Der Vorteil des frühen Aufstehens war, dass Astrid um diese Zeit meistens mit ihrer Familie beschäftig war und sich nicht blicken ließ, und dass Mattes im Park viel häufiger Berrys Frauchen traf. Früher war das nicht sehr oft passiert, weil sie vermutlich immer lange vor ihm dort gewesen war, aber jetzt sah es so aus, als würde das eine regelmäßige Energiequelle am Morgen werden. Wenn sich Mina schon so gut mit Berry verstand, wäre es vielleicht auch möglich, dass er und Berrys Halterin sich annähern konnten. Ob sie Single war? Oh, Mann, er hatte noch nicht mal nach ihrem Namen gefragt, da konnte er sich ganz bestimmt nicht plump erkundigen, ob es irgendwo auch ein Herrchen von Berry gab. Aber wahrscheinlich gab es das. Na ja, egal. Er hatte sowieso keine Möglichkeit, sich um nette Hundehalterinnen zu kümmern, außer es bezog sich auf Artikel, die sie lesen sollten. Für Beziehungskisten war wirklich keine Zeit.

Als er an der Redaktion ankam, waren die Fensterbilder verschwunden. Er vermutete inzwischen, dass Tina sie fabriziert hatte, und hoffte, dass Frau Althoff ihr überzeugend klarmachen konnte, warum sie dort nicht mehr kleben durften. Nicht, dass er jetzt schuld an einem Frustrationsschub der Praktikantin war, der ihre Kaffeekochfähigkeit weiter herabsetzte. Obwohl, noch weiter herab, das ging vermutlich gar nicht. Gegen zehn kamen die Mitarbeiter nach und nach in sein Büro und setzten sich mit ernsten Mienen um seinen Tisch. Die Stimmung war düster. Von Aufbruch und neuer Motivation war nichts zu spüren. Ich beseitige nicht nur die Fensterbilder, ich beerdige auch ihr Magazin und damit ihren Arbeitsplatz, ging es Mattes durch den Kopf, und er fühlte plötzlich drückende Verantwortung auf seinen Schultern. Noch war Zeit, alles abzubrechen. Stattdessen forderte er demonstrativ munter auf: »So, jetzt mal her mit den innovativen Ideen!« Es blieb still. Er sah sich abwartend um und sagte herausfordernd: »Lassen Sie sich Zeit. Wenn Sie kreatives Arbeiten nicht gewohnt sind, möchte ich Sie nicht überfordern.« Die abweisende Stimmung, die er fast schon als Feindschaft deuten konnte, machte ihn wütend. Vermutlich hatten die gestern, als er weg war, sofort Pläne geschmiedet, wie sie ihn schnellstmöglich loswerden konnten. Einfach jede Mitarbeit verweigern, niemals antworten und ihn vor Wände des Schweigens laufen lassen. Das würde ihnen ähnlich sehen.

Tina platzte in die Stille hinein: »Frau Althoff hat uns gestern erzählt, was Sie schon alles gemacht haben. Das ist echt so was von cool!« Ihre bewundernden Blicke schmachteten ihn an.

»So?«, fragte er und sah Frau Althoff an, die seinem Blick regungslos standhielt. Was hatte die blöde Ziege erzählt? Seinen Lebenslauf aufgemotzt und ihn zum erfahrenen Retter von Hundemagazinen gemacht? Oder zum Stern am Journalistenhimmel erhoben? Sollte sie ruhig. Es konnte ihm nur helfen, wenn die anderen an seine Fähigkeiten glaubten, aber es wäre zu interessant, auch selber zu wissen, was für einen Blödsinn die Althoff verzapft hatte. Die Blicke der Anwesenden ruhten auf ihm, und er riss sich zusammen und fragte noch einmal laut, ob jemand einen genialen Vorschlag präsentieren wollte.

Frau Berger meldete sich wie in der Schule und begann, als er ihr auffordernd zunickte: »Es gibt ein paar interessante Themen. In der Nähe haben wir eine Gruppe netter Welpen, die jeden Sonntag zusammen spielen. Und eine Züchterin hat angerufen und möchte gerne vorgestellt werden.«

Mattes sagte ernst: »Und im China-Restaurant gibt es jetzt Buffet für 5 Euro.«

Verwirrte Blicke trafen ihn.

