nur noch ein guter Name einfallen.

Nach zehn Minuten gab er auf. Namen mussten spontan kommen, sonst waren sie verkrampft. Außerdem war er Finder und bekam Eingebungen, die ihm plötzlich zuflogen. Das war nicht nur lässiger und treffend im Ergebnis, das hatte auch den Vorteil, dass vorher nicht so viel Zeit mit langwierigem Überlegen draufging.

Sein Magen meldete sich, er hatte noch nicht mal gefrühstückt, und da es Zeit für eine Pause war, rief er Mina und ging los. Kurz beim Bäcker vorbei, wo es belegte Brötchen gab, und dann in den Park, wo er inzwischen seine mittägliche Standardrunde lief. Mina hatte zunächst größtes Interesse an der raschelnden Brötchentüte, gab aber auf, als sie merkte, dass sie nichts bekam und es stattdessen andere Hunde im Park gab. Schon nach kurzer Zeit stand Mattes mit zwei weiteren Menschen auf dem Weg, und sie sahen ihren spielenden Hunden zu. Wie immer gab es sofort Geschichten über die Hunde zu hören, und Mattes erfuhr, dass Carlos, wenn er einen Augenblick unbeaufsichtigt war, gerne Wurstscheiben vom Tisch klaute und danach mit ganz süßem unschuldigen Gesichtsausdruck auf seiner Decke lag, als ob nichts geschehen wäre, und dass der kleine Benni alle Leute, außer dem Opa, in die Wohnung lassen würde. Den Opa knurre er leider so heftig an, dass alle Sorge hatten, er würde mal zubeißen, und darum würden Familientreffen jetzt ohne Opa oder ohne Benni stattfinden. Mattes fiel sofort die Fragerubrik ein. Das waren doch schon zwei Themen, die passen würden.

»Macht ihr irgendwas dagegen, dass Carlos Wurst klaut und dass Benni den Opa anknurrt, oder lebt ihr gut damit?«, fragte er freundlich.

Carlos Halterin guckte ihn an, als wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, etwa zu ändern.

»Nö«, sagte sie dann. »Ist doch ganz süß, wenn er dann auf seiner Decke liegt und so unschuldig tut.«

Bennis Frauchen zögerte etwas und gab dann zu: »Es ist schon nervig, und der Opa tut mir leid, aber sonst ist der Benni immer ganz lieb. Eigentlich mag der alle Leute.«

Mattes fragte: »Noch nie auf den Gedanken gekommen, mal den Grund rauszufinden und was zu ändern?«

Ein kühler Blick traf ihn, und Bennis Halterin sagte spitz: »Ich kenne mich mit Hunden sehr gut aus, und das Problem ist nicht Benni, sondern der Opa. Der hat was, das Benni nicht mag. Hunde verhalten sich so, wie es die Natur verlangt, und das ist ein Instinktproblem.«

»Ah, ein Instinktproblem«, wiederholte Mattes amüsiert und folgerte: »Aber es ist immerhin ein Problem.«

Zischend stellte sie klar: »Ich habe kein Problem mit meinem Hund« und rief: »Benni, komm her! Benniiii!«, was Benni in keiner Weise von seinem Toben mit den beiden anderen Hunden ablenkte.

Mattes grinste still vor sich hin, was ihr natürlich nicht verborgen blieb und sie zu einem wütenden: »Eigentlich hört er gut!« veranlasste.

Das Wort Probleme ist problematisch, dachte Mattes. Da musste er womöglich sensibler rangehen und nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Es durfte höchstens problematische Situationen geben, aber keine Halter, die Probleme mit ihrem Hund hatten. Bei Benni sah er ein echtes Problem, im Gegensatz zum wurstklauenden Carlos. Wenn dessen Frauchen das süß fand, störte es niemanden und alle waren glücklich.

Kaum betrat er mit Mina die Redaktion, schoss ihnen bellend Mucki entgegen, und aus der offenen Bürotür lief Frau Althoff hinterher, die ihren Hund mit einem Hundekuchen lockte und damit nach einigen Versuchen auch ruhigstellen konnte.

»Sie stürmen hier aber auch immer rein«, stellte sie anklagend fest und gab damit die ganze Schuld am lautstarken Aufruhr an Mattes und Mina weiter.

