Und? Was wirst du machen?«, fragte Alex, der neben ihm her rannte. Es war ein Dienstag im März. Die Luft war an diesem Vormittag unerwartet kalt, aber sie roch nach Frühling und Aufbruch.

»Ich weiß es nicht.« Mattes wusste es wirklich nicht. Sie befanden sich auf ihrer zweiten Runde um den See, und er hatte sich vorgenommen, bis zur Ankunft auf dem Parkplatz die Entscheidung über den weiteren Verlauf seines Lebens getroffen zu haben. Seit gestern Vormittag überlegte er daran herum. Leider begeisterten ihn die Auswahlmöglichkeiten nicht sonderlich. Er fühlte sich wie mit Los Nummer 27 am Tombola-Tisch des örtlichen Schützenvereins, bei dem er sich zwischen gehäkelten grünen Topflappen mit Schützenverein-Emblem oder einem Zinnbecher mit Geweihprägung entscheiden musste. Nichts sah wirklich verlockend aus, und auf jeden Fall war alles weit entfernt vom Hauptgewinn. Es ging um eine Stelle. Er hatte zwar einen Job, aber als mehr konnte er seine tägliche Arbeit wirklich nicht bezeichnen, denn es war nicht annähernd das, was er sich beruflich als Ziel gesetzt hatte. Wenn er es genau betrachtete, konnte er es nicht mal mehr als eine Art Vorstufe sehen, denn Berichte über Goldhochzeiten und kleine Empfänge im Rathaus, die er als freiberuflicher Redakteur für das Stadtteilmagazin schrieb, waren nicht der direkte Weg zum Chefsessel der ZEIT, den er anstrebte. Gleich nach dem Abi war er frisch und unbeirrt gestartet, aber der Weg erschien ihm inzwischen lang, und er hatte jetzt schon ziemlich viel Zeit knapp hinter der Startlinie vertrödelt. Am Ende lag aber immer noch das Ziel und wartete auf ihn – redete er sich jedenfalls ein.

Alex grinste: »Wolltest du nicht immer Chefredakteur werden? Ich hör dich das seit zwanzig Jahren sagen.«

»Ja«, sagte Mattes und versuchte ihn mit der Faust am Oberarm zu treffen. Alex wich lachend aus, bis Mattes es aufgab und stöhnte: »Ich wäre ein perfekter Chefredakteur. Aber doch nicht bei einem Hundemagazin! Sehe ich aus wie ein Typ, der seine Zeit beim Schäferhundverein verbringen will?« Er kommandierte übertrieben laut und herrisch: »Sitz! Platz! Aus!!«, was ihm wegen der Lautstärke einige verwunderte Blicke anderer Parkbesucher einbrachte, und seufzte: »Ich bin der Mann für Politik, Sport und Kultur. Nicht für Dosenfutter und Hundekörbchen.«

Sie fielen in ein langsames Tempo und blieben stehen, als sie am Bootssteg angekommen waren. »Warum nicht ein Hundemagazin?«, fragte Alex und machte ein paar Dehnübungen. »Schlechter als das, was du jetzt machst, kann es nicht sein. Seit Sarah dich rausgeschmissen hat, baust du ab.«

»Sie hat mich nicht rausgeschmissen, wir haben uns getrennt«, stellte Mattes richtig.

Alex nickte: »Das kann ich gut verstehen. Erstaunlich genug, dass sie dich so lange ertragen hat. Aber jetzt bist du raus, und sie hat die Wohnung behalten. Im Gegensatz zu dir kann sie sich die auch leisten.«

»Du redest schon wie sie«, sagte Mattes und richtete sich auf.

»Ach, komm«, feixte Alex. »Mit deiner Hundeerfahrung bist du genau der Richtige für ein Hundemagazin.«

»Einen verfressenen Hund zu haben bedeutet keine Hundeerfahrung.«

»Ich mein doch nicht Mina, ich denke an Arco.«

»Arco!«, stöhnte Mattes und erinnerte sich schlagartig an das gelbe Gebiss und die gefletschten Zähne. Und sofort hatte er auch die Erinnerung an die grummelnde Angst im Bauch, die er als Kind vor diesem Hund gehabt hatte. »Arco war kein Hund, das war ein neurotisches Pudelmonster«, sagte er. Alex lachte: »Ich hatte so einen Schiss! Ich bin niemals wieder mit zu deiner Tante Thea gekommen. Hast du kein Foto von Arco, wie er an der Tür steht und seine Zähne zeigt? Das musst du in der Redaktion vorlegen, dann hast den Job, weil du ihn überlebt hast!« Er streifte sich seinen Pullover über und strich sich mit den Fingern durch die Haare, um sie wieder in Form zu bringen. »Wie viele Menschen hat Arco eigentlich zerfleischt?« Mattes schüttelte den Kopf: »Gar keinen. Aber das kann echt nur Zufall gewesen sein. Das Biest war völlig gestört.« Alex klimperte mit seinem Autoschlüssel: »Morgen rufst du mich an und sagst, was du machen wirst!«

»Vielleicht will ich den Job gar nicht.«

»Auch gut. Aber entscheide dich!«

Mattes setzte sich in sein Auto und fuhr nach Hause. Nach Hause? Es war das Zuhause seiner Schwester, die ihm großzügigerweise die Einliegerwohnung im Keller angeboten hatte, nachdem seine Freundin Sarah eine Entscheidung über ihre gemeinsame Zukunft getroffen hatte. Im Entscheidungen treffen war er noch nie so gut gewesen. Entscheidungen setzten voraus, dass man Möglichkeiten abwägen und sein Handeln aktiv planen musste. Das war nicht sein Ding. Er hatte meistens gewartet, bis etwas entschieden war und er nur noch handeln musste.

Mattes unterteilte Menschen in Sucher und Finder. Die Sucher waren Menschen, die ihr Vorgehen planten, aktiv handelten, Dinge anpackten und ihre Chancen suchten. Diese Menschen waren ihm zuwider. Ihm war nahezu alles zuwider, was ein Konzept hatte. Für ihn hatten Genies, zu denen er sich unumwunden und ohne jeden Zweifel zählte, kein Konzept nötig. Sie waren Finder. Sie lebten in den Tag hinein und fanden, mehr oder weniger zufällig, ihre Chancen. Wobei er natürlich insgeheim darauf hoffte, von der Chance selbst gefunden zu werden. Die Möglichkeit, dass eines Tages die ZEIT anrufen und ihm den Posten des Chefredakteurs antragen würde, erschien ihm darum nicht ganz ausgeschlossen. An manchen Tagen sogar ziemlich wahrscheinlich. Seine »Abwarterei«, wie Sarah es verächtlich nannte, die es als typische Sucherin nicht nachvollziehen konnte, dass er in aller Gemütsruhe darauf wartete, zu Höherem berufen zu werden, löste dann auch ihren Trennungswunsch aus. Nach vier Jahren zuerst glücklicher, dann zunehmend nebeneinanderher plätschernder Beziehung, hatte sie entschieden, dass er seine Sachen packen und den Wohnungsschlüssel abgeben sollte. Mit vier Kisten und seinem Hund Mina hatte er plötzlich auf der Straße gestanden. Nicht mal die obligatorische Stereoanlage hatte er ausstöpseln und mitnehmen können, denn auch die hatte Sarah gekauft. So wie die CD-Sammlung, die Möbel und den großen Kühlschrank. Er hatte kurz überlegt, ob er die leeren Weinflaschen einpacken sollte, denn zumindest guten australischen Rotwein hatte er regelmäßig mitgebracht, und damit gehörten die Flaschen rechtlich gesehen ihm. Aber er hatte das Gefühl, dass das lächerlich wirken könnte. Außerdem sollte Sarah sich ruhig an ihn erinnern, wenn sie die Flaschen zum Altglascontainer bringen musste. Vielleicht würde sie ihre Entscheidung kurzzeitig bedauern. Aber dann war es zu spät. Jedes Klirren der zerberstenden Flaschen im Container würde ein hörbares Zeichen für ihre zerbrochene Beziehung sein. Mattes und Sarah gab es nicht mehr.