Er stöhnte leicht auf: »Jetzt mal richtig, Leute! Welpengruppe und Züchterin hattet ihr doch alles schon und dafür hat nicht einmal die Rentner-Bingogruppe ihr Spiel für zwei Minuten unterbrochen. Unser Ziel ist nicht ein regionales Käseblatt, in das auf dem Wochenmarkt der Salat eingewickelt wird, sondern ein bundesweites Premium-Magazin. Die ›Vogue‹ im Hundebereich. Da kann nicht mehr die Züchterin Frau Schmitz mit ihrem Hundelaufstall in der Küche die Topstory sein.« Erwartungsvoll blickte er in die Runde, aber es blieb still.

»Wie sieht es mit einem neuen Layout aus?«, fragte er Herrn Plattler, der zu seinem Erstaunen erneut ohne Zigarette am Tisch saß, auch wenn er bei jeder Bewegung den Geruch von abgestandenem Qualm verteilte. Respektierte er das Chefbüro?

Der gefeierte Art Director entnahm seiner Hosentasche zwei nachlässig geknickte Papierblätter, faltete sie knisternd auseinander und schob sie in die Tischmitte.

»Neues Layout«, erklärte er knapp.

Alle starrten auf die Linien und die als farbige Kästen gekennzeichneten Textblöcke, und nur Tina hatte keine Hemmungen, ein fragendes »Häh?« loszulassen. In Mattes sickerte ganz langsam die Erkenntnis durch, dass er nicht unverständig vor der genialen Design-Idee eines Genies saß, sondern dass der Grafiker ihn offensichtlich verarschen wollte. Der hatte irgendwas zum Thema Layout aus dem Internet gezogen und dachte, ihn damit beeindrucken zu können. Für wie blöd hielt er ihn? Mattes blickte hart zu ihm herüber.

»Schön, Herr Plattler«, sagte er kalt. »Wenn das Ihr Arbeitsniveau ist, wird es für Sie schwer werden. Das, was hier liegt, gibt es in jedem kleinen Blättchen. Ich hatte erwartet, dass Sie mir etwas Neues anbieten. Aber anscheinend verliert man nach einiger Zeit bei Hasso und Fina die Kreativität.«

Herr Plattler guckte ihn regungslos an. Mattes fühlte sich kraftlos. Und jetzt? Sollte er ihn feuern, was mit einer Aufgabe des Magazins gleichkam, weil er der einzige Grafiker war, oder musste er mit seinen Layoutvorschlägen klarkommen? Am besten erst mal eiskalt zurückgucken. Nach endlosen Sekunden brummte Herr Plattler: »Wenn Sie es ernst meinen mit einem neuen Magazin, kann ich andere Sachen entwickeln. Ich hör mir hier an, was Sie vorhaben, und bring’ Ihnen ein Layout, das Sie umwirft.«

»Ich lasse mich gerne umwerfen«, antwortete Mattes.

Anscheinend musste er die komplette Redaktion anschieben. Von denen kam ja gar nichts. Entschlossen und mit fester Stimme zählte er die wichtigsten Punkte seiner eigenen Liste auf, in der Hoffnung, damit die anderen mitzureißen: »Wir machen ganz neue Artikel über Themen, die alle Hundehalter interessieren. Mit großartigen Fotos, die wir zum Teil selber produzieren, zum Teil über Agenturen einkaufen. Und wir brauchen neue Anzeigenkunden. Die richtig großen Firmen. Dann ein neuer Name für das Magazin. Er muss modern und stylisch sein, um nicht nur Tante Mia mit ihrem Dackel als Leser zu bekommen. Ich will außerdem eine Frage-Antwort-Rubrik einführen, mit der wir die Leser an das Magazin binden, weil wir sie mit ihren Problemen ernst nehmen. Und in der Redaktion muss es eine neue Kaffeemaschine geben, damit wir nicht diese abgestandene Plörre trinken müssen. Wer gut arbeitet, hat guten Kaffee verdient. Die Brühe, die ihr hier habt, passt zum Hasso-und-Fina-Blatt.«

Tina meldete sich: »Wir können auch so Sessel in den Flur stellen, damit es gut aussieht und wir uns da setzen können, wenn wir nichts zu tun haben.«

Frau Althoff griff ein: »Keine Sorge, Tina, für dich wird es immer etwas zu tun geben.«

