Zwei Tage später musste Mattes schon wieder die Tennisstunde absagen. »Wir haben am Montag Abgabe«, erklärte er Alex mit müder Stimme. »Ich werde am Samstag in der Redaktion sein, um mit Peter die restlichen Seiten zu schaffen, und muss am Sonntag mit Nadine wegen der Hüft-OP nach Hannover. Es ist ungeheuer knapp.«

»Du begleitest deine Mitarbeiter schon ins Krankenhaus?«, fragte Alex verwirrt.

»Nein, es geht natürlich um einen Artikel. Fakt ist, dass ich nicht Tennis spielen kann.«

»Kein Problem«, sagte Alex. »Ruf an, sobald du wieder Zeit hast!«

»Ich würde so gerne mal wieder mit dir reden, aber ich hab total unterschätzt, was das für eine Arbeit wird«, erklärte Mattes und fühlte sich mies.

»Ich finde es super, wie du das durchziehst«, sagte Alex. »Hey, es ist DEIN Magazin! Tennis spielen können wir noch oft.«

So war Alex. Einfach da, wenn er ihn brauchte und ohne dass er jemals eine Erklärung verlangte, immer auf seiner Seite.

»Danke, Alex«, sagte Mattes und fühlte eine große Verbundenheit zu ihm.

»Jetzt hör mal zu«, forderte Alex. »Du hast dein Leben lang immer viele Sachen begonnen, aber nie etwas richtig durchgezogen.«

»Wie, ich hab nie was durchgezogen? Ich hab … «

Alex unterbrach ihn: »Alles, was du gemacht hast, waren kurze Projekte, oder es lief von alleine und du bist bequem dabeigeblieben, solange es nicht schwierig wurde. Aber immer, wenn es auf deine Initiative ankam, brach es zusammen. Das war beruflich so und auch bei all deinen Beziehungen.«

»Na, hör mal, ich war fast vier Jahre lang mit Sarah zusammen.«

»Auch da hab ich dir gleich gesagt, dass du sie niemals halten können wirst.«

Mattes fühlte sich plötzlich angegriffen: »Was willst du mir eigentlich sagen?«

Alex Stimme war ganz ruhig: »Es ist großartig, dass dich endlich mal was gepackt hat und du dafür kämpfst. Zum Teufel mit unseren Tennisstunden! Du hast diese eine Chance, und wenn du die sausen lässt, weil du lieber Tennis spielen willst, bist du noch bescheuerter, als ich dachte. Und du kannst mir glauben, ich halte dich für sehr bescheuert.«

Mattes nahm es als Kompliment. »Alex, ich bin echt froh, dass ich dich habe.«

»Quatsch nicht rum, geh an die Arbeit!«, knurrte der mit einem Grinsen in der Stimme und legte auf.

Das Wochenende war, wie erwartet, hart, und Mattes parkte Mina durchgehend bei Astrid, die wenig begeistert war.

»Auf Dauer geht das aber nicht, Mattes. Wenn du keine Zeit für einen Hund hast, schaff ihn ab. Ich räum hinter dem jetzt wieder stundenlang die Bude auf, und du hast ein nettes Wochenende. Ich kann ihn nicht mal den Kindern aufs Auge drücken. Robin ist ständig beim Fußball, und mit Meike hab ich schon Diskussionen genug. Momentan ist es wichtiger, den richtigen Lippenstift zu haben, als die Englischvokabeln zu lernen.« Sie seufzte: »Wo geht’s denn diesmal hin?«

»Ich arbeite.«

Sie lachte trocken. »Ach wirklich? Hast du jetzt schon Wochenend-Jobs?« Ihre Stimme bekam plötzlich einen besorgten Unterton: »Du hast doch mal was gelernt, Mattes. Ich kann einfach nicht zusehen, wie du Stück für Stück abrutschst und dich mit wechselnden Jobs durchschlägst. Dazu dann noch eine Freundin, die ja sicher auch ihre Ansprüche stellt. Wenn du die nicht auch noch durchziehen musst. Hat sie eine Arbeit?«

Mattes war müde und genervt. Es reichte. »Ich hab nicht irgendeinen Wochenend-Job, ich stelle gerade ein Magazin auf die Beine und bin Chefredakteur.«

Da. Jetzt war es raus. Und jetzt würde Astrid nach den Details fragen und ihn danach vermutlich beknien, doch lieber irgendeinen Wochenend-Job zu machen, als bei einem Hundemagazin zu arbeiten. Sie guckte ihn bedrückt an und sagte ernst: »Was dir fehlt, ist der Realitätsbezug. Du kommst kaum über die Runden, schlägst dich mit Gelegenheitsjobs durch und faselst vom Chefredakteur. Sieh dem Leben und dem Platz, an dem du stehst, doch mal ins Auge! Werde erwachsen!«

»Ja, mach ich demnächst mal«, grinste Mattes schwach.

