Einige Wochen später war der Sommer da, und auf den Redaktionstischen lagen die Layouts für das fünfte ›doggies live’-Heft. In der Redaktion waren die Fenster weit aufgerissen, und zum ersten Mal hatte der enge, dunkle Hinterhof einen Vorteil: Er brachte Abkühlung. Sogar in Peter Plattlers Büro stand ein Fensterflügel auf, denn er hatte aufgehört zu rauchen. Schon zum vierten Mal in den letzten beiden Monaten. Er stopfte pfundweise englischen Weingummi in sich hinein und war noch schlechter gelaunt als sonst. Bisher hatte er sein Nichtraucherleben nie länger als zwei Tage durchgehalten, diesmal hatte er den fünften Tag erreicht und war kurz vor einer Explosion.
Mattes saß mit Nadine in seinem Büro und sagte: »Ich muss den Artikel über die Kanutour mit Hunden bis heute Abend haben. Und sag Peter, dass wir ein anderes Aufmacherfoto brauchen. Da muss mehr Abenteuer drin sein, sonst kann man gleich mit der Luftmatratze über den Tümpel treiben.«
»Da wird er sich freuen«, murmelte Nadine dumpf und verdrehte die Augen.
»Ruf es ihm durch die geschlossene Tür zu und renn weg, so schnell du kannst!«, empfahl Mattes grinsend.
»Ich hatte nichts anderes vor«, antwortete Nadine trocken. Sie stand auf. »Das Gespräch mit dem Veranstalter der Erlebniscamps ist übrigens gut gelaufen. Die wollen gleich zwei Seiten für Werbung haben. Ich hab denen einfach erzählt, dass wir mit den Leuten von Scouty-Trekkingbekleidung verhandeln und kurz vor dem Abschluss stehen, da ging es auf einmal ganz schnell. Jetzt muss ich die gleiche Sache nur noch bei Scouty drehen. Wenn die hören, dass die Erlebniscamps bei uns werben, wollen die genauso viele Anzeigen haben.«
Nadine war der Knaller. Ihre Gesprächspartner kamen gar nicht auf den Gedanken, dass in dem freundlich lächelnden Mäuschen eine sehr strukturiert und überlegt handelnde Geschäftsfrau steckte.
»Bleib dran«, nickte Mattes ihr zufrieden zu.
Er sah in seinen Terminkalender und verzog ärgerlich das Gesicht. Schon wieder konnte er sich morgen nicht mit Alex zum Laufen treffen. Er griff zum Telefon: »Hi, Alex.«
»Hi, Mattes, wie sieht’s aus?«
»Ach, eigentlich gut, aber blöderweise …«
Alex beendete den Satz: »… kannst du morgen nicht kommen.«
»Du hast es erraten«, seufzte Mattes.
Alex grinste: »War nicht schwer. Aber du bist auf dem besten Weg, durch regelmäßige Arbeit den letzten Rest deiner sowieso kümmerlichen Kondition zu verlieren.«
»Ich hab immer noch die bessere Kondition von uns beiden. Wenn ich nicht den Termin hätte, würde ich es dir morgen zeigen.«
»Deine dicke Klappe hast du jedenfalls noch, das ist beruhigend.«
Mattes lächelte. Alex meckerte nicht, der verstand. Und nächste Woche würde es mit dem Laufen im Park sicher klappen. Es war eben alles nicht mehr so locker zu organisieren, seit das Magazin auf 96 Seiten angewachsen war und er noch viel mehr unterwegs sein musste.
»Bis Freitag dann, in der Tennishalle«, verabschiedete sich Mattes, doch Alex widersprach: »Nein, du hast doch letzte Woche schon gesagt, dass du dann noch in Berlin bist.«
Mattes fasste sich an den Kopf: »Ach ja. Du hast recht. Dann bis übernächste Woche. Können wir uns nicht zwischendurch mal auf ein Bier treffen?«
Er blätterte in seinem Kalender und stellte erschrocken fest: »Ich hab überhaupt keinen Termin mehr frei. In zwei Wochen ist Abgabe von Nummer 5, aber danach sieht’s wieder besser aus.«
Alex lachte: »Das hast du nach Nummer 4 auch gesagt, und nach Nummer 3. Aber ist schon O. k. Du musst da jetzt deine ganze Energie reinstecken. Ich finde es super, was du leistest.«
»Danke, Alex. Ich melde mich, sobald ich Zeit habe.«
Er legte auf und kritzelte im Kalender groß ALEX auf den Tag nach der Abgabe. Einfach mal zusammen in den Biergarten gehen, wie früher, das wär’s doch.
Die »Ich hätt’ da mal ’ne Frage …«-Rubrik war inzwischen in den Mittelteil des Heftes gerutscht und lief über acht Seiten. Mattes verbrachte viel Zeit mit dem Zusammenstellen der unterschiedlichen Fragen und ihrer Beantwortung, eine Arbeit, die offiziell im Zuständigkeitsbereich der Expertin Mina R. lag. Die zog es allerdings weiterhin vor, während der Arbeitszeit leise schnarchend auf einer Hundedecke zu liegen. Wie viele speziell an Mina R. gerichtete Einladungen in Fernsehsendungen und zu Veranstaltungen Frau Althoff schon abgewiesen hatte, war kaum noch zu zählen. Langsam nahm die Situation groteske Züge an, denn für viele Leser und inzwischen auch die Presse wurde es immer wichtiger, Details über Mina R., die große unbekannte Hundeexpertin, zu erfahren. Wer war sie?
Nach dem unerwarteten Erfolg des ersten Heftes und einer rasch folgenden, groß angelegten Beweihräucherungsaktion des eigenen Verlages, der plötzlich große Erklärungen abgab, warum es so wichtig gewesen sei, alles im Geheimen zu entwickeln und dann auf den Markt zu stürmen, war Mattes zu einem der Top-Themen in der Presse geworden.
Die Leser verfolgten jede Meldung über ihn mit großem Interesse, er symbolisierte den sympathischen Typen von nebenan, der es über Nacht vom Tellerwäscher zum erfolgreichen Chefredakteur gebracht hatte, und er wartete schon darauf, morgens Paparazzi in den Büschen vor Astrids Haus zu finden.
Wenn er bei Talkshows auftrat, trafen noch in der Nacht Massen von E-Mails in der Redaktion ein, in denen Zuschauer Fragen zum Umgang mit ihren Hunden stellten und um direkten Kontakt zu Mina R. baten. Dass die geheimnisvolle Expertin nirgendwo persönlich auftrat, heizte das Interesse weiter an.
Die ersten Gerüchte kursierten, dass es eine prominente Persönlichkeit aus dem Showbereich sei, die sich nicht zu erkennen geben wolle. In dem Frauenmagazin ›Mein Schicksal‹ hatte Vera R. (64) aus Berlin-Hohenschönhausen öffentlich bekannt, dass Mina R. ihre Tochter sei, die vor 15 Jahren die Plattenhaussiedlung verlassen und sich seitdem nicht mehr bei ihr gemeldet habe. Die Fotos zeigten eine kümmerlich eingerichtete Wohnung, in der der Kühlschrank bis auf ein vertrocknetes Stück Käse und zwei Flaschen Weinbrand leer war.
»Wer ist Mina R.?«, hatte ein Boulevardblatt groß getitelt, nachdem auch Mattes lächelnd jede Antwort verweigert hatte, als er in einer Talkshow zu ihr befragt wurde. Er hätte es jederzeit auflösen können, aber er fand es spannend, wie sich die Sache entwickelte. Außerdem tat es den Verkaufszahlen gut, wenn das Geheimnis um die Expertin die Neugier der Leute anregte.
Sein Telefon klingelte, und Frau Althoff meldete sich: »Ich hab Steinle-Bergerhausen für Sie dran.«
»Gut, stellen Sie durch«, sagte Mattes und überlegte, was der jetzt schon wieder wollte. Die Auflage war von Heft zu Heft gestiegen, sie kratzte inzwischen an der 100 000er-Marke, und mittlerweile hatte er schon drei Mal die Seitenzahl des Magazins erhöht, ohne vorher den Verlag informiert zu haben. So lange sie Erfolg hatten und in einer mehr als guten Gewinnzone blieben, konnte er machen, was er wollte, und alle seine Entscheidungen wurden auch im Nachhinein noch abgenickt. Dass dieser Zustand sofort beendet werden würde, wenn die Plus- zur Minuslinie wurde, war einer der Gründe, warum Mattes weiterhin viel Energie in das Magazin steckte. Einer der anderen Gründe war, dass er selber jedes neue Heft besser als das vorherige machen wollte. Es gab kein Zurück. Weder in der Seitenzahl noch in der Auflagehöhe oder der Qualität der Berichte.
Dr. Steinle-Bergerhausen erwähnte voller Stolz, dass ›doggies live‹ in der letzten Vorstandsbesprechung als das innovative Trendmagazin zum Vorbild für die anderen Produkte des Hauses gemacht wurde und dass hervorgehoben wurde, dass es punktgenau den Zeitgeist und damit eine neue Leserschaft träfe.
»Als Verantwortlicher für ›doggies live‹ gebe ich das Lob natürlich auch gerne an Sie weiter, denn Sie haben mit Ihren Redaktionsmitarbeitern einen großen Anteil am Erfolg des Magazins.«
Mattes lachte: »Ich würde es lieber so ausdrücken: Ohne mich und meine Mitarbeiter gäbe es ›doggies live‹ gar nicht.«
Steinle-Bergerhausen wehrte ab: »Nun, so ganz ohne den Verlag geht es nicht, und meine Unterstützung zur Durchführung Ihrer Ideen öffnet viele Türen.«
»Ich sehe genau, was Sie für mich tun«, sagte Mattes kühl.
»Und das war erst der Anfang«, verkündete Steinle-Bergerhausen. »Wir haben hier ganz große Pläne mit ›doggies live‹. Sie werden begeistert sein!«
Mattes sagte schnell: »Es wäre mir lieber, wenn Sie die Finger raushalten und es einfach laufen lassen würden.«
»Das müssen Sie schon dem Verlag überlassen, Herr Reuter«, sagte Steinle-Bergerhausen distanziert.
Mattes hob aufmerksam die Augenbrauen. Was lief da ab? Konnte Steinle-Bergerhausen ihm schaden? Nicht, solange er mit steigendem Erfolg arbeitete, dachte Mattes und fühlte sich sicher. Als er Frau Althoff von dem Gespräch erzählte, winkte auch sie ab: »Der ist seit 15 Jahren beim Verlag, und er hat noch nie irgendetwas gemacht, das Auswirkungen auf das Geschäft hatte. Lassen Sie den einfach reden, da kommt nichts.«
Mattes legte ihr einen Packen Papiere auf den Tisch.