Mit einem tiefen Atemzug lehnte sich Mattes in seinem Chefsessel zurück. Die Chefposition alleine machte es nicht aus. Er musste den Teamgeist wecken, denn nur gemeinsam würden sie etwas auf die Beine stellen können. Was nützte der beste Kapitän, wenn die Mannschaft nicht mitzog und mit hängenden Armen auf dem Deck herumstand? Fast hätte er was »vom Rudern mit der Küste im Blick« gesagt. Seine Mitarbeiter verfolgten regungslos seine Motivationsbemühungen. Frau Althoffs Mundwinkel zeigten ein spöttisches Zucken, das durch eine arrogant hochgezogene Augenbraue unterstützt wurde. Mattes versuchte positiv auf seine Mitarbeiter einzuwirken: »Bis jetzt sind ja schon einige nette Ideen aufgetaucht …« Die aber nicht ausreichten, um aus dem Provinzblatt-Status herauszukommen und die außerdem alle von mir selber gekommen sind, dachte er.

»Jetzt müssen wir loslegen, kreativ sein, uns gegenseitig hochbringen. Wir sind ein gutes Team und werden eng miteinander arbeiten.« Er gab seiner Stimme einen vertraulichen Klang und spielte gute Laune vor. Wenn mitreißen, dann richtig. »Ich bin übrigens Mattes.«

Eine längere Pause folgte, dann stellte sich Frau Berger leise, aber freundlich mit »Nadine« vor. Herr Plattler grunzte ein kaum verständliches »Peter« heraus, während sich Frau Althoff langsam erhob: »Ich denke nicht, dass uns eine vermeintlich persönliche Annäherung in der Anrede weiterbringt, Herr Reuter. Von daher bevorzuge ich das Sie. Und ich möchte darauf dringen, dass auch Tina das Sie beibehält.«

Tina guckte sie verständnislos an: »Ich bin doch immer du. Warum denn jetzt anders?«

Frau Althoff sagte mit ruhiger Stimme: »Für dich bleibt es, wie es ist, Tina. Wir sagen Tina zu dir und du nennst uns Frau Althoff und Herr Reuter.«

Sie blickte Mattes an: »Ich nehme an, das ist in Ihrem Sinn.«

»In Ordnung, Frau Althoff«, sagte Mattes ruhig und war heilfroh, dass sie sein unbedacht angebotenes Du nicht angenommen hatte. Auf Du mit Frau Mahlzahn – so was konnte nicht gut gehen. Peter Plattler stand auf und ging zur Tür. Im Rausgehen sagte er: »Hauptsache, ich bin abends pünktlich draußen. Dann ist mir egal, ob ich ein neues oder das alte Magazin mache.«

Der hört sich ja unglaublich motiviert an, dachte Mattes.Kaum saß Mattes wieder an seinem Schreibtisch, rief ihn Astrid auf dem Handy an. »Hör mal, ich hab eben ein Seminar bei einer Firma gehabt, die jemanden für die Werbeabteilung brauchen. Ich habe sofort an dich gedacht und einen Vorstellungstermin ausgemacht. Morgen um 11. Bitte zieh dir was Ordentliches an!«

Mattes stöhnte auf: »Astrid! Bitte lass das! Ich hab keine Zeit.«

»Keine Zeit gibt es nicht!«, behauptete Astrid energisch und setzte spöttisch hinterher: »Vor allem nicht bei dir. Sei froh, dass ich das jetzt mal in die Hand nehme!«

»Tut mir leid, Astrid, aber den Termin wirst du absagen müssen.«

Astrid holte tief Luft und platzte raus: »Mattes, wenn du nicht hingehst, rede ich kein Wort mehr mit dir!«

»Ein verlockendes Angebot«, grinste Mattes, »aber ich habe wirklich keine Zeit. Und momentan kein Interesse.«

Ein Klicken zeigte ihm, dass Astrid die Verbindung sauer unterbrochen hatte. Die würde sich schon beruhigen.