Pünktlich am Abgabetag, einem Montagnachmittag, kam ein Kurierfahrer der Druckerei, um die Druckunterlagen abzuholen. Er durchquerte einen Flur, der nach abgestandenem Rauch stank und in dem leere Pizzakartons, angebrochene Getränkeflaschen und ein halb aufgegessener Kuchen wie die Überreste einer Party aussahen, aber ein durchgearbeitetes Wochenende dokumentierten. Den Kuchen hatte Frau Althoff am Sonntag vorbeigebracht und war gleich dageblieben, um die letzten Korrekturen zu lesen. Mattes wankte unrasiert und übernächtigt auf den Boten zu und überreichte ihm breit grinsend und voller Stolz den Karton mit den Unterlagen.

»Fertig!«, flüsterte er glücklich, und der Bote machte, dass er rauskam. Nadine saß blass und müde auf einem Tisch, Tina spielte mit einem Stapel Kopien, und Peter schleppte sich mit schweren Schritten über den Gang und ließ sich neben Nadine auf den Tisch fallen. Frau Althoff brachte eine Flasche Sekt, die Mattes mit einem lauten Knall öffnete, und das Geräusch erinnerte alle daran, dass die Arbeit beendet war. Plötzlich standen sie im Flur und stießen mit unterschiedlich großen Gläsern an, während Mucki wie verrückt bellte. Sie hatten es geschafft. Mattes fühlte sich wie unter Drogen und sagte immer wieder immer lächelnd: »Stell doch mal einer das Tier ab!«, aber niemand hörte darauf. Es war egal. Mattes spürte reines Glück. Und große Müdigkeit. Und völlige Überarbeitung.

»Jetzt ist alles fertig, und wir haben nix mehr zu tun. Cool!«, freute sich Tina.

Mattes tauchte aus seinem Glücks- und Müdigkeitskoma auf und merkte, dass auch einige der Chefzellen wieder erwachten. Er trank den Sekt aus seinem Glas in einem Zug aus und wies auf die kommenden Tage hin: »Das Heftmachen ist vorbei, aber wir müssen uns jetzt darum kümmern, dass das Magazin auch wirklich gekauft wird. Vor allem hier in der Gegend, wo ›Hassos Herrchen – Finas Frauchen‹ seine Leser hatte, müssen alle über das neue Magazin informiert werden. Ab morgen geht’s los. Ich hab mir schon was überlegt und muss nur noch was dafür abholen.«

»Was überlegt?«, fragte Nadine misstrauisch.

»Lasst euch überraschen!«, sagte Mattes und gähnte. »Für heute ist Schluss. Wir sehen uns morgen. Wenn’s geht, pünktlich um neun!«

Am anderen Morgen traf sich Mattes endlich mal wieder mit Alex zum Laufen. Es tat gut, ihn zu sehen, auch wenn es ihm schwergefallen war, so früh aus dem Bett zu kommen. Er fühlte sich völlig erschöpft.

»Gestern war Abgabe«, keuchte Mattes während des Laufens und stellte verwundert fest, dass es mit seiner Kondition nicht mehr so gut aussah. Der leichte Anstieg hatte ihm vor vier Wochen noch nichts ausgemacht. Lag vermutlich an seiner geistigen und körperlichen Erschöpfung. Er war einfach völlig schlapp, jetzt, wo die redaktionelle Arbeit abgeschlossen war und die Spannung nachgelassen hatte.

»Können wir etwas langsamer laufen?«, bat er Alex, der besser trainiert wirkte als jemals zuvor.

»Das heißt, das Magazin ist fertig?«, fragte Alex nach und drosselte das Tempo.