»Die kann Tina heute Nachmittag kopieren. Ich hab gleich den Termin mit dem Typen, der diese grandiosen Hundehütten baut. Wenn die etwas größer wären, würde ich sofort einziehen.«
Frau Althoff sah ihn stolz lächelnd an: »Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass mein Mucki nicht mehr bellt, wenn Sie im Zimmer sind?«
Mattes nickte: »Nach mehr als vier Monaten sollte er sich langsam dran gewöhnt haben.«
Er blickte zu Mucki, der in seinem Körbchen lag und ihn drohend fixierte.
»So ganz entspannt sieht er aber noch nicht aus«, grinste er.
»Der ist sehr entspannt«, behauptete Frau Althoff. »Aber er muss ja weiterhin aufpassen und seine Mutti beschützen.«
Mattes schüttelte lachend den Kopf.
»Ich glaube eher, dass er gemerkt hat, dass er mich mit seinem Gekläffe nicht beeindrucken kann.«
Frau Althoff lächelte überheblich: »Das glauben SIE.«
Mina trabte neben Mattes her, als er kurz vor dem Termin beim Hundehüttenbauer durch den Stadtwald lief. Zwei Frauen kamen ihm mit ihren Hunden entgegen. Als sie fast auf seiner Höhe waren, rief die eine: »Sie sind doch der von der Hundezeitung, dieser ›doggies live‹«
»Ja.«
Seine Bekanntheit war in einem unglaublichen Maß gestiegen, seit er Gast in einigen Fernsehsendungen gewesen war.
»Das ist ein tolles Heft, wollte ich Ihnen mal sagen, es gefällt mir sehr gut. Aber können Sie Ihrer Expertin bei den Fragen mal ausrichten, dass sie keine Ahnung hat! Im letzten oder vorletzten Heft …«, sie wandte sich an ihre Begleiterin: »Wo war das noch mal, Sigrid, das mit dem Hund, der so viel bellt?«
Sigrid überlegte angestrengt und fragte nachdenklich: »Der Hund, der drinnen bellt, oder der, der draußen ist?«
»Drinnen war der mit dem Klingeln. Ich mein den anderen!«
Sie drehte sich zu Mattes: »Ach, egal. Aber sie hat eine Antwort gegeben, die völliger Schwachsinn ist. Mein Schwager hat selber seit über 30 Jahren Schäferhunde, und wenn einer was über Hunde weiß, dann der. Und er sagt, dass es völlig normal ist, wenn ein Hund dann bellt.«
Mattes lächelte freundlich: »Wenn das für die Hunde Ihres Schwagers normal ist, muss das in anderen Fällen nicht auch normal sein.«
»Aber mein Schwager sagt, dass die Expertin keine Ahnung hat.«
Mattes nickte und schlug mit kaum verhohlener Ironie vor: »Vielleicht möchte sich Ihr Schwager bei uns als Experte bewerben? Bei so viel Erfahrung wird er auf jede Frage eine Antwort wissen. 30 Jahre lang Umgang mit Schäferhunden, die kann unsere Expertin nicht vorweisen.«
»Im vorletzten Heft war es!«, rief Sigrid aus. Die Frau widersprach sofort: »Nein! Da war das mit dem Klingeln, wo der Hund an die Tür rennt. Ich meine das, wo der Hund draußen bellt.«
Mit einem Kopfnicken verabschiedete sich Mattes und ging weiter. Die Ironie war anscheinend nicht angekommen. Wahrscheinlich stand der Schäferhund-Schwager schon im Redaktionsbüro, wenn Mattes dort ankam.
Mattes genoss es, angesprochen zu werden. Er und das Hundemagazin waren vielen Fernsehzuschauern ein Begriff geworden, und seit er ab dem dritten Heft auf der ersten Seite ein Editorial veröffentlichte, neben dem auch ein Portraitfoto von ihm abgebildet war, wurde er bei fast jedem Gang in die Öffentlichkeit erkannt.
»Sie sind doch der Hundemann?«, begannen viele Gespräche, und freundlich und sehr geschmeichelt ließ er sich gerne darauf ein. Dass sein aus dem Magazin ausgeschnittenes Bild mit dicken Magneten befestigt an Astrids Kühlschranktür prangte, sah er als Auszeichnung. Nicht weiter schlimm war, dass seine Mutter ein Sammelalbum begonnen hatte, in das sie alle Fotos, Berichte und Artikel über ihn sorgfältig einheftete und mit Anmerkungen versah. Unangenehmer fand er, dass sie es in einer großen Tasche immer dabeihatte, um es überall zu zeigen, sodass selbst unbeteiligte Supermarktkunden in der Schlange vor der Kasse mit Berichten über ihn zugetextet wurden. Endlich hatte sie einen Sohn, auf den sie stolz sein konnte, denn er war in der Zeitung und im Fernsehen zu sehen.
»Das wäre ich auch, wenn ich drei Frauen umgebracht hätte und auf der Flucht wäre«, hatte Mattes argumentiert, aber sie hatte entgegnet: »Dann gäbe es aber keine Fotos, auf denen du neben berühmten Leuten stehst.«
Der Hundehüttenbauer begrüßte Mattes mit frischem Kaffee und zeigte ihm seine kleinen Modell-Hundehütten, die er alle schon in realer Größe, individuell und auf den Platzbedarf des jeweiligen Hundes zugeschnitten, gebaut hatte. Von »Sven«, dem roten schwedischen Blockhaus, über »Hilton«, einem kleinen Prachtbau mit Dachterrasse, bis hin zu »Dogsch Mahal«, einer Anlage mit indischen Elementen, gab es alles, was das Hundehalterherz begehrte.
»Den Hunden ist es völlig egal, wie es von außen aussieht«, grinste er, »Hauptsache, der Boden ist warm, es regnet nicht rein und sie können rausgucken. Aber besonders die Frauen stehen total auf gestylte Hundehütten. Spätestens, wenn die Männer mit einem neuen Auto ankommen, geben die Frauen bei mir eine Hütte für den Hund in Auftrag. Und je dicker der Wagen ist, desto größer wird das Hundehaus.«
Er zeigte auf eine fast fertige Hütte, die blau-weiß gestreift gestrichen war und eine holzgeschnitzte Möwe auf dem blauen Pultdach hatte.
»Modell Sylt«, sagte er stolz. »Die letzten Käufer haben im Garten ein Zehnquadratmeterstück Rasen abtragen lassen und durch Sand ersetzt. So richtig mit Dekomuscheln und Seesternen. In der Mitte steht jetzt die Hundehütte, und wenn der Hund will, kann er sich vorstellen, an der Nordsee zu liegen.« Er lachte: »Ich glaube, der Hund will sich das nicht vorstellen, und wie ich gehört habe, muss der Ehemann täglich die gebuddelten Löcher im Sand glatt harken, aber Hauptsache, alle sind glücklich.«
»Was manche Leute für ihren Hund machen«, lachte Mattes und schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, dass die Kinder der Hundebesitzer, falls sie welche haben, auch einen zehn Quadratmeter großen Sandkasten bekommen haben.«
»Vermutlich nicht«, grinste der Hundehüttenbauer.
Zurück in der Redaktion schrieb Mattes eine Notiz an Peter, dass er Fotos von den Hundehütten brauchte. Hatte Nadine eigentlich schon ihren Reisebericht fertig? Manchmal kam es selbst Mattes so vor, als wäre es nicht weiterhin möglich, ein dermaßen großes Magazin auf die Beine zu stellen, aber der Ehrgeiz hatte ihn gepackt. Er machte nicht nur ein unglaublich erfolgreiches Magazin, er machte das auch mit einer sensationell kleinen Truppe. Mit vielen Redakteuren und noch mehr freien Mitarbeitern wie bei der ZEIT konnte jeder ein Magazin erstellen, aber zu viert, das war unschlagbar. Es kam nur auf die richtige Führung der Mitarbeiter an und dass die wichtigen Dinge ›wie immer Chefsache‹ waren. Einer musste die Entscheidungen treffen und den Weg bestimmen. Dieser Einer war er. Ein Finder. Das Magazin hatte vor ihm auf der Straße gelegen, und er hatte es aufgehoben und zu dem gemacht, was es jetzt war. Und alles nur, weil er jahrelang Geduld gezeigt hatte und nicht mit verbissenem Ehrgeiz hinter dem Job bei der ZEIT hergewesen war. Da planten und bemühten sich die Sucher ihr Leben lang, rannten allen Chancen hinterher und kamen trotzdem nicht an sie heran.
Anstrengend war nur, dass er unablässig darauf achten musste, das Niveau zu halten. Ein wenig Planung war unumgänglich, aber das hatte alles nichts mit der Verbissenheit der Sucher zu tun. Dass gerade jetzt am Anfang wenig freie Zeit blieb, war ganz klar, aber umso mehr Ruhephasen würde es später geben, wenn das Magazin dann wirklich fast von alleine lief. Dann hätte er auch wieder mehr Zeit, um mit Alex einfach mal um den See zu laufen oder auf dem Tennisplatz ein paar Bälle zu schlagen. Was hatte er vor der Zeit bei ›doggies live‹ eigentlich den ganzen Tag gemacht? Er war viel länger mit Mina draußen unterwegs gewesen, die musste momentan etwas zurückstecken, aber sonst? Hin und wieder war er zu Terminen gefahren, hatte einen kleinen Artikel geschrieben und abgeliefert. Er musste unglaublich viele Stunden einfach vertrödelt haben. Er lachte los. Wenn das Astrid hören würde!
Es war erstaunlich, wie schnell sich Astrid mit dem Hundemagazin und der Erkenntnis, dass ihr Bruder der Chefredakteur war, nicht nur abgefunden, sondern sie zu ihrer eigenen gemacht hatte.
»Das ist der Hund von meinem Bruder, Mattes Reuter, der vom Hundemagazin«, stellte sie die wie früher über die Wiese tobende Mina allen Hundehaltern vor, die zufällig ihren Weg kreuzten. Sie fand Hundehalter immer noch nicht sympathischer, aber wenn sie schon Mina betreuen musste, weil Mattes immer öfter auf kurzen Reisen war, wollte sie wenigstens etwas vom Ruhm abbekommen. Gleichzeitig war sie aber auch genervt: »Mattes, bei den Seminaren werde ich ständig gefragt, ob ich mit dem ›Mann vom Hundemagazin‹ verwandt wäre.«
»Ja und? Bist du doch.«
»Es nervt! Du wirst berühmt, und ich hab die blöden Hundehalter an der Backe. Die kommen jetzt mit ihren ganzen Köter-Problemen zu mir, und ich soll dich fragen, was sie da machen können.«
»Sag ihnen, sie sollen an Mina R. schreiben, dann steht die Antwort vielleicht im nächsten Heft.«
Sie stöhnte: »Ach ja, Andreas Wartenberg, den kennst du doch, der will seiner Frau einen Yorkshire kaufen und fragt, ob du irgendwo Prozente auf Welpen kriegst.«
»Der hat sie nicht mehr alle, sag ihm das!«, rief Mattes unwillig.
