Seit Anfang der Woche war die zweite Auflage des Magazins im Handel, und die Wahrscheinlichkeit, dass Astrid ihm auf die Spur kam, erhöhte sich erheblich. Mattes war am Sonntag schon fast so weit gewesen, es ihr zu sagen, aber sie hatte an beiden Tagen ein Seminar bei einem großen Konzern gehalten und kam müde und wenig aufnahmefähig nach Hause. Und ihr dann das Geständnis machen, dass er für ein Hundemagazin arbeitete? Das würde sie in ihrem erschöpften Zustand auf der Stelle umbringen. Oder, noch schlimmer, sie würde ihren erschöpften Zustand missachten und auf der Stelle ihn umbringen. Ein paar Tage Schonzeit seien ihr noch gegönnt, dachte Mattes, rechnete aber damit, im Falle eines Outings sofort seine Einliegerwohnung verlassen zu müssen. Zumindest vorläufig, bis sich ihre erste Wut und Enttäuschung gelegt hatte. Sicherheitshalber packte er eine kleine Reisetasche mit dem Nötigsten und legte sie ins Auto, um im Ernstfall schnell aus Astrids Gewaltbereich flüchten zu können.

Als er abends aus der Redaktion kam und mit der hinter ihm hertrottenden Mina die Einfahrt entlangging, kam Astrid aus dem Haus und fragte zögernd: »Sag mal, Mattes, wusstest du, dass Mina auch ein Frauenname ist?« Sie hob die Hand und wedelte mit ›doggies live‹.

Oh nein! Die Schonzeit war vorbei.

»In diesem Hundeheft gibt eine Expertin Antworten, und die heißt Mina. Genau wie dein Hund«, sagte sie. »Witzigerweise sogar Mina R., wie Reuter. Ich habe so gelacht, als ich das gelesen habe, denn du nennst deinen Hund doch auch manchmal Mina Reuter. Ihr Hundehalter seid echt so was von bekloppt.«

Lachend klopfte sie Mina auf den Rücken und schlug ihr vor: »Du solltest mal lesen, was die andere Mina, also die Menschen-Mina, da schreibt. Da kannst du noch ’ne Menge lernen und kannst dich vielleicht sogar mal irgendwann benehmen.«

Sie drückte Mattes das Heft in die Hand. »Hier. Ich hab mir die Seiten mit den Abnehmtipps rausgeholt, aber der Rest ist auch gar nicht so schlecht. Ich meine für eine Hundezeitung. Besonders diese Expertin hat was auf dem Kasten. Die könntest du wegen deiner Probleme mit Mina mal anschreiben, von wegen Löcher buddeln und im Park nicht hören. Wenn sie liest, dass dein Hund auch Mina R. heißt, beantwortet sie deine Fragen bestimmt bevorzugt.«

»Ich hab keine Probleme mit Mina«, stellte Mattes klar.

»Das sagen sie alle. Der Letzte, der was von den Problemen mit seinem Hund bemerken will, ist der Halter.«

Sie guckte ihn besorgt an: »Du suchst doch schon lange einen Job. Kannst du dich nicht mal bei so einer Zeitung vorstellen? Dass du nicht viel Ahnung von Hunden hast, musst du denen ja nicht unter die Nase reiben. Das kann man alles lernen, wenn man erst mal dabei ist.«

»Aber ein Hundemagazin?«, fragte Mattes.

»Lies es dir durch, ehe du meckerst! Ich war selber ganz erstaunt, was da drinsteht. Schade, dass du so was immer verpasst, weil du die Augen nicht aufmachst.«

Sie ging auf ihre Wohnung zu, und Mattes überlegte, ob er ihr hinterherlaufen und im Impressum des Heftes zeigen sollte, dass es nicht nur eine Expertin Mina R. gab, sondern auch einen Chefredakteur Mattes Reuter. Aber da kam Robin rausgelaufen und schoss ihm einen Ball vor die Füße. »Schieß, du Lusche!«, brüllte er, und während Astrid kopfschüttelnd im Haus verschwand, dribbelten Mattes und Robin über den Vorplatz. Mina begab sich, von allen unbemerkt, zum Löcherbuddeln auf den gepflegten Rasen.

Die Stunde der Wahrheit kam am Donnerstagabend, als Mattes kurzfristig nach Hamburg geflogen war, weil er in letzter Minute als Gast in die Live-Fernsehsendung von HaJo Schmitz eingeladen worden war. Astrid hatte sich vorher seufzend bereit erklärt, wegen seiner »dringenden geschäftlichen Termine«, die sie ihm natürlich überhaupt nicht glaubte, über Nacht auf Mina aufzupassen. Am Abend hatte sie das Trimmrad ins Wohnzimmer geschleift und saß nun mit Kopfhörern, über die sie Haydns Violinkonzert in G-Dur hörte, vor der Stereoanlage und arbeitete verbissen auf ihre 65-Kilo-Marke zu. Hinter ihr lachte Godehard, der im Sessel vor dem Fernseher saß, auf.

»Der sieht deinem Bruder total ähnlich«, hörte sie ihn durch das Sechzehntelgefiedel des Berliner Kammerorchesters sagen.

Sie reagierte gar nicht, und er rief ungeduldig: »Nun guck doch mal!«

Genervt drehte sie den Kopf und sah zum Bildschirm. Das war nicht ihr Bruder, der sah ihm gar nicht ähnlich.

»Quatsch!«, sagte sie verächtlich.

Godehard drängte: »Warte doch. Sie haben gerade eine andere Kamera. Gleich kommt er wieder ins Bild.«

Astrid stöhnte demonstrativ auf und zeigte mit genervter Miene, wie unpassend gerade dieser Moment war, sie aus dem Takt des Kammerorchesters zu bringen.

Die Kamera wechselte, und neben HaJo Schmitz, dem berühmten Moderator, saß wirklich Mattes. Astrid riss sich die Kopfhörer von den Ohren und lief näher zum Fernseher. Kein Zweifel, das war Mattes.

Wie sie dann vor Schreck nach hinten getaumelt war, sich einen riesigen blauen Fleck – sooo groß, du glaubst es nicht – am Wohnzimmertisch geholt hatte und danach auf der Couch gesessen und völlig erschlagen die Sendung gesehen hatte, erzählte sie danach wochenlang jedem und immer wieder gerne.

Besonders gerne Mattes, der, als er am nächsten Vormittag arglos vom Flughafen kam und vor dem Haus aus dem Taxi stieg, von Astrid mit Vorwürfen überschüttet wurde. Dabei ging es ihr gar nicht mehr um die Tatsache, dass es ein Hundemagazin war, denn das war ja sogar erstaunlich erfolgreich gestartet, sondern darum, dass er seiner einzigen und immer für ihn da gewesenen Schwester nicht mal einen Funken Vertrauen entgegengebracht, sondern im Gegenteil ihre Hilfe schamlos ausgenutzt habe. Und was würden jetzt ihre Klienten sagen und die Eltern? Ihre Litanei endete mit einem tief enttäuschten: »Ach, Mattes, warum hast du es mir nicht gesagt?«

»Du hättest mich umgebracht«, argumentierte er knapp.

»Stimmt«, gab sie zu, »aber du hättest es verdient!« Sie jammerte los: »Ich kann nie wieder Haydns Violinkonzert in G-Dur hören, ohne an diesen schrecklichen Moment erinnert zu werden, als mein Bruder im Fernsehen öffentlich zugab, dass er ein Hunderedakteur ist und seine Schwester hintergangen hat.«

»Was heißt denn ›zugeben‹ und was heißt ›hintergangen‹? Du warst überhaupt kein Thema«, empörte sich Mattes. »Ich war der Stargast des Abends. Ich, Mattes Reuter, ein Chefredakteur. Es ist nicht die ZEIT, aber weißt du was, ich will gar nicht mehr zur ZEIT! Und weißt du eigentlich, wen ich fast auf den Titel bekommen hätte?«

Er machte eine Kunstpause und platzte dann raus: »Veronica Ferres!«

Stimmte zwar nicht so ganz, aber sie war immerhin weitläufig im Gespräch gewesen, und vor allem würde Astrid beeindruckt sein.