»Ja. Wir haben das Wochenende durchgemacht, und gestern Nachmittag sind die Unterlagen an die Druckerei gegangen. 48 Seiten ›doggies live‹ mit einem tollen Titelbild. Du ahnst nicht, wie fertig ich bin.«

»Aber dann hast du doch jetzt erst mal Zeit, bis es erscheint«, freute sich Alex.

Mattes lachte kurz auf: »Jetzt müssen wir uns noch hinter die Werbung hängen, die wir total vernachlässigt haben. Wir müssen alles tun, damit sich das Magazin gut verkauft. Wenn die Erstauflage drei Wochen nach Erscheinen immer noch stapelweise in den Läden liegt, werden wir keine zweite Nummer machen können. Dann war’s das.« Er blieb schwer atmend stehen: »Boah, ich kann nicht mehr. War der Weg immer so steil?«

Alex blickte auf den kaum merklich ansteigenden Weg und nickte: »Steigung von 80 Prozent. Wird unter Kennern auch Alpenpass genannt. Die meisten Menschen kommen hier ja nur mit einer Kletterausrüstung und einem Bergführer hoch.« Er sah Mattes amüsiert an: »Für meine sportliche Motivation ist es nicht gut, wenn ich mit so einem Schlappi wie dir unterwegs bin, aber ich freue mich jetzt schon auf die nächste Tennisrunde, bei der ich dir dermaßen die Bälle um die Ohren pfeffern werde, dass du um Gnade winseln wirst.«

»Wenn ich könnte, würde ich dich jetzt wie früher auf dem Pausenhof in den Schwitzkasten nehmen, aber es geht gerade nicht«, schnaufte Mattes vor sich hin.

Sein Bedürfnis, den weiteren Tag auf der Couch zu verbringen, war groß, aber trotzdem fuhr Mattes sofort nach einem Sprung unter die Dusche in die Redaktion. Schlappmachen und rumhängen war nicht drin. Im Flur lief er Frau Althoff in die Arme, die ihn mit Neuigkeiten empfing: »Die Redaktion von ›Talk bei Saskia Hoffmann‹ hat eben angefragt, ob Sie am Freitag in die Live-Abendsendung kommen können. Frau Hoffmann hat Sie als Wunschgast für den ›Gast der Woche‹ angegeben.«

Mattes stutzte: »Ja klar, aber warum noch in dieser Woche? Das Magazin ist doch noch gar nicht auf dem Markt.«

Die Althoff guckte ihn erstaunt über seine Blödheit an. »Na, warum wohl? Die Dame ist auf dem Titelbild, und das möchte sie so schnell wie möglich der ganzen Welt mitteilen.«

Das war die Gelegenheit, das Magazin kurz vor der Veröffentlichung einer großen Zuschauergruppe vorzustellen. Eine der Chancen, die sich ihm vor die Füße warf.

»Sagen Sie zu«, nickte er und bemerkte, dass sie arrogant die Augenbrauen nach oben zog und im Umdrehen »Hab ich doch schon gemacht« sagte.

»Sie sollen nicht einfach Entscheidungen treffen, ohne mich zu fragen!«, rief er ihr hinterher.

Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu: »Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, ich entscheide im Vorfeld immer so, wie Sie danach auch selber entschieden hätten.«

Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Aber inwieweit konnte sie ihn beeinflussen, so zu entscheiden, wie sie vorher selber schon entschieden hatte? Mattes fasste sich an den Kopf. Er war definitiv zu müde, um heute grundsätzliche Überlegungen über die Althoff und ihre Manipulationen anzustellen.

Bei der täglichen Besprechung packte Mattes einige Zettel aus und gab sie an Peter weiter. »Das werden Handzettel. Alles Wichtige steht drauf, mach sie fertig, lass sie kopieren und zuschneiden. Wir brauchen 10 000.«

Nadine starrte ihn an: »10 000?«

»Jetzt beginnen die Marketingmaßnahmen«, erklärte Mattes. »Wir alle haben bis zum Sonntag die Aufgabe, Handzettel zu verteilen, an jeden, der nicht schnell genug weg ist. Geht in Parks und drückt sie den Hundehaltern in die Hand, klemmt sie unter Autoscheibenwischer, heftet sie an öffentliche Pinwände und gebt sie bei allen Züchtern ab, die im Telefonbuch stehen. Wenn am Montag noch Zettel übrig sind, haben wir was falsch gemacht. Ich will, dass die Leute neugierig werden und dass das Magazin in dieser Gegend weggeht wie frisch gebackene Brötchen. Wenn wir mit der ersten Ausgabe hier gewinnen, wird spätestens die fünfte Ausgabe deutschlandweit laufen.« Er stockte kurz und überlegte: »Die fünfte? Die dritte!«