Am Abend war Tennisstunde mit Alex. Jeden Freitagabend hatten sie für eine Stunde einen Hallenplatz gemietet, und die Stunde fand statt, egal, was für andere Termine sich reindrängen wollten. »Ich hab nur noch zweimal in der Woche Zeit für Alex, und die lass ich mir nicht nehmen«, sagte Mattes unbeirrbar und war darum nie für redaktionelle Einsätze am Dienstagvormittag oder Freitagabend zu haben gewesen. Auch wenn sein Leben bisher selten hektische Momente gehabt hatte, war Alex die Person, die ihn erdete und bei der er sich ganz unverstellt geben konnte, wie er war. Mattes freute sich, als Alex in der Umkleidekabine erschien. Den ganzen Nachmittag hatte er neue Konzepte geplant und verworfen, Gespräche mit Peter, Nadine und Frau Althoff geführt, und langsam nahm das Projekt ›neues Magazin‹ Formen an.

»Ich dachte zuerst, die lassen mich voll hängen, aber langsam fangen sie an zu leben«, erklärte er seinem Freund. »Aber ich habe trotzdem das Gefühl, mitten in einer Zombie-Freakshow zu sein.«

Alex setzte sich neben ihn auf die Bank. »Du warst schon immer von bekloppten Leuten umgeben, warum sollte das jemals anders werden?«

Mattes grinste: »Oh, weißt du noch, wie verzweifelt ich als Kind war, weil meine ganze Familie nur aus Freaks bestand? Tante Thea mit ihrem Arco, meine seltsamen schrulligen Eltern, die verrückte Tante Gerlinde … oooh«, er schlug die Hände vors Gesicht. »Manchmal habe ich gedacht, ich kann niemals ein normaler Mensch werden, weil ich zwischen all diesen Typen aufwachsen muss. Ich bin ein Verdammter, der die Dynastie des Irrsinns fortführen muss.«

Alex nickte: »Die waren wirklich schräg. Deine Schwester hat ja auch einen Knall, aber ohne die hättest du es vermutlich nicht überlebt.«

Mattes lachte: »Wenn Tante Thea wüsste, dass ich ein Hundemagazin mache! Die hat auch nach Arco jeden anderen Hund in kürzester Zeit von einem netten Tier in eine Bestie verwandelt. Weißt du noch, als Arco gestorben war und sie Rocco bekam? Ich lag mit ihm auf dem Boden und habe mit ihm gespielt, und dann bin ich nach Hause gerannt und habe verkündet, dass Tante Thea jetzt endlich mal einen ganz lieben Hund hat. Keine sechs Wochen später hat derselbe Hund unter dem Weihnachtsbaum gelegen und keinen an die Geschenke rangelassen. Sie hat ihn innerhalb kürzester Zeit wahnsinnig gemacht.« Er starrte auf den Boden und wurde nachdenklich: »Ich glaube, ich könnte Spaß an diesem Hundemagazin haben, weil ich das Thema wirklich interessant finde. Was machen manche Leute mit ihren Hunden und was machen die Hunde mit den Leuten?«

»Deine Tante Thea hat ihre bissigen Hunde geliebt«, sagte Alex.

»Ja, aber sie wurden gefährlich, weil sie alles falsch gemacht hat. Tante Gerlinde hat ihren Hund auch geliebt, und sie hat auch alles falsch gemacht, aber der wurde nicht zu Bestie, sondern zu einem tollen, witzigen Freund. Damals habe ich mich schon immer gefragt, warum beide Tanten alles falsch machen, und warum der eine Hund zum Hannibal Lecter mutiert, während sich der andere zum freundlichen Clown entwickelt.« Er blickte nachdenklich vor sich hin. Hatte er nicht schon als Kind die seltsamen Verhaltensweisen der Erwachsenen um ihn herum genau beobachtet und mit höchstem Interesse verfolgt? Das war doch der Grund, warum er Tante Thea und Onkel Günther besucht hatte: Voyeurismus, die Neugierde auf abnormes Verhalten, die andere Leute im Panoptikum die bärtige Jungfrau oder den Mann mit den zwei Köpfen bestaunen ließ. Er hatte eine überprozentual hohe Menge der seltsamsten Typen in der eigenen Familie gehabt und schon früh erkannt, dass jedes Verhalten Auswirkungen auf das Umfeld hatte. Dass Arco wahnsinnig war, lag nicht an Arco, sondern an Tante Thea. Auf der Grundlage dieses früh erworbenen Wissens und seiner Fähigkeit zu beobachten, würde er das neue Magazin aufbauen. Das war es. Wie hängen der Mensch und der Hund zusammen und wo gibt es die Probleme? Auf einmal hatte er das Gefühl, es schaffen zu können.