»Von Stürmen kann gar keine Rede sein«, sagte Mattes und wies auf Mina, die ruhig neben ihm stand. »Bei Ihrem Mucki läuft was nicht richtig.«

Ein strafender Blick traf ihn, und sie sagte vorwurfsvoll: »Hoffentlich hat er das jetzt nicht gehört.«

Mattes guckte sie prüfend an. Meinte sie das ernst? Aber schon hatte sie sich umgedreht, winkte Mattes ihr zu folgen und betrat ihr Büro. Sie reichte ihm einen Zettel und erklärte: »Sie fliegen am Montagmorgen um 8:40 Uhr nach Hamburg zum Hundeclub, der Rückflug ist um 14:10 Uhr. Herr Plattler kommt aus Dresden dazu, wo er am Tag zuvor Fotos vom Treffen der Husky-Vereine macht.«

Mattes griff zum Telefon, das auf dem peinlichst aufgeräumten Tisch seiner Sekretärin stand, und wählte Astrids Nummer.

»Ich muss schnell was absprechen«, erklärte er, dann hob am anderen Ende schon Astrid ab.

»Hier ist Mattes. Könntest du am Montag Mina übernehmen? Ich muss weg, bin aber abends wieder da.«

»Nur, wenn es nicht regnet«, erklärte Astrid sofort.

»Woher soll ich wissen, ob es in fünf Tagen regnet? Bin ich vom Wetteramt?«, fragte Mattes.

»Dein Hund stinkt, wenn er nass ist. Das kannst du vergessen, dass ich mir dann von dem Köter die Bude unbewohnbar machen lasse!«

Mattes seufzte genervt: »Stell dich nicht so an! Wenn du wirklich was riechst, bringst du Mina in meine Wohnung, und sie wartet da.«

»Ich stell mich nicht an«, widersprach Astrid spitz. »Außerdem rieche ich deinen Hund auch, wenn er trocken ist. Die Viecher stinken immer. Ihr Hundehalter müsst alle kaputte Geruchsnerven haben.«

»Du hast, wie immer, recht. Danke, dass du sie nimmst«, beendete Mattes das Gespräch, doch Astrid unterbrach: »Von wo rufst du eigentlich an?«

»Ich bin mit dem Handy unterwegs«, versuchte Mattes betont belanglos abzulenken.

»Unsinn, das ist eine Festnetznummer, die ich auf dem Display sehe.«

Scheiße! Dass er daran nicht gedacht hatte. Jetzt hatte Astrid die Nummer der Redaktion. Hilfe!

Er hörte sie leise lachen. »Bist du bei deiner Freundin? Ich wusste doch, dass da was ist. Hoffentlich hat wenigstens sie Arbeit, oder hängt ihr jetzt immer beide rum?«

»Nein, es ist keine Freundin«, sagte Mattes und versuchte das Bild der Althoff aus dem Kopf zu bekommen, die an dieses Telefon ging, wenn Astrid die Nummer wählen würde.

»Es ist ein … äh … Kunde. Ob du es glaubst oder nicht, ich arbeite. Und am Montag muss ich darum nach Hamburg fliegen.«

Astrid konterte sofort: »Fährt sie mit? Was macht ihr? Shoppen oder Essen gehen? Ist ein bisschen teuer für euch, mal eben so nach Hamburg, oder?«

»Du hast sie ja nicht mehr alle«, reagierte Mattes genervt. »Komm, Astrid, bitte, quatsch Godehard zu, wenn du jemanden brauchst, aber lass mich in Ruhe! Ich lass Mina am Montag in meiner Wohnung, und du kannst sie zum Spazierengehen abholen. Wenn sie stinkt, hör einfach auf zu atmen. Bis abends wirst du das durchhalten.«

Astrid klang nicht beleidigt, sondern flötete ins Telefon: »Danach möchte ich sie kennenlernen!«

Mattes dachte an die Althoff und grinste abschließend: »Nein, das möchtest du nicht!« Er legte den Hörer auf und sah Frau Althoff an, die ihm unbewegt zugehört hatte: »Das war meine Schwester, und es kann sein, dass sie hier anruft und Sie …«, es fiel ihm schwer, es auszusprechen, »… Sie für meine Freundin hält«, ergänzte er mühsam. Die Althoff’schen Augenbrauen hoben sich und ein amüsierter Blick traf ihn. Sie nahm es tatsächlich mit Humor, falls sie so etwas hatte. Oder sie heckte einen teuflischen Plan aus. Die zweite Möglichkeit erschien ihm fast wahrscheinlicher. Spontan versuchte er, sie zu überrumpeln: »Was kopiert eigentlich Tina den ganzen Tag?« Wenn er gerade bei den teuflischen Plänen war, konnte er auch versuchen, hinter ihre geheimen Machenschaften zu kommen.

»Unterlagen«, antwortete die Althoff knapp.

Mattes versuchte ebenso knapp zu bleiben: »Warum?«

»Um nicht mit den Originalen zu arbeiten.«

Ah, jetzt kamen sie der Sache schon näher.

»Wofür?«, fragte er.

Sie sah ihn fest an: »Sie müssen geordnet werden.«

»Aber sind sie das nicht?«

»Doch.«

Er wurde noch wahnsinnig. Konnte diese blöde Kuh ihm nicht einfach sagen, was mit den Kopien geschah, an welchen Geheimdienst sie geliefert wurden und wer hier Doppelagent war? Heftig schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, und Mucki schoss aufgeschreckt hoch und bellte hysterisch.

»Jetzt haben Sie ihn geweckt!«, klagte Frau Althoff vorwurfsvoll. »Er hatte gerade so schön geschlafen.« Sie beugte sich zu ihrem Hund hinunter und versuchte ihn zu beruhigen, während Mattes kopfschüttelnd das Büro verließ.

In seinem Büro setzte er sich hin und begann mit der Fragerubrik. Überschrift: »Ich hätt’ da mal ’ne Frage …« Ja, das war gut. Kannte er jemanden, der die Antworten mit fundierter fachlicher Ausbildung übernehmen konnte? Nein. Gab es überhaupt eine fundierte, fachliche Ausbildung in Hundefragen? Vermutlich nicht. Es blieb ihm also wirklich nichts anderes übrig, als selber der Hundeexperte zu werden. Dass er das nicht unter seinem eigenen Namen machen könnte, war selbstverständlich. Das fehlte noch. Für seine berufliche Laufbahn war es etwas ganz anderes, ob er sich als Chefredakteur zufällig mit Hunden beschäftigte oder ob er dort die Kummerkastentante war. Neben ihm gähnte Mina auf ihrer Decke und legte den Kopf schläfrig auf die Vorderpfoten. Fragen Sie Mina Reuter!, ging es Mattes durch den Kopf. Das war es! Und damit der Bezug zu ihm nicht so deutlich war, würde er den Namen anonymisieren. Mina R. Das klang von ganz alleine nach einer Expertin. Und sie war im wörtlichen Sinne eine Hunde-Expertin. Momentan ziemlich schläfrig, aber in Hundefragen extrem kompetent. Er lachte: »Mit dir haben wir dann ein Redaktionsmitglied mehr. Ich hoffe, die Althoff kriegt dich auf der Gehaltsliste unter.« Schnell schrieb er ein paar mögliche Fragen auf einen Zettel und überlegte seine Antworten dazu. Nicht alles konnte kurz und knapp beantwortet werden. Vielleicht sollten sie die Rubrik noch ausführlicher anlegen, um wirklich kompetent antworten zu können.

Er sprang auf und ging mit seinem Zettel in die Grafikabteilung, in der Peter mit qualmender Zigarette über dem Schreibtisch hing und erfolgreich damit beschäftigt war, alle Papiere, Layoutentwürfe und Fotoausdrucke mit Nikotingeruch durchdringen zu lassen. »Ich hätt’ da mal ’ne Frage …«, sagte Mattes und warf ihm den Zettel auf den Tisch. »Kannst du dir ein Layout dazu überlegen? Das soll etwa vier bis sechs Seiten lang werden mit Fragen und ausführlichen Antworten.«

Peter guckte sich den Zettel an und fragte mürrisch: »Wer macht das? Du?«

»Ja«, sagte Mattes und konnte nicht unterlassen hinzuzufügen: »Zusammen mit einer Hundeexpertin. Mina R. wird die Rubrik betreuen.«

Peter überlegte einen kurzen Moment und sah ihn dann an: »Doch nicht deine Mina?«

»Das ist die einzige Hundeexpertin, die ich kenne«, grinste Mattes.

Peter schnaubte lachend: »Die Althoff kriegt einen Schlag!«

Er griff nach einem leeren Blatt Papier und zeichnete mit schnellen Bewegungen einige Vierecke und senkrechte Striche darauf. Mattes sah ihm dabei zu und fragte plötzlich ernst: »Was hältst du von der Idee?«

Peter ließ den Stift sinken und guckte hoch. »Du willst wirklich meine Meinung dazu hören?«

»Ja.«

Ihre Blicke trafen sich, und einen Augenblick lang blieb es still.

Dann zogen sich Peters Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben, und er nickte bestätigend: »Es ist gut.«

Mattes kamen die drei Wörter wie eine hohe Auszeichnung vor. Sein wortkarger, anscheinend von nichts in der Redaktion zu begeisternder Grafiker fand etwas gut. Dann war es das auch.

Peter klopfte mit dem Stift auf seine gemalten Vierecke und hatte schon genaue Vorstellungen: »Wir machen es dreispaltig. Hier oben immer fett die Frage rein, dann die Antwort darunter. Hier an der Seite ist Platz für Fotos, aber nicht zu viele, sonst erdrückt es alles. Die Farben müssen ganz dezent sein, nur in diesem Streifen darf es knallen. Ich bau dir ein Hammer-Layout.«

Er grinste immer noch, schüttelte verwundert den Kopf und sagte anerkennend: »Mina R. – du kommst auf Ideen.«

»Wenn wir uns weiterhin mit unseren Ideen so ergänzen, werden wir das perfekte Team«, lachte Mattes und freute sich unbändig.

Peter lehnte sich in seinem Stuhl zurück, holte aus der Hemdtasche ein Päckchen mit Tabak und drehte sich eine neue Zigarette. Während er den Tabak sorgfältig verteilte, fragte er mit halblauter Stimme: »Hör mal, hast du eigentlich was gegen das Vieh von der Althoff?«

Mattes zögerte kurz, nickte dann aber seufzend: »Ja.«

»Dann setze es ein!«, rief Peter und entschuldigte sich: »Sorry, lahmer Witz, aber die Töle macht mich endgültig wahnsinnig. Und wenn dann die Alte noch ständig mit so ’ner hohen Stimme auf sie einquatscht …« Er stöhnte: »Boah, ich dreh bald durch!«

»Ich werde mit der Althoff reden«, versprach Mattes.

Peter schnaubte: »Mit der reden? Da kannste dich besser mit der Wand unterhalten. Aber ich sag’s dir, wenn ich das süße kleine Muckilein mal alleine erwische, ist es verschwunden.«

Er zündete seine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und blies die Rauchwolke mit einem Stoß aus. Mattes verzog das Gesicht:

»Wie wär’s bei dir denn mal mit weniger Nikotin?«

Peter lehnte sich in seinem Stuhl zurück, hob ein Bein und legte es lässig auf der Schreibtischkante ab. Er grinste: »Ich hör auf, sobald die Althoff ihren Köter abgeschafft hat, versprochen.«

Frau Althoff lief gerade über den Flur, als Mattes sie sah und in sein Büro bat. »Es geht um Mucki«, begann er sofort und ohne langes Drumherumreden. »Das ständige Gekläffe ist auf Dauer nicht zumutbar. Wir wollen hier alle konzentriert arbeiten, und Ihr Hund scheint sich nicht an uns gewöhnen zu können. Gibt es nicht doch eine Lösung, dass er während Ihrer Arbeitszeit woanders gut aufgehoben ist?« Er hatte damit gerechnet, dass Frau Althoff entsetzt in die Luft gehen würde, aber diesmal blieb sie mit hängenden Schultern sitzen. War es ein Trick oder war sie wirklich am Ende ihrer Widerspruchs-Energie?