Peter guckte ihn an: »Du glaubst ja wohl nicht, dass ich auf der Straße stehe und Zettel verteile?«

»Doch«, sagte Martin. »Wir alle machen das.« Schnell korrigierte er: »Bis auf Frau Althoff, die bleibt in der Redaktion und kümmert sich um die Anrufe.« Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass sie keine Einwände hatte. Die Althoff zu fragen, ob sie Zettel verteilen würde, traute er sich nicht. Lügen, spontane, kreative Ausreden erfinden und ganze Verlage hinters Licht führen, das war ihr Ding, aber auf der Straße stehen und Werbung machen, das war unter ihrer Würde.

Er sah Peter eindringlich an: »Ich sehe, dass sich deine Begeisterung in sehr engen Grenzen hält, aber wenn wir durch diese Aktion 1 000 Hefte mehr verkaufen, sind das 1 000 Argumente, warum die Redaktion nicht geschlossen wird. 1 000 Argumente, warum du deinen Job behältst.«

Peter Plattler fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, seufzte und ließ den Kopf sinken. »O. k.«, gab er auf, »ich mach’s.«

»Und damit es nicht so langweilig wird, machen wir am Freitag eine ganz besondere Aktion«, freute sich Mattes. Jetzt bloß nicht zu viel verraten, sonst würden sie am Freitag alle nicht mehr erscheinen. Aus gutem Grund, wie er selber zugeben musste.

»Ich hab Angst«, flüsterte Nadine und sah ihn mit großen Augen an.

Mattes winkte beruhigend ab. »Keine Panik! Es ist lustig, wir bleiben alle ganz anständig, und ich mache selber mit. So schlimm kann’s also nicht sein.«

»Was ist es?«, wollte Peter grimmig und mit unverhohlenem Misstrauen wissen.

Mattes hob unschuldig die Hände, wackelte damit herum und grinste breit: »Überraschung!«

Am Abend klingelte er bei Astrid. Sie musste sich noch mal um Mina kümmern, und er fragte sich, wie oft sie das noch tun würde. Als sie öffnete, trat er überrascht einen Schritt zurück, musterte sie von oben bis unten und rief begeistert: »Wow! Hast du abgenommen? Du siehst toll aus!« Er sah kein Gramm Unterschied zur letzten Woche, aber er wusste, dass Astrid mit solchen Sätzen in den »O. k.-ich-helfe-dir-Modus« zu versetzen war.

Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen misstrauisch an: »Was ist los? Soll ich Mina wieder nehmen oder warum veranstaltest du hier so einen Zirkus?«

»Nee, echt, Astrid, du siehst aus wie höchstens Ende zwanzig. Ich hab dich fast nicht erkannt.«

»Ach, hör auf, Mattes«, seufzte sie. »Ich war heute morgen auf der Waage, und ich kann nur sagen, dass der ganze Eiweiß-Herzfrequenz-Aquajogging-Scheiß nicht wirkt. Ich habe 400 Gramm zugenommen, und ich habe Hunger! Und Meike hat heute knallhart verlangt, dass ich sie zwei Ecken vor der Schule rauslasse, damit die Jungs nicht denken, sie wird von ihrer Oma gebracht.«

Betroffen sah Mattes sie an und legte mitleidig den Arm um sie. »Meike darfst du nicht ernst nehmen«, versuchte er zu vermitteln. »Sie ist in einem schwierigen Alter. Das glaubt doch niemand, dass du ihre Oma bist. Die würden dich doch alle für ihre Schwester halten.«

Astrid lächelte ihm schwach zu. »Tauschen wir Meike gegen Mina?«

Mattes grinste verlegen: »Fangen wir damit an, dass du Mina morgen noch mal nimmst und Meike behältst? Ich weiß, es ist gerade etwas viel, aber das ändert sich bald.«

»Schon wieder Außentermine?«, fragte Astrid. Erstaunlicherweise guckte sie wohlwollend.

»Ich muss ein bisschen rumfahren und kann sie nicht überall mitnehmen«, erklärte er, und da er wusste, dass Astrid immer noch auf eine Freundin tippte, bediente er sie: »Es sind übrigens drei. Ich muss mich endlich mal entscheiden, ob ich die intelligente Architektur-Studentin, das nymphomane Doppel-D-Topmodel oder als Zukunftssicherung die alternde Millionärin nehmen soll. Was meinst du?«

Astrid seufzte: »Du wirst nie erwachsen. Bring Mina morgen früh vorbei. Ich will sowieso joggen gehen, da kann sie mitlaufen. Sie kann es brauchen, sie kommt mir in letzter Zeit etwas mollig vor.«

»Danke«, sagte Mattes und stupste ihr mit dem Finger an die Nase, wie sie es früher bei ihm gemacht hatte. Tröstend sagte er: »Meike wird schon wieder vernünftig werden. Soll ich mal mit ihr reden?«

»Bring du erst mal dein Leben in Ordnung!«, verlangte Astrid. »Dann habe ich schon einen Problemfall weniger.« Sie grinste dabei.

Er hatte seinen Mitarbeitern bewusst nicht vorher gesagt, was an diesem Freitag, den er harmlos »Werbe-Tag« genannt hatte, auf sie zukommen würde, denn ihm war klar, dass er ansonsten alleine dastehen würde. Alleine mit vier putzigen Dalmatinerkostümen. Die weißen Plüschoveralls hatten schwarze Flecken, eine Kapuze mit Ohren, und am Rücken war ein langer, dünner Schwanz befestigt.

»Ich glaub, ich spinne«, sagte Peter und starrte auf die bereitgelegten Hundehüllen.

Mattes bestätigte: »Ja, sehe ich genauso«, und versuchte gar nicht erst, Überzeugungsarbeit zu leisten. Dass die Kostüme NICHT albern waren, davon hätten weder seine Kreativität noch die Althoff’schen Daumenschrauben jemanden mit halbwegs gesundem Menschenverstand überzeugen können. Hier war nur eine schnelle Überrumpelung Erfolg versprechend.

»Rein in die Dalmatiner und los geht’s!«, rief er seinen Mitarbeitern zu.

»Moment mal!«, warf Nadine ein. »Da erkennt mich ja jeder, wenn ich so in der Stadt rumlaufe!«

Mattes legte zwei kleine Plastikbehälter auf den Tisch.

»Wir färben natürlich noch die Gesichter weiß und malen die Nasen schwarz. Wenn, dann richtig. Geht ganz einfach. Kommt Leute, an Karneval macht das hier jeder und hat Spaß!«

Was red ich für einen Scheiß, dacht er. Ich würde so ein Ding selbst zu Karneval niemals anziehen.

Peter griff nach einem Overall und grummelte zynisch: »Das ist wohl auch ›wie immer Chefsache‹.«

Schweigend zogen Nadine und Tina ihre Kostüme über, und Mattes hoffte inständig, dass sie nicht plötzlich zu viel nachdenken würden. Er würde sie nicht zwingen können, in dämlichen Hunde-Overalls durch die Stadt zu laufen. Er knöpfte seinen viel zu großen Overall zu und verrieb die weiße Farbe im Gesicht. Darauf gleich noch einige schwarze Punkte verteilt, und die Tarnung wäre perfekt.

Auf einmal fiel ihm die absolute Stille im Raum auf. Er hob den Kopf und blickte in die Gesichter seiner drei Mitarbeiter, die regungslos im Zimmer standen. Um ihre Körper hingen weite, sackähnliche Dalmatinerkostüme. Die sehen total bescheuert aus, ging es Mattes durch den Kopf. In diesem Moment quietschte Tina los und klappte lachend nach vorne.

»Sie sehen so voll blöd aus!«, japste sie. »So einen blöden Fleckenbär habe ich noch nie in meinem Leben gesehen!«

Nadine und Peter konnten sich nicht mehr halten und lachten auch laut los. Sieh mal an, dachte Mattes. Der festgefahrene, rauchkonservierte Peter kann laut lachen. Das hat er sicher seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht. Jetzt aber schnell, ehe sie realisieren, was sie gerade machen.

»Los, los! Hier ist die Farbe. Ihr seht mir noch zu menschlich aus! Und Tina, es sind Dalmatiner. Dalmatiner-Hunde, nicht Dalmatiner-Bären.«

Zu viert saßen sie in Mattes Auto und fuhren in die City. Vier Dalmatiner in einem Auto. Drei davon mit ernsten Mienen, die deutlich aussagten, dass sich dahinter jemand fragte, wie um Himmels willen er in diese Lage gekommen war, während der Hund am Steuer freundlich winkte, wenn Passanten den seltsamen Fahrgäste entdeckten und mit den Fingern auf sie zeigten.

»Wenn jetzt Karneval wäre, würde ich mich besser fühlen«, stellte Nadine fest und zickte Peter an: »Jetzt mach doch mal deine blöde Kippe aus! Ich sterbe gleich.«

Tina sagte: »Es ist oberpeinlich. Aber irgendwie geht’s auch voll ab.«

Mattes hielt auf dem Parkdeck eines großen Kaufhauses, drückte jedem einen Packen Werbezettel in die Hand und sagte: »Wir gehen drei Stunden durch die Fußgängerzone und drücken jedem, der sich nicht mit Gewalt zur Wehr setzt, einen Zettel in die Hand. Denkt immer dran: Es erkennt euch keiner, und jedes Magazin, das dadurch am Montag mehr verkauft wird, ist unser Erfolg. Wir haben nur die eine Chance. Um vier Uhr treffen wir uns wieder am Auto.«

»Darf ich das Bein heben, wenn ich mal muss?«, fragte Peter ironisch.

Mattes grinste: »Natürlich. Tu, was du willst. Hauptsache, die Leute werden aufmerksam.«

In einem idiotischen Dalmatinerkostüm in der Fußgängerzone zu stehen war gar nicht so schlimm, wenn man wusste, dass man nicht erkannt wurde. Mit Overall und Schminke fühlte sich Mattes erstaunlich unbefangen. Zuerst ging er nur herum und verteilte seine Werbezettel, aber plötzlich machte ihm die Sache Spaß. Er bellte kleine Kinder an, die das meistens lustig fanden, sprang tapsig wie ein Welpe einer jungen Frau hinterher oder stand einfach herum und schaute mit ernstem Blick Passanten hinterher. Die Werbezettel in seiner Hand wurden schnell weniger. Langsam bildete sich ein weiter Kreis um ihn, und Leute blieben stehen und waren gespannt, was er noch bieten würde. Die halten mich für einen Straßenkünstler, dachte er und grinste. Vor ihm klimperte ein Geldstück auf den Boden. Ein Kind hatte ihm einen Euro vor die Füße geworfen, und die Mutter, die es an der Hand hielt, lächelte ihm bestätigend zu. So einfach war das. Hundekostüm anziehen, Faxen machen und Geld einsammeln. Schnell drückte er dem überraschten Kind einen seiner Zettel in die Hand und bückte sich nach dem Euro. Mitten in der Bewegung erstarrt er. Über den Platz sah er Astrid mit Mina laufen. Hoffentlich bogen sie zur Seite ab und verschwanden in der Seitenstraße. Aber nein, sie drehten ab und kamen in seine Richtung. Offensichtlich wollte Astrid den Platz überqueren und musste dabei an ihm vorbei.

Er drehte sich hastig mit dem Rücken zu ihr. Sie durfte ihn auf keinen Fall erkennen. Langsam und möglichst unauffällig bewegte er sich zur anderen Seite des Platzes, da hörte er hinter sich ihren schrillen Ruf: »Mina! Komm sofort hier her! Miiiinaaa! Scheißköter! Mina, kommst du wohl her!!!«

Fast zur gleichen Zeit fühlte er, wie sich eine Hundnase mit Schwung in seine Kniekehle drückte, und dann sah er Mina schwanzwedelnd und freudig winselnd um ihn herum springen.

»Hau ab!«, kommandierte er zischend. »Mina, aus!«

Astrid kam im Laufschritt auf ihn zu und versuchte hektisch, das Ende von Minas Leine zu erwischen, während diese Gefallen an dem spannenden Spiel fand und immer wieder an Mattes hochsprang. Astrid konnte sie endlich am Halsband greifen und zerrte sie von ihm weg. »Tut mir leid, sie hat sich von der Leine gerissen«, presste sie verlegen heraus. »Der Hund ist total unerzogen, aber so was hat er wirklich noch nie gemacht.« Sie erkundigte sich besorgt: »Haben Sie sich wehgetan oder ist etwas an Ihrem Kostüm kaputtgegangen?«

Mattes zog den Kopf so weit wie möglich in die Kapuze zurück, drehte sich leicht weg und vermied jeden Augenkontakt. Was machte die denn hier? Natürlich hatte Mina ihn erkannt, und Astrid war nicht blöd. Die würde ihn auch gleich erkennen. Mina jaulte in hohen Tönen und versuchte erneut, ihn anzuspringen, und Astrid hatte Mühe, sie zu halten. »Ich glaube, sie hält Sie für einen Hund«, entschuldigte sie sich und fragte noch mal: »Ist wirklich alles in Ordnung?«

Mattes nickte mit gesenktem Kopf, winkte mit der Hand beruhigend ab und drehte sich weg. Ein Schritt weg, zwei Schritte weg, drei Schritte …

»Moment mal!«, rief Astrid.

Vorbei! Sie hatte ihn erkannt. Hatte er ja gleich gewusst. Sie kam mit der aufgeregt springenden Mina hinter ihm her. »Sie haben ein paar von Ihren Zetteln verloren.«

Er griff hastig danach, und einen kurzen Moment lang trafen sich ihre Augen. Sie stutzte merklich. Schnell senkte er den Blick und drehte sich weg. Hatte sie etwas gemerkt? Schon allein die Reaktion von Mina musste ihr doch verdächtig vorkommen. Ihm wäre sofort klar gewesen, dass ein Hund sich nicht so aufführt, nur weil ein Mensch in einem Hundekostüm steckt. Das wäre jedem Hund vollkommen egal. Aber Astrid zeigte wenig Gespür. Er hörte, wie sie im Weitergehen vorwurfsvoll mit Mina sprach, ihr unterstellte, dass sie dumm wie Stroh und schlimmer als ihr Herrchen sei, und drohte, sie nicht mehr mitzunehmen, wenn sie sich so peinlich verhielt.

Mattes fühlte, wie ihm der Schweiß den Rücken entlanglief. Das wäre beinahe schiefgegangen. Im Hundekostüm, Zettel verteilend in der Fußgängerzone entdeckt zu werden, das hätte er Astrid niemals erklären können. Da würde sie es auf jeden Fall bevorzugen, ihn als Pizzafahrer zu sehen. Nach diesem Schreck war ihm der Spaß vergangen. Er lief an einigen Straßencafés vorbei und legte Zettel in die Speisekarten unbesetzter Tische. Wenn man so etwas mit ruhiger, selbstverständlicher Miene machte, fiel das meistens nicht auf, und bis der Kellner sie entdeckte und entfernte, hatten sie schon viele der Gäste gelesen. Es kam auf jeden Käufer an.

Als er am Auto ankam, stand Peter schon an die Motorhaube gelehnt, hatte die Hundekapuze runtergeklappt und qualmte.

Mattes sah ihn zweifelnd an: »Alle Zettel verteilt oder Abbruch wegen zu großer Entzugserscheinungen nach zwei Stunden ohne Kippe?«

»Du glaubst doch nicht, dass ich ohne Kippe unterwegs war?«, brummte Peter und nickte: »Die Zettel sind alle weg.«

»Dann warst du schneller als ich. Das kann ich kaum glauben«, bohrte Mattes nach.

Peter grinste zufrieden. »Ich habe arbeiten LASSEN. Einfach einer Gruppe Kinder die Dinger in die Hand gedrückt und gesagt, wer als Erster alle verteilt hat, bekommt einen Euro. Die haben keine Viertelstunde gebraucht. Und mich hat es genau einen Euro gekostet.«

Erst eine halbe Stunde nach der vereinbarten Zeit kamen Tina und Nadine zum Auto zurück. Mattes war unruhig: »Leute, ich habe heute Abend den Termin in der Show von Saskia Hoffmann. Wir müssen dringend zurück!«

Tina maulte: »Das war voll anstrengend. Und wir sollten doch erst wiederkommen, wenn alle Zettel weg sind.«

Mattes scheuchte sie ins Auto und stellte richtig: »Die Vorgabe war: alle Zettel bis vier Uhr verteilