In der Nacht träumte Mattes von einem zähnefletschenden Arco, der unter der Küchenbank seinen Knochen verteidigte, aber vor ihm kniete nicht Tante Thea, sondern die Althoff auf dem Boden und stocherte mit einem Besen unter der Bank herum. »Sauhund! Ich krieg dich!«, rief sie, und plötzlich lag nicht mehr Arco unter der Bank, sondern er selber, und die Althoff fletschte vor ihm aggressiv die Zähne und stach mit dem Besenstiel auf ihn ein, während hinter ihr Tina an einem Kopierer stand und blitzschnell zimmerhohe Stapel von Kopien aufschichtete. Wild um sich schlagend wachte er auf und fühlte sich so zerschlagen, dass er nicht mehr weiterschlafen konnte. Wann hatte er das letzte Mal so intensiv geträumt? Er konnte sich nicht erinnern. Das Schlimmste war, dass er das Gesicht der Althoff mit ihren gefletschten Zähnen nicht aus dem Kopf bekam. Er versuchte darüber zu lachen, aber die Frau machte ihm Angst. Er konnte sie nicht einordnen, sie blieb undurchschaubar, und er wusste nicht, ob sie auf seiner Seite stand oder eine eiskalte Feindin war. Er überlegte, ob er, wo er jetzt schon wach war, in die Redaktion fahren und zum ersten Mal seinen Generalschlüssel ausprobieren sollte. Vielleicht würde er beim Stöbern irgendwelche Unterlagen finden, die ihm Aufklärung über mysteriöse Dinge bieten konnten. Vermutlich würde er aber nur vor Stapeln von Kopien stehen, die ihm nichts, aber auch wirklich gar nichts sagten. Außerdem würde er dann Berrys Frauchen, oder Beatrice, wie sie ja seit gestern hieß, verpassen. Das gab den Ausschlag. Er würde erst nach der Hunderunde im Park zur Redaktion fahren. Wenn die Althoff ein doppeltes Spiel spielte, würde sie irgendwann einen Fehler machen. Er musste nur warten.

Obwohl er genau zur richtigen Zeit im Park ankam, waren weder Berry noch Beatrice zu sehen. Mattes trödelte ein bisschen mit Mina herum, die gegen einen etwas längeren Spaziergang gar nichts einzuwenden hatte und ihren sonst so geliebten Berry gewissenlos gegen andere Hundefreunde tauschte.

Hunde sollen doch ihren Menschen so ähnlich sein, erinnerte sich Mattes. Blödsinn, so opportunistisch bin ich nun auch wieder nicht.

Als von Beatrice immer noch nichts zu sehen war, gab er es auf. War das das Ende? Gab es ein Ende, bevor etwas angefangen hatte? Vielleicht war sie mit ihrem Freund unterwegs, konnte ja sein. Den Gedanken fand Mattes überhaupt nicht gut, und er beeilte sich, in die Redaktion zu kommen. Bloß nicht auf blöde Gedanken kommen. Wie tief war er eigentlich gesunken, wenn er in Zeitlupe durch den Park schlich, nur weil eine Frau mit dem zweifelsohne attraktivsten Hintern des Stadtparks ihm ihren Vornamen genannt hatte? Er duzte doch selber schnell und ziemlich hemmungslos und sah das nicht als besondere Auszeichnung an. Abschalten, abschalten, abschalten, murmelte er vor sich hin, um seinem Gehirn zu suggerieren, dass es für ihn wichtigere Sachen gab und er sich nur auf das Magazin konzentrieren wollte.

Mann, warum war sie nicht da gewesen? Hatte sie nicht gestern gesagt »bis morgen«?

Abschalten!!

Kaum hatte er die Redaktion betreten, warf sein Gehirn von alleine alle Gedanken an Beatrice Wagner in einen hinteren Abstellraum. In der Ecke neben dem Kopierer stand eine heulende Tina, und die Althoff stand vor ihr und machte ihr halblaut, aber sehr nachdrücklich heftige Vorhaltungen. »Wie kannst du nur!«, hörte er sie aufgebracht zischen, und Tina schluchzte, während ihre Tränen schwarze Wimperntuschestreifen über die Wangen zogen. Anscheinend heulte sie schon etwas länger. Als sie Mattes erblickte, erschrak sie und versteckte etwas hinter ihrem Rücken. Mit ängstlichem Blick sah sie ihn an, als er auf sie zukam. Frau Althoff drehte sich um. Sie hatte rote Flecken im Gesicht und sah aus, als hätte sie sich aufgeregt, sprach jetzt aber wieder mit ihrer geschäftsmäßig distanzierten Stimme: »Guten Morgen, Herr Reuter. Wir haben ein kleines Problem, das aber sofort behoben sein wird.«

Kleines Problem?, dachte er. Da wird irgendetwas mit ihren Spionagesachen schiefgelaufen sein. Hat Tina nicht so gespurt, wie Don Althoff es gerne gehabt hätte?

»Was ist los?«, fragte er im Tonfall eines Polizeikommissars und wollte sich diesmal nicht abschütteln lassen. Vor allem wollte er wissen, was Tina hinter ihrem Rücken versteckte.

»Nichts ist los«, flüsterte die und begann wieder zu heulen.

Wer weiß, was die Althoff ihr angedroht hatte, wenn sie reden würde. Die arme Kleine! Mit sanfter Stimme sagte Mattes: »Tina, zeig mir, was du in den Händen hast!«

Sie blickte ihn mit rot geweinten Augen an, und er sah die verschmierte Wimperntusche in ihrem Gesicht und hoffte, er müsste sie nicht tröstend in den Arm nehmen, weil das Zeug seine Jacke total verdrecken würde. Bekam man das beim Waschen raus? Egal, wie schrecklich ihr Schicksal war, in den Arm nehmen nach Möglichkeit nicht, dachte er.

»Ich hab nichts«, schluchzte sie und hielt die Arme weiterhin krampfhaft nach hinten. Frau Althoff sah ihn an und sagte ruhig: »Wir regeln das schon«, aber damit ließ er sich nicht abspeisen. Er war ganz nah dran, das fühlte er.

Die Althoff ignorierend sagte er eindringlich: »Ich will dir doch nur helfen, Tina«, und war mehr als nur leicht überrascht, als von ihr nur ein abweisendes: »Näää!« kam.

Neben sich hörte er die Althoff seufzen. Ruhig befahl sie: »Tina, zeig deine Hände!«

Tina sah sie entsetzt an, schluchzte auf und nahm langsam ihre Arme nach vorne, während neue Tränenbäche die letzten Wimperntuschereste lösten. Verwirrt starrte Mattes auf ihre Hände, die eindeutig leer waren. Nach der ersten Verwunderung – er hatte fest mit geheimen Dokumenten gerechnet – bemerkte er, dass die Finger rot und geschwollen aussahen. Zwischen den Fingeransätzen gab es dunkelrote Stellen. Folter? Hallo? Wieso dachte er jetzt an Folter? War er völlig übergeschnappt? Die Althoff war vielleicht in irgendwelche Sachen verstrickt, aber sie folterte keine Praktikantinnen. Jedenfalls nicht so, dass sie dabei Spuren hinterließ.

»Sie hat Haare gefärbt«, erklärte Frau Althoff. »Und sie reagiert allergisch auf die chemischen Substanzen. Das ist der Grund, warum sie die Ausbildung im Friseursalon nicht weiterführen konnte.«

Tina schluchzte: »Die Yasmin ist schuld, die wollte unbedingt, und ich hab gesagt, da krieg ich voll Plack, und sie sagt, is ja nur wenig, und ich hab gedacht, is ja nur für Strähnen und nicht für alles, und da hab ich das gestern gemacht.«

Sie heulte los und war kaum noch zu verstehen: »Die is voll blöd, die Yasmin.«

Frau Althoff wandte sich an sie und sagte eindringlich: »Du darfst das nie mehr machen, Tina, hörst du? Auch nicht, wenn es nur wenig ist. Du siehst ja, was dabei rauskommt. Darum bist du doch hier, damit du nicht mehr mit Färbemitteln arbeiten musst.«

Tina wischte sich mit beiden Händen durch das Gesicht und verteilte die Tusche damit bis zu den Ohren. Dankbar sah sie Frau Althoff an.

»Die Yasmin ist voll die Tussi. Ich sach der beim nächsten Mal, sie soll sich ihre abgefuckten Strähnchen selber reintun.«

»Wasch dir dein Gesicht und dann gehst du zum Arzt, damit du etwas zum Einreiben bekommst«, befahl Frau Althoff, und Tina nickte und verschwand im Toilettenraum.

Mattes fühlte sich wie vor eine Wand gelaufen. Das Hochgefühl mit kriminalkommissarischer Autorität und höchstem Kombinationstalent alle Arten von undurchschaubaren Situationen auflösen zu können war verschwunden. Der Fall hatte sich von alleine und in eine ganz andere Richtung geklärt. Blieben nur die geheimnisvollen Kopien.