Aber jetzt ging es nicht mehr um Sarah, jetzt musste er eine Entscheidung über sein Leben treffen. Seit seiner Schulzeit wollte er Journalist werden und schnell zum Chefredakteur der ZEIT aufsteigen. Das machte was her. Als Chef würde er eine Art Oberaufsicht über die anderen Redakteure haben, könnte Arbeit delegieren und müsste nicht selber um jede Zeile, die er geschrieben hatte, kämpfen, damit sie veröffentlicht würde. Er wusste intuitiv und schon sehr früh, dass das der richtige Posten für ihn wäre. Inzwischen wäre es ihm schon recht gewesen, bei der ZEIT nur Ressortleiter zu sein. Oder Redakteur fürs Vermischte. Oder hin und wieder Schreiber einer Kolumne. Hauptsache irgendetwas, das seinem Ziel ansatzweise nahe kam. Immerhin war er Abonnent, obwohl er zugeben musste, dass das wirklich die unterste Stufe einer Zusammenarbeit war. Journalistisch hing er als freiberuflicher Mitarbeiter bei einem Stadtteilmagazin fest. Mit immer den gleichen Artikeln, die ihn weder intellektuell forderten, noch in irgendeiner Weise bedeutsam waren.

Ein einziges Mal hatte er einen aufdeckenden Artikel über die Schlamperei und kriminellen Machenschaften beim Einkauf der Desinfektionsmittel im örtlichen Schwimmbad geschrieben, wurde nach der ersten Empörungswelle in der Leserschaft aber sofort von seinem Chef gestoppt, der über undurchsichtige Ecken mit dem verantwortlichen Sportdezernenten verwandt war. Oder war er mit ihm in der gleichen Grundschulklasse gewesen? Egal. Der Bademeister bekam eine Abmahnung, und Mattes traute sich seitdem nicht mehr ins Schwimmbad, weil er sich sicher war, dass er bei einem unerwarteten Zwischenfall im Wasser nicht gerettet werden würde, ja, dass die Wahrscheinlichkeit eines plötzlichen Badeunfalls in seinem Fall sogar sehr gestiegen war. Die Blicke des Bademeisters, wenn er ihn zufällig auf der Straße traf, ließen ihn annehmen, dass Schwimmen für ihn zu einer Risikosportart geworden war. Er traute sich auch in kein anderes Schwimmbad der Umgebung, weil er nicht wusste, wie weit die Kontakte des örtlichen Bademeisters reichten. Es gab genug Leute, die seit Stunden zwei Meter unter dem Chlorwasserspiegel auf dem Grund des Beckens lagen und von der Badeaufsicht angeblich nicht bemerkt worden waren, obwohl tauchende Kinder mehrfach auf »den Mann da unten« hingewiesen hatten. Oder andere, die beim Gehen auf den nassen Fliesen ganz zufällig und ohne Fremdeinwirkung ausrutschten und mit dem Hinterkopf genau auf die Kante eines Startblocks knallten, was unschöne Blutspuren im Schwimmbad und einen Genickbruch mit sich brachte. Inwieweit die Opfer sich zuvor mit dem Bademeister angelegt hatten, entzog sich seinem Wissen. Aber vermutlich gab es da Zusammenhänge. Nahezu alle Bademeister dieses Landes, wenn nicht sogar der ganzen Welt, waren höchstwahrscheinlich in mafiaähnlichen Strukturen organisiert.

Beruflich stand er also immer noch am Anfang. Finanziell und gesellschaftlich auch. Das hatte er sich vor zwanzig Jahren anders vorgestellt. In der Oberstufe schrieb er nur glänzende Aufsätze, die regelmäßig in der Schülerzeitung veröffentlicht wurden und ihn auf einer Welle der Zustimmung und Begeisterung surfen ließen. Im Abitur dann die erwartete Eins in Deutsch und ein anerkennender Handschlag des Direktors. Danach eine Ausbildung zum Journalisten. Alles wies auf einen geraden und stolperfreien Weg zum Ziel hin. Gut, die fünf Jahre beim Frauenmagazin ›Der rote Teppich‹ waren ein kleiner Umweg gewesen, aber es gab damals eben gerade keine freien Stellen bei seinen bevorzugten politischen Blättern. Er hatte immer großspurig behauptet, dass er einen Einblick in die Klatsch- und Tratschwelt bekommen wolle, um dann die vielfältigen Verflechtungen schonungslos aufzudecken. In stillen Momenten, die er nach Möglichkeit vermied, die ihn aber immer mal wieder überfielen, hatte er das dumpfe Gefühl, dass seine Berichte über Schlagersternchen und Beziehungsdramen die bisher hochwertigsten Arbeiten waren. Abgesehen vom Schwimmbadskandal, der sich aber erledigt hatte, ehe er richtig aufgedeckt war. Aber wer wollte sich schon mit der in allen Ländern der Welt verstreuten Bademeistermafia anlegen?

Seit gestern hatte er eine Möglichkeit zur beruflichen Veränderung. Ein Schritt zum Chefsessel, auch wenn sich in ihm das unbestimmte Gefühl breitmachte, dass es nicht wirklich in die richtige Richtung ging. Im Prinzip schon, dann aber quasi doch nicht. Der nach seinem Gefühl schon lange überfällige Anruf mit dem Angebot des Chefredakteurpostens war endlich eingegangen. Leider kam es von einem miesen, kleinen Hundemagazin, das er zwar schon mal am Kiosk gesehen, aber nicht mal einer genaueren Ansicht für wert befunden hatte. Der Anruf hatte ihn mittags erreicht, als er gerade bei einer ersten Tasse Kaffee am Tisch saß und mit dem Messer die schwarzen Kokelstellen vom Brötchen schrubbte. Er hasste es, dass labberige Vortagsbrötchen beim Aufbacken auf dem Toaster immer verbrannte Stellen bekamen, seit er dieses seltsame Brötchen-Aufback-Metallgerüst zum Aufsetzen auf den Toaster verloren hatte. Vermutlich lag das jetzt bei Sarah, die damit den unerhörten Luxus von zwei Brötchen-Aufback-Metallgerüsten hatte. Und er hasste es, wenn er nicht mal in Ruhe frühstücken konnte. Als das Telefon klingelte, war er nicht gerade bester Laune.

»Ja?«, brummte er abwehrend in den Hörer.

»Herr Reuter?«

»Ja.«

»›Hassos Herrchen, Finas Frauchen‹. Althoff.«

»Wie bitte?«

Die Frau am anderen Ende der Leitung merkte sofort, dass er etwas länger brauchte.

»Mein Name ist Althoff. Vom Hundemagazin ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹. Sie haben von uns gehört?«

»Nein«, brummte Mattes. Was wollte die von ihm? Ein Abonnement dieser blöden Hundezeitung verkaufen? Woher wusste sie, dass er einen Hund hatte? Abweisend sagte er: »Mein Hund liest nicht.«

»Es geht nicht um Ihren Hund, es geht um Sie.«

»Ich lese auch nicht.«

Erstaunlich, wie schlagfertig er ohne Frühstück war. Oder kam es ihm nur schlagfertig vor, weil er noch kein Frühstück hatte? Wenn es nach ihm ginge, würde er jetzt auflegen und seinen Kaffee trinken. Er stockte. Was sagte sie gerade?

»Aber Sie schreiben, Herr Reuter. Und das brauchen wir.«

Jetzt wurde es zum ersten Mal interessant. Die resolute Frauenstimme stellte ihm kurz und knapp die Möglichkeit einer Anstellung als Chefredakteur in Aussicht und bat ihn, sich bei Interesse am nächsten Tag persönlich vorzustellen.

»Wie kommen Sie auf mich?«, fragte Mattes verwirrt, aber auch geschmeichelt.