Er lachte Alex gut gelaunt an: »Weißt du, was toll ist? Nadine Berger, unsere Artikelschreiberin, wohnt gegenüber von Saskia Hoffmann, die die Talkshow am Donnerstagabend macht, und sie meint, dass man die bestimmt für ein Interview bekommen kann.«

Alex pfiff leise durch die Zähne.

Mattes kam etwas näher: »Ich weiß, wann sie morgens mit ihrem Hund in den Park geht, und werde sie unauffällig abfangen. Wäre doch gelacht, wenn ich die nicht für einen Artikel bekäme.«

Alex grinste: »Nimm sie gleich fürs Titelbild, die sieht doch super aus!«

»Alex, du sprichst aus, was ich gerade denke.« Mattes sah auf die Uhr. Mehr als eine halbe Stunde hatten sie in der Umkleide verquatscht. Er seufzte. »Bist du sauer, wenn wir die Tennisstunde sausen lassen? Ich bin völlig fertig und würde lieber nach Hause fahren und mich hinlegen.«

Alex schüttelte den Kopf und feixte: »Da merkst du endlich mal, wie anstrengend es ist, wenn man arbeitet. So was kennst du ja gar nicht.«

Mattes versuchte gar nicht erst, ihn in die Seite zu boxen, denn er war völlig damit beschäftigt, die Tennisschuhe auszuziehen. Alex hatte schon recht. So viel und so konzentriert an einer Sache gearbeitet hatte er selten im Leben

Am nächsten Tag war Samstag, und er konnte endlich wieder ausschlafen. Nach Nadines Informationen ging Saskia Hoffmann üblicherweise gegen elf Uhr mit ihrem Hund in den Park, und viel früher musste er nicht wach sein. Er war es allerdings trotzdem und saß schon früh konzentriert am Computer, um Adressen und Informationen aus dem Internet zu ziehen. Wenn er neue Anzeigenkunden gewinnen wollte, musste er Nadine gleich am Montag auf ihre Fährten setzen. Es war keine Zeit mit kleinen Schritten und langen Diskussionen zu verlieren. Das nächste Magazin musste einschlagen, oder er hatte verloren. Ein Klopfen am Fenster riss ihn aus seiner Konzentration. Er hasste es, wenn Astrid ihm so in die Privatsphäre drang, und riss dementsprechend genervt das Fenster auf. »Was ist? Wolltest du nicht jede Kommunikation mit mir unterlassen?«

»Oh, habe ich den Herrn Bruder bei der Meditation gestört?« Astrid tänzelte in Sportkleidung vor dem Fenster herum, um zu demonstrieren, dass ihre Fitnesszeit unmittelbar nach Verlassen der Haustür begann und sie ab dann in Bewegung blieb. Sie joggte nicht regelmäßig, aber wenn, dann mit der sektenähnlichen Überzeugung eines Fitness-Gurus.

»Ich wollte nur sagen, dass unsere Eltern morgen zum Kaffeetrinken kommen und sich freuen würden, dich zu sehen.«

»Morgen hab ich keine Zeit«, sagte Mattes sofort und versuchte in seine Stimme ein hörbares Bedauern zu legen.

»Ist klar«, sagte Astrid. »Vier Uhr. Lass dich wenigstens mal blicken!«

Sie hopste und machte kleine Ausfallschritte, was Mattes besonders nervte.

»Lauf doch einfach los und bring es hinter dich!«, sagte er. »Dieses Rumgehampel lässt garantiert nur alle Fettzellen auf die Hüften springen und sich verdreifachen.«

Astrid sah ihn triumphierend an: »Du wirst schon sehen: In vier Wochen habe ich die 65-Kilo-Marke geknackt. Ich habe ein sehr effektives Trainingsprogramm in der ›Brigitte‹ gefunden.«

Mattes grinste: »Da fehlt dir jetzt nur noch ein Hund, wenn du immer im Park unterwegs bist!«

Astrid schnaufte empört auf: »So weit kommt es noch. Es reicht, dass mir die Köter immer in die Hacken rennen. Ich bin für Leinenzwang, Maulkorb und dass die Hundebesitzer mit den Nasen in die Kackhaufen ihrer Hunde gesteckt werden! Das wird ein Spaß!«

Nebenan öffnete sich ein Fenster, und Godehards Stimme war zu hören: »Liebling, kann ich noch etwas besorgen, während du dein Sportprogramm absolvierst?« Mattes wiederholte süffisant grinsend: »Sportprogramm«, während seine unentwegt hopsende Schwester ihn kurz vernichtend ansah und dann ein Beschäftigungsprogramm aus dem Ärmel zog: »Du kannst ein Paket gehackte Mandeln kaufen, nicht wieder die in Scheiben. Gehackt muss draufstehen. Und dann frag Meike, ob du sie zu einer ihrer Freundinnen fahren kannst, aber sag ihr klipp und klar, dass sie vor dem Kaffeetrinken wieder abgeholt wird. Und frag Robin, ob er genug für die Mathearbeit gelernt hat. Nein, am besten setzt ihr euch hin und übt alles noch mal!«

»Das machen wir«, bestätigte Godehard nickend, und Mattes spürte eine leichte Verachtung wegen seines unterwürfigen Tonfalls.

Zufrieden nickend setzte Astrid hinterher: »Aber fang sofort an, sonst bin ich zurück, ehe du etwas geschafft hast!« Sie hob triumphierend den Arm, rief »65 Kilo!!« und sprintete los. Mattes sah ihr hinterher und lachte laut, als er durch eine Lücke in den Büschen sehen konnte, wie sie schon wenige Meter später in ein wesentlich langsameres Tempo fiel und nicht daran dachte, dass er das beobachten konnte.

Er pfiff nach Mina und ging los, um Saskia Hoffmann abzufangen. Es galt, ganz unauffällig, aber genau zum richtigen Zeitpunkt auf sie zu treffen. Zwischen der angegebenen Adresse und dem Park blieb er auf dem Bürgersteig stehen und behielt die Haustür im Blick. Mina schnüffelte mehrfach einen Baum ab, merkte, dass Mattes stehen blieb, und setzte sich abwartend hin. Nein, die sollte jetzt nicht so auffällig rumsitzen, sondern einen Hund spielen, der Gassi ging. »Guck mal, da ist noch ein Baum!«, versuchte Mattes sie anzufeuern und wechselte zum nächsten. Vermutlich guckten schon die ersten Nachbarn hinter den Gardinen, was der Mann mit dem Hund wollte, der seit zehn Minuten zwischen zwei Bäumen hin und her lief und dabei immer wieder auf einen Hauseingang guckte. Sie hielten ihn wohl für die Steigerung eines perversen Exhibitionisten. Er las schon die Schlagzeilen in der BILD: »Mattes R., Hunderedakteur, entblößt sich öffentlich – stets im Beisein seines Hundes.« Endlich öffnete sich die Tür, und eine schlanke Frau mit Hund kam heraus. War das wirklich Saskia Hoffmann? Mit der Mütze und fast ungeschminkt sah die ganz anders aus als auf dem Bildschirm. Wie blöd, wenn er jetzt die Falsche anquatschen und zu einem Interview überreden würde! Mina und der andere Hund nahmen Sichtkontakt auf, und Mattes wusste, dass damit der erste Schritt getan war. Hoffentlich zickten die Hunde jetzt nicht rum und verhinderten die lockere Annäherung an die Moderatorin. Falls das überhaupt die Moderatorin war. Mattes war immer noch unsicher. Die Hunde näherten sich einander und zu seiner Erleichterung gingen sie freundlich aufeinander zu. Jetzt konnte die Annäherung zwischen den Menschen folgen.

»Der ist aber nett«, sagte er und blickte auf den anderen Hund. »Was ist das für einer?«

Die Frage nach der Rasse war immer gut für einen Gesprächsbeginn. Schade nur, dass fast jeder Cockerspaniel kannte und er damit blöder rüberkam, als er war.

»Das ist ein Cocker«, grinste die vermutliche Saskia Hoffmann dementsprechend amüsiert. »Ein hellbrauner«, fügte sie ergänzend hinzu, was ihren Sinn für Humor zeigte.

Mattes musste jetzt sofort reagieren, um sie später auch als Hundefachmann überzeugen zu können. Er lächelte überlegen und fragte interessiert: »Aus der nordirischen oder eher der ostenglischen Linie?«, was die junge Frau sofort verwirrte.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Er ist von einem deutschen Züchter.«

»Ach so«, sagte Mattes anerkennend und mit wissendem Nicken, als hätte ihm diese Antwort alle offenen Fragen beantwortet. Jetzt noch was drauflegen, und er hatte sie.

»Mir ist schon aufgefallen, dass er besonders gut aussieht.«

Die Moderatorin strahlte ihn an und an ihrem Lächeln erkannte er, dass sie es wirklich war. Bingo!

Mattes sagte schnell: »Ich bin auf dem Weg in den Park. Sie auch? Wir können mit den Hunden ein Stück zusammen gehen, wenn es Sie nicht stört.«

»Gerne«, sagte Saskia Hoffmann, die erfreut registrierte, dass der Mann mit der netten Hündin anscheinend keine Ahnung hatte, wer sie war.

Als er nach der großen und für das Magazin vielversprechenden Spazierrunde mit einem triumphierenden Gefühl zur Wohnung zurückkehrte, sah er schon von Weitem, dass etwas mit Godehard nicht in Ordnung war. Sein Schwager kauerte fast bewegungslos auf allen Vieren in der Einfahrt und machte einen hilflosen Eindruck. Er ist gestürzt und kann nicht mehr aufstehen, ging es Mattes sofort durch den Kopf, und er rannte los, um ihm beizustehen. Wo war nur Astrid? Laut »Godehard, ich komme und helfe dir!« rufend, sprintete er in die Einfahrt und bemerkte mit Verwunderung, dass sein Schwager ihm den Kopf zudrehte und freudig überrascht sagte: »Das ist aber nett von dir.« In diesem Moment sah er den kleinen Fugenkratzer in Godehards Hand und neben ihm ein Schüsselchen mit Moosresten.

»Was machst du denn da?«, fragte Mattes, der innerlich noch auf einen Notfall eingestellt war und nur langsam begriff, dass es eine andere Sachlage gab.

»Astrid möchte, dass ich das Moos aus den Fugen hole«, erklärte Godehard und reckte sich stöhnend.

»Da hast du aber viel vor«, sagte Mattes und sah sich auf der großen, gepflasterten Einfahrt um. »Bei diesem Tempo wirst du noch in zwei Monaten hier hocken.«

Godehard hob eine Augenbraue und reckte den Zeigefinger hoch: »Es muss ja auch gründlich sein«, dozierte er und seufzte, »ansonsten schickt mich Astrid noch mal raus.« Er hielt Mattes den Fugenkratzer entgegen und erkundigte sich dankbar: »Wo willst du weitermachen?«

Abwehrend hob Mattes die Hände: »Nee, lass mal! Mir fällt gerade ein, dass ich noch was zu tun habe. Außerdem machst du das prima!«, lobte er. »Mit meiner Arbeit wäre Astrid sowieso nicht zufrieden.«

Beim Betreten seiner Wohnung knurrte sein Magen. Ein kurzer Blick in den Kühlschrank bestätigte, dass er den letzten Einkauf vor Wochen gemacht hatte. Hier gab es nicht mehr viel zu holen. Pizzaservice? Nein, zu viel Aufwand. Ein paar Eier in die Pfanne und irgendwas dazu würde schon reichen. Während es auf dem Herd brutzelte, rief er Alex an.

»Ich hab sie!«, rief er triumphierend.

»Deine Fernsehtante?«, reagierte Alex sofort.

»Ja. Und es lief wie von alleine. Ich hab kurz auf sie gewartet, über ihren Hund gequatscht und es ging ab in den Park. Da hab ich ein bisschen den Hundeexperten gespielt und ganz nebenbei erwähnt, dass ich in den letzten Vorbereitungen für ein neues Hundemagazin bin. Sie war völlig hin und weg.«

»Von dir oder von dem Magazin?«

»Natürlich von mir, du Idiot. Und vom Magazin. Hey, wo trifft man schon mal einen Hunde-Chefredakteur?«

Alex grinste: »Und jetzt seid ihr verabredet?«

»Oh, warte mal!« Mattes zog die Pfanne vom Herd und sah stirnrunzelnd auf das Ergebnis seines Versuches, gleichzeitig zu kochen und zu telefonieren.

»Ja, wir machen bald einen Termin aus«, erklärte er dann und kramte mit der freien Hand in der Zettelablage, um die Nummer eines Pizzaservices rauszusuchen. »Ich habe ihr erzählt, dass wir mit einer Riesenauflage starten, und dann ganz plötzlich und völlig überrascht erkannt, wer da vor mir steht. ›SIE sind Saskia Hoffmann? Ich hab Sie gar nicht erkannt. Sie sehen in echt ja noch viel besser aus als im Fernsehen‹ – die ganze Nummer. Jetzt mache ich einen Bericht über sie und ihren Hund. Gleich für die erste Ausgabe.«

»Tolle Frau«, nickte Alex. »Aber Riesenauflage? Das läuft bisher doch nur hier in der Gegend.«

Mattes grinste: »Stimmt, aber wenn ich ihr das erzählt hätte, dann hätte sie niemals zugesagt.«

»Ist die Grundvoraussetzung für einen guten Redakteur, dass er Talent zum Lügen hat?«

»Habe ich schon erwähnt, dass ich Chefredakteur bin?«, sagte Mattes großspurig.

»Mit anderen Worten: der König der Lügner«, entgegnete Alex süffisant.

Mattes zog es vor, die Bemerkung grinsend zu übergehen. »Ich treff mich mit ihr in einem Café. Ich dachte, wenn sie den versifften Hinterhof mit der Redaktion sieht, dreht sie gleich wieder um. Außerdem gibt das lebendigere Fotos, hab ich ihr erzählt. Stylisch und ganz neu. Aber ich muss jetzt aufhören, ich will mir noch was kochen.«

»Hast du die Nummer vom Pizzaservice?«, lachte Alex.

»Hey, schnell was Feines zaubern kann ich selber!«, protestierte Mattes.

»Nimm die mit Zwiebeln, Peperoni und Oliven, die ist super!«

Mattes flog mit den Augen über die Liste in seiner Hand. »Nummer 86. O. k.«

Während er auf den Pizzaboten wartete, dachte er an Tante Gerlinde, deren Sorge es immer war, vom plötzlichen Hungertod bedroht zu sein. In ihrer Handtasche befanden sich Unmengen von Schokolade und Keksen »für Notfälle«, und sie liebte Fastfood, weil es das schnell und an jeder Ecke gab. Wenn Mattes bei ihr zu Besuch war, befand er sich in einem kulinarischen Paradies, in dem es Currywurst mit Fritten gab, dicke, möglichst doppelt belegte Hamburger und Pizza bis zum Abwinken. Beim familieninternen Wettbewerb um das bekloppteste Verhalten errang Tante Gerlinde immer wieder eine Spitzenposition. Bei 160 cm Körpergröße brachte sie mindestens 100 kg Lebendgewicht auf die Waage, was sie nicht davon abhielt, im Urlaub mit Bikini am Strand zu liegen. Am liebsten im damals noch tiefsten Jugoslawien, weil da die Sonne so schön brannte und es nicht so teuer wie an der Nordsee war. Im Sand neben sich hatte sie zwei Kühltaschen aus Hartplastik, die bis zum Rand mit Fressalien der fettesten Art und deutschem Bier gefüllt waren, sowie einen batteriebetriebenen, riesengroßen Kassettenrekorder, den ihr Sohn Marc täglich an den Strand schleppen musste. Während sie Kartoffelsalat von einem Plastikteller schaufelte und dazu Dosenbier trank, grölte aus dem Rekorder Marius Müller-Westernhagen in voller Lautstärke: »Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin!«, und Tante Gerlinde sang am lautesten bei der Textstelle »Dicke schwitzen wie die Schweine« mit und lachte schallend. Das Größte für sie war, wenn sie den verstohlen herüberguckenden Einheimischen in gebrochenem Englisch erklärte, dass dieses Lied eine Art Nationalhymne der Deutschen sei, und sie ihnen einige Zeilen übersetzte. Mattes fragte sich manchmal, ob das Bild, das Tante Gerlinde damals in Jugoslawien stellvertretend für die Deutschen abgegeben hatte, noch heute Nachwirkungen hatte. Marc jedenfalls hatte sich gerne mit einer eigenen Decke ein wenig abseits gelegt und alles vermieden, was erkennen ließ, dass er seine Mutter kannte. Der Pizzabote klingelte Mattes aus seinen Gedanken. Als er den Pappkarton öffnete, schnalzte er mit der Zunge. Alex hatte ihm den richtigen Tipp gegeben. Die Nummer 86 war genau das, was er jetzt brauchte.