Beiläufig fragte er: »Was kopiert Tina hier eigentlich immer?«

»Alte Rechnungen, Briefe und was wir so in den Ordnern haben«, zählte Frau Althoff auf, als ob das als Begründung ausreichen könnte.

Mattes bohrte nach: »Warum?«

Sie sah ihn an: »Sie haben es immer noch nicht begriffen, fürchte ich.«

Er konnte nur hoffen, dass er nicht so blöd aussah, wie er sich fühlte. Was sollte er begreifen? Die Tür des Toilettenraumes klappte auf, und Tina kam auf den Flur. Sie hatte sich gewaschen, Wimperntusche und Kajalstift kräftig nachgelegt, und sah jetzt verheult und dick geschminkt aus.

»Es is volle Kanne am Jucken«, erklärte sie und blickte angewidert auf ihre Hände. »Die Yasmin kann mich mal. Soll sie ihre Haare doch selber verfärben.«

Frau Althoff sagte: »Nach dem Arzt kommst du wieder her!«

Tina nickte verständnisvoll, zog die Nase hoch und sagte brav: »Is ja noch voll viel zu tun heute.« Sie griff nach ihrer Tasche und verschwand durch die Eingangstür.

Er blickte ihr verwundert hinterher. »Was hat sie voll viel zu tun?«, fragte er entgeistert. »Zwei Liter Kaffee kochen und fünf Meter Kopien stapeln?«

»Sie hat die wichtige Aufgabe übernommen, alle Rechnungen doppelt zu kopieren und die ersten Kopien alphabetisch nach den Straßennamen zu ordnen«, sagte Frau Althoff so langsam und deutlich, wie sie es vermutlich auch einem geistig schwerfälligen Menschen erklären würde. Jemandem wie ihm.

Er schluckte und fragte zögernd: »Sind die nicht schon irgendwie geordnet? Namen von A bis Z zum Beispiel?«

Frau Althoff nickte: »Allerdings.«

Mattes sah sie fast verzweifelt an und fragte: »Und dann?«

»Dann ordnet sie die zweiten Kopien nach der Höhe des Endpreises. Angefangen von der kleinsten Summe bis zur größten.«

Mattes holte tief Luft. »Gut«, sagte er bedächtig. »Bis hierhin habe ich es verstanden. Es bleibt nur eine Frage: Warum??«

Frau Althoff begann zu lächeln, und er merkte, dass sie Spaß an der Situation hatte. Stellte er sich wirklich so blöd an?

»Wir brauchen neben der alphabetischen Namensordnung unbedingt auch alphabetisch abgelegte Straßen und in Reihen geordnete Rechnungszahlen. Da niemand von uns Zeit dafür hat, sind wir alle sehr dankbar, dass unsere Praktikantin diese wichtige Arbeit übernimmt, die sie viele Wochen beschäftigen wird.« Sie fügte leise hinzu: »Es ist immer gut, wenn man gebraucht wird und nicht nur Kaffee kochen muss.« Mattes konnte es kaum glauben. »Das ist eine reine Beschäftigungsmaßnahme für Tina?«, fragte er, musste das bestätigende Nicken aber gar nicht sehen. Die Althoff hatte sich ein langwieriges Ordnungssystem ausgedacht, um einer blöden Praktikantin das Gefühl zu geben, gebraucht zu werden. Das hätte er ihr nie zugetraut.

Sie erklärte lächelnd: »Wir haben sie hier, bis das Arbeitsamt ihr eine Umschulung vermitteln kann. Das kann Monate dauern. Bis dahin habe ich ihr beigebracht, wie man diszipliniert mit wichtigen Unterlagen arbeitet, und sie hat ein Gefühl für Zahlen bekommen. Rechnen ist nämlich nicht ihre Stärke.« Sie blickte ihn an: »Man muss doch was tun für die jungen Leute und sie ein wenig unterstützen, wenn sie selbständig werden sollen.«

»So eine soziale Ader hätte ich Frau Mahlzahn gar nicht zugetraut«, rutschte es aus ihm heraus.

»Frau wem?« Ihr misstrauischer Blick traf ihn.

»Ach, schon gut«, wehrte er schnell ab und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Frau Althoff, ich bin beeindruckt.« Am liebsten hätte er ihr spontan die Hand geschüttelt, aber das wäre zu überschwänglich gewesen. Bei der ging das nicht so einfach. Aber sich ein Beschäftigungssystem auszudenken, von dem der Betroffene nicht merkte, dass es völlig sinnlos ist – da musste man erst mal drauf kommen! Er stockte. Was war mit ihm? Gab es Arbeiten, die er für sinnvoll hielt, die aber vielleicht eine reine Beschäftigungsmaßnahme der Althoff waren? Nein. Oder?

Nadine kam schlecht gelaunt den Flur entlang. Dafür, dass sie wenig Emotionen zeigte und fast immer einen neutralen Gesichtsausdruck hatte, musste sie sogar sehr schlecht gelaunt sein.

»Was ist los?«, fragte Mattes.

»Außentermin«, brummte sie.

Mattes wunderte sich: »Das ist doch kein Problem für dich, oder?«

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und erklärte: »Mit Peter!«

Für Mattes erklärte das gar nichts, was Nadine auffiel.

»Peter muss heute Fotos machen, und darum müssen wir zusammen fahren, aber er qualmt die ganze Zeit. Nach jedem Termin muss ich duschen und komplett neue Sachen anziehen, um nicht penetrant zu stinken«, sagte sie sauer und setzte mit abgrundtiefer Verachtung hinterher: »Ich hasse Termine, bei denen er Fotos macht!«

»Könnt ihr nicht getrennt fahren?«, schlug Mattes vor.

»Heute nicht«, sagte sie. »Mein Auto ist in der Werkstatt, und er muss mich mitnehmen. Sonst fahre ich immer allein und bezahl sogar den Sprit selber, nur um nicht in seiner Nikotinkiste mitfahren zu müssen. Mir wird ja schon schlecht, wenn ich einsteige.«

»Der kann die Zigarette auf so einer Fahrt doch mal weglassen«, sagte Mattes und hörte Nadine bitter auflachen. »Der macht ja nicht mal ein Fenster auf! Und wenn ich meins aufmachen will, sperrt er die elektrischen Fensterheber und lacht. Der hat einen totalen Knall!«

Mattes griff in seine Hosentasche und angelte den Autoschlüssel heraus.

»Wenn Peter offensichtlich eine Allergie gegen Sauerstoff hat, dann fahr mit meinem Auto.«

Ihre Miene hellte sich schlagartig auf: »Echt?«

Er nickte, und sie sah aus, als ob sie ihm um den Hals fallen wollte. Dann grinste sie aber nur, griff nach dem Schlüssel und ging mit schnellen Schritten den Flur entlang. Vor Peter Plattlers Büro klopfte sie fest an die Tür und rief triumphierend: »Vergiss es! Ich fahr selber!«, warf Mattes einen lachenden Blick zu und verschwand in ihrem Zimmer. Manchmal war die Lösung eines Problems ganz einfach, dachte Mattes.

Nachdem Mattes in einem Kopiershop »Blitzschnell-fertig-und-geliefert«-Visitenkarten bestellt hatte, die neben dem neuen Magazin-Namen ›doggies live‹ ihn als Chefredakteur auswiesen, verbrachte er den Nachmittag weitgehend ungestört mit Schreiben. Nadine und Peter waren kurz nacheinander aufgebrochen, und wie immer hatte Mucki laut gekläfft, bis sie nicht mehr zu hören waren. Die Althoff war in ihrem Zimmer verschwunden und arbeitete wahrscheinlich neue Pläne zur sinnlosen Beschäftigung der Mitarbeiter aus, und Tina war von ihrem Arzttermin noch nicht zurückgekehrt. Mattes liebte diese ruhigen Phasen, in denen er konzentriert arbeiten konnte, ohne dass alle Augenblicke jemand über den Flur lief, der Kopierer dröhnte oder das Telefon klingelte. Nach einigen Stunden lagen drei Artikel fertig geschrieben auf seinem Schreibtisch, und er musste nur noch mit Peter über das passende Layout reden. Wo blieb der denn? Mattes reckte sich, stand auf und lief über den Flur, um sich einen neuen Kaffee zu holen.

Im Vorbeigehen sah er, dass Frau Althoff an ihrem Schreibtisch saß und Listen durchsah, in die sie an einigen Stellen etwas eintrug. Nein, er würde sich keine Gedanken mehr machen, was das sein könnte und für welche dubiose Gegenseite sie arbeitete. Selbst wenn sie eine Agentin war, war ihm das egal. Sollte sie doch spionieren, Listen fälschen oder Millionen auf ihr eigenes Konto abzweigen, wie sie wollte. Er hielt sich da raus. Sie griff nebenbei in eine Schublade und warf Mucki einen Hundekeks zu, damit er das Kläffen aufhörte. Mattes blieb an der Tür stehen, schüttelte den Kopf und kommentierte: »Kein Wunder, dass er so ein Theater macht, wenn er dafür immer einen Keks bekommt. Sie sollten den nur geben, wenn er ruhig ist.«

Vorwurfsvoll sah sie ihn an: »Sie können das gar nicht beurteilen. Das ist ja kein normaler Hund, er ist sehr intelligent und übersensibel. Für ihn ist es schwer, in so einer turbulenten Umgebung zu leben.«

»Turbulent?«, lachte Mattes. »Gerade heute ist es doch ganz friedlich.«

»Dieser Wechsel zwischen laut und leise macht ihm ebenfalls schwer zu schaffen«, versicherte sie und schien es selber zu glauben.

Mattes wechselte das Thema: »Ist Tina noch nicht zurück?«

»Sie hat vorhin angerufen, dass es noch länger dauert, und ich habe ihr freigegeben. Für heute würde es sich nicht mehr lohnen.«

»K bis L hätte sie vielleicht geschafft«, wandte Mattes ein und lachte wissend.

Frau Althoff ignorierte die Bemerkung ungerührt. »Die Druckerei hat angerufen und sich von mir noch einmal bestätigen lassen, dass die nächste Abgabe erst in drei Wochen vorgesehen ist und wir auf eine monatliche Ausgabe umgestellt haben. Heute wäre nämlich die Abgabe für das Wochenmagazin gewesen.«

»Gab es Probleme?«, fragte Mattes schnell.

»Nein, aber sie vermissen immer noch die offizielle Anweisung der Verlagsseite. Ich habe gesagt, dass es in Hamburg ja immer etwas länger dauert, und das schien sie zu überzeugen. Aber sie werden da in den nächsten Tagen mal selber anrufen müssen.«

»Danke, dass Sie das unterstützen«, sagte Mattes.

Sie sah ihn an: »Ich hänge mit drin, ob ich will oder nicht. Wenn es schiefgeht, sind wir alle draußen.«

»Es wird nicht schiefgehen«, versprach Mattes und war in diesem Moment fest davon überzeugt. Frau Althoff lächelte skeptisch und antwortete nicht.

Mattes sah auf die Uhr. »Wo bleiben denn eigentlich Nadine und Peter?«

»Die sind noch bei dem Außentermin.«

»Immer noch? Die sind doch schon vor Stunden gefahren?«

Er überlegte, wie lange sie schon weg waren. Fünf Stunden? Sechs? Es war jedenfalls ungewöhnlich lang.

»Bis Stuttgart dauert es seine Zeit«, sagte Frau Althoff.

»Stuttgart?«, fragte Mattes überrascht, und in seinem Kopf überschlug er Stunden und Kilometer bei der Berechnung, wann Nadine, und damit sein Auto, wieder zurück sein würde.

Frau Althoff sah ihn fragend an: »Ich dachte, Sie wüssten Bescheid. Es geht um das Frühjahrsrennen der Schlittenhund-Vereine, und die beiden treffen sich mit verschiedenen Gesprächspartnern und dem Veranstalter. Vor 22 Uhr werden sie nicht wieder da sein.« Sie guckte amüsiert: »Herr Plattler hat gestern bestimmt eine Stunde lang telefonieren müssen, um jemanden für den Abend als Ersatz für seine …«, ein kurzes Zögern, dann hatte sie eine harmlose Bezeichnung gefunden: » … Musikkappelle zu bekommen. Er hätte am liebsten das Telefon an die Wand geworfen! So ist das Leben, habe ich ihm gesagt, und er hat sich fast an seiner Zigarette verschluckt.« Sie lachte leise in Erinnerung an diesen Moment.

»So richtig leid tut er Ihnen nicht«, stellte Mattes fest.

Sie guckte ihn kopfschüttelnd an: »Warum denn? Er ist ja nicht der Einzige, der heute lange arbeiten muss. Nadine ist ebenfalls in Stuttgart, und Sie werden in der Redaktion warten müssen, bis Ihr Auto wieder zurück ist. Es sei denn«, fügte sie schnell hinzu, »Sie nehmen ein Taxi.«

Er spürte einen Hauch von Schadenfreude in ihrer Stimme.

Jetzt bloß nicht falsch reagieren, dachte er und sagte lässig: »Frau Althoff, als Chefredakteur kann ich es mir nicht leisten, an Feierabend zu denken. Aber gehen Sie ruhig. Ich werde noch an einigen Artikeln arbeiten und die Ruhe in der Redaktion genießen.«

Er warf Mucki beim Wort »Ruhe« einen provozierenden Blick zu, der diesen sofort wieder zu leisem Knurren brachte und auch von Frau Althoff verstanden wurde.

Sie stand auf, packte ihre Sachen zusammen und sagte: »Dann wollen wir Sie mal nicht stören. Komm, Muckilein, Mami geht nach Hause.«

Mattes fiel fast vom Stuhl. Mami? Er räusperte sich und dann platzte es aus ihm heraus: »Seien Sie sich sicher, dass DAS nicht mal bei IHNEN möglich ist!« Frau Althoff guckte fragend, und er erklärte mit gespielt verwunderter Miene: »Na, dass Sie die Mutter von Mucki sind. Ich meine, die Mami.« In die folgende Stille hinein sagte sie sehr distanziert: »Er ist quasi adoptiert«, nahm hoheitsvoll ihre Tasche unter den Arm und verließ, dicht gefolgt von ihrem Sohn, das Büro.

Mattes blieb alleine zurück und rechnete aus, dass er noch mindestens vier Stunden mit dem Schreiben weiterer Artikel verbringen konnte, ehe Nadine und sein Auto wieder in der Redaktion ankamen. Ach, war gar nicht so schlecht. Er ließ die Bürotüre auf, damit Mina sich beschäftigen und in aller Ruhe den nur noch schwach beleuchteten Flur komplett auf Gerüche untersuchen konnte, und setzte sich mit einem frischen Kaffee an seinen Schreibtisch. Endlich hatte er die Möglichkeit, etwas zu machen, wonach es ihn schon seit Tagen verlangte. Er lehnte sich entspannt in seinem Chefsessel zurück, legte die Füße auf den Tisch und blickte sich zufrieden in seinem Büro um. Es fühlte sich gut an, der Chefredakteur zu sein, und er fühlte sich in dieser Redaktion fast wie zuhause. Und ohne dass er es erklären konnte, war er plötzlich froh, in einer so kleinen Klitsche gelandet zu sein. Die Mitarbeiter waren zwar alle mehr oder weniger bekloppt, aber nett und engagiert. Bei der ZEIT wäre er jetzt vielleicht einer der vielen Ressortleiter, jederzeit ersetzbar und mit vielen ehrgeizigen, potentiellen Nachfolgern im Rücken, die nur auf ein Zeichen der Schwäche warteten, um an ihm vorbei auf den Chefsessel zu gelangen. Es lief alles richtig. Er stellte die Tasse auf den Tisch, nahm die Füße herunter und zog die Tastatur des Computers zu sich. Das Magazin sollte einschlagen wie eine Bombe, und dazu brauchte es gut geschriebene Artikel. Er hatte einige Stunden vor sich, in einer abendlich ruhigen Redaktion, in der nur das Klappern der Tasten und das Schnüffeln seines Hundes zu hören sein würden.

Das Leben war großartig.

Sein Handy klingelte ihn aus seinen Gedanken: »Alex hier, was machst du?«

»Ich arbeite.«

Er hörte Alex lachen. »Du arbeitest? Um diese Zeit? Wohl bekloppt geworden!«

Im Hintergrund rief eine Frauenstimme etwas Unverständliches.

Alex gab es weiter: »Manuela lässt dich grüßen. Wir sitzen gerade bei einem tollen Italiener und finden, du solltest vorbeikommen.«

»Ich kann echt nicht«, bedauerte Mattes und erklärte: »Ich warte noch auf mein Auto und schreibe an einem Artikel.«

»Schade«, sagte Alex und fügte hinzu: »Wir dachten, du lädst uns ein und wir kommen billiger weg.«

»Blödmann«, erwiderte Mattes grinsend.

Tröstend sagte Alex: »Du kannst uns ja beim nächsten Mal einladen. Dann haben wir heute eben nur zu zweit Spaß, während du dich aufopferst, um die Nächte durchzuarbeiten. Irgendwer muss es ja tun, während wir gemütlich rumsitzen, lecker Wein trinken und das beste Saltimbocca der Stadt essen.« Er senkte seine Stimme, bis sie fast ein Flüstern war: »Du musst unbedingt mal mitkommen! Hier läuft die schärfste Bedienung der Stadt rum, die wird dir gefallen. Ein Wahnsinns-Weib!«

Mattes hörte ein dumpfes Geräusch und dann Alex gequetschte Stimme, die lachend rief: »Manuela würgt mich, ich muss aufhören!«

Mattes lächelte ein bisschen wehmütig, als er auflegte.

Mit Alex war er normalerweise alleine unterwegs, aber er mochte es auch, wenn ab und zu Manuela dabei war. Sie war Alex’ Jugendliebe, und die beiden hatten recht früh geheiratet. Gegen Mattes Willen, denn er fand damals, dass Alex erst mal was vom Leben sehen sollte, ehe er sich an eine Frau band. Es war dabei egal, dass Mattes Manuela sympathisch und witzig fand, es ging ums Prinzip. Aber an Alex waren alle seine Argumente abgeprallt.

»Die ist es. Was soll ich länger suchen?«, hatte der einfach entgegnet und schien trotz aller anders lautenden Prophezeiungen, die Mattes auch in den Jahren danach immer wieder mitleidig von sich gegeben hatte, tatsächlich immer noch glücklich zu sein. Die beiden ergänzten sich und erstaunlicherweise hatte Manuela auch nie ein Problem damit, wenn Alex sich zwei- oder auch dreimal in der Woche mit Mattes traf. Im Gegenteil, sie förderte das und ging manchmal sogar mit, wenn sie gerade Lust dazu hatte. Mattes zog sie dann auf und redete von »Wachpersonal, das den Ehemann nicht alleine ausgehen lassen kann«, aber er musste dabei aufpassen, dass Manuela nicht mit einer treffenden Bemerkung konterte.

Die Zeit, mit den beiden gemeinsam beim Italiener zu sitzen, würde wiederkommen. Momentan waren andere Sachen wichtiger.

Er setzte sich wieder an seinen Artikel und arbeitete konzentriert, bis er gegen 23 Uhr die Eingangstür klappen hörte und Mina schwanzwedelnd auf Nadine zulief. Sie sah müde, aber zufrieden aus.

»Ich glaube, es ist richtig gut geworden«, sagte sie. »Das war eine tolle Veranstaltung, und die sind alle sehr engagiert. Eine kanadische Fahrerin war auch da, und die wird im nächsten Monat eine Tour durch Alaska machen. Wir haben sie gleich mitinterviewt, das gibt eine super Geschichte. Ich glaube, Peter hat sensationelle Fotos gemacht. Der wollte auch gleich nach Hause fahren, um sie auf seinen Computer zu spielen.« Sie lächelte Mattes zu: »Und danke, dass ich dein Auto haben konnte.«

»Ich fahr dich nach Hause«, sagte Mattes und fügte hinzu, »Danke, dass ihr euch so engagiert.«

»Weißt du was«, sagte Nadine und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht, »es macht Spaß, mal etwas Neues auszuprobieren.«

Weil er am Vorabend erst nach Mitternacht in seiner Wohnung angekommen war und nicht sofort einschlafen konnte, fiel ihm das frühe Aufstehen am nächsten Morgen schwer. Aber es reizte ihn, pünktlich mit Mina im Park zu sein. Vielleicht waren Beatrice und Berry heute wieder da. Aber schon wieder war auf dem üblichen Rundweg nichts von den beiden zu sehen. Und er hatte nicht mal ihre Telefonnummer. Stattdessen trafen sie Lucy, einen durchgeknallten Jack Russel, dessen Herrchen Schulterprobleme hatte, weil Spaziergänge nur mit einem immer wieder geworfenen Ball möglich waren.

»Ich wollte unbedingt einen aktiven Hund haben«, erklärte Lucy’s Herrchen mit müder Stimme, während Lucy aufgeregt fiepend vor ihm auf und ab sprang, bis er den Ball weit wegschleuderte und sie wie ein Blitz hinterherrannte, »aber die ist ja nicht totzukriegen.«

Und schon war Lucy wieder da, legte den Ball ab und sprang nervig fiepend vor ihm hoch, in freudiger Erwartung, dass er ihn erneut wegwarf. Mina, die merkte, dass Lucy sich weder für sie noch für einen anderen Hund interessierte und nur für das Wiederholen weggeschleuderter Bälle lebte, ignorierte den kleinen Hund völlig.

Der Mann sah Mattes erschöpft an: »Mein nächster Hund wird so was wie Ihrer. Was Gemütliches, das einfach in der Ecke liegen will und ein bisschen blöd ist.«

Mattes dachte, nicht richtig zu hören. Was war das denn für ein Idiot? Mina ein bisschen blöd? Der hyperaktive Hund war blöd, aber doch nicht seine Mina! Er wollte gerade etwas erwidern, da fiel ihm Tante Thea ein. Die hatte genauso reagiert, wenn jemand Arco als gefährlich bezeichnet hatte.

»Arco gefährlich?«, stieß sie dann beleidigt aus. »Du hast sie ja wohl nicht alle!«, und es bestand höchste Gefahr, sofort ein lebenslanges Hausverbot ausgesprochen zu bekommen. Und wer Tante Gerlindes unerzogenen Hund als unerzogen bezeichnete, bekam von ihr fast eine gepfeffert, so empört war sie darüber.

Mattes sah Lucy hinterher, die gerade wieder hinter dem Ball herjagte, als müsse sie einen Preis dafür gewinnen, und verkniff sich einen Kommentar. Er dachte: Mami Althoff mit ihrem Prinzchen. Und ich reagiere gerade wie Papi Reuter. Wir alle stellen uns schützend vor unsere Hunde, wenn andere sie kritisieren. Warum ist Mina nicht nur ein Hund, sondern gehört für mich zur Familie? Das ist für Außenstehende, die keinen Hund besitzen, nicht nachvollziehbar. Wäre ein interessantes Thema für das Magazin.

Ihm fiel Tante Gerlinde ein. Für einen guten Witz gab sie alles. Lieber einen Freund verlieren als eine Pointe. Sogar Mattes war einmal Opfer ihrer überschäumenden Fröhlichkeit und ihres krassen Humorverständnisses geworden. Er hatte im Französischunterricht gestört und von Lehrer Döll als Strafarbeit die Aufgabe bekommen, bis zum nächsten Tag 250 Mal die ausgeschriebene Zahl 97 in sein Heft zu schreiben. Dieter Döll war ein wahrer Psychoterrorist. Als Dreizehnjähriger war sich Mattes sicher, dass dieser Döll ausschließlich Lehrer geworden war, um hilflose Untergebene tyrannisieren zu können. Einmal musste Mattes sich vor der ganzen Klasse auf den Tisch stellen und lauthals »Sur le pont d’Avignon« singen. Was gibt es Erniedrigenderes für einen Pubertierenden, als sich vor der gesamten Klasse, inklusive der angebeteten französischen Austauschschülerin Stephanie Guillebault, derart vorführen zu lassen? Mattes hasste den Französischsadisten in diesem Moment mehr als alles, was er jemals hätte hassen können. Allerdings milderte sich der Hass, als ihn nach der Stunde die französische, unerreichbare Schönheit auf dem Schulhof mit den Worten »Isch mag deine Schtimme und isch mag deine süße Accent« in Empfang nahm. Immerhin der einzige Moment, in dem sie Mattes beachtete.

Im Gegensatz zur süßen Stephanie waren französische Zahlen der Horror. Mattes Theorie war, dass Dieter Döll höchstpersönlich dieses perfide Zahlensystem entwickelt haben musste. Blöd genug, dass sich die Franzosen auf die Döll’sche Zahlenlehre einließen, aber noch blöder, wenn man sie schreiben musste. 250 Mal »quatre-vingt-dix-sept« bedeutete, dass er zu spät zum Fußballtraining kommen würde. Als er das jammernd Tante Gerlinde erzählte, bei der er auf dem Heimweg vorbeikam, war sie gleich Feuer und Flamme. »Das mache ich für dich, und du gehst zum Training«, ordnete sie an und ließ sich sein Französischheft geben. Seinen Einwand, dass der Lehrer seine Schrift kennen würde, wischte sie weg: »Ach was. Ich mach das täuschend echt. Kannst dein Heft nach dem Training abholen!«

Glücklich war Mattes davongeeilt, ohne auch nur einen weiteren Gedanken an französische Zahlen zu verschwenden. Auf dem Rückweg hatte er Tante Gerlinde überschwänglich gedankt, das Heft in seinen Ranzen gestopft, eine Limo bekommen und war abgezischt.

Erst am nächsten Tag holte ihn die Realität im Französischunterricht ein. Dieter Döll fragte zu Beginn der Stunde nach der angeordneten Strafarbeit. Zielstrebig griff Mattes nach dem Heft und brachte es zum Lehrerpult. Der Lehrer schlug es auf und starrte einige Sekunden auf die beschriebenen Seiten, während sein Kopf langsam dunkelrot anschwoll. Um Himmels willen, was war los? Warum stand Dölls Kopf kurz vor der Detonation? Hatte er die falsche Schrift erkannt? War Tante Gerlinde des Französischen vielleicht gar nicht mächtig? Der Französischlehrer klappte das Heft zusammen, und einen Augenblick lang dachte Mattes, er würde es ihm um die Ohren schlagen. Stattdessen knallte er es auf das Lehrerpult und brüllte ihn zusammen. Es war schrecklich. Und das Schlimmste war, dass er keine Ahnung hatte, warum dieses Unglück über ihn hereinbrach. Am Ende wurde ihm das Heft in die Hand gedrückt und er mit dem Hinweis, dass ein Brief an seine Eltern folgen würde, auf seinen Platz geschickt. Minutenlang traute er sich nicht, die Seiten aufzuschlagen, um nachzusehen, was den Wutanfall ausgelöst hatte.