»Ich habe einige Ihrer Artikel in ›Der rote Teppich‹ gelesen. Sie haben mir gefallen.«

Geschmeichelt verzog er die Mundwinkel. Na, siehste! Hatte also doch was gebracht, sich mit Königin Beatrix und den Scheidungen des Zillertal-Trios zu beschäftigen.

»Und ich weiß, dass Sie mehr können«, ergänzte die Stimme.

Natürlich konnte er mehr. Aber wie meinte sie das jetzt wieder? War es ein Lob oder eher nicht? Sie gab ihm die Adresse der Redaktion, und das Gespräch war beendet. Mattes legte den Hörer auf. Althoff hieß sie, das hatte er sich gemerkt, aber sie hatte ihm nicht gesagt, ob sie das Personalbüro vertrat oder in der Chefetage saß. Aber er hatte durch das Telefon sehr deutlich ihre Autorität und die zielgerichtete Tatkraft gespürt. So was konnte er ja gar nicht leiden. Wieder so eine typische Sucherin, die nichts dem Zufall überließ und alles regeln musste. Männliche Sucher waren ihm schon ein Graus, weibliche stießen ihn, nicht erst seit Sarahs Rauswurf, regelrecht ab. Vor allem ärgerte es ihn ungemein, dass er sich am Telefon gefühlt hatte, als hätte sie ihm netterweise eine Praktikantenstelle angeboten. Fehlte nur noch, dass sie ihn geduzt hätte.

Er fuhr am gepflegten Einfamilienhaus seiner Schwester vorbei und parkte seinen Wagen hinter den Bäumen an der Straßenecke. Astrid musste ihm nicht unbedingt jetzt über den Weg laufen. Warum er immer wieder versuchte, unentdeckt ins Haus zu kommen, war ihm nicht klar. Vermutlich war es sein Freiheitsdrang. Oder schlicht die Genervtheit, eine ältere Schwester im Nacken zu haben, die sich wie eine Übermutter aufführte. Die sollte sich mal einfach zurückhalten. Er war selbständig und kam alleine zurecht. Nervig war, dass er wegen dieser Einliegerwohnung unmittelbar in ihren Einzugsbereich gerückt war. Aber es war ganz praktisch, dass er die Miete einsparen konnte, weil Astrid selbstverständlich davon ausging, dass er nur mit Mühe über die Runden kam. Von diesem Gedanken wollte er sie auch nicht unbedingt abbringen. Er war ja nicht blöd. Außerdem genoss es Astrid geradezu, sich als große, allwissende Schwester zu präsentieren, die neben Mann und zwei halbwüchsigen Kindern auch noch das Leben ihres Bruders managte. Ganz nebenbei war das 260-Quadratmeter-Wohnfläche-Haus auf 750 Quadratmeter Grundstück mit altem Baumbestand, einer 60-Quadratmeter-Einliegerwohnung, die einen separaten Eingang hatte, in angemessener Lage, einem ruhigen Viertel der Besserverdienenden – so Astrids Immobiliensprache –, keine schlechte Adresse. Es war eine Gegend, in der die Badezimmer Wellness-Oasen hießen und der Duschkopf unbedingt einen Regenwald-Schauer rieseln können musste. Mattes hätte auch gut in einer kleinen Altbau-Studentenklitsche leben können, aber gegen ein wenig Luxus und viel Bequemlichkeit hatte er überhaupt nichts einzuwenden. Besonders nicht, wenn es nichts kostete.

Natürlich bellte Mina in der Wohnung kurz auf, als er von außen den Schlüssel ins Schloss steckte. Für seine Schwester war das bis in ihr Wohnzimmer hinein ein deutliches Signal, dass Mattes gerade seinen Flur betrat. Ein lauter Gong, von einem livrierten Butler geschlagen, hätte den gleichen Effekt gehabt. Ach, auch egal. Mina begrüßte ihn schwanzwedelnd und drehte sich dann um, um gemächlich ins Wohnzimmer zurückzugehen und mit einem Seufzer auf ihre Hundedecke zu fallen. Sie hatte ihm gezeigt, dass sie auch in tiefem Schlaf alles mitbekam und genau gehört hatte, dass er gekommen war. Aufgabe erledigt.

Mattes ging duschen. Ohne Regenwald-Schauer – den hatte nur Astrid. Noch ehe er fertig war, wusste er, dass er heute noch bei der Redaktion vorbeifahren würde. Die Chance, an die er fest geglaubt und auf die er seit Jahren gewartet hatte, war auf ihn zugekommen und er musste nur noch zugreifen. Ob es eine wahre Chance war oder ein Blindgänger, würde sich zeigen. Vielleicht erledigte sich die Sache, wenn er dort war und sich alles ansah. Auch gut. Ein Hundemagazin – das war ja nicht so prickelnd. Was hatte er eigentlich für Erfahrungen, die ihn da zum Chefredakteur machen konnten? Er hatte einen Hund. Das war vielleicht wichtig. Aber sonst? Alex’ Grinsen bei der Erwähnung von Arco kam ihm in den Sinn. Aber Alex hatte nicht nur gegrinst. Alex hatte auch deutlichen Respekt in der Stimme gehabt, denn Alex hatte damals mindestens genauso große Angst vor Arco gehabt wie er. Nein, sogar mehr, denn Alex hatte sich nur ein einziges Mal in den Flur von Tante Thea getraut, aber er, Mattes Reuter, immer wieder.

Er erinnerte sich noch gut. Er war damals noch in der Grundschule, als seine Tante Arco als Pflegehund annahm. Eine geschickte Tarnung, denn sein Onkel war strikt gegen einen Hund gewesen und Tante Thea konnte auf diese Weise jahrelang behaupten, der Hund wäre nur vorübergehend da und könne jederzeit wieder abgeholt werden. Dass die Pflegestelle für immer war, war jedem klar, auch Onkel Günther, der aber sein Gesicht gewahrt sah, weil der Hund offiziell nicht der eigene war. Da Tante Thea ihre Pflegehunde in kürzester Zeit zu gefährlichen und nicht mehr vermittelbaren Problemfällen machte, bestand keine Gefahr, dass sie sie jemals wieder hätte abgeben müssen.

Tante Thea war die ältere Schwester seiner Mutter und wohnte mit dem ausgestopften Onkel Günther und drei ausgestopften Söhnen nur einige Straßen entfernt von Mattes in einem der roten Zechenhäuser, die typisch für die kleinen Siedlungen im Ruhrpott waren. Vermutlich waren Onkel Günther und die Söhne gar nicht ausgestopft, aber Mattes kam es so vor. Sie waren nie weg bei einer Arbeit, sondern saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa und starrten auf den Fernseher. Über ihre prallen, festen Bäuche spannten sich weiße Feinripp-Unterhemden. Seltsamerweise konnten sie laufen und das Zimmer verlassen, aber sie konnten nicht reden. Oder nur ganz selten. »Tach, Mattes«, brummte Onkel Günther hin und wieder, wenn Mattes leise das Wohnzimmer betrat, aber er wandte den Kopf dabei nicht vom Fernsehbild.

Seine Tante Thea kannte Mattes nur in geblümter Kittelschürze, in die ihre ausladende Körperfülle eingequetscht war. Vorne wurde der Kittel von einer Reihe kleiner, weißer Knöpfe gehalten, die es zu seiner Verwunderung schafften, den knapp sitzenden Stoff zusammenzuhalten, ohne einfach abgesprengt zu werden. An den Schulterlöchern kamen Tante Theas gewaltige, nackte Oberarme heraus, an deren Ende erstaunlich kleine Hände mit schmalen Fingern hingen. Die zarten Hände an der sonst eher in die Breite gehenden Tante Thea erstaunten Mattes immer wieder.