Sie holte tief Luft und blickte ihn an: »Wissen Sie, dass ich mehrere Sprachen fließend spreche, beruflich simultan bei weltweiten Konferenzen übersetzt habe und jahrelang Vorstandssekretärin in einem internationalen Konzern war? Ich bin mehr als überqualifiziert für meine Tätigkeit in dieser Redaktion.«

Mattes sah sie stumm an. War das jetzt ein großes Ablenkungsmanöver? Sie fuhr fort: »Ich habe vor vier Jahren meinen mehr als gut bezahlten Job, den ich mit großer Hingabe ausgeführt habe, aufgegeben, weil ich Mucki bekam. Ein kleines Fellbündel, das jemand halb verhungert in einer Kiste auf der Eingangstreppe gefunden hatte. Ich habe ihn aufgepäppelt und mich vermutlich weit mehr um ihn gekümmert, als ich es hätte tun sollen, jedenfalls ist er mir ans Herz gewachsen. Schon als Kind hatte ich nie einen größeren Wunsch, als einen eigenen Hund zu haben. Mucki ist mein Ein und Alles. Als die Vorstandsleitung mir nahelegte, den Hund abzugeben, weil sie ihn nicht mehr im Büro haben wollten und ich ihn auf den Reisen nicht mitnehmen konnte, habe ich gekündigt. Es war keine Frage für mich, was mir mehr wert ist. Ein ganzes Jahr lang habe ich nach einer neuen Stelle gesucht, bei der ich ihn im Büro dabeihaben darf. Wie oft ich ›Wir würden Sie gerne bei uns haben, aber mit Ihrem Hund, das geht nicht‹ gehört habe, kann ich gar nicht mehr sagen. Bei ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ hatte niemand etwas gegen Mucki.«

Sie lächelte verlegen: »Mein Mann ist wirklich nett, aber wenn ich den ganzen Tag mit ihm im Wohnzimmer sitze und nichts zu tun habe, fühle ich, dass dies für uns beide nicht richtig sein kann. Besonders, nachdem ich ein so abwechslungsreiches Berufsleben mit vielen Reisen geführt habe.«

Nebenan hörten sie Mucki kläffen und beide lauschten, ohne ein Wort zu sagen. Frau Althoff stand auf und verließ leise Mattes Büro. Beide wussten in diesem Moment, dass Mucki bleiben durfte, auch wenn es keiner ausgesprochen hatte.

Als sie das Zimmer verlassen hatte, überlegte Mattes, ob sich ihre vielen Fähigkeiten nicht besser einsetzen lassen könnten. Aber was sollte sie simultan übersetzen? Und wollte er sie wirklich auf Reisen dabeihaben? Ganz klar nein. Seufzend lehnte er sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Das nächste Problem stand vor ihm. In einer Stunde hatten sie Redaktionskonferenz, in der der neue Name des Magazins festgelegt werden sollte. Bisher war ihm keine Idee vor die Füße gefallen, dabei hatte er doch wirklich ausgiebig gewartet. Er musste jetzt tatsächlich selber auf die Suche gehen und einen Namen finden. Das hieß aber auf keinen Fall, dass er spießig und unflexibel wurde. Es war nur, weil die Zeit drängte und seine Chance, die ihm die Ideen vor die Füße warf, sich vertrödelt hatte.

Eine knappe Stunde später sprang er vom Sessel hoch, ballte triumphierend die Faust und murmelte: »Wer sagt’s denn!« Er, Mattes Reuter, der geniale Finder, konnte auch zum Sucher werden, wenn die Zeit drängte. Dann suchte er die Umgebung eben mal etwas aktiver ab und fand trotzdem die Ideen, an denen andere einfach vorbeigelaufen wären.

Kaum saßen die wenigen Redaktionsmitarbeiter um den Tisch herum, platzte Mattes mit der neuen Meldung heraus. »›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ ist tot. Endgültig. Neu entstanden und in spätestens drei Wochen in der Top Ten der Magazine, ist …«, er machte eine bedeutungsvolle Pause und blickte in angespannte Gesichter. Langsam formte er die Lippen und sagte betont lässig: »… ›Doggy-Style‹!«

Peter Plattler prustete los, bekam einen Hustenanfall, der hörbar die Schlacken aus der Lunge löste, rollte sich seitlich vom Stuhl und verließ röchelnd und laut lachend das Zimmer. Tina starrte ihm verwundert hinterher und sah danach ihren Chefredakteur mit kullerrunden Augen an.