»Was ist denn los?«, flüsterte Alex, der neben ihm saß. Wenn er das nur wüsste!

Als der Unterricht weiterlief, ging er endlich mit dem Finger zwischen die Seiten, hob sie vorsichtig ein Stück an und starrte auf Tante Gerlindes Werk. In der ersten Reihe stand sauber und vorbildlich »quatre-vingt-dix-sept«, und zwar in täuschend echter, quasi originaler Mattes-Reuter-Schrift. Darunter 249 Mal, über sechs Seiten gehend, jeweils zwei schmale Striche als Wiederholungszeichen. Dass es kein Zufall war oder von Tante Gerlinde unwissentlich falsch gemacht worden war, merkte er, als er auf dem Rückweg von der Schule bei ihr vorbeiging.

»Na? Strafarbeit gezeigt?«, lachte sie vergnügt und schlug sich auf die Schenkel. »Da habt ihr Augen gemacht, was?« Sie empfand es als gelungenen Streich, über den sie herzlich und ohne jede Spur eines schlechten Gewissens lachen konnte. Mattes wusste seitdem, dass ihm seine Familie immer helfen würde, dass er aber ganz genau darauf achten musste, ob ihn diese Hilfe nicht noch viel weiter in die Scheiße ritt. Blind verlassen konnte er sich auf niemanden.

Aber Tante Gerlindes Scherze trafen nicht nur Mattes. Noch schlimmer traf es ihren zukünftigen Schwiegersohn, den sie mit selbst gebranntem Schnaps im Partykeller abfüllte, dann wartete, bis er auf der Gartenbank vor dem Haus eingeschlafen war, um anschließend die Polizei zu rufen. Die weckte den vermeintlichen Landstreicher und Trunkenbold, der natürlich mit schwerer Zunge behauptete, dass er quasi schon zur Familie gehöre. Glaubhaft beteuerte Tante Gerlinde: »Den kenne ich nicht« und bat die Beamten, den Typen aus ihrem Vorgarten zu entsorgen und mitzunehmen. Als er von den Polizisten ins Auto verfrachtet worden und mit ihnen weggefahren war, hatte sie sich sofort ans Telefon gehängt und triumphierend, unterbrochen von dröhnenden Lachanfällen, vom neuesten Coup erzählt. Und es war nicht so, dass sie ihren angehenden Schwiegersohn nicht mochte, im Gegenteil. Sie wollte ihn nur schon mal dran gewöhnen, wie es in ihrer Nähe ablief.

Genau bei dieser Tante Gerlinde lebte der unerzogene Snoopy. Mattes hatte immer den Eindruck gehabt, dass seine zupackende, laute und mit beiden Beinen auf der Erde stehende Tante den Hund eher zufällig bekommen hatte und er ihr nicht sehr am Herzen lag. Er war da, aber irgendwann würde er von einem seiner Ausflüge nicht mehr zurückkommen und sie würde sich einen neuen Hund anschaffen. Tante Gerlinde würde so etwas leicht nehmen, weil sie emotional nicht an Snoopy hing, dachte er lange. Hauptsache, ihr Leben war laut und lustig. Doch dann war Mattes eines Tages ganz nah dabei, als sie alles riskierte, um ihren Hund zu retten.

Er war damals zwölf und verbrachte gerade ein paar Ferientage auf dem Binnenschiff von Onkel Herbert, der neben seiner Frau fast wortkarg wirkte, ihre temperamentvolle Art aber sehr schätzte. Wenn es ihm zu viel wurde, sagte er das mit klaren Worten, und erstaunlicherweise hörte Tante Gerlinde dann auf ihn. Zusammen mit Gerlinde war natürlich auch der Hund an Bord. Bei einem Anlegemanöver wollte sie, wie schon so oft, einfach mit einem großen Schritt vom Schiff auf die Hafenmauer gelangen. Onkel Herberts Matrose hatte die Reibhölzer, die zum Schutz des Schiffes an den Rand gehängt wurden, schon ausgelegt, aber auf die für den Übergang vorgesehene kleine Brücke zu warten dauerte Tante Gerlinde zu lange. Unter dem einen Arm ihre Handtasche, in der sich 500 Mark befanden, die sie zur Bank bringen wollte, unter dem anderen ihren Hund, machte sie einen Schritt auf die Hafenmauer zu, als in diesem Moment der Wellengang eines vorüberfahrenden Schiffes ihr eigenes Schiff ein kleines Stück abtrieb. Es hielt mit fest gestrafften Tauen, aber Tante Gerlinde blieb nun, mit einem Fuß auf dem Schiff, mit dem anderen schon an Land, schwankend und instabil in der Mitte stehen. Unter ihr eine große Lücke, in der die Rheinwellen bedrohlich platschten. Plötzlich löste sich ihre Tasche und fiel ins Wasser. 500 Mark. Das war enorm viel Geld! Mattes sah, wie die dicke Tante Gerlinde sich sofort bückte, um die Tasche aus dem Wasser zu fischen, da fiel ihr aus dem anderen Arm Snoopy heraus. Blitzschnell beugte sie sich noch weiter herunter, um anstatt nach der Tasche nach dem Hund zu greifen, verlor dabei das Gleichgewicht und hing mit dem Kopf nach unten im Spalt zwischen Boot und Hafenmauer fest. Es sah lustig aus, war aber hochgefährlich. Mattes stockte der Atem. Er wusste, wenn das Schiff jetzt durch weitere Wellen zurück an die Hafenmauer gedrängt wurde, würde Tante Gerlinde, die fest in der Lücke steckte und weder vor noch zurück kam, unwiderruflich zerquetscht werden. Er rannte zu den hochgestreckten Beinen, umklammerte sie fest und brüllte nach seinem Onkel Herbert. Nach gefühlten Stunden, die vermutlich nur Sekunden waren, kam Herbert angerannt und zog seine Frau mitsamt dem Hund, den sie fest am Halsband gegriffen hatte, aus der Gefahrenzone. Noch während sie schwer atmend auf dem Schiffsdeck lag, wurde Mattes bewusst, dass sie ihren Hund sehr lieben musste, denn sie hatte für den kleinen, ungezogenen Straßenmix ihr Leben riskiert. Nicht einmal die Tatsache, dass sie selbst in Lebensgefahr schwebte, hatte sie auch nur eine Sekunde ernsthaft darüber nachdenken lassen, den Hund seinem Schicksal zu überlassen. Er war ihr sogar wichtiger gewesen als die Handtasche mit den 500 Mark. Die schwamm jetzt irgendwo den Rhein entlang und blieb verschwunden. Tante Gerlinde war glücklich, dass sie Snoopy gerettet hatte, und Mattes hörte sie auch später niemals sagen, dass sie lieber nach der Tasche hätte greifen sollen.

Wie wichtig Hunde für jemanden sein können, hatte er damals gelernt, und es musste sich ja nicht jeder gleich kopfüber zwischen Schiffswand und Hafenmauer hängen, um das zu zeigen. Für Nicht-Hundebesitzer war das oft nicht zu verstehen. Seine Mutter hatte den Vorfall damals entsetzt mit »Was? 500 Mark sind weg?« kommentiert und konnte nicht fassen, dass Gerlinde sich wegen des Hundes überhaupt in so eine Gefahr gebracht hatte.

Mattes sah weit hinten auf der Wiese immer noch die kleine Lucy hinter dem Ball herrennen und grinste. Was die Halter nicht alles für ihre Hunde taten. Aber er wusste, dass auch er stundenlang Bälle werfen würde, wenn seine Mina das für das schönste Spiel auf der Welt halten würde. Zum Glück tat sie das nicht. Obwohl er eigentlich wegen Beatrice in den Park gegangen war und jetzt von ihr nicht die geringste Spur zu sehen war, fühlte er sich wohl und glücklich bei dem Gedanken an Mina und die innige Beziehung, die sie verband. Als er nach der Parkrunde zuhause ankam, standen Robin und Meike vor dem Haus und sahen zu, wie Astrid das Auto aus der Garage fuhr. Anscheinend wollte sie die beiden Kinder zur Schule bringen. Robin schaute ihn freudig an: »Hey, Mattes, gehen wir mal wieder zusammen ins Kino?«

»Ja, klar«, sagte Mattes, aber Astrid, die gerade ausstieg und den Kofferraum öffnete, erklärte ihrem Sohn spitz: »Mattes ist momentan mit anderen Sachen beschäftigt. Der kommt erst nachts nach Hause.«

Ach, sie hatte mitbekommen, dass er gestern so spät aus der Redaktion gekommen war.