Im Gegensatz zu Onkel Günther redete Tante Thea gerne und fast ununterbrochen. Aber weil sie aus für Mattes unerklärlichen Gründen nicht mit Onkel Günther und er nicht mit ihr redete, rollte ihre Kommunikation wie eine Lawine über wehrlose Tiere. Sie sprach mit ihrem Pflegehund, ihrem Wellensittich, den streunenden Katzen und sogar mit den Vögeln, die auf dem Balkon Brotkrumen pickten. Alle waren Mittelpunkt ihrer konzentrierten Aufmerksamkeit, wurden umsorgt und waren einer sprachlichen Dauerberieselung ausgesetzt.

Sobald Mattes sich mit Günther und den drei Söhnen – den lebenden Beweisen, dass ohne Zweifel Mitte der 70er-Jahre schon an harmlosen Bürgern Klonexperimente durchgeführt wurden – im Wohnzimmer befand, hörte man Thea in auf die Sekunde genau getimten Abständen immer wieder »Jokki … Jokki … Jokki … Jokki …« säuseln. Das erste »Jokki« war stets der Startschuss zum internationalen »Wer-quatscht-den-Vogel-taub«-Wettbewerb, bei dem Tante Thea seit über dreißig Jahren den Titel erfolgreich verteidigte. Gut, sie war die einzige Teilnehmerin, aber sie perfektionierte ihre Strategie, das Tier verbal zu foltern, von Jahr zu Jahr. Einmal hatte sich Mattes unbemerkt in den Flur geschlichen, um nachzusehen, ob auch das Federtier im Laufe der Zeit eine eigene Strategie entwickelt hatte, sich dem Verbalterror zu entziehen. Ob Vögel sich die Ohren zuhalten konnten? Oder zwitscherten sie vielleicht nur, um sich mit selbst produziertem Lärm zur Wehr zu setzen? Auf jeden Fall stellte Mattes bei dem Versuch, dies herauszufinden, fest, dass Tante Thea nach exakt jedem zehnten »Jokki« ein elftes »Jokki« folgen ließ, das sich nicht an das Tier richtete, sondern zielgenau in Richtung Flur ausgestoßen wurde. Und nachdem sie sich mit dem Flurruf vergewissert hatte, dass ihre vier apathischen, männlichen Mitbewohner nicht gerade zufällig ihr Sofaterritorium verließen, kippte sie sich doch tatsächlich höchst heimlich und mehr als hastig einen ihrer selbst gebrannten Pflaumenschnäpse hinter die Binde. Als sie Mattes einmal dabei entdeckte, wie er sie beobachtete, kam ein kurzes »Das ist gut für die Stimmbänder« von ihr.

Ihr Pudelrüde Arco war der erste Hund, mit dem Mattes näher zusammenkam. Er war eine der größten existierenden Gefahren des Universums. Noch vor King Kong und Goldfinger. Mit Arco war nicht zu spaßen. Andere Kinder spielten ausgelassen mit dem Hund ihrer Tante, Mattes musste die Begegnungen mit ihm überleben. Der Nervenkitzel begann, sobald er an der Haustür klingelte, aber gerade das machten seine Besuche bei Tante Thea so anziehend. Drinnen rastete Arco aus. Er bellte, und Mattes hörte an der sich schnell steigernden Lautstärke, dass der Hund bis hinter die Haustür rannte und dort auf sein Opfer wartete. Tante Thea kam wackelnd hinterher, riss die Tür weit auf und sagte: »Tach, Mattes. Komm rein!« Seltsamerweise bemerkte sie nichts von der drohenden Gefahr, die ihr Hund doch ganz deutlich ausstrahlte. Mit langsamen Bewegungen betrat Mattes den Flur und behielt dabei Arco im Augenwinkel, der ihn drohend anknurrte. »Ach, der tut nix!«, hatte Tante Thea abgewunken, als er sie mal gebeten hatte, den Hund festzubinden. Seitdem fragte er nicht mehr. Dass Erwachsene vieles nicht mitbekamen und sich manchmal erschreckend dumm benahmen, hatte er schon früh festgestellt und als Tatsache akzeptiert. Tante Thea lächelte ihn freundlich an: »Kannst ja deine Jacke schon ausziehen«, drehte sich um und verschwand in der Küche. Mattes blieb mit dem lauernden Arco im Flur zurück.

Es war ein ungeschriebenes Gesetz zwischen ihnen, dass er eine Minute still im Flur herumstehen musste, damit Arco ihn nur bedrohlich ansehen, aber nicht zerreißen würde. Verlassen konnte er sich auf diesen Nichtangriffspakt aber nicht. Es war nur eine Möglichkeit, eventuell auch diesmal heil davonzukommen. Eine falsche Bewegung, ein zu schnelles Heben des Armes, ein Hauch schlechter Laune, und Arco würde angreifen. Er war wie ein lauernder Mafiaboss, der auf jede Bewegung, die er aus dem Augenwinkel mitbekam, reflexartig mit dem Abfeuern seines Maschinengewehres reagieren würde. Dabei konnten völlig unschuldige Menschen sterben. Der Fensterputzer, der Postbote oder kleine Jungs, die ihre Tante besuchen wollten. Wenn er jetzt etwas falsch machte, müsste Tante Thea versuchen, sein Bein aus den bluttriefenden Zähnen des Hundes zu bekommen. Oder seine abgerissenen Körperteile aufsammeln und seinen Eltern erklären, warum er nicht zum Abendessen und überhaupt nie wieder nach Hause kommen würde.

Sobald Arco innerhalb der Minute eine etwas zu schnelle und von ihm als unangemessen empfundene Bewegung sah, knurrte er drohend und zeigte seine alten, gelben Zähne. Mattes tat immer so, als wolle er sowieso gerade gerne im Flur stehen bleiben und interessiert die Wände anschauen. Schöne Tapete. Bloß nicht zeigen, dass er Angst hatte. Allerdings hatte er mal gehört, dass Hunde Angst kilometerweit riechen können, und wenn Arco nur einigermaßen gut riechen konnte, würde er ihn nicht mit einer gespielt lässigen Körperhaltung täuschen können. Sein Magen grummelte, das Blut rauschte durch die Adern, und er ahnte, dass er in seinem weiteren Leben nur noch selten in eine so gefährliche Lage kommen würde. Um bei Arco keine niederen Instinkte auszulösen, die unzweifelhaft in einem Blutbad enden würden, bewegte sich Mattes nur in Zeitlupe. In verzögerter Zeitlupe sozusagen. In einer Geschwindigkeit, die eine kriechende Schnecke wie ein Formel-1-Auto hätte aussehen lassen. In der Küche hörte er seine Tante hantieren, die vertrauensvoll davon ausging, dass ihr Hund niemandem etwas tun würde. »Nein, Arco ist nicht gefährlich!« Sie merkte es einfach nicht. Aber er, Mattes, spürte es genau. Komisch, dass er das als achtjähriger Junge besser erkennen konnte als seine erwachsene Tante Thea.

Erst wenn er ganz sicher war, dass die Minute auf jeden Fall und hundertprozentig vorbei war, verließ er vorsichtig den Flur und ging mit langsamen Schritten in Richtung Küche. Immer noch mit größten Befürchtungen, denn es konnte ja sein, dass Arco inzwischen auf zwei Minuten bestand. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, durch die Wohnung zu rennen oder auch nur fröhlich zu hopsen. Die Anwesenheit des Hundes erforderte größte Disziplin. Arco ließ ihn jedes Mal gehen und setzte nur seinen »Freundchen, ich beobachte dich, pass auf, was du hier machst!«-Blick auf. Mattes war vorerst geduldet. Niemals aber fühlte er sich ganz sicher oder vom Mafiaboss als Bandenmitglied akzeptiert.

Mattes schüttelte den Gedanken an die Begegnung mit Arco ab und pfiff nach Mina, die schwanzwedelnd aus dem Wohnzimmer kam. Es war Zeit für einen Gang um den Block. Was für ein Unterschied zu Arco, dachte Mattes und sah sie mit liebevollem Blick an. Damals hätte er sich nicht vorstellen können, jemals einen eigenen Hund zu haben, aber in den letzten Jahren hatte er bemerkt, dass er beim Laufen im Park zunehmend interessierter auf die Hunde geblickt hatte, die ihm als Jogger grundsätzlich nicht egal sein konnten. Er hatte schnell abschätzen können, ob ein Hund, der auf ihn zu rannte, eine Gefahr bedeuten konnte, oder ob es eine harmlose Begegnung sein würde. Und irgendwann hatte er mit leichter Verwunderung erkannt, dass er selber einen Hund haben wollte. Das war, als er einem netten Hund mit dem gleichen Blick hinterhersah, wie manche junge Frauen auf die Babys in fremden Kinderwagen blickten. Es war eine der wenigen Entscheidungen im Leben, die er mehr oder weniger bewusst getroffen hatte. Dass es nun ausgerechnet Mina geworden war, lag an der Bekannten eines Bekannten, die fast verzweifelt nach Abnehmern für die Welpen ihrer Hündin gesucht hatte. Mattes hatte damals mit einem schnellen Griff in das Hundeknäuel Mina herausgezogen. »Den will ich«, hatte er gerufen, und die Bekannte des Bekannten hatte gesagt: »Es ist eine DIE.« Warum es ausgerechnet Mina und keiner der anderen Retriever-Mix-Welpen sein musste, konnte sich Mattes auch später nie erklären. Vielleicht, weil sie sich angesehen hatten und er unbewusst gespürt hatte, dass sie das Leben lässig sah und nicht stundenlang sportlich beschäftigt werden wollte. Sie sah nach weicher Couch und gefülltem Napf aus, und das war eine Ausstrahlung, die Mattes sehr entgegenkam.

Sarah war damals vor Begeisterung fast verrückt geworden, als er mit der tapsigen Mina nach Hause gekommen war, aber diese hatte sich in dem gleichen Tempo, in dem Mina heranwuchs, gelegt. Ab da hieß Mina »der Hund«, und die an der Couch hängenden Haare waren ekelhaft, das friedliche Schnarchen aus dem Hundekorb nervig und das unbeholfen wirkende Herumspringen, wenn Mattes mit ihr spielte, Hyperaktivität. Mina und hyperaktiv, dachte Mattes und schüttelte verständnislos den Kopf. »Wenn ich mir ein Tier aussuchen könnte, wäre das auf jeden Fall eine Katze«, sagte Sarah häufig in einem Tonfall, der aussagte, dass Katzenbesitzer selbstverständlich weit oberhalb aller Hundebesitzer standen. Hunde waren das Proletariat, Katzen der Adel. Und das traf natürlich auch auf die jeweiligen Halter zu. Mattes war sicher, dass Sarah den freigewordenen Platz auf dem Sofa, den bis vor einigen Monaten er und »der Hund« belegt hatten, sofort an eine Katze vergeben hatte. Vermutlich an etwas hoheitsvoll-asiatisches. So ein Vieh, das immer nur rumstand und mit großen, vorwurfsvollen Augen über die Zustände klagte. Futter indiskutabel, Schlafplatz nicht weich genug, Personal unterste Schublade. Hatte Sarah eigentlich auch schon einen neuen Freund auf dem Sofa? Hoffentlich mochte der Katzen …

Mina lief ein paar Meter vor ihm her und er fand sie immer noch toll. Selbst wenn sie sabberte und bei Regenwetter wie nasser Hund roch. Und warum sollte sie nicht danach riechen, sie war dann ein nasser Hund! Das war auch so ein Argument, das Sarah nie verstanden hatte.

Das Hundemagazin fiel ihm ein. Warum denn eigentlich nicht? Ein Katzenmagazin oder etwas mit Reptilien oder ein Fachheft der Friseur-Innung, das wären weit von ihm entfernt liegende Themen gewesen. Da hätte er sich komplett einlesen müssen, und ob ihn das jemals nur ein Fitzelchen interessiert hätte, war fraglich. Aber Hunde? Die fand er gut. Nicht alle, aber wenn er mit Mina im Park war, fühlte er sich als Teil der großen Gruppe von Hundehaltern. Naturmenschen eben. Unkompliziert, robust und bei Wind und Wetter unterwegs. Das hatte etwas zutiefst Urzeitliches. Der Jäger, der mit dem gezähmten Wolf unterwegs war.

Ihm war klar, dass Minas sanftes, bequemes Wesen so viel mit dem Wolf gemeinsam hatte wie Tante Thea mit Audrey Hepburn. Sie waren zugegebenermaßen beide weiblich, aber das war es auch schon, doch er wusste, dass tief in Mina noch der Urahn schlummerte. Ein Wolfsahn, der zwar auf den fertig gefüllten Futternapf wartete, in jedem vorüberrollenden Ball aber noch den Hasen erkannte und vom Jagdfieber gepackt wurde. Wenn der Hase rund und bunt war und quiekte, sobald er mit den Zähnen gepackt wurde, umso besser. Und noch schöner, wenn Mattes ihn mit Schwung auf den Boden warf und er durchs Wohnzimmer titschte. Im Gegensatz zu seinem im Laufe der Generationen ziemlich verweichlichten Hund war Mattes, nach eigener Überzeugung, natürlich noch ein richtiger Jäger. Sah man ihm vielleicht auch nicht immer sofort an, würde sich aber selbstverständlich zeigen, falls es mal nötig sein würde. Bis dahin konnte er seine Kräfte ja noch schonen.

Mattes blickte auf die Uhr und rief Mina. Sie blieb stehen, schaute ihn an und begriff, dass es zurückgehen sollte. Demonstrativ blickte sie noch einmal in die Richtung, die der weitere Weg nahm, und verharrte einige Sekunden lang. Als von Mattes keine Reaktion kam, drehte sie sich seufzend um und trabte auf ihn zu. Half nichts. Der wollte tatsächlich schon wieder nach Hause und ließ sich nicht überzeugen. »Ich hab auch nicht nur Spaß«, sagte Mattes tröstend. »Ich muss noch zu dieser Althoff fahren. Es geht um unsere Zukunft.«

Als er in die Hauseinfahrt einbog, traf er auf seinen Neffen Robin, der alleine vor dem an der Garagenwand montierten Basketballkorb stand und einen grellorangen Basketball warf. Er prallte am Netzring ab und sprang auf die Erde. »Dreizehn hatte ich schon drin«, sagte Robin, griff nach dem Ball und warf ihn Mattes zu. »Hier, mach du mal!« Mattes fing den Ball, dribbelte kurz, sprang hoch und warf ihn, als er auf dem höchsten Punkt des Sprunges angekommen war, in einem hohen Bogen in den Korb. Ein leises Rauschen des Netzes, dann kam er sauber unten heraus. Robin guckte bewundernd: »Wow. Mach noch mal!« Mattes fing den Ball auf, erklärte Robin ausführlich die ideale Stellung der Finger und aus welcher Bewegung heraus der Schwung kommen musste. Er dribbelte, sprang ab, drehte sich in der Luft und warf den Ball nach hinten über die Schulter in den Korb. Robin ging fast in die Knie vor Bewunderung. Für den bin ich der Held, dachte Mattes und empfand ganz deutlich, dass ihm diese unkritische Bewunderung in seinem Alltag viel zu wenig entgegengebracht wurde. Eigentlich fehlte sie, außer bei seinem Neffen Robin, immer. Er dribbelte eine Runde vor der Garage entlang, bei der er den Ball bei jedem Schritt unter seinen Beinen die Seite wechseln ließ. Das sah schwieriger aus, als es war, aber es reichte, um für Robin zum Basketball-Superhelden zu werden. Mattes bemerkte mit Verwunderung, dass ihm sein kleiner Neffe mit seinen zwölf Jahren schon bis an die Schulter reichte. Würde vermutlich gar nicht mehr so lange dauern, bis er sportlich auf seinem Level angekommen war und damit der Zauber des Onkels verflogen sein würde.