»Cooool«, flüsterte sie. »Doggy hört sich voll süß an, und Style ist total stylisch.«

Nadine guckte erstaunt, notierte sich den Namen säuberlich auf ihrem Notizblock und schien zu überlegen, ob sie sich verhört hatte und alles vielleicht ganz anders war. Außerdem war sie nicht der Typ für schnelle Reaktionen.

Frau Althoff war bewegungslos sitzen geblieben. Mattes versuchte ihrem stahlharten, auf ihn gerichteten Blick auszuweichen. Er tat so, als müsse er dringend seine Papiere ordnen, gab dann aber auf und sah sie an. Der Strahl, der aus ihren Augen in seine traf, war vernichtend. Er versuchte emotionslos zurückzugucken, wusste aber, dass er keine Chance hatte. Niemand konnte so vernichtend blicken wie Frau Althoff

Leise sagte sie, während sie ihn weiterhin unverwandt anstarrte: »Das ist nicht Ihr Ernst.«

»Doch.«

Seine Stimme klang kläglicher, als er es vorhatte. Er räusperte sich. »Der Name hat mit Hunden zu tun und mit …«

Kleine Schweißperlen suchten Ausgänge in der Haut und erschienen auf seiner Stirn. Mist. Er war doch der Chef.

»Mit Hunden und mit stylisch, äh, mit Stil«, versuchte er es erneut. Was war nur los? Ihr Blick zwang ihn in die Knie.

Tina beobachtete interessiert, wie er unsicher wurde.

»Sehen Sie mal«, versuchte er es mit einer Erklärung. »Wir wollen ja nicht mehr ein Provinz-Blatt für den Hundeverein machen, sondern ein modernes, stylisches Produkt. Es muss cool sein und es muss … es wird …«

Er brach ab, denn Frau Althoff stand auf und ging zur Tür. Sie drehte sich noch einmal um, warf ihm einen langen Blick zu und sagte: »Vergessen Sie’s!«

Hinter ihr schlug die Tür zu.

Er guckte Tina an, die ihn anlächelte und piepste: »Also, ich find’s cool.« Dann trat Stille ein. Mit knappen Worten erklärte Mattes die Konferenz für beendet und sah zu, wie Nadine und Tina das Büro verließen. Er blieb alleine zurück. Nebenan hörte er Schubladen auf- und zugehen. Es waren Geräusche, als ob Frau Althoff die Schränke leer räumte. Siedendheiß überkam ihn die Erkenntnis, dass sie ging. Sie packte ihre Sachen. Trotz seiner stummen Zusicherung, dass Mucki bleiben konnte, verließ sie das sinkende Schiff. Mit anderen Worten: Noch bevor die Doggy-Style in See stach, ging der Steuermann von Bord.

Zur ersten Erleichterung, ihrem Blick und ihrer Macht nicht mehr ausgeliefert zu sein, kam die Panik. Ohne die Althoff war hier gar nichts zu machen. Bis er eine neue, einigermaßen fähige Sekretärin gefunden und die sich eingearbeitet hatte, war das Magazin am Ende. Sein Job hörte auf, ehe er richtig begonnen hatte. Er hatte das Ding vor die Wand gefahren, ehe er eine einzige neue Ausgabe veröffentlicht hatte. Ein kurzes Klopfen an der Tür schreckte ihn hoch. Ohne eine Antwort abzuwarten, kam Frau Althoff herein. Wenn sie anklopft, sieht es schlecht aus, dachte er und sah ihrer Kündigung ergeben entgegen.

»›doggies live‹«, sagte sie, als sie vor ihm stand. Wie vor den Kopf geschlagen starrte er sie an.

»Was?« Er hatte die Worte »Ich gehe« erwartet, aber sie hatte irgendetwas anderes gesagt.

»›doggies live‹«, wiederholte sie. »Wie wär’ das?«

Er sah sie an und wusste, dass er gerade nicht intelligenter aussah als Tina, wenn ihr das Fax-Gerät erklärt wurde.

Sie legte ihm einen Zettel vor. »Ich habe aufgeschrieben, was mir kurzfristig einfiel, aber ›doggies live‹ kommt mir am besten vor. Sehen Sie es mal durch.«

Sie nickte ihm zu und verließ das Zimmer. Zögernd griff er nach dem Zettel und begann zu lesen. Sie hatte recht. »doggies live«. Das war’s.