Astrid verdrehte die Augen: »Das kann ich nicht. Der vermittelt mir über seine Firma mindestens vier Wochenendseminare im Jahr. Kennst du nicht irgendeinen Züchter, der billige Yorkshires hat? Kann ja auch eine andere Rasse sein.«
»Yorkshires in anderen Rassen sind Schäferhunde und Doggen. Die kann seine Frau dann aber nicht mehr so gut in der Tasche tragen.«
»Bleib doch mal ernst!« Sie ärgerte sich: »Dass die jetzt alle über mich an dich rankommen wollen, das ist unglaublich!« Sie senkte ihre Stimme: »Du warst doch letztens beim Kerner in der Sendung. Wie ist der eigentlich privat?«
»Mir kam er ganz nett vor. Wieso?«
»Meinst du, der würde mich mal in die Sendung einladen, um über Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung zu sprechen? Immerhin bist du mein Bruder, und ich habe dich sehr erfolgreich bis zum Chefredakteur gecoacht.«
Mattes lachte los: »Soweit ich mich erinnere, habe ich mich deinen Coachversuchen immer erfolgreich entzogen.«
Astrid entschied: »Du hast genug mitbekommen, um es umsetzen zu können. Es hat lange gedauert, aber irgendwann hattest selbst du es begriffen.« Sie kam nah an ihn heran: »Wer ist Mina R.? Ich glaube nicht, dass sie wirklich so heißt, den Namen hast du erfunden.«
Er guckte unschuldig: »Warum sollte ich den erfunden haben?«
Sie lächelte wissend: »Ich glaube, dass die Expertin Mina R. deine Freundin ist und du sie einfach wie deinen Hund genannt hast, um ihren wahren Namen zu schützen.«
Mattes starrte sie staunend an. »Astrid, du hättest als Detektivin eine große Karriere gemacht. Echt super!«, antwortet er beeindruckt.
Hoffentlich erzählte sie diese Version bei allen Spaziergängen im Park, dann würde das Geheimnis um die unbekannte Expertin eine besondere Note bekommen, und die Neugier würde weiter angeheizt werden.
Schon am nächsten Tag überraschte ihn in den Zeitungsboxen am Straßenrand die Schlagzeile: »Hundeexpertin Mina R. – ein Hund!« Hatte Astrid doch besser kombiniert, als er dachte? Aber die würde doch niemals mit solchen Informationen zu einer Zeitung rennen! Er holte sich ein Exemplar und blätterte es durch, bis er zu dem kurzen Bericht kam.
»Mina R., die angebliche Expertin des Shootingmagazins ›doggies live‹ ist ein Hund! Mitarbeiter gaben zu, dass die Antworten in der beliebten Rubrik ›Ich hätt’ da mal ’ne Frage …‹ vom Chef selber stammen, dem Journalisten Mattes Reuter. Die Hündin Mina gilt in Fachkreisen als kompetente Fachfrau, deren wahre Identität Mattes Reuter monatelang verschwieg …«
Mattes ließ die Zeitung sinken. Seine Mitarbeiter hatten da ganz sicher nichts verraten, die hatten sich alle auf Stillschweigen in dieser Sache geeinigt. Vielleicht jemand vom Verlag? Steinle-Bergerhausen, der sich wichtig machen wollte?
Na egal, es war nicht wirklich wichtig, dass Mina R. ab jetzt wahrheitsgemäß Mattes Reuter heißen würde. Aber Astrid würde sich schön ärgern, mal wieder in die falsche Richtung gedacht zu haben. Beim Betreten der Redaktion stand Tina mit schuldbewusster Miene im Flur und wartete auf ihn.
»Ich hab voll nich gemerkt, dass der Typ eine Zeitung macht«, entschuldigte sie sich. »Der war gestern im Hof und hat gefragt, was geht ab und ob ich Mina bin, und da hab ich gefragt, ob er voll blöd ist, denn ich seh ja nich aus wie’n Hund, weil ich hab ja Schminke und so, und er soll da mal genau gucken, und da hat er noch mehr gefragt und mich voll reingelegt.«
Mattes seufzte. Natürlich. Tina war der Schwachpunkt, aber jetzt war es eben raus. Er klopfte ihr auf die Schulter und sagte: »Ist schon o. k., Tina. Ab jetzt kann Mina bequem auf der Decke liegen bleiben, und ich werde die Fragen beantworten. Das macht nicht viel Unterschied. Ist eben wie immer Chefsache.«
Wenn er gedacht hatte, dass sich mit der Enttarnung seiner Expertin und der Namensänderung von Mina R. auf Mattes Reuter nicht viel für ihn ändern würde, hatte er sich getäuscht. Ab jetzt war er nicht mehr der Chefredakteur von ›doggies live‹, wenn er in der Öffentlichkeit unterwegs war, sondern Mattes Reuter, der Hundeexperte, der alle Fragen dieser Welt, die sich auch nur entfernt um Hunde drehten, auf Anhieb beantworten konnte. Und, wie die meisten Fragesteller dachten, auch immer, jederzeit und supergerne.
»Herr Reuter, schön, dass ich Sie jetzt gerade zufällig sehe, ich hab da mal ’ne kurze Frage«, unterbrach eine Frau im Park ein Gespräch mit Beatrice, die er nur morgens für einige Minuten dort kurz treffen konnte.
»Was ist denn so wichtig, dass es unbedingt jetzt sein muss?«, fragte er.
»Was halten Sie vom Kastrieren?«
Mattes wehrte ab: »Also für mich kommt das nicht infrage!«
Die Frau sah ihn verlegen an: »Ich mein doch beim Hund meiner Tochter.« Dann erzählte sie die Einzelheiten vom Welpenkauf bis zum inzwischen manchmal viel zu dominanten Verhalten des Hundes, und Mattes bekam sie nur mit Mühe gestoppt, während er wusste, dass Beatrice in einigen Minuten wieder gehen würde.
Selbst beim Joggen mit Alex wurde er oft aufgehalten und in Gespräche verwickelt, sodass Alex nach einigen Minuten Wartezeit meistens sagte: »Ich lauf mal eine kleine Runde alleine, vielleicht bist du bis dahin fertig«, und lossprintete.
Einerseits fand Mattes es toll, dass er erkannt und oft freundlich gegrüßt wurde. Andererseits führte es zu Situationen, die er manchmal als unangenehm empfand. Wusste die Dame, die hinter ihm an der Supermarktkasse wartete, wer er war oder warum beobachtete sie so aufmerksam, was er gerade aufs Laufband legte? Registrierte sie, dass er das preiswerte zweilagige Klopapier wählte und dass der Käse abgepackt war? Er hörte sie schon ihren Freundinnen beim Kaffeekränzchen erzählen: »Aufs Essen legt der ja nicht viel Wert, da muss man nur einen Blick auf den Käse werfen, und ob er das Zweilagige wirklich selber benutzt oder nur für seine Gäste hat?«
»Was hat er denn sonst noch eingekauft?«, würden die Freundinnen fragen und ihn anhand seine Einkäufe analysieren.
Auch an ein Erlebnis in Berlin, als er Gast einer Diskussionsrunde war und am Abend im Hotel mit einem Saunagang entspannen wollte, erinnerte er sich. Er hatte mit zwei ihm gänzlich unbekannten Herren in der Sauna gesessen, und während sie stumm und schwitzend auf ihren Handtüchern kauerten und seine Gedanken langsam ins meditative Nichts glitten, schreckte ihn eine leise Stimme in unmittelbarer Nähe auf: »Ich weiß, es ist jetzt gerade schlecht, aber ich hätt’ da mal ’ne Frage.«
»Sie haben recht, es ist ein ganz schlechter Moment«, hatte Mattes abwesend gemurmelt, aber die Stimme hatte nur gelacht und völlig ungehemmt ihre Hundegeschichte erzählt: »Ganz kurz nur …« Und aus dem »ganz kurz« war ein ausführlicher Bericht über Nora geworden, die vor vier Jahren aus dem Tierheim in die Familie gekommen war und nun die Nummer eins im heimischen Hundesportverein war.
»Meinen Sie, wir sollten das ausweiten und auch auf bundesweite Wettbewerbe gehen?«
Es gab kaum etwas, das Mattes zu diesem Zeitpunkt weniger interessierte. Zuerst hoffte er, dass der andere Saunagänger mit einem energischen Pst! zur Ruhe auffordern würde, aber der mischte sich plötzlich ebenfalls ins Gespräch ein und erzählte vom Hund seiner Schwägerin »So ’nem Großen, na, Sie wissen schon, die immer so springen. Ganz groß sind die … Na, ich hab’s gleich, so ein … «
»… Pferd?«, hatte Mattes helfend angeboten, aber die angeregte Suche nach der Rasse damit nur angestachelt.
Manchmal machte er sich einen Spaß und gab mit völlig ernster Miene überflüssige Ratschläge.
»Ich hab ein Problem«, sagte eine junge Frau und schilderte, dass ihr Hund sehr brav in der Straßenbahn mitfahren würde, aber an der Haltestelle, an der sie wohnte, immer zu winseln begann und nicht aussteigen wollte.
Mattes zog die Augenbrauen hoch und fragte: »Macht der das auch an anderen Haltestellen?«
»Nein, wirklich nur da, wo wir wohnen.«
»Dann sollten Sie einfach eine Haltestelle früher aussteigen!«
Die junge Dame starrte ihn verblüfft an und rief dann freudig: »Da bin ich noch nie drauf gekommen! Sehen Sie, man muss wirklich nur den Fachmann fragen, und schon sind alle Probleme aus der Welt! Was Sie alles wissen! Auf so eine Lösung kommt man als Laie ja gar nicht.«
Dass allerdings auch Astrid ihn für Promotionzwecke einsetzen wollte, nahm er ihr übel. Sie hatte ihn für einen Samstagabend zum Abendessen eingeladen, und er war nichts ahnend in ihrem Wohnzimmer auf einige ihrer Kunden getroffen. Sie alle waren Hundehalter, und Astrid hatte ihnen mit einem persönlichen Treffen mit Mattes Reuter, dem Chefredakteur des neuen, innovativen und erfolgreichen Hundemagazins, eine Freude und sich selber dankbare Kunden machen wollen. Wären es persönliche Freunde von ihr gewesen, hätte Mattes es noch hingenommen, aber so machte er ihr nach dem Abend unmissverständlich klar, dass das absolut nicht gehen würde.
»Ich bin dein Bruder Mattes und nicht der Chefredakteur von ›doggies live‹. Ansonsten stell ich Rechnungen aus, wenn ich zu Werbezwecken deine Kunden bespaßen soll.«
Zerknirscht sah Astrid ihn an: »Ich dachte ja nur …«
»Plan nicht mein Leben!«, sagte Mattes und registrierte mit Erstaunen, dass sie wehmütig lächelte. Konnte es sein, dass sie ihn endlich für erwachsen hielt, jetzt, wo er beruflich erfolgreich war? Der arme Godehard und die armen Kinder. Jetzt würde sie all ihre Kraft in deren Erziehung setzen.
Dafür hatte seine Mutter ihre Muttergefühle wiederentdeckt, seitdem er häufig Gast in Talkshows war und manchmal auch als Hundeexperte vor eine Kamera geholt wurde. Sie rief an, um ihn zu loben, weil er in der Sendung ein schönes Hemd trug, um ihm zu sagen, dass er dringend zum Friseur müsse oder dass die Moderatorin einen zu tiefen Ausschnitt gehabt und er zu lange reingeguckt hätte.
»Ich hab der doch gar nicht in den Ausschnitt geguckt!«, wehrte sich Mattes genervt. »Und wenn, dann geht dich das gar nichts an.«
»Ich bin deine Mutter, und wenn du dich nicht gut benimmst, fällt das auf mich zurück«, sagte sie spitz. »Außerdem wundern sich hier schon alle, dass du mich so selten besuchst!«
»Ich hab wenig Zeit, das weißt du doch, und wir haben uns auch vorher meistens nur bei Astrid gesehen. Soweit ich mich erinnere, war es dir ganz recht, dass ich nicht so häufig kam, weil ich dir peinlich war.«
Seine Mutter reagierte beleidigt: »Das war, BEVOR du berühmt warst.«
Als Peter Plattler nicht nur seinen Nichtrauchervorsatz beibehielt, sondern eines Morgens auch mit frisch geschnittenen Haaren erschien, wusste Mattes, dass sich etwas ereignet haben musste. Schon seit einiger Zeit hatte sich die zuvor betont jugendliche Kleidung geändert, und anstelle schlabberiger T-Shirts trug Peter immer häufiger Hemden, und auch die meist löcherigen Turnschuhe waren gegen neuere Modelle ausgetauscht worden. Innerhalb weniger Wochen war er in seiner äußeren Erscheinung seriöser und erwachsener geworden, was endlich zu seinem Gesicht passte. Der macht was aus sich, dachte Mattes anerkennend, auch wenn er fand, dass Peter übertrieb, wenn er manchmal mit Jackett ankam.
»Du siehst nicht mehr aus wie ein Grafiker, sondern wie der Senior-Boss einer Werbeagentur«, witzelte Mattes, merkte aber, dass Peter diese Vorstellung gar nicht so beleidigend fand, wie sie gemeint war. Es gab auch keine Diskussionen mehr über die 17-Uhr-Grenze. Peter Plattler arbeitete bis spät abends und erschien sogar morgens oft mit Layouts, die er nachts noch in seiner Wohnung fertiggestellt hatte.
»Was ist mit den Suizeeds?«, fragte Mattes, erhielt aber nur ein nachlässiges Schulterzucken. Anscheinend nichts mehr.
Lag es wirklich nur am steigenden Weingummigehalt in Peters Körper und dem deutlich höheren Sauerstoffgehalt seines Büros, dass er nun auch weniger wortkarg war und in ganzen Sätzen antworten konnte? Mattes vermutete mehr dahinter.
»Sieh mal an!«, brach es darum auch überrascht aus ihm heraus, als er bei der kurzen Besprechung in Peters Zimmer entdeckte, dass alle Suizeed-Plakate entfernt waren und an der Wand die Bilder einer jungen Frau hingen.
Er pfiff durch die Zähne. »Das ist ja Carolin! Die vom Fernsehsender. Hat sie dich tatsächlich gefunden.«
Er guckte kritisch zu Peter herüber, der betont uninteressiert in einem Stapel von Hundefotos blätterte. Mattes fiel ein, wie hemmungslos sich Carolin damals an ihn rangemacht hatte, um ihre Karriere voranzutreiben. Und jetzt hatte sie sich Peter geschnappt. Was für ein raffiniertes Biest. Aber kein Wunder, dass Peter nun von ihr aufgestylt wurde. Er war mindestens zwanzig Jahre älter als sie und musste sich anstrengen, um mithalten zu können.
»Meinst du nicht, sie nutzt dich nur aus?«, fragte er vorsichtig und wies mit dem Kopf auf Carolins Foto.
Peter hob den Blick. »Wir haben eine ganz klare Geschäftsbeziehung, was soll sie da ausnutzen?«
»Ah, Geschäftsbeziehung«, sagte Mattes und dachte, dass die Regeln aus Carolins Sicht vermutlich hießen: »Ich bleib bei dir, bis ich berühmt bin, und such mir dann einen anderen, der mich noch berühmter macht.«
Aber Peter war alt genug, um sein Leben selber zu bestimmen, er durfte sich da nicht einmischen.
»Herr Reuter, Besuuuuuch!«, krähte Tina aus dem Flur, und Mattes schüttelte grinsend den Kopf. Die Althoff kam bei Tina an ihre Grenzen, denn trotz vielfacher Unterrichtung, wie Besucher angemessen begrüßt und angemeldet wurden, kam Tina nicht über ihr spontanes Rufen hinaus. Da sich gleichzeitig oft auch Mucki erzürnt und laut hörbar zu Wort meldete, während aus einem der hinteren Büros Peters Stimme wütend »Ruhe!« brüllte, hatten Besucher das Gefühl, sie kämen aus der Stille eines friedhofähnlichen Hinterhofs in ein Zentrum von Lärm und Hektik. Entsprechend geschockt und eingeschüchtert waren sie, wenn Mattes sie dann begrüßte.
Auch diesmal sah der Besucher ihn mit großen Augen an und stieß überrascht aus: »Hier ist ja was los.«
»Wir haben eine Art interner Alarmanlage«, erklärte Mattes freundlich, und der Mann sagte: »Sehr wirkungsvoll, wirklich.«
Er öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr ein blaues, verknittert wirkendes Gebilde.
»Darf ich Ihnen ein ganz neuartiges Produkt vorstellen? Ein Futter- und Wassernapf für unterwegs, der aus Materialien der Raumfahrt entwickelt wurde, unzerstörbar, säurefest und vor allem extrem platzsparend zu transportieren. Sehen Sie!« Er hielt das Teil an einer Ecke fest und schlug es mit der anderen fest auf die Tischkante. Mit einem lauten Plop entfaltete es sich zu einem schüsselartigen Gebilde.
»Voilà!«, präsentierte der Besucher den Wassernapf und stellte ihn auf den Tisch. Mit einem weiteren Handgriff nahm er ihn wieder an sich, ließ ihn auf den Boden fallen und drückte ihn mit seinen Fuß platt. »Voilà! Platzsparend zurück in die Tasche. Diesen Vorgang können Sie Millionen Mal wiederholen.« Er bückte sich, um das blaue Geknitter aufzuheben. »Das Material nimmt nichts übel. Es würde sogar den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre überstehen. Ha ha ha.«
Mattes besah sich den Napf und sagte: »Das ist ja eine nette Idee.«
Sofort rasselte der Mann los: »Wir haben drei verschiedene Größen für kleine, mittlere und große Hunde sowie die Auswahl zwischen vier Farben. Rot, Blau, Weiß und Pink, wobei es die pinkfarbene Ausführung nur in der kleinen Größe gibt.«
»Schön«, sagte Mattes.
»Nicht nur schön, sondern sensationell. Und Sie haben die Gelegenheit, jetzt mit einzusteigen.«
»Ach?«
»Empfehlen Sie unser Produkt in Ihrem Magazin, und Sie erhalten die Gelegenheit, von unserem Erfolg zu profitieren!«
»Ich verstehe«, sagte Mattes, »aber momentan ist so etwas nicht vorgesehen.«
Der Mann griff in die Aktentasche. »Ich lasse Ihnen ein Muster hier, damit Sie es sich überlegen können. Mein Kärtchen hängt an. Und ein kleines Päckchen mit Leckerchen für den Liebling. Voilà.« Er lächelte ein breites Vertreterlächeln, raunte vertraulich: »Rufen Sie mich an, bevor ich Sie anrufe! Ha ha ha«, und ging winkend aus der Tür.
Mattes nahm die Sachen mit in sein Büro und legte sie in eine Schublade, in der sich schon ein Hundehalsband mit digitaler Laufschrift, ein programmierbarer Pfeifsender und eine gestrickte Hundemütze mit Ausbuchtungen für kälteempfindliche Stehohren befand. Auf dem Tisch stapelten sich Anfragen von Hundefutterfirmen und Züchtern, die alle gerne positiv in ›doggies live‹ genannt werden wollten.
Mina war aufgestanden und schnüffelte an der Schublade herum. Mattes grinste: »Wenn du Glück hast, kann man die Leckerchen auch auf die Tischkante hauen, und sie werden riesengroß. Wir werden das nachher mal ausprobieren.«
Am Nachmittag wurde Mattes von einem Wagen mit Fahrer abgeholt und zur Talkshowaufzeichnung eines Fernsehsenders gefahren. Er nahm Mina mit, die in den Studios völlig unaufgeregt zwischen Kameras spazierte und sich irgendwann schlafend in eine Ecke legte. Inzwischen waren Mattes die Abläufe bei Fernsehsendungen vertraut, und er fühlte sich wohl, wenn er vor Zuschauern und Kameras über Hunde und das Magazin erzählen konnte. Es kam seiner Neigung, locker und aus dem Bauch heraus zu reden, sehr entgegen. Auch die Moderatoren plauderten gerne mit ihm. Frau Althoff hatte darum ein generelles o. k. für die Zusage von Fernsehauftritten erhalten und überprüfte nur im Kalender, ob der Termin frei war.
Entspannt unterhielt sich Mattes mit der Maskenbildnerin, die er nun schon von vorherigen Auftritten kannte, und hörte ihren lustigen Anekdoten über diverse Prominente zu. Er grinste vor sich hin. Dieser Nachrichtensprecher hatte tatsächlich ein Popeye-Tattoo auf dem Unterarm? Da musste er mal drauf achten. Dabei sah der doch immer so korrekt aus. Kein Wunder, dass der immer langärmelige Hemden trug. Ausgerechnet Popeye!
»Sie können Ihren Hund hierlassen«, bot die Maskenbildnerin an, und Mattes nahm das Angebot gerne an.
Die Moderatorin, eine junge, sehr intelligent und energisch wirkende Frau, begrüßte ihn freundlich und sprach dann übers Wetter und ihren bevorstehenden Urlaub in Südfrankreich. Eine weitere junge Frau und ein älterer Herr gesellten sich dazu, die beide ebenfalls Gäste der Sendung waren. Die junge Frau erzählte, dass sie einen Imbiss hätte, und der Herr, dass er Häuser verwalte. »Und Sie?«, fragte die junge Frau.
»Ich mache ein Hundemagazin«, sagte Mattes.
»Etwa dieses neue, dieses ›doggies live‹?«, fragte die Frau aufgeregt.
Als Mattes nickte, jubelte sie: »Das ist toll! Ich lese es immer. Kann ich nach der Sendung vielleicht ein Autogramm von Ihnen bekommen?«
Mattes grinste amüsiert. Das würde sie bestimmt in ihren Imbiss hängen und alle Leute, die auf Pommes frites oder Bratwurst warteten, würden es sehen. Von Fettdunst umwabert. Was für eine Karriere.
Von hinten winkte die Produktionsleiterin, und die Moderatorin schob ihre Gäste vor sich her zu einer netten, halbkreisförmig angeordneten Sitzrunde, die von Kameras umgeben war. Ein letztes Abpudern, dann startete die Sendung.
Lässig sah Mattes der Moderatorin zu, die mit freundlichem Lächeln in eine Kamera sprach und die Zuschauer begrüßte. Er hörte sie sagen: »… stellen wir Ihnen die drei erfolgreichsten Geschäftsmodelle Deutschlands vor. Welche Strategien braucht man, worauf muss man achten? Zu Gast haben wir Stephanie Wolke, die mit ihrer Imbiss- und Cateringkette die Partys der Reichen und Schönen kulinarisch versorgt und inzwischen mehr als 250 Mitarbeiter hat, Mattes Reuter, der als Chefredakteur des Hundemagazins ›doggies live‹ nach einer gut durchdachten Umstrukturierung eine sensationelle Auflagenhöhe erreicht hat, und Willy Weller, der einen bundesweiten Dienst zur Betreuung kurzzeitig leer stehender Häuser und Villen eingerichtet hat und damit Millionenumsätze macht.«
Mattes kam das entspannte Lächeln abhanden. Es ging um Geschäftsmodelle? Seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich, als er die Moderatorin übergangslos sagen hörte: »Herr Reuter, Sie zeigen mit Ihrem Magazin, dass die effiziente Nutzung vorhandener Ressourcen innovative Möglichkeiten eröffnet. Was sind Ihre Strategien?«
Eine Kamera fuhr herum und nahm ihn ganz nah auf. Erwartungsvolle Stille breitete sich aus.
In seinem Kopf zischte das Wort »Strategien« von einer zur anderen Seite, knallte gegen innen gegen die Schädelwand und wurde zurückgeschleudert.
Strategien – zong! – Strategien – zong! – Strategien – zong!
Sucher hatten Strategien. Er war Finder. Er wartete ab und hob auf, was ihm vor die Füße fiel. Das war keine Strategie, das war eine Lebenseinstellung.
»Tja …«, begann er und legte bedächtig die Fingerspitzen aneinander, »zuerst einmal lässig bleiben. Eine Bestandsaufnahme machen und überlegen, was mit den vorhandenen Möglichkeiten zu erreichen ist.«
Hätte er das damals tatsächlich gemacht, wäre er niemals über ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ hinausgekommen.
»Und dann das Ziel vor Augen haben.«
Die Moderatorin nickte lächelnd und wandte sich an die Imbiss-Frau. »Ein Ziel hatten Sie auch. Gibt es Unterschiede zwischen den Strategien von Männern und Frauen?«
Mattes hörte nicht mehr zu. Das war ein Albtraum. Er sollte über sein Geschäftsmodell berichten und hatte sich doch niemals Gedanken über Strategien gemacht. Was sollte er sagen? Ich mach alles aus dem Bauch heraus? Ich hab keine Ahnung, was ich da tue, aber es läuft?
Während der Hausverwalter-Stratege über den gezielten Einsatz moderner Kommunikationsmittel als Basis des Erfolges dozierte, dachte Mattes an Astrid. Sie sprach doch ständig über Erfolg und wie man den erreicht. Hätte er nur mal besser zugehört, wenn sie ihn volltextete. Als die Reihe wieder an ihn kam, erklärte er souverän, dass es mit dem Erfolg wie beim Rudern sei. »Man darf nicht einfach mit dem Paddel aufs Wasser hauen, sonst kommt man nie auf die Insel. Es gilt, die Küste im Blick zu haben und mit Kraft auf den Strand zu gelangen.«
»Das ist ein schönes Bild«, lobte die Moderatorin und fragte: »Das gilt natürlich auch für die Mitarbeiter, die quasi im selben Boot sitzen.«
»Natürlich«, bestätigte Mattes. »Jeder bekommt ein eigenes Paddel.«
Was für einen hirnrissigen Quatsch erzählte er hier eigentlich? Und für so was bekam seine Schwester viel Geld. Er blieb im Verlauf der Sendung bei Bildern, redete anschaulich von Holztonnen, die Wasserfälle hinunterrasten und nicht zu bremsen waren, und von Ideen, die sich wie die federleichten Flugschirme des Löwenzahnes ausbreiteten. Die nüchterne Moderatorin war hingerissen und lobte ihn anschließend für seine Fähigkeit, hochkomplizierte Wirtschaftsvorgänge verständlich und sogar ein wenig poetisch darstellen zu können.
»Sie sollten überlegen, diese komplexen Themen mit Ihren Worten zu erklären und in einem Buch zu veröffentlichen«, schlug sie vor.
Mattes, der froh war, dass alles vorbei war, grinste erleichtert: »Ich werde es ›Im Holzfass durch den Orinoko‹ nennen.«
Im Holzfass durch den Orinoko werde ich die Althoff schicken, wenn sie mich nochmal in so eine Sendung schickt, dachte er dabei grimmig.
Kurz vor Abgabe der neuen Ausgabe in die Druckerei gab es den üblichen Stress. Einige Artikel waren noch nicht fertig, mehrere große Fotos mussten ausgetauscht und zwei Werbeseiten gegen redaktionelle getauscht werden. Mattes kam morgens schon übermüdet in die Redaktion und wusste, dass er vor Mitternacht kaum zuhause sein würde. Mittendrin stellte ihm Frau Althoff Steinle-Bergerhausen durch.
Mattes stöhnte: »Herr Dr. Steinle-Bergerhausen, Sie wissen doch, dass wir in den letzten Tagen vor der Abgabe unter Volldampf stehen. Da sind wir personell alle gefordert.«
»Darum rufe ich an.«
»Wollen Sie mitmachen?«, fragte Mattes, aber es klang nicht, als erwarte er eine Antwort.
Steinle-Bergerhausen lachte gekünstelt: »Lieber Herr Reuter, ich werde an ganz anderen Stellen benötigt. Aber in der Tat geht es um Ihre Personalstrukturen. Der Verlag hat meinen Vorschlag aufgegriffen, die Redaktion des ›doggies live‹-Magazins ganz neu zu konzipieren.«
Mattes riss die Augen auf: »Nicht Ihr Ernst! Was haben Sie vor?«
Steinle-Bergerhausen schien sich am anderen Ende der Telefonleitung in Positur zu bringen: »Da ›doggies live‹ unter meiner … sagen wir mal … Schirmherrschaft in den letzten Monaten zu einem äußerst erfolgreichen Magazin geworden ist, ist es nicht mehr vertretbar, das Top-Premium-Produkt des Hauses weit entfernt in einem Hinterhof zu produzieren. Wir haben uns entschieden, die Redaktion in wesentlich größere Räume zu bringen und deutlich mehr Mitarbeiter einzusetzen.«
»Moment mal!«, stoppte Mattes. »Unter Ihrer ›Schirmherrschaft‹ hieß ›doggies live‹ noch vor einigen Monaten ›Hassos Herren – Finas Frauchen‹, und die Auflage lag bei knapp 5 000 Exemplaren, von denen nicht alle verkauft wurden. Dass sich einiges geändert hat, lag ganz bestimmt nicht an den Planungen des Verlagshauses. Und ob eine größere Redaktion und weitere Mitarbeiter zu diesem Zeitpunkt erforderlich sind, ist in meinen Augen fraglich. Es läuft alles sehr gut.«
»Es wird noch besser laufen«, versprach Steinle-Bergerhausen selbstbewusst. »Im Schoße des Mutterhauses gibt es ganz andere Möglichkeiten.«
»Im Schoße des Mutterhauses? Was soll das heißen?«, fragte Mattes misstrauisch.
Steinle-Bergerhausen war gut gelaunt: »Sie ziehen natürlich nach Hamburg. Die Redaktionsräume werden gerade frei geräumt, und ich habe mein Büro dann gleich nebenan. Entscheidungen mit kurzen Wegen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Mattes fuhr auf: »Wir ziehen nicht nach Hamburg! Das können Sie vergessen!«
Dr. Steinle-Bergerhausen war darauf vorbereitet: »Falls der ein oder andere Ihrer Mitarbeiter seinen neuen Einsatzort nicht bei uns sieht, haben wir eine kleine Abfindung und einen Auflösungsvertrag bereitliegen. Und Sie bekommen hier Top-Leute in die Redaktion.«
Mattes blieb eine Weile ruhig sitzen. Er hatte das Magazin aufgebaut, und jetzt kam ein Idiot wie Steinle-Bergerhausen und wollte es übernehmen. Das konnte er vergessen.
Deutlich und mit sehr ruhiger Stimme sagte er in den Hörer: »›doggies live‹ bin ich. Ich und meine Mitarbeiter. Und wenn nur einer davon fehlt, wird ›doggies live‹ nicht mehr das sein, was es jetzt ist. Das Magazin wird von uns so weitergemacht wie bisher, oder Sie können es gleich einstellen.«
Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Frau Althoff mit besorgter Miene im Türrahmen stand und zuhörte. Vor der war nichts geheim zu halten.
Am Telefon lachte Steinle-Bergerhausen grunzend und sagte überheblich: »›doggies live‹ ist ein Produkt unseres Hauses. Sie sind nur der Chefredakteur. Entscheidungen trifft der Verlag, vergessen Sie das nicht!«
Ein Klicken im Hörer zeigte an, dass er einfach aufgelegt hatte.
Scheiße.
Und jetzt?
Von der Seite spürte Mattes die Blicke der Althoff. Wenn sie hören würde, dass der Verlag keinen Wert auf die Mitarbeiter legte, würde sie aufgeben. Dann wäre die ganze Sache verloren. Aber er brauchte gerade jetzt die gesamte Truppe. Das ist jetzt wirklich mal eine Chefsache, dachte er, und ohne langes Nachdenken sprach er weiter, als säße Steinle-Bergerhausen noch am anderen Ende des Telefons.
»Was mit dem Magazin geschieht, bestimmen alleine wir … Ja, das sehen Sie richtig … Ich wusste, dass wir uns verstehen, Herr Dr. Steinle-Bergerhausen … Nein, kein Problem, ein Versuch war es wert, aber wir belassen alles so, wie es ist … Ja, wir freuen uns auch über unseren Erfolg … Danke, Ihnen auch.«
Er legte auf, wandte sich an die Althoff und erklärte: »Das war Steinle-Bergerhausen.«
»Was wollte er?«, fragte sie misstrauisch.
Mattes winkte ab: »Ach, er hat angeboten, dass wir in große Redaktionsräume nach Hamburg ziehen können, aber ich habe abgelehnt. Das würde noch fehlen, dass wir extra umziehen müssen und dann diesen Idioten am Hals hätten. Wir bleiben hier, und es läuft einfach weiter.«
»Ich dachte schon, wir bekämen Probleme«, atmete Frau Althoff auf und lächelte erfreut. »Möchten Sie noch einen Kaffee?«
»Nein danke, ich hatte schon genug. Ich muss mich jetzt noch um diesen Artikel kümmern.«
Kaum war sie draußen, fuhr er sich erschöpft mit der Hand über das Gesicht. Die Althoff war beruhigt, aber ihm war klar, dass es jetzt mehr als gewaltige Probleme geben konnte. Steinle-Bergerhausen würde nicht lockerlassen. Nur noch wenige Tage bis zur Abgabe, danach würde er sich darum kümmern.
Etwas später rief Alex an und erkundigte sich, wie es lief.
»Ganz gut«, sagte Mattes müde, »aber wir stehen vor der Abgabe, und jetzt macht auch noch der Verlag Ärger. Ich weiß manchmal wirklich nicht, wie ich das alles in Tagen mit nur 24 Stunden schaffen soll.« Er seufzte. »Tennis am Freitag klappt vermutlich wieder nicht.«
»Deswegen ruf ich an«, erklärte Alex. »Ich hab unsere Reservierung jetzt nicht mehr verlängert. Ist ja Blödsinn, wenn der Platz jeden Freitag leer bleibt. Wir können das jederzeit wieder anfangen, wenn du wieder mehr Zeit hast.«
»Ach, Mensch«, reagierte Mattes enttäuscht, aber gleichzeitig fühlte er sich erleichtert. Die Termine mit Alex so häufig abzusagen, war ihm immer wieder schwergefallen.
»Bald sieht’s wieder besser aus«, versprach er, und Alex antwortete: »Ja, ja. Ruf an, wenn wir uns sehen können!« Dabei lachte er leicht: »Ich hab dir gleich gesagt, dass ein fester Job nichts für dich ist. Als du noch Chefredakteur bei der ZEIT werden wolltest, hattest du ein Ziel, auf das du im Straßencafé warten konntest. Mit einem großen Cappucchino.«
»Ich war ewig nicht mehr in einem Straßencafé«, stellte Mattes nüchtern fest.
Er legte auf und rieb sich müde den Kopf. Was war nur los mit ihm? Sonst war er doch immer mit so viel Energie auf die Abgabe zugestürmt, und jetzt kam ihm alles wie ein nicht zu bewältigender Berg von Arbeit vor. Ob er mal was essen sollte? Nein, lieber nicht. Appetit hatte er gar keinen. Er schlief auch seit einiger Zeit nicht mehr gut, lag nachts lange wach und konnte trotz seiner Müdigkeit nicht einschlafen. Demnächst musste er irgendwas ändern. Vielleicht noch einen Mitarbeiter einstellen, damit er Arbeit abgeben konnte?
Am nächsten Morgen wachte Mattes mit dröhnenden Kopfschmerzen auf. Das lag an der unruhigen Nacht, in der er schlecht geschlafen hatte, weil er sich fortwährend Gedanken über die noch fehlenden Artikel gemacht hatte. Würde Peter die Fotostory über den Wurf junger Möpse, die sich nach ihrer Vermittlung in ganz Deutschland verteilt hatten und über deren Lebenswege er berichten wollte, noch hinkriegen, oder müssten sie den redaktionellen Teil im letzten Moment umändern? Und warum rief die Frau der Hundefriseur-Innung nicht endlich zurück? Der telefonierte er schon seit Tagen hinterher.
Mattes wankte müde in die Küche und drückte zwei Kopfschmerztabletten aus der fast schon leeren Packung. Danach saß er mit einem extra starken Kaffee am Tisch und versuchte den Artikel, an dem er bis spät abends geschrieben hatte, konzentriert durchzulesen, aber es fiel ihm schwer, den Sinn der einzelnen Sätze zu erfassen. Ungeduldig raffte er schließlich alles zusammen und machte sich fertig, um zu duschen, dann mit Mina eine Runde an die frische Luft zu gehen und anschließend ins Büro zu fahren. Ein halber Tag Pause würde ihm gut tun, aber wenn er jetzt nachließe, hätte er danach noch mehr Stress, um die verlorene Zeit aufzuholen.
Kaum war er im Park, sprach ihn eine Frau an, die eine mittelgroße Promenadenmischung an der Leine führte.
»Herr Reuter, darf ich Sie mal kurz was fragen?«
»Nee, bitte nicht heute, lieber morgen«, brummelte er und versuchte weiterzugehen.
Sie blieb neben ihm und versicherte: »Geht ganz schnell.«
»Lassen Sie es einfach!«, bat Mattes gereizt und ging etwas schneller. Ihm war übel. Auch das noch. Er hörte, wie sie begann: »Ist aber wichtig. Sie kennen doch den Herrn, der hier immer mit seinem Rottweiler läuft?«
»Nein!« Er wollte niemanden mehr kennen, sie sollte einfach ruhig sein und ihn nicht vollquatschen.
»Wenn der Rottweiler meine Minou sieht, dann …«
Mattes blieb stehen und sah sie an: »Mir ist es scheißegal, was passiert, wenn der Ihre Minou sieht! Ich will hier einfach nur mit meinem Hund laufen und verdammt nochmal meine Ruhe haben!«
Sie sperrte erschrocken den Mund auf, während er den Weg weiterstampfte. Hinter sich hörte er sie verärgert rufen: »Wie sind Sie denn drauf? Aber im Fernsehen immer nett tun!«
Ich bin nett, dachte er sauer. Ich bin total nett, aber nicht, wenn mir der Schädel platzt. Als er von rechts die Dame mit den beiden Pudeln kommen sah, die ihn gerne ausführlich über die Abenteuer ihrer »frechen Pudelchen« informierte, drehte er auf der Stelle um, pfiff nach Mina und ging zurück. Die Dame mit Minou guckte ihn bitterböse an, als er an ihr vorbeimarschierte, sagte aber keinen Ton.
Warum musste er bei jedem Schritt blöd von der Seite angequatscht werden? Er schrieb nur für ein Hundemagazin. Er war nicht der weltweit zuständige Mann für alle Probleme, die die Leute mit ihren Hunden hatten.
»Herr Reuter?«, sprach ihn erneut eine Frau mit freundlicher Stimme an.
»Nein!!«, brüllte er unbeherrscht. »Ich bin privat hier, und ich will mich nicht unterhalten! Mir ist egal, ob Ihr Hund zehn Meter tief tauchen kann oder die Oma gefressen hat.«
Die Frau guckte ihn erschrocken an. »Ist was passiert?«, fragte sie vorsichtig.
Seine Wut verflog, und er ließ kraftlos die Arme hängen. »Entschuldigung«, sagte er. »Mir geht es heute nicht so gut. Sprechen Sie mich gerne in einigen Tagen nochmal an, dann habe ich Zeit.«
Sie lächelte ihm aufmunternd zu: »Gute Besserung!«
»Danke.«
Langsam ging er weiter. Was war mit ihm los? Bisher hatte er selbst an nervigen Fragestellern noch Gefallen gefunden und sich über manch unfreiwillige Komik gefreut. Er liebte doch den Kontakt mit anderen Menschen und fand spannend, was es an Beziehungsgeflechten zwischen Hunden und ihren Haltern gab. Aber heute war ihm einfach alles zu viel. Es wurde Zeit, dass er in die Redaktion kam und die Arbeit erledigte. Wenn die Abgabe vorbei war, würde er entspannen können und am besten mal drei Tage mit Mina wegfahren. Vielleicht konnte Alex mitfahren? Den hatte er schon viel zu lange nicht mehr gesehen, und es würde ihnen beiden gut tun.
Auf seinem Schreibtisch fand er eine Notiz von Frau Althoff, dass die Dame der Hundefriseur-Innung ihre Zusage, über die Ergebnisse der letzten bundesweiten Konferenz zu berichten, zurückgezogen hatte. Damit war der Artikel geplatzt. Vielleicht konnten Ausschnitte davon später als Grundlage für einen anderen Artikel verwendet werden, aber für diesmal gab er nicht mehr genug her.
Er rief Nadine an: »Die Friseurfrau ist raus, wir brauchen ein komplett neues Thema für zwei Seiten.«
»Ich bin schon an einem Typen dran, der Holzspielzeuge für Hunde vertreibt. Den müsstest du anrufen und am besten heute noch besuchen.«
Mattes schüttelte den Kopf: »Das geht nicht. Kannst du bitte …?«
»Nee, tut mir leid, ich bin mehr als genug mit meinen Seiten beschäftigt. Du weißt, wie knapp wir sind.«
»Schon o. k.«
Er legte auf. Also noch ein Termin mehr, aber es musste sein, wenn der Bericht noch ins Heft sollte. Wo war eigentlich die Adresse von dem Typen mit den Rezepten für Hundekekse hingekommen? Der schrieb ganze Backbücher darüber, und eigentlich hatte er eines davon kaufen und Astrid schenken wollen. Die lag immer noch über ihrer 65-Kilo-Marke, obwohl sie alle paar Tage mit Mina und dem Blick auf die Pulsuhr durch den Park hetzte.
In der gemeinsamen Konferenz am Nachmittag stellte Mattes fest, dass sie hinter der Zeit zurücklagen. Ihm war immer noch unwohl, und er konnte sich nicht entscheiden, ob er etwas essen sollte oder lieber nicht. Der Gedanke an Essen verursachte ihm Übelkeit, aber ganz ohne ging es auf Dauer auch nicht. Außerdem war ihm furchtbar warm. Mit ungewohnt scharfer Stimme sagte er: »In fünf Tagen ist Abgabe, und wir haben noch 14 unfertige oder sogar leere Seiten. Leute, das geht nicht! Zu diesem Zeitpunkt müssten wir normalerweise den Feinschliff machen und nicht mehr am Grundsätzlichen arbeiten.«
»Wir arbeiten, so viel wir können«, wandte Nadine ein.
»Legt noch was drauf!«, verlangte Mattes.
Peter sah ihn regungslos an und sagte keinen Ton.
»Was ist los?«, fragte Mattes und drängte: »Bist du mit allen Seiten durch? Was ist mit den Mops-Welpen?«
Betont langsam verschränkte Peter die Arme vor der Brust und sagte kalt: »In diesem Ton ja nun mal gar nicht.«
»Was heißt in diesem Ton?«, fragte Mattes aufgebracht. »Ich frage dich nach deiner Arbeit und möchte wissen, wie es aussieht.«
»Es läuft«, sagte Peter, »aber es ist zu viel. Du hast mal versprochen, dass es beim nächsten Heft weniger Arbeit geben würde, aber es wird immer mehr.«
»Vielleicht musst du dich anders organisieren?«, schlug Mattes spitz vor. »Oder macht die jugendliche Freundin zu viel Stress?«
Frau Althoff guckte ihn kritisch an, was ihn sofort nervte. Ich bin wirklich nicht gut drauf, dachte er und fragte ungeduldig: »Kann mal einer das Fenster aufmachen?« Er nestelte an seiner Jacke herum, um den Reißverschluss zu öffnen.
Wenn nur diese stechenden Kopfschmerzen nicht wären. In zwei Stunden hatte er den Termin mit dem Hundespielzeug-Typen, was eine Autofahrt von fast einer Stunde bedeutete. Zeit, die er nicht hatte.
»Nadine, den Spielzeug-Artikel musst du übernehmen, ich habe heute zu viel zu tun, aber es muss einer hin.«
Nadine schüttelte energisch den Kopf: »Das geht auf gar keinen Fall. Ich habe noch zwei Telefongespräche, die ich dringend für die Artikel führen muss, und ich muss auch noch schreiben. Peter braucht die Texte, um sie einbauen zu können.«
»Dann muss Peter fahren!«
Peter grunzte: »Ich mache die Layouts und Fotos, aber ich mache keine Interviews.«
Mattes schlug ungehalten auf den Tisch und wurde laut: »Es ist ja wohl kein Problem, ein paar Fragen zu stellen und zu hören, was der Typ antwortet. Dazu müsste deine Schulbildung ausreichen.«
Peter stand auf: »Du kannst mich mal!«, und verließ den Raum.
Mattes spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Er atmete schneller und hatte trotzdem das Gefühl, nicht genug Sauerstoff zu bekommen. Und diese scheiß Kopfschmerzen! Was war denn heute mit allen los? Nadine weigerte sich, einen Auftrag zu übernehmen, und Peter ging einfach. Das war ein Grund für eine fristlose Kündigung. Wenn es ihm hier zu viel wurde, sollte er gehen. Es gab genug Spitzen-Grafiker, die nur darauf warteten, ihn zu ersetzen. War dem das nicht klar? Und was wollte die Althoff jetzt? Er sah sie undeutlich vor seinem Gesicht und konnte nicht genau bestimmen, ob sie weit weg stand oder ganz nah war. Es rauschte in seinen Ohren. Was war denn los? Waren die alle verrückt geworden? Sie sahen unscharf aus und bewegten sich wie in Zeitlupe, und es war laut, aber er konnte sie nicht verstehen und sein Kopf dröhnte … Er schloss kurz die Augen.
Als er sie wieder öffnete, lag er auf dem Boden, Peter hielt seine nach oben gestreckten Beine fest und Nadine legte ihm ein feuchtkaltes Handtuch auf die Stirn. Frau Althoff stand mit dem Telefonhörer in der Hand neben ihm und guckte besorgt.
»Er macht die Augen auf!«, krähte Tina. »Er lebt!«
»Natürlich lebt er«, brummte Peter.
Tina fragte empört: »Hast du nicht gesehen, wie er mit der Stirn auf den Tisch geknallt ist? Voll die Riesenpanik, ich dachte, die Platte ist durch.« Nadine guckte ihn besorgt an: »Du bist eben vom Stuhl gekippt.«
Frau Althoff entschied: »Ich hätte fast den Notarzt gerufen, aber er sieht schon wieder etwas besser aus. Peter, du packst ihn in den Wagen und fährst ihn ins Krankenhaus.«
»Ihr seid wohl bescheuert«, wehrte Mattes ab, »ich hab nur ein bisschen Kopfschmerzen, das wird gleich wieder.«
»Sie sehen aus wie eine Leiche, total gruselig«, verkündete Tina und schüttelte sich angewidert: »Voll der Zombie.«
Peter ließ die Beine vorsichtig los und griff ihm unter die Schultern, um ihn hochzuheben.
»Wir beide fahren jetzt ins Krankenhaus.«
»Nur über meine Leiche«, wehrte Mattes ab und rieb eine schmerzende Stelle an der Stirn, die seine Kopfschmerzen um eine neue Variante erweiterten.
»An der Leiche sind wir nahe dran«, sagte Peter und guckte ihn ernst an: »Tina hat mit dem Zombie schon recht. Ich fahr dich jetzt ins Krankenhaus, und wenn du dich weigerst, machen wir hier keinen Handschlag mehr, und das Heft wird nie fertig.«
»Ich hab keine Zeit, um stundenlang im Krankenhaus zu sitzen.«
Er richtete sich auf, merkte aber sofort, dass die Beine nachgaben. Peter griff fester zu und stützte ihn wortlos bis zum Auto. Ergeben setzte sich Mattes auf den Beifahrersitz, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ein bisschen Ruhe tat gut, und nach der Untersuchung im Krankenhaus würde er eben bis nachts arbeiten und damit die verlorene Zeit wieder reinzuholen.
»Und?«, fragte Mattes den behandelnden Arzt in der Notaufnahme, der sich ihm gegenüber an den Schreibtisch setzte. Seit zwei Stunden war er von Untersuchung zu Untersuchung geschickt worden, und abgesehen von den immer noch hämmernden Kopfschmerzen fühlte er sich wieder ganz fit. Bis auf die verschwommenen Schatten, die sich manchmal in sein Blickfeld schoben, aber die waren weg, wenn er kurz die Augen schloss.
Der Arzt blätterte in den Papieren, lächelte beruhigend und guckte ihn verschmitzt an: »Ich würde sagen, es ist nicht hoffnungslos.«
Mattes nickte zufrieden. »Ist klar. Tut mir leid, dass mein Mitarbeiter so vorschnell gehandelt hat. Ich hab gleich gesagt, dass es nur Kopfschmerzen sind und dass im Zimmer so schlechte Luft war. Außerdem habe ich seit Tagen nicht mehr richtig gegessen.«
»Ganz so einfach ist es nicht«, sagte der Arzt. »Einige Ihrer Werte gefallen mir überhaupt nicht. Dazu haben Sie sich jetzt auch noch einen an sich harmlosen Virus eingefangen, der Auswirkungen auf Ihren Kreislauf hat. Das hat den Zusammenbruch beschleunigt. Ihre verlangsamten Reaktionen gefallen mir überhaupt nicht.«
Verlangsamte Reaktionen? Er redete vielleicht etwas bedächtiger und artikulierte sorgfältiger als sonst, weil er sich wegen des Druckgefühls im Kopf sehr konzentrieren musste, aber dass er ansonsten anders war, bezweifelte er. Aber so ein Arzt wollte natürlich unbedingt etwas finden.
»Das liegt an den Kopfschmerzen, die ich heute habe«, bemühte sich Mattes klarzustellen. »Wenn die weg sind, ist alles wieder in Ordnung.«
Der Arzt lehnte sich zurück und grinste: »Ich nehme an, Sie wollen jetzt gleich zurück ins Büro?«
Mattes lachte schwerfällig: »Natürlich. Ich habe ein Magazin fertigzustellen, und jetzt geht es mir ja wieder gut. Noch eine Kopfschmerztablette und irgendetwas gegen diesen Virus, und ich bin wieder fit.«
Warum sah ihn der Arzt so an? Der konnte ihn ja nicht mit Gewalt festhalten und von der Arbeit abhalten.
»Ich nehm auch Penicillin oder ein bisher ungetestetes Medikament gegen jede Art von seltsamen Viruserkrankungen, Hauptsache, ich bin sofort wieder einsatzbereit.«
Er hatte sowieso schon viel zu viel Zeit verloren und würde vermutlich die ganze Nacht durcharbeiten müssen.
Der Arzt nahm seine Brille ab und spielte damit herum. Er lächelte: »Typen wie Sie habe ich immer wieder hier liegen. Die sind absolut unersetzlich, ackern wie blöd und klappen zwischendurch mal eben zusammen. Aber das ist natürlich immer ganz harmlos. Ist dann immer ein kleiner Virus schuld, oder weil sie sich zu wenig bewegt haben oder weil die Klimaanlage kaputt ist.«
Er wurde ernst und beugte sich vor, sodass er nahe an Mattes herankam: »Hören Sie, Herr Reuter. Sie haben durch den Sturz auf die Tischplatte eine Gehirnerschütterung bekommen, Ihre Herzwerte sind besorgniserregend, Ihre Atmung ist zu flach, ein Virus setzt Ihnen zu und Sie zeigen alle Anzeichen einer extremen Überarbeitung. Wenn Sie sich jetzt wieder in Ihre Arbeit stürzen, habe ich Sie in spätestens zwei Wochen erneut hier, und dann wette ich mit Ihnen, dass es einen längeren Aufenthalt geben wird. Vielleicht können wir Sie auch gleich in die Kühlkammer schieben. Da hätten Sie dann allerdings für immer Ruhe.«
Dann fragte er freundlich: »Privat- oder Kassenpatient?«
Als Mattes ihn verwirrt ansah, ergänzte er in lehrerhaftem Ton: »Ein stationärer Aufenthalt ist in Ihrem Fall unumgänglich. Einzel- oder Dreibettzimmer?«
»Kommt gar nicht in Frage!«, rief Mattes aus, sprang auf und merkte gleich, dass ihm diese plötzliche Bewegung gar nicht gut tat. Der Schwindel verstärkte sich, und von den Seiten schoben sich schwarze Wände vor seine Augen. Der Arzt bugsierte ihn mit festem Griff auf den Stuhl zurück und fühlte seinen Puls. Mattes hörte ihn aus weitere Ferne rufen: »Wir brauchen eine Trage! Hier hat sich gerade jemand bereit erklärt, auf Station zu bleiben.«
Liegen und die Augen geschlossen lassen, wie wunderbar, dachte Mattes, als er von zwei Pflegern auf eine fahrbare Trage gelegt wurde und langsam wegdämmerte. Aber das Magazin? War da nicht …? Erst mal ausschlafen. Wenn die Kopfschmerzen weg wären, dann würde er die nächsten Nächte durcharbeiten und alles aufholen. Er hatte ja gar keine Zeit, jetzt eine Pause zu machen.
Er wurde wach, weil er hörte, wie sich jemand auf dem Stuhl neben seinem Bett bewegte. Als er die Augen öffnete, sah er Astrid im halbdunklen Zimmer an seinem Bett sitzen.
»Na, du Held«, lächelte sie liebevoll. »Gefällt’s dir nicht mehr bei mir im Haus, oder warum wohnst du jetzt hier?«
»Hi, Astrid«, sagte er und merkte, dass die Kopfschmerzen immer noch da waren und in seine Hirngänge strahlten. Aber zu seiner Erleichterung war die Übelkeit fast weg.
»Ich bleib nur eine Nacht, dann geh ich wieder«, versicherte er.
»Das wüsste ich aber!«, lachte sie. »Du hast seit gestern durchgeschlafen, und der Arzt sagt, dass du dich auf eine ganze Woche in diesem Bett einstellen musst.«
Mattes richtete sich mit einem Ruck auf und ächzte, weil er merkte, dass das doch keine gute Idee war. Langsam ließ er sich zurückgleiten.
»Meinem Kopf geht’s überhaupt nicht gut«, stöhnte er, »aber das Magazin muss fertig werden. Ich muss sofort in die Redaktion.«
Astrid kramte in aller Ruhe in ihrer Tasche und suchte nach etwas. Warum hatte sie eigentlich immer diese Riesendinger, in denen sie stundenlang wühlen musste?
Triumphierend zog sie endlich eine Saftflasche heraus: »Hier, für dich. Übrigens lässt der grau melierte Herr dir ausrichten, dass alles läuft.«
»Welcher grau melierte Herr?«
»Na der, der dich gestern hergebracht hat.«
»Peter?«
»Keine Ahnung, wie der heißt, er brachte mir Mina vorbei und sagte, er arbeitet in der Redaktion.«
Das musste Peter sein, aber wirklich gestern? Und Mina war bei Astrid? Wenn nur nicht der Kopf so schwer wäre, dann könnte er besser darüber nachdenken.
Astrid sah ihn besorgt an: »Schlaf ruhig weiter. Ich komme morgen wieder.« Sie legte ihm ihre kühle Hand auf die Stirn: »Der Arzt sagt, du brauchst Ruhe, dann wird das wieder. Es war ein Glück, dass ein Virus dich so konsequent lahmgelegt hat, denn sonst hättest du vielleicht gearbeitet bis zum Umfallen. Im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Wo ist mein Handy?«, fragte Mattes mit matter Stimme. »Ich muss die Althoff anrufen.«
»Das habe ich eingepackt. Kriegst du erst wieder, wenn du gesund bist.«
»Aber ich muss doch …«
»Du musst gar nichts. Ruh dich aus.«
»Ja, Mami«, sagte Mattes und grinste schwach. Als er die Augen schloss, nahm er gerade noch wahr, dass Astrid besorgt zurücklächelte.
Am nächsten Morgen kam eine Schwester ins Zimmer, guckte ihn prüfend an und meinte: »Sie sehen schon viel besser aus.«
»Mir geht es auch deutlich besser«, bestätigte Mattes und richtete sich vorsichtig auf. Ein bisschen Druck hatte er noch im Kopf, aber die heftigen Schmerzen waren weg. Er war nur so müde. Wo war seine Energie geblieben? Die Schwester schüttelte sein Kopfkissen auf und fragte: »Sie sind doch der Herr Reuter vom Hundemagazin. Kann ich mal ’ne kurze Frage stellen?«
Mattes lehnte sich ins Kissen zurück und grinste leicht: »Schießen Sie los!«
Gegen zehn Uhr klopfte es kurz an der Zimmertüre, und Frau Althoff steckte zunächst den Kopf ins Zimmer und kam erst komplett herein, als sie sah, dass er wach war. Sie nickte zufrieden: »Sie liegen ja tatsächlich noch. Ich habe schon das Schlimmste befürchtet.«
»Das Schlimmste?«
»Dass Sie wieder auf dem Weg in die Redaktion wären.«
Sie holte Getränke und Obst aus einer Tasche und stellte alles auf den Beistelltisch.
Mattes richtete sich auf: »Frau Althoff, Sie müssen mich hier rausbringen! Wir haben Abgabe, und gerade jetzt können wir uns keine Verzögerung leisten.«
Seine Büroleiterin sah ihm direkt in die Augen und fragte gefährlich ernst: »Und wieso glauben Sie, dass Sie dazu nötig wären?«
Mattes hatte das Gefühl, einen Schlag in den Magen zu bekommen. Sie arbeitete anscheinend mit Steinle-Bergerhausen zusammen. Und beide hatten es jetzt geschafft, ihn aus dem Weg zu räumen. ›doggies live‹ würde nach Hamburg ziehen und ohne ihn weitergehen.
»Hier«, sagte Frau Althoff und drückte ihm einen flachen Gegenstand in die Hand. »Verstecken Sie es, sonst wird es weggenommen!«
Er starrte auf ein Handy. Sie öffnete die Schublade des Tisches, nahm ihm das Gerät aus der Hand und legte es schnell hinein. Dabei stöhnte sie: »Sie sind tatsächlich verzögert in allem, was Sie tun. Ich wollte es zuerst nicht glauben.«
Mit einem Glas ging sie zum Waschbecken in der Zimmerecke, spülte es dort kurz aus und stellte es ihm wieder auf den Tisch. Dabei sagte sie: »In der Redaktion läuft alles. Wir überschlagen uns, um den Termin zu halten. Sie dürfen mich einmal am Tag anrufen, um auf den aktuellen Stand gebracht zu werden. Sollten Sie öfter anrufen oder auf die Idee kommen, aktiv ins Geschehen einzugreifen, werde ich das Handy sofort wieder einziehen.«
Mattes fragte verwirrt: »Aber geht das denn …?«
»Stellen Sie keine überflüssigen Fragen! Verlassen Sie sich einfach darauf, dass es läuft. Wenn Sie es bisher noch nicht wussten …«, sie machte eine kleine Pause und lächelte liebevoll, »… Sie haben tolle Mitarbeiter.«
Eine ungeheure Erleichterung durchflutete Mattes’ Körper. »Was ist mit dem Bericht über das Hundespielzeug?«, fragte er noch, aber Frau Althoff schüttelte tadelnd den Kopf: »Nun geben Sie doch endlich Ruhe! Sie sind ja wie ein Kleinkind. Es läuft alles, vertrauen Sie mir.«
Zu seiner Verwunderung bemerkte er, dass er das tatsächlich machte. Seine Befürchtungen und Geheimagenten-Phantasien zerfielen zu einem Nichts, und fast bedauerte er das
Beim Hinausgehen drehte sich Gisela Althoff noch einmal um, zeigte mit dem Finger auf sich und lachte: »Das ist jetzt mal echte Chefsache.«
Dann fiel die Türe leise hinter ihr ins Schloss.
Kurze Zeit später kam Alex, zog sich polternd einen Stuhl bis ans Bett und sagte vorwurfsvoll: »Sag mal, da muss sich jetzt aber was ändern. Du siehst ja, wohin das führt. Kaum schreibst du ein paar Artikel, liegst du halbtot auf der Intensivstation. Regelmäßige Arbeit ist einfach nichts für dich!«
»Mir geht’s doch schon viel besser. Es war nur ein kurzer Schwächeanfall«, beruhigte Mattes.
»Kurzer Schwächeanfall?«, lachte Alex auf. »Nach dem, was Astrid an Informationen von deinem Arzt bekommen hat, bist du so gut wie tot. Naja, zumindest total überarbeitet. Wie kann man auch nur auf die Idee kommen, ein Heft nach dem anderen und immer größer und schöner mit nur so wenigen Leuten zu machen? Kein Wunder, dass du da zusammenklappst. Ich befürchte, dass du inzwischen beim Joggen keine zehn Meter mehr schaffen wirst. Mit so ’ner Lusche trau ich mich nicht in den Park!«
»Nun mal langsam«, wehrte Mattes ab. »Ich regenerier hier ein paar Tage und dann wirst du sehen, wer wem hinterhergucken wird!«
»Für einen Rekonvaleszenten haben Sie zu viel Besuch«, erklang die Stimme des behandelnden Arztes von der Tür, und er guckte gespielt grimmig ins Zimmer.
Alex sprang auf: »Ich muss sowieso gehen.«
Vertraulich raunte er dem Arzt zu: »Können Sie ihn mit irgendwelchen Mitteln ruhigstellen? Der faselt schon wieder was vom Joggen. Ich kann nicht zulassen, dass mein Trainingsvorsprung dahinschmilzt.«
Mattes suchte einen Gegenstand zum Werfen, aber Alex sprang schon breit grinsend aus der Tür.
Der Arzt schritt zum Bett und sah ernst aus. Mattes guckte ihn erschrocken an. Was kam jetzt schon wieder? Waren einige der letzten Werte schlimmer als gedacht? Er fühlte sich doch schon wieder viel besser.
»Herr Reuter, ich muss da mal was mit Ihnen besprechen«, sagte der Arzt und beugte sich vor. Das hörte sich nicht gut an. »Wissen Sie …«, begann er und suchte nach Worten, »… ich jogge selber sehr viel, und eigentlich hätte ich da gerne einen Hund als Begleiter. Was für eine Rasse würden Sie mir denn empfehlen? Meine Frau hätte lieber was Großes, aber …«
Er brach ab, weil Mattes die Hände vor das Gesicht warf und jammernd »Nein, nein, nein!« ausrief. Prüfend guckte er ihn an, entspannte sich aber, als er merkte, dass dahinter ein Lachanfall steckte. Mattes ließ die Arme sinken, lehnte sich gemütlich ins Kissen zurück und feixte: »Ich dachte, ich brauche Ruhe. Aber kein Problem, fragen Sie ruhig!«