»Und jetzt der große Wurf, den nur Weltklassespieler, allen voran dein Onkel Mattes, beherrschen. Der Wurf über zwei Autos, einen Zaun und einen Neffen genau in den Korb.« Mattes lief dribbelnd über den Bürgersteig bis auf die Straße und stellte sich auf. Er sah Robins gespannten Blick, sein freudiges Lachen und die strahlenden Augen. Konzentriert zielte er, warf mit aller Kraft, und der Ball flog in hohem, ruhigem Bogen genau auf den Korb zu, prallte aber auf den Metallring und sprang von dort in den Nachbargarten. Robin guckte entsetzt: »Au weia!«

»Lass nur, den hol ich«, rief Mattes, der wusste, wie sich Frau Stenger, die nervige Nachbarin, über jedes geknickte Blättchen an einer ihre Pflanzen aufregen konnte. Große Lust da jetzt rüberzugehen, hatte er auch nicht, aber er konnte ja nicht seinen kleinen Neffen in Gefahr bringen. Wenn schon Held, dann in allen Lebenslagen, auch bei der Stenger. Mattes näherte sich vorsichtig dem Zaun, da ließ ihn der schrille Ruf seiner Schwester aufschrecken. »Mattes! Dein Köter buddelt in meinem Garten! Hol den sofort da weg!« Im Laufschritt eilte er auf Mina zu. Wieso grub dieser sonst so phlegmatische Hund immer nur im Vorgarten seiner Schwester mit großer Begeisterung Löcher? Am liebsten mitten auf dem gepflegten, fast englisch zu nennenden Rasen oder alternativ in frisch angelegten Blumenbeeten mit kleinen blühenden Pflänzchen. Niemals hinter den dicken Koniferen, wo es nicht auffallen würde, und auch niemals, wenn sie unterwegs waren, auf weiten Naturwiesen oder im Wald. »Nun reg dich mal nicht so auf!«, versuchte Mattes seine Schwester zu beruhigen und zog Mina am Halsband zurück, die sich entgegenstemmte und so tat, als wäre ein Loch jetzt und an dieser Stelle das Einzige, was ihrem Leben Sinn gab. »Komm schon«, flüsterte er genervt, »du weißt, dass Astrid dich sonst zu Hackbällchen verarbeitet.«

Astrid erschien mit schnellen Schritten und besah sich die umgewühlte Erde. »Du musst schon aufpassen, Mattes! Du weißt doch, wie bescheuert dein Hund ist.« Sie bückte sich und sah fast etwas enttäuscht aus, weil der Schaden diesmal nur gering ausgefallen war. Trotzdem griff sie zu pädagogischen Maßnahmen. »Da wirst du leider gleich ein bisschen arbeiten müssen, um das wieder herzurichten«, sagte sie mit einem zufriedenen Unterton, der das »leider« im Satz völlig entkräftete. »Wenn du deinen Hund nicht im Griff hast, bekommst du Probleme. Vielleicht erziehst du ihn mal, damit er sich das ständige Buddeln abgewöhnt.«

Mattes schob mit dem Fuß einige der losen Erdstücke in das Loch zurück und sagte: »Ein bisschen Belüftung tut dem Rasen ganz gut. Außerdem buddelt sie doch nicht ständig.«

»Bei mir schon«, stellte Astrid fest und hatte damit durchaus recht. Sie sah ihn auffordernd an. Och, nee. Jetzt hier mit Harke und Spaten das kleine Loch zumachen? Er sah demonstrativ auf die Uhr: »Oh, ich hab gleich einen Termin.« Robin, der hinter seiner Mutter stand, zwinkerte ihm zu. »Echt wahr!«, bestätigte Mattes nachdrücklich. Nicht mal sein Neffe schien ihn ernst zu nehmen. Astrid jedenfalls glaubte ihm kein Wort. »Ja, deine Termine, die kenne ich«, spottete sie. »Jetzt bleibst du erst mal hier und beseitigst den Schaden. Danach kannst du Termine haben, so viel du möchtest.«

»Ja, Mami«, sagte Mattes und wusste, dass er seine Schwester mit dieser Anrede auf die Palme brachte. Sie benahm sich gerne wie seine Mutter, aber sie wollte es auf keinen Fall sein. Es war sogar eine Unverschämtheit, so etwas zu sagen, denn die sechs Jahre Vorsprung im Alter sah man ihr nur bei genauerer Betrachtung an. »Dann aber umso deutlicher!«, betonte Mattes bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Sie sähe sogar deutlich jünger aus als ihr Bruder, bestätigte ihr Mann, auf ihre drängenden Fragen hin, immer wieder. Godehard hätte auch ohne Zögern und aus Angst vor ihren Repressalien behauptet, dass man sie und Claudia Schiffer für eineiige Zwillinge halten könne. Eine ziemlich gewagte Theorie, wenn man sich bei realistischer Betrachtungsweise an den Zahlen 1,66 Meter Körpergröße und 67 Kilo Gewicht orientierte, fand Mattes.

»Ich bin nicht deine Mutter!«, presste sie sauer hervor. »Wenn ich es gewesen wäre, wärst du heute anders.« Mattes sah sie an und begann zu lächeln. Er liebte seine Schwester. Sie war ihm in seiner Kindheit ein wichtiger Bezugspunkt gewesen und hatte immer hinter ihm gestanden. Eine starke, große Schwester, mit der er bei Auseinandersetzungen auf dem Spielplatz drohen konnte und eine Verschwörerin, die ihn mit bewussten Falschaussagen vor der Strafe der Eltern rettete, wenn er wieder zu wenig gelernt oder später zu lange weggeblieben war. Und jetzt hatte sie ihm eine Unterkunft gegeben, als er mit den Kisten auf der Straße stand. Er konnte sich immer auf sie verlassen, sie müsste nur mal ein bisschen lässiger werden und einsehen, dass er sehr gut alleine im Leben klarkam. »Ich fahre jetzt zu meinem Termin und danach bring ich dir den Garten sofort wieder in Ordnung«, versprach er. »Der wird schöner als vorher.« Ihm war völlig klar, dass Astrid den kleinen Erdhügel auf dem Rasen keine zehn Minuten ertragen konnte und sich selber an die Arbeit gemacht hatte, bevor er wieder zurück war. Von daher kam ihm der Termin sehr gelegen. Er bedeutete, dass er jede Art von Gartenarbeit versprechen konnte, ohne nachher sein Wort halten zu müssen. Astrid nickte gnädig und sah zu, wie er Mina notdürftig von der Erde befreite, die ihr nicht nur zwischen den Zehen der Vorderpfoten, sondern auch um die Schnauze und im Fell hing. Unverkennbar boshaft lächelte sie: »Der Köter trägt dir den ganzen Dreck in die Bude. Da kannst du drinnen mit der Schadensbeseitigung gleich weitermachen. Kennst du kein nettes Tierheim, wo du ihn abgeben kannst? Würde dir eine Menge Arbeit ersparen.«

»Ach, ist doch gar nicht so wild«, sagte Mattes und schloss seine Haustüre auf. Mina verlor tatsächlich noch erstaunlich viel Dreck auf dem Weg durch den Flur ins Wohnzimmer. Egal. Darum konnte er sich später kümmern. Er zog die Haustüre wieder hinter sich zu und ging über die Einfahrt. Im Gartenhäuschen hörte er Astrid nach diversen Gartenbearbeitungswerkzeugen wühlen. Robin hatte sich geschickt verzogen, um nicht zu Hilfsarbeiten verdonnert zu werden. Kurz bevor Mattes um die Ecke bog, hörte er sie rufen: »Was für ein Termin soll das denn sein?« Sie tauchte mit Spaten und Harke auf. »Ich hab so was wie ein Vorstellungsgespräch«, sagte er. »Als was? Sucht die Pizzeria einen Fahrer? Wär’ doch genau das Richtige für dich.« Mattes überhörte den beißenden Spott und antwortete: »Nein, Chefredakteur.« Im Weitergehen hörte er seine Schwester lachen. Na, immerhin hielt sie ihn für witzig.