Tadelnd blickte sie Mattes an: »Es wird immer später bei dir. Du kannst mir nicht erzählen, dass du so lange arbeitest.«

»Das geht dich überhaupt nichts an«, grinste Mattes. Bestimmt vermutete sie immer noch eine Freundin, nachdem er unvorsichtigerweise vom Schreibtisch der Althoff aus angerufen hatte. Aber sollte sie doch denken, was sie wollte.

»Demnächst übernachtest du noch bei ihr«, prophezeite Astrid, die sich auf der richtigen Fährte fühlte, siegessicher und knallte den Kofferraum zu.

»Könnte passieren«, gab Mattes zu. »Weißt du, sie ist manchmal ziemlich anstrengend und verlangt viel.«

»Geschieht dir recht. Hoffentlich zeigt sie dir, wo es langgeht! Du brauchst mal jemanden, der richtig Druck macht«, lachte Astrid zufrieden.

»Mit Druck liegst du gar nicht so schlecht«, sagte Mattes, dem einfiel, dass er noch bei der Druckerei anrufen musste, um das Monatsmagazin zu bestätigen. Die durften dort gar nicht erst misstrauisch werden, weil der Verlag sich nicht meldete.

Astrid war ins Auto eingestiegen und trieb mit ungeduldigen Handbewegungen ihre Tochter an, die betont langsam auf der Beifahrerseite einstieg und dabei motzte: »Es wird Zeit, dass ich selber Auto fahren kann und nicht mehr von dir abhängig bin.« Astrid schoss zurück: »Du musst nur eine halbe Stunde früher aufstehen, dann bekommst du den Bus und musst nicht mit mir fahren. Glaub ja nicht, du darfst später mal mein Auto benutzen.«

»Ja, ja, ja«, leierte Meike, schob die Unterlippe beleidigt vor und starrte stumm aus dem Seitenfenster.

Mattes klopfte an die Scheibe, hinter der Robin saß. »Wir gehen nächste Woche ins Kino«, versprach er. »Such dir einen Film aus, und wir machen einen Männerabend.«

Robin strahlte ihn an. Astrid mahnte sofort: »Einen Kinderfilm, Robin! Nicht, dass Mattes dich wieder in einen Actionfilm schmuggelt.«

»Natürlich!«, beteuerten Mattes und Robin fast gleichzeitig und guckten wie die Unschuldslämmer.

Meike kurbelte das Seitenfenster herunter. »Mattes«, flötete sie, »gehst du auch mal mit mir und meinen Freundinnen ins Kino?«

»Das kann ich doch auch machen!«, warf Astrid ein. Meike sah Mattes an, verdrehte genervt die Augen und betonte: »Ich meine ohne meine Mutter.«

Mattes grinste: »Klar, machen wir!«, und ihm ging durch den Kopf, dass selbst hochkomplizierte Hunde nicht so kompliziert wie sechzehnjährige Mädchen waren.

In der Redaktion saß Nadine schon am Bericht über die Schlittenhunde, und das Geklapper ihrer Tasten drang ununterbrochen in den Flur. Tina stand mit dünnen, weißen Baumwollhandschuhen am Kopierer. Sie blickte Mattes verzweifelt an: »Das geht nich. Ich kann die Blätter gar nich anfassen mit so Handschuhen. Der Arzt ist voll am spinnen.« Vergeblich versuchte sie das oberste Blatt zu fassen und rief ungeduldig: »Menno, die Scheißhandschuhe sind voll der letzte Kack!«

Frau Althoff erschien aus ihrem Büro und mahnte: »Tina, bitte nicht diese Ausdrucksweise!«

»Frau Althoff«, jammerte sie, »ich kann mit den Dingern nicht kopieren. Kann das nicht heute ein anderer machen?«

Frau Althoff warf Mattes einen Blick zu, auf den der sofort abwehrend die Hände hob und sagte: »Also ich nicht!«

»Das wäre nicht mein Vorschlag gewesen, Herr Reuter«, stellte sie klar und entschied: »Tina, du räumst heute die Ordner im Regal um. Ich erkläre dir, in welcher Reihenfolge ich sie brauche. Es ist dringend, darum ist es gar nicht schlecht, dass wir das heute vorziehen können.« Mit vollkommen ernster Miene ging sie an Mattes vorbei und bewegte kurz ein Augenlid. Hatte sie ihm gerade zugezwinkert oder war ihr etwas ins Auge geflogen? Er traute sich nicht, darüber eine Entscheidung zu treffen, zog es im Zweifelsfall aber vor, dass das Zwinkern einem Fremdkörper im Auge galt. Eine zu vertrauliche Althoff war ihm unheimlich.

Der Verantwortliche in der Druckerei war nach dem Telefongespräch, das Mattes mit ihm führte, nicht völlig beruhigt, wollte aber zunächst abwarten und schloss nicht aus, dass im Verlag mal wieder Mist gebaut worden war. Er notierte die doppelte Seitenanzahl und dass sowohl Papier als auch Bindung geändert werden sollten.

»Es wird das Exklusiv-Premium-Magazin des Verlages«, hatte Mattes ihn zugequatscht, »und es darf in der Produktion deutlich mehr als vorher kosten.«

»Was ist denn bei denen los? Sonst sparen die doch, wo sie können«, wunderte sich der Mann von der Druckerei.

»Diesmal nicht«, sagte Mattes und wurde vertraulich: »Es hat noch höchste Geheimhaltungsstufe, darum reden Sie bitte nicht im ganzen Betrieb darüber, aber das Magazin wird den Markt sprengen!«

»Das heißt, Sie brauchen auch eine höhere Auflage als bisher?«, fragte der Mann.

Oh, an die Auflagenhöhe hatte Mattes nicht gedacht, aber natürlich war die bei einem Regionalmagazin nicht besonders hoch. Entrüstet fragte er: »Haben die beim Verlag etwa auch noch nichts zur Auflage gesagt? Denen werde ich was erzählen! Da läuft ja nichts glatt.«

»Typisch!«, bestätigte der Mann und fragte: »Soll ich anrufen und nachfragen?«

»Nein, nein«, wehrte Mattes sofort ab. Das fehlte noch! »Wir hatten uns für die doppelte Auflagenhöhe entschieden«, erklärte er kurz entschlossen.

Der Mann am anderen Ende des Telefons wirkte nicht zufrieden: »Das reicht doch nicht. Können die Herren im Verlag nicht mal überlegen? Die können so was Großes nicht unter 20 000 starten. Ich würde sogar behaupten, dass es 30 000 sein müssen.«

Mattes entschied spontan: »Das habe ich auch gesagt. Und wissen Sie was? Ich bin der bevollmächtigte Leiter des Projektes, und ich gebe 30 000 in Auftrag. Ach was, 40 000. Wenn, dann wollen wir es ja richtig machen.«

Er lachte mitreißend, obwohl sich seine Magengrube empfindlich zusammenzog. Was machte er da gerade?

»Sie sind endlich mal jemand, der Entscheidungen treffen kann«, lobte der Mann von der Druckerei. Mattes hatte das Gefühl, in einem überhitzten Zimmer zu sitzen, als er sein Gegenüber fragen hörte: »Kann ich das schriftlich haben? Nur, damit es kein Missverständnis gibt?«

»Aber natürlich«, sagte Mattes souverän. »Frau Althoff wird es Ihnen rüberfaxen.«

Er legte den Hörer auf und blieb still sitzen. Wenn es auf der Welt jemanden gab, der freiwillig immer weiter in den Sumpf lief, dann war er es. Sein ganzes Leben lang hatte er gepokert und immer wieder Gewinne eingefahren, aber die Einsätze waren niedrig gewesen und er merkte es kaum, wenn er mal verlor. Jetzt gab es zum ersten Mal einen Einsatz, der eindeutig zu hoch für ihn war. Im Laufe des Tages würde in der Druckerei ein Fax ankommen, auf dem er sich dafür verantwortlich zeigte, dass der Verlag einen enormen Geldbetrag in eine Magazinentwicklung steckte, die gar nicht erwünscht war.

40 000 statt 5 000 Exemplare.

Das war mehr als volles Risiko.

Das war Wahnsinn.

Mit einem tiefen Luftzug setzte sich Mattes aufrecht hin und wählte die Nummer von Frau Althoff. Wenn er jetzt nicht souverän klang, würde sie sich einfach weigern.

»Bitte schicken Sie heute noch ein Fax mit folgenden Eckdaten an die Druckerei: Seitenanzahl 48, vierfarbig, Hochglanz, Papierdicke 170 Gramm, Auflagenhöhe 40 000. Mein Name und meine Durchwahl drunter.«

»Sie sind komplett durchgedreht!«, sagte sie entsetzt.

»Wie immer Chefsache, Frau Althoff, ich weiß, was ich tue«, gab er als Antwort und legte auf.

Sein Blick fiel auf Mina, die den Kopf auf ihre Pfoten gelegt hatte und ihn von unten herauf ansah. Durfte man Hunde mit in den Knast nehmen, wenn man wegen Betrugs einige Jahre absitzen musste? Wahrscheinlich eher nicht, wegen der blanken Angst der Justiz, dass der Hund einen Fluchttunnel graben könnte.

Muckis Gekläffe im Flur riss ihn aus den Gedanken. Er hörte Peter Plattler durch den Flur schlurfen und verärgert »Ruhe, sonst bring ich dich kochfertig zum Chinesen!« rufen. Eine unverständliche, aber eindeutig empörte Bemerkung von Frau Althoff folgte. Die Vorstellung von »Mucki süß-sauer« als Nummer 52 auf der Speisekarte amüsierte Mattes. Was ließ sie ihren Hund denn frei im Flur laufen, wenn sie doch wusste, dass der nur nervte? Und warum war Peter eigentlich erst jetzt in die Redaktion gekommen? Ohne Außentermine begann die Arbeitszeit immer noch um neun Uhr. Es wurde Zeit, dass er sich um die Disziplin in der Redaktion kümmerte. Fast gleichzeitig mit Nadine kam Mattes an Peters Zimmer an, das wegen seiner gerade erst erfolgten Ankunft ungewohnt rauchfrei war, aber trotzdem stark nach Nikotin roch.

»Hast du die Fotos?«, fragte Nadine ungeduldig und nahm damit die Frage vorweg, die auch Mattes als zweites gestellt hätte. Seine erste Frage wäre die nach dem Grund der späten Ankunft gewesen, aber die hielt er vorerst zurück, denn Peter murrte schlecht gelaunt: »Geht’s auch etwas langsamer? Ich bin gerade erst aus dem Bett raus«, und startete seinen Computer.

Seit Mattes die Fotos von Saskia Hoffmann im Café gesehen hatte, glaubte er fest an das Talent seines Grafikers als Fotograf. Als die ersten Bilder der gestrigen Hundeschlitten-Veranstaltung auf dem Bildschirm erschienen, strahlte er zufrieden. Phantastisch! Wenn der Text von Nadine ebenso gut war, würde das mindestens eine Vier-Seiten-Story ergeben. Vielleicht konnten sie sie sogar auf fünf ausweiten und zwei der Fotos groß auf eine Doppelseite bringen.

»Großartig!«, sagte Mattes anerkennend und beschloss, nicht auf den späten Arbeitsbeginn einzugehen. Das kam ihm plötzlich gar nicht mehr so wichtig vor. Er klopfte Peter auf die Schulter: »Mach mir mal eine Vorauswahl für vier bis fünf Seiten«, und nickte Nadine zu, die lächelnd auf den Bildschirm guckte: »Das gibt ein sensationelles Heft!«

Der Tag verging rasend schnell, und Mattes schaffte es nur knapp, zwischendurch mit Mina eine Runde nach draußen zu gehen. Als ein Bote kam und ihm ein kleines Päckchen vorbeibrachte, schnitt er behutsam das Klebeband auf und holte eine der neuen Visitenkarten heraus. ›Mattes Reuter, Chefredakteur, doggies live‹. Er lehnte sich in seinem dunklen Chefsessel zurück, hielt die kleine Karte vor sich hin, las sie immer wieder durch und lächelte. Hier stand es schwarz auf weiß, er war Chefredakteur. Es war zwar ein bisschen albern, dass er von einer kleinen Visitenkarte so gerührt wurde, zumal er sie ja selber in Auftrag gegeben hatte, aber es ließ sich nicht leugnen.

»Eine kleine Karte für die Menschheit, ein großer Augenblick für mich«, flüsterte er und steckte sie sorgfältig in seine Brieftasche.

›doggies live‹ musste einfach ein Erfolg werden. Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte, wenn das Projekt scheitern würde. Es war nicht tröstlich, dass er sich die Gedanken um seine berufliche Zukunft erst nach Absitzen einer vermutlich langen Haftstrafe machen müsste.

48 völlig neu zu konzipierende Magazinseiten verlangten extrem viel Vorarbeit, und Mattes, der auf keinen Fall ein übliches Heft, sondern wenn, dann eine aufsehenerregende Neuheit auf den Markt bringen wollte und sich andernfalls beim Rundgang im Gefängnishof sah, hängte sich voll rein. Es waren nur noch gute zwei Wochen Zeit bis zum Druckbeginn, und da musste jeder maximalen Einsatz zeigen. Als wie an fast jedem Nachmittag gegen 17 Uhr die Tür von Peter Plattlers Büro zugedrückt wurde und Mattes ihn mit klimpernden Autoschlüsseln den Flur entlanggehen hörte, sprang er auf.

»Was ist los?«, hielt er ihn auf. »Ein Außentermin?«

Peter guckte ihn verwundert an: »Nee, Feierabend.«

Gerade heute? Er war viel zu spät gekommen und wollte jetzt schon wieder gehen?

Mattes reagierte sauer: »Ich hab nichts davon gehört, dass du jetzt eine Beamten-Halbtagsstelle hast.«

»17 Uhr ist Schluss!«, brummte Peter und ging weiter.

»Bisher war das vielleicht so, aber das kannst du vergessen! Wir haben noch unglaublich viel zu tun, bis das Magazin steht, da kann sich keiner auf einen 17-Uhr-Feierabend berufen!«, erklärte Mattes verärgert.

Peter drehte sich um: »Mir ist egal, ob ich für ›Hasso und Fina‹ arbeite oder für ›doggies live‹. Ich verbringe meine Zeit hier bis 17 Uhr und dann gehe ich nach Hause. Fang nicht damit an, dass wir ab jetzt länger arbeiten sollen! Ich hab auch noch andere Sachen, die mir wichtig sind. Wenn ein Magazin mit 48 Seiten nicht zu schaffen ist, machen wir eben eins mit 24.«

Nadine und Frau Althoff unterbrachen ihr Gespräch an der Kaffeemaschine und hörten zu.

Mattes lehnte sich genervt an die Wand und strich sich die Haare aus der Stirn. Dann erklärte er nachdrücklich: »Hört mal, wir haben ein riesengroßes Projekt vor uns, und wenn wir das nicht in drei Wochen am Start haben, können wir die Redaktionsräume auch gleich in die Luft sprengen. Dann seid ihr nämlich alle unwiderruflich draußen, und ich werde froh sein, wenn ich eine Stunde am Tag im Hof im Kreis laufen darf. Wenn’s nicht anders geht, werden wir ab jetzt Tag und Nacht durcharbeiten.«

Er sah sie flehend an: »Es geht nur um die nächsten drei Wochen. Wenn das Ding einmal läuft, haben wir alle Freiheiten. Aber jetzt kommt es auf jeden an, keiner darf sich rausnehmen, sonst bekommen wir es nicht gebacken.«

In Frau Althoffs Büro regte sich Mucki lautstark über den Lärm im Flur auf. Peter Plattler stöhnte genervt und steckte mit grimmiger Miene den Autoschlüssel in seine Hosentasche.

»O. k.«, knurrte er, »aber unter einer Bedingung.«

»Die wäre?«

»Der Kläffer bleibt zu Hause!«

»Abgelehnt«, sagte Frau Althoff und sah ihn herausfordernd an.

Nadine mischte sich ein: »Komm schon, Peter! Nur drei Wochen.«

Peter starrte sie sauer an und knurrte dann extrem schlecht gelaunt: »Drei Wochen und keinen Tag länger!«

Unter den Blicken der Kollegen drehte er sich um, ging zu seinem Büro und knallte die Tür zu.

Puh! Ein hart erkämpfter Sieg, dachte Mattes und lächelte die beiden anderen erschöpft an. Vermutlich trauten sich Nadine und Frau Althoff jetzt nicht mehr nach Hause, ehe er das Signal dazu gab. Egal. Heute würden sie alle bis spät in den Abend arbeiten. Zum Erholen gab es ab morgen das Wochenende, aber auch da sollte er in Anbetracht der noch ausstehenden Arbeiten einige Aufgaben verteilen. Was spräche dagegen, dass Peter weitere Fotos vorbereitete und Nadine Artikel schrieb oder Anzeigenkunden ansprach? Er selber würde ja auch über seinen Texten hängen. Er machte das alles ja nicht für sich, sondern für das gesamte Team. Schon während er darüber nachdachte, wusste er, dass das gesamte Team ihn mit Freude in eine Jauchegrube werfen und anschließend geteert und gefedert aus dem Hinterhof jagen würde, wenn er Wochenendarbeit vorschlagen würde. Aber sie würden schon erkennen, was er ihnen Gutes getan hatte, sobald das Magazin erfolgreich an die Spitze schoss. In drei Wochen war es so weit.

Die Gesellschaft auf dem Flur löste sich still auf, und Mattes begab sich an seinen Schreibtisch. Er genoss das Gefühl, ein Vorbild für die gesamte Mannschaft zu sein, ein Chef, der keinen Augenblick lang auf die Uhr blickte, der keine Sonderstellung einnahm und zum Feierabend erst gedrängt werden musste. So hatte er sich das in den ganzen Jahren immer vorgestellt: ein Team, das gemeinsam auf ein Ziel hinarbeitet und das alle privaten Interessen zurückstellt, wenn das Projekt es erfordert. So wie jetzt. Unglaublich, wie er die Mitarbeiter immer wieder motivieren konnte. Die Gene für eine leitende Position hatte er eben immer schon gehabt.

Mattes setzte sich wieder vor seinen Computer und recherchierte weiter über Sportarten, die zusammen mit Hund betrieben werden konnten und die bei richtiger Anwendung zur Gewichtsreduktion verhelfen konnten.

Als er im Internet einige mögliche Experten dazu gefunden und ihre Kontaktadressen notiert hatte, fiel sein Blick auf die Uhr. Es war schon nach 18 Uhr. In der Redaktion herrschte konzentrierte Arbeitsstille, und Mattes horchte versonnen auf das leise Klappern von Nadines Tastatur. Sie waren alle dran und zogen mit. Großartig. Sogar Tina sortierte mit ihren behandschuhten Händen immer noch Ordner im Regal um.

Plötzlich fuhr er hoch. Es war Freitag! Um 19 Uhr wartete Alex im Tennisclub auf ihn. Scheiße, das war jetzt mehr als ungünstig, nachdem er eben den dicken Chef markiert hatte. Sollte er Alex absagen? Nein, Alex war wichtig, die Stunde war ein fest abgesprochener Termin, und er hatte sie schon in der letzten Woche vorzeitig abgebrochen. Mist! Schnell fuhr er seinen Computer runter, rief Mina und verließ das Zimmer.

»Frau Althoff, ich muss dringend weg«, rief er durch die geschlossene Tür und nuschelte schwer verständlich etwas von einem Geschäftstermin, in der Hoffnung, dass sie nicht nachfragen würde. Jetzt schnell weg, ehe jemand reagieren konnte.

Er war fast am Ausgang, da hörte er, dass eine Bürotüre mit Schwung geöffnet wurde und Peter mit wütender Ironie auf den Flur rief: »Es kommt auf jeden an! Keiner darf sich rausnehmen!«

Das waren eindeutig seine eigenen Worte gewesen. Mattes tat so, als würde er sie nicht hören.

Alex saß in der Tennishalle und las Zeitung. Er blickte hoch: »Sieben Minuten zu spät. Seit du ernsthaft arbeitest, wirst du unzuverlässig.«

Schnaufend ließ sich Mattes neben ihn fallen. »Als Chef ist man morgens der Erste und abends der Letzte.«

Alex sah ihn spöttisch an: »Aber du doch nicht!«

Er folgte Mattes Blick, der konzentriert den beiden spielenden Frauen auf dem Nachbarfeld zusah.

»Ist die Linke nicht die Frankenfelder?«, fragte Mattes halblaut.

Alex nickte verwundert: »Ja, aber die ist doch locker fünfzehn Jahre älter als du und außerdem verheiratet.«

Er bekam einen Ellbogenstoß in die Seite, und Mattes sagte: »Aber ich hab sie mal mit einem Hund gesehen, und ihr Mann ist im Vorstand eines dicken Autokonzerns.«

»Ja, und?«

»Wart’s ab! Wenn die aufhören zu spielen, quatsch ich sie an.«

Alex guckte verständnislos: »Mattes, ehrlich, ich versteh ja, dass du zurzeit massiv sexuell unterversorgt bist, aber so schlimm kann’s doch gar nicht sein! Ist noch alles klar bei dir?«

Mattes griff nach seinem Schläger: »Komm, wir spielen eine Runde und ich zeig dir, wie klar ich bin!«

Den ersten Satz verlor Mattes knapp, weil er unkonzentriert blieb und immer wieder einen Blick auf das Nachbarfeld warf, um den dortigen Aufbruch nicht zu verpassen.

»Was ist los mit dir?«, rief Alex, der den sonst üblichen Kampfgeist vermisste.

Mattes schlug einen Ball an ihm vorbei ins Aus und antwortete: »Ich kann nicht mehr abschalten. Es dreht sich alles um das Magazin.«

Alex grinste: »So kenne ich dich gar nicht. Abschalten war immer deine Stärke. Wenn du etwas immer und überall konntest, dann abschalten.«

Mattes zog einen neuen Ball aus seiner Tasche und schlug ihn blitzschnell auf Alex, der gerade noch ausweichen konnte.

»Ey, sie gehen!«, informierte ihn Alex in diesem Moment halblaut und deutete auf das Nachbarfeld. Die beiden Frauen hatten ihre Schläger unter den Armen und gingen nebeneinander vom Feld, leise miteinander redend. Mattes trat gegen einen Tennisball, der vor ihm lag und schoss ihn flach vor die Füße der Frauen.

»Oh, sorry, der ist von mir!«, rief er sofort laut und eilte an dem erstaunt guckenden Alex vorbei auf sie zu.

»Du wirst doch jetzt nicht ernsthaft dieses alte Schlachtschiff entern wollen?«, raunte Alex ihm angewidert hinterher.

Freudig und überrascht sah Mattes Frau Frankenfelder an und lächelte charmant: »Ach, guten Abend. Was macht Ihr Hund?«

»Dorca geht es gut«, lächelte sie und konnte nicht verbergen, dass sie keine Ahnung hatte, wer vor ihr stand.

Mattes half ihr aus der Verlegenheit: »Ich bin Mattes Reuter, Chefredakteur, und ich hatte schon oft mit Ihrem Mann zu tun.«

Er kannte ihren Mann überhaupt nicht, aber die Wahrscheinlichkeit, dass der mit ihr über alle seine Geschäftspartner sprach und Namen nannte, war gering.

»Angenehm«, lächelte sie erleichtert und reichte ihm die Hand. »Und Sie kennen auch Dorca?«

»Ja, die ist mir gleich aufgefallen. Wissen Sie, ich habe einen Blick dafür. Seit Monaten arbeite ich mit einem Team an ›doggies live‹, einem ganz neuen, innovativen Hundemagazin für den hochklassigen Bereich, und da fallen mir solche Prachtexemplare wie Ihre Dorca natürlich sofort ins Auge.«

Frau Frankenfelder lächelte geschmeichelt, während sich Mattes fieberhaft zu erinnern versuchte, was für eine Hunderasse Dorca war. Er hatte sie doch mal im Park gesehen. Jetzt ein Kompliment über den Hund, und die Sache wäre geritzt. Leider erinnerte er sich nur noch, dass er Frau Frankenfelder mit einem eher großen Hund gesehen hatte. Ein Windhund? Nein, kräftiger. Vielleicht ein Podenco aus dem Tierschutz?

»Sie machen ein Hundemagazin?«, fragte Frau Frankenfelder interessiert. Sie hatte angebissen.

Mattes bestätigte: »Ja, es kommt in zwei Wochen raus. Ich saß heute den ganzen Tag in Verhandlungen um die Werbeseiten. Die großen Firmen sind ganz wild darauf, denn es ist jetzt schon sicher, dass das Magazin voll durchstarten wird.«

»Ach, da haben Sie meinen Mann sicher heute auch getroffen«, stellte sie zufrieden fest.

Mattes tat verwundert: »Nein. Ich bin, ehrlich gesagt, etwas erstaunt, dass ausgerechnet der Konzern Ihres Mannes nicht mit uns in Verbindung getreten ist. Die Konditionen für die Werbeseiten sind phantastisch, und da Ihr Mann so hundebegeistert ist, hatte ich fest damit gerechnet, dass er interessiert wäre.«

Frau Frankenfelder sah enttäuscht aus. Mattes guckte betroffen. Dann sagte er: »Wegen Dorca würde ich gerne Ihnen den Vorzug geben, aber die Verhandlungen um die letzten Werbeseiten laufen schon. Das müsste jetzt schnell gehen, damit ich da noch was drehen kann. Es wäre ja auch sehr schön, wenn wir mal ein Foto von Ihrer Dorca im Magazin bringen könnten. Sie ist ja wirklich ein außergewöhnlich hübscher und intelligenter Hund.«

»Mein Mann wird Sie anrufen«, sagte Frau Frankenfelder geschmeichelt.

Mattes reichte ihr seine Visitenkarte: »Ich freu mich drauf.«

Als er lässig auf sein Spielfeld zurückkam, packte Alex gerade seine Sachen ein.

»Ist sowieso gleich Schluss«, erklärte er und nickte anerkennend: »Wenn du was durchziehst, dann richtig. Komm, lass uns noch was trinken, ehe wir fahren! So viel Zeit hast du doch, oder triffst du dich mit den Damen noch zum Abendessen, um deine Werbeseiten zu verkaufen?«

»Nicht nötig«, gab Mattes zurück, »glaub mir, das läuft jetzt von alleine.«

Alex atmete erleichtert auf: »Ich hatte ernsthaft die Befürchtung, dass das Single-Leben bei dir sehr bizarre Auswirkungen angenommen hat.«