»Die Ferres?«, schrie Astrid auch wie geplant auf. »Und du Idiot nimmst stattdessen Saskia Hoffmann? Haben sie dir was vor den Kopf gehauen?«

Das Gespräch nahm nicht die Richtung, die Mattes wollte. Er fasste sie mit beiden Händen an die Schultern und sagte eindringlich: »Jetzt freu dich doch mal! Dein missratener Bruder hat einen festen Job, und er hat das Erfolgsmagazin des Jahres auf den Markt gebracht. Die nächste Nummer wird noch größer und noch besser. Und wenn HaJo Schmitz einen Hund hätte, wäre er auf den nächsten Titel gekommen, er hat extra gefragt. In ein paar Monaten werden sich die Promis darum reißen, auf das Titelbild meines Magazins zu kommen.«

Astrid versuchte ein klägliches Lächeln. Sie blieb einen Moment still, und er konnte beinahe hören, wie ihr Gehirn ratterte: »Dann wirst du ja eine Menge Leute kennen lernen, wenn du so rumkommst und die alle auf den Titel wollen.« Mit plötzlich deutlich festerer Stimme sagte sie: »Sag mal, kannst du mich da nicht irgendwie einbinden? Die können doch bei mir Persönlichkeitsseminare machen. Du kannst denen ja mal ein Kärtchen von mir rübergeben. Oder weißt du was? Nimm mich doch einfach mal mit, wenn du dich mit denen triffst!«

»Astrid, die meisten davon haben Hunde und sind darum in deinen Augen Idioten.«

»Macht doch nichts.«

Noch am gleichen Abend rief seine Mutter an. »Mattes!«, rief sie überglücklich, »Ich habe es immer gewusst! Du bist endlich im Fernsehen. Hab ich dir nicht seit Jahren gesagt, dass das der richtige Beruf für dich ist?«

»Ich mach das aber nicht beruflich«, stellte Mattes richtig.

»Aber du hast doch mit dem Schmitz gesprochen, ich hab’s gesehen!«

»Ich war sein Gast.«

Seine Mutter schien enttäuscht. »Du warst sein Gast? Als was denn?«

Ihre Stimme klang unsicher und drückte neben ihrer Enttäuschung aus, dass sie sich absolut nicht vorstellen konnte, aus welchem Grund man ihren Sohn in eine Fernsehsendung einladen sollte.

»Hast du denn nicht zugehört?«, fragte Mattes verwundert.

»Na hör mal!«, entgegnete sie empört. »Wie sollte ich denn zuhören? Ich hab sofort Tante Henni, dann Frau Meckenbroich und danach das halbe Stadtviertel angerufen, damit die sofort den Fernseher anschalten und selber sehen, dass du jetzt eine Sendung hast.«

»Aber ich hab doch gar keine Sendung. Ich war Gast, weil ich ein Magazin mache. Übrigens sehr erfolgreich«, setzte er schnell hinterher.

»Ein Magazin?«, fragte seine Mutter nach. »So was wie ›Der rote Teppich‹?«

»Fast.«

Er hörte, wie seine Mutter erleichtert ausatmete.

Schnell setzte er hinterher: »Mit Hunden.«

Es blieb still. Wenn sie nicht lautlos vom Stuhl gefallen war, war sie zumindest sehr geschockt.

»Das Magazin ist wirklich sehr erfolgreich und die Arbeit interessanter als ein Moderator-Job beim Fernsehen«, versuchte er zu erklären und ärgerte sich gleichzeitig, dass er so bemüht war, seine Tätigkeit auf irgendeine Weise wertvoll erscheinen zu lassen. Sollte er ihr mit der Post ein Magazin schicken, damit sie seinen Namen gedruckt im Impressum lesen konnte? Ihm fiel eine schnellere Möglichkeit ein.

»Du gehst jetzt zum nächsten Zeitschriftenladen und fragst nach ›doggies live‹, dem neuen Hundemagazin. Auf Seite 38 gibt es eine Spalte, in der ganz oben mein Name steht. Mattes Reuter, Chefredakteur.«

»Chefredakteur?«, erklang die Stimme seiner Mutter plötzlich deutlich frischer. Zögerlich fragte sie nach: »Und du schreibst über Hunde?«

»Über Hunde und über ihre Besitzer«, bestätigte er.

Glücklich sagte sie: »Die Queen von England hat auch Hunde. Korkis sind das, ganz hässliche Viecher mit so kurzen, krummen Beinen. Ich weiß nicht, warum man sich als Königin nicht schönere Hunde aussuchen kann. Am Geld kann’s ja nicht liegen und passt doch auch viel besser zu so einem Schloss. Na, vielleicht hat sie ein gutes Herz, und die sind aus dem Tierheim. Wollte wohl sonst keiner haben. Du kannst sie bestimmt mal in London anrufen, weil sie ja Hunde hat, und dann ein Interview mit ihr machen.«

»Ganz bestimmt«, bestätigte Mattes und stellte sich Peter Plattler vor, der zum Fotoshooting durch den Buckingham Palace schlurfte, um dort die Queen mit ihren Corgis zu fotografieren. Seine Mutter seufzte, hörte sich dabei aber ganz vergnügt an.

»Jetzt muss ich alle noch mal anrufen und sagen, dass du gar nicht im Fernsehen arbeitest, sondern eine Zeitung machst. Du hast recht, das ist wirklich viel besser. Was ist schon so ein Schmitz, wenn du stattdessen Kontakt mit der Königin von England haben kannst.«

Als Mattes den Hörer auflegte, war ihm klar, dass es keine zwei Stunden dauern würde, bis das halbe Stadtviertel wusste, dass er engen Kontakt zur Queen hatte und seine Mutter immer schon gewusst hatte, dass aus ihm mal ein ganz Großer würde.

Nach einigen deutlich ruhigeren Tagen in der Redaktion, die zwar arbeitsreich, aber im Vergleich zu den letzten beiden Wochen wie ein geruhsamer Urlaub wirkten, wurde Mattes unruhig.

»Wenn wir 60 Seiten schaffen wollen, müssen wir intensiv dranbleiben«, verlangte er in der täglichen Besprechung.

Peter guckte ihn scharf an: »Wir wollen keine 60 Seiten, nur du willst die und hast sie uns aufgedrückt.«

»Weil sie zu schaffen sind und ›doggies live‹ noch besser machen.«

Peter knallte ihm die neu layouteten Seiten auf den Tisch. »Ich hab keinen Bock, immer wieder bis abends in meinem Büro zu hängen.«

Nadine seufzte: »Ich habe gedacht, dass die zweite Nummer einfacher wird. Können wir die zwölf Zusatzseiten nicht wieder rausnehmen?«

Mattes schüttelten den Kopf: »Kommt, Leute! Die zweite Nummer wird besser als die erste. Und ihr werdet sehen, dass wir das locker schaffen. Am Anfang ist es eben ein bisschen mehr Arbeit, aber dann läuft es. Es gibt ein altes Sprichwort: ›Bestelle mühsam dein Feld und dann ernte und habe Spaß‹, oder so.«

Peter brummte: »Es heißt: ›Rode das Land und arbeite bis zum Umfallen, damit deine Enkel später auf der Bank sitzen können‹.«

»Vertraut mir doch einfach!«, bat Mattes. »Die Entscheidung für zwölf Seiten mehr habe ich gut überlegt. In drei Monaten läuft der Laden und ihr habt so wenig zu tun, dass ihr um mehr Seiten für ›doggies live‹ bettelt.«

»Wieder mal ’ne Chefsache, nehme ich an«, seufzte Peter und verließ das Büro.