Die Redaktionsräume des Hundemagazins befanden sich im Erdgeschoss eines Wohnkomplexes, der auf den ersten Blick eindrucksvoller wirkte als aus der Nähe. Die Stahlträger setzten Rost an, unter den Fensterbänken bröckelte der Putz, und die Reihe der mit handschriftlichen Namen versehenen Klingelschilder ließ auf einen schnellen Wechsel der Mieter schließen. Ein kleines Schild gab an, dass der Eingang zu ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ im Hof lag. Mattes durchquerte einen Durchgang mit überquellenden Wandbriefkästen auf der einen und zwei großen Müllcontainern auf der anderen Seite und blieb mit einem tiefen Atemzug stehen. Hier war die Redaktion? Dann hätte sie genauso gut in einer alten Baracke am Ende eines Schrottplatzes liegen können. Schön war anders. Die ZEIT residierte ganz sicher in einem imposanteren Bauwerk. An einer Tür sah er ein Schild, das zeigte, dass er tatsächlich am Ziel war. ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ stand darauf und natürlich gab es die unvermeidlichen stilisierten Hundepfotenabdrücken am Rand. An einem Fenster klebten Fensterbilder mit Hundemotiven. Langhaarige Collies, die auf Hügeln standen, während hinter ihnen die Sonne unterging, liegende Pudel, die eine Schleife um den Hals trugen und Weidenkörbe voller Welpen, um die bunte Blumen drapiert waren. Ein buntes Sammelsurium widerlich kitschiger Plastikbilder. Zu Kindergartenzeiten hätte es ihn begeistern können.

»Ach, du Scheiße«, murmelte er und musste gar nicht erst überlegen, um zu wissen, dass es besser sein würde, einfach umzukehren und die Sache zu vergessen. Frau Althoff hatte vermutlich nicht nur gesammelte Jahrgangsordner von ›Der rote Teppich‹ im Wohnzimmer stehen, sondern malte am Abend auch noch Fensterbilder. Er hatte geahnt, dass es nichts Gutes war, als gestern Morgen noch vor dem Kaffee das Telefon klingelte. Am aggressiven Klingeln hatte er es schon erkannt. Sollte er jetzt wirklich noch reingehen oder die ganze Sache gleich vergessen? »Hi!«, säuselte eine helle Stimme hinter ihm. »Wollen Sie zu Hasso sein Herrchen und Fina sein Frauchen?«

»Äh, …«, reagierte er verwirrt, weil er mitten aus einem seiner seltenen Entscheidungsprozesse gerissen wurde.

»Cool«, sagte eine junge, schmale Frau, warf ihm aus kajalumkränzten Augen einen tiefen Blick zu, trippelte zur Tür und stieß sie auf. »Hier geht’s lang.« Sie hielt ihm die Tür auf, und er ging automatisch auf sie zu. Mist. Irgendetwas lief falsch. Er musste das sofort abbrechen. In diesem Moment rief die junge Frau mit lauter Stimme in den Flur hinein: »Frau Aaalthooooff. Hier iiiist eineeeeer«, und Mattes dachte: Hier ist einer? Was denn für einer? Ein Idiot? Ein Wahnsinniger, der es bis in diesen miesen Hinterhof schafft? Einer, der die morbide Stimmung mieser Hundemagazine liebt, weil er mit Leidenschaft heimlich einen Hundefriedhof betreibt? Einen kurzen Moment lang fühlte er das Bedürfnis in sich aufsteigen, sich umzudrehen und um sich schlagend und schreiend über den Hof zurück bis in sein Auto zu flüchten und dort die Türknöpfe herunterzudrücken.

Ehe er dem Impuls folgen konnte, erschien eine ältere, damenhafte Erscheinung, die Mattes prüfend musterte. Sie schien vom Ergebnis nicht sofort begeistert zu sein. Mattes erging es ebenso. Die sah ja aus wie die Leiterin eines Mädchenpensionats. Wenn er bis jetzt nicht gewusst hatte, wie eine Spaßbremse aussah, dann hatte er gerade deutlich dazugelernt. »Tina, bitte brüll nicht so herum! Du kannst Besucher ordentlich anmelden«, sagte sie streng, ohne den Blick von Mattes zu wenden. Sehr nachdrücklich setzte sie »Danke, Tina« hinterher, was diese veranlasste, unverzüglich und wortlos nach drinnen zu verschwinden.

»Ja, bitte?«, sagte sie zu Mattes, der sich ebenfalls veranlasst fühlte, sofort zu verschwinden. Allerdings nach draußen. Aber es war zu spät. Vor dieser Frau drehte man sich nicht einfach wortlos um. Außerdem hatte er ihre Stimme erkannt. Das war die Frau vom Telefon.

»Ich bin Mattes Reuter«, begann er und ärgerte sich über den Kiekser in seiner Stimme. Er kiekste doch sonst nicht. »Wir haben telefoniert«, fügte er mit fester Stimme hinzu. Na, jetzt klang sie vielleicht ein wenig zu fest. Fast angespannt.

»Mein Name ist Althoff. Kommen Sie bitte herein!«, sagte sie.

Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Er versuchte ein überzeugend souveränes Lächeln, als er an ihr vorbeiging, merkte aber selber, dass es völlig danebenging. Na, super. Ich will hier Chefredakteur werden, der Boss, und ich lasse mich behandeln wie der Lehrling. In ihm regte sich Widerspruch. Er hatte doch sonst keine Probleme mit der eigenen Autorität. Was glaubte diese Frau, wer er sei? Irgendein kleiner Lokal-Reporter? O. k., nach außen vielleicht, aber innerlich doch nicht! Frau Althoff schloss die Tür hinter ihm, durchquerte den Eingangsbereich und betrat ein Büro. Ihre tadellose Haltung drückte wortlos aus, dass sie vom ihm erwartete, ihr zu folgen, und sie drehte sich nicht mal um, um zu sehen, ob er es auch tat. Gut. Er war hier, und er würde sich vorstellen. Aber er wusste jetzt schon, dass er den Posten nicht haben wollte. Nicht bei dieser Frau Althoff, die vermutlich die Verlagsleiterin war. Oder die Ober-Chefredakteurin. Auf jeden Fall etwas, das er nicht in seiner Nähe haben wollte. Sie strahlte einfach zu viel Sucher-Mentalität aus.

In ihrem Büro wies Frau Althoff auf einen Stuhl und setzte sich in einen dicken Leder-Chefsessel auf der anderen Seite des Schreibtisches. Da war er: genau der Chefsessel, den er für sich vorgesehen hatte. Und es saß diese Frau drin. Mattes bewegte sich auf den nüchternen Holzstuhl zu, als unter dem Tisch ein nicht mal kniehohes, langhaariges Fellbündel hervorschoss, in sicherer Entfernung vor ihm stehen blieb und schrill kläffte. »Mucki, geh auf deinen Platz!«, versuchte Frau Althoff den Hund zuerst mit halblauter, dann mit strenger Stimme zu übertönen und zeigte dabei energisch auf ein Hundekörbchen an der Wand. Sieh mal an, dachte Mattes. Es gibt jemanden, der nicht macht, was sie will. Fast fühlte er Sympathie für den respektlosen Kläffer in sich aufsteigen, aber dafür war das Gebell dann doch zu schrill. Nach einigen strengen Ermahnungen blaffte Mucki noch einmal kurz auf und verzog sich brummend in einen Hundekorb. Frau Althoff verzog keine Miene. »Er kennt Sie nicht, und bei Fremden ist er zunächst etwas vorsichtig«, erklärte sie und ging sofort zum nächsten Thema über.

»Ihre Arbeiten bei ›Der rote Teppich‹ kenne ich«, sagte sie. »Was haben Sie außerdem gemacht?«

Mattes lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und merkte, dass er lässig wurde. Er wollte den Job nicht. Jetzt war es ihm egal. Mal sehen, wie lange Frau Althoff ihre penetrante Art durchziehen würde. Er rasselte nachlässig herunter: »Abi, Journalistenschule, momentan freiberuflicher Journalist für diverse Medien.«

»Diverse Medien«, wiederholte Frau Althoff ungerührt, und Mattes merkte sofort, dass er sie damit nicht beeindrucken konnte.

»Mögen Sie Hunde?«, fragte sie schnell.

»Kommt ganz auf den Hund an. Und vor allem auf den Menschen, der dazugehört.«

»Wann können Sie anfangen?«

Die Frage verwirrte ihn. Er bemerkte, dass seine lässige Haltung Haltungsschäden bekam.

»Sofort. Wieso?«

»Keine Termine und Verpflichtungen bei den diversen Medien?«

Ihre Stimme klang einen Hauch provokativ, und Mattes bemerkte zu spät, dass er einen Fehler gemacht hatte. Erfolgreiche Menschen hatten niemals sofort Zeit. Frau Althoff zog eine Schublade auf, nahm einige beschriebene Blätter heraus und legte sie vor ihn auf den Tisch.

»Das ist ein Vertrag. Lesen Sie ihn bitte durch!«

Ein Vertrag? Er überflog ihn. Irgendwo musste der Haken sein. Was war hier los? Nein, fiel es ihm plötzlich ein, kein Haken, eine Kamera! Er war bei der ›Versteckten Kamera‹ gelandet, und hinter den Kulissen bogen sich 30 Mitarbeiter eines Fernsehsenders und lachten über seine Blödheit. Und am nächsten Samstag lachte vermutlich die ganze Nation.

Mattes musterte schnell die Wände des Büros. Gut versteckt waren die Kameras, das musste er zugeben. Tja, er gehörte zu den wenigen Leuten, die schlau genug waren zu merken, wenn sie von der ›Versteckten Kamera‹ reingelegt wurden. Mit ihm konnte man das nicht so einfach machen. Jetzt musste er nur noch entsprechend reagieren. Am besten ganz cool bleiben. Den Spieß umdrehen. »Das Gehalt ist sehr bescheiden«, sagte er und sah Frau Althoff herausfordernd an. Vermutlich hieß sie nicht wirklich Frau Althoff. Wahrscheinlich war sie eine Schauspielerin, und das Gehalt war wirklich sehr mickrig für den Posten eines Chefredakteurs. Da hätten sie besser recherchieren sollen. Frau Althoff sagte: »Wir sind ein kleines Magazin. Mehr ist nicht drin. Aber die Arbeit ist entsprechend. Sie werden sich nicht überarbeiten.« Er warf ihr einen schnellen Blick zu. Was wollte sie damit andeuten? Sah er aus, als hätte er kein Interesse an intensiver Arbeit? Sie blickte ungerührt zurück. »Sonst noch eine Frage?«, erkundigte sie sich knapp. Mattes überflog den Vertrag. »Nein.« Dann kam ihm blitzartig doch noch etwas in den Sinn. »Oder doch. Warum ist die Stelle frei?« Frau Althoff reichte ihm einen Füllfederhalter. »Der bisherige Chefredakteur musste aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten.«

»Oh«, sagte Mattes gespielt betroffen, denn auch das war natürlich eine erfundene Geschichte, und er grinste: »Überarbeitet?«

Seine aus seiner Sicht witzige Bemerkung kam bei Frau Althoff nicht an, sie starrte ohne jede Mimik zurück. Er sah auf die Vertragsblätter und zögerte kurz. Unterschreiben? Aber warum nicht? War ja alles nicht echt. Jetzt würde er es bis zum Ende spielen. Schwungvoll setzte er seinen Namen auf das letzte Blatt. Frau Althoff stand auf und reichte ihm die Hand über den Tisch. Zum ersten Mal lächelte sie. »Herzlich willkommen. Gisela Althoff. Ich bin Ihre Büroleiterin.«

Mattes stand händeschüttelnd im Büro von Frau Althoff und wartete auf das Öffnen der Bürotüre. Jetzt mussten doch alle hereinstürmen, ihn umarmen, auf die Kameras hinter Bildern und in den Löchern der Aktenordner zeigen und dabei lachen. Frau Althoff würde sich ihre Perücke herunterreißen, eine Silikonnase aus dem Gesicht abziehen und plötzlich Hape Kerkeling sein. Und er, Mattes, würde milde und wissend lächeln und Hape Kerkeling souverän den Arm um die Schulter legen. Als seien sie alte Freunde. Die Fernsehleute würden sich wundern, wie cool er blieb. Frau Althoff sah ihn prüfend an, zog ihre Hand aus seiner und sagte: »Wir sehen uns morgen um 9 Uhr. Dann stelle ich Ihnen die Mitarbeiter vor und führe Sie in Ihren Aufgabenbereich ein.« Mattes sah sie an und versuchte einen klaren Gedanken fassen. Es kam keiner, den er hätte fassen können. Er sah, wie Frau Althoff zur Türe ging, sie öffnete und abwartend stehen blieb. Automatisch setzte sich Mattes in Bewegung, ging an ihr vorbei, hörte sich »Bis morgen dann« murmeln, durchquerte das Foyer, in dem die junge Frau von eben vor dem Kopierer stand und ziemlich schräg Musik mitsang, die aus ihren Kopfhörern dröhnte, und stand dann alleine im Hinterhof. Wenn jetzt nicht die Leute von der ›Versteckten Kamera‹ auftauchten, lief hier etwas ganz, ganz schief.

Er zählte langsam bis 10 und dann noch weiter bis 23. Bei 27, die Pausen zwischen den Zahlen wurden immer länger, hörte er auf und sah sich um. Er stand immer noch alleine im Hinterhof, aber jetzt wusste er, dass er nicht reingelegt worden war. Irgendwie aber doch. Und vor allem hatte er sich auf total bescheuerte Weise selber reingelegt. Wie blöd bin ich eigentlich?, kam ihm in den Sinn. Ich habe einen festen Job angenommen für ein mieses Gehalt bei einem obermiesen, schmierigen kleinen Magazin. Bei diesem Drachen, dieser Althoff! So ein Vertrag galt doch erst mal nur vorläufig, oder? Da konnte man doch in der Probezeit sofort wieder raus. Verdammt!! Hatte da was von Probezeit gestanden? Was, um Himmels willen, hatte er da eigentlich gerade alles unterschrieben?

Leise fluchend ging Mattes zu seinem Auto zurück. An welchem Punkt hatte er die Kontrolle verloren? Eigentlich doch in dem Moment, als die Althoff ihn angerufen hatte. Als sein Kaffee kalt wurde und er das labberige Brötchen mit den verbrannten Stellen in der Hand hielt. Er ließ sich auf den Sitz fallen und blieb kurz vor dem Drehen des Zündschlüssels wie erstarrt sitzen. Ganz langsam sickerte die Erkenntnis durch. Wenn er alles richtig verstanden hatte, dann war er jetzt Chefredakteur. Das war doch wenigstens mal was. Dass es ein Hinterhof-Hundemagazin war, musste er nicht jedem auf die Nase binden. Magazin als Bezeichnung war völlig ausreichend. Er grinste. Chefredakteur eines Magazins. Nicht schlecht. Damit würde sogar seine Schwester leben können. Sein triumphierendes Grinsen erstarb. Nein, Astrid würde nicht damit leben können. Sie würde nachfragen. Und sobald ihr klar wäre, dass es dieses Hundeblättchen war, würde er ihren Vorträgen über Karriere und den direkten Weg zum Ziel kaum noch entkommen können. Darin war sie Weltmeister. Egal auf welche Weise er es verhindern konnte, aber Astrid dürfte von diesem neuen Kapitel in seinem Leben nie etwas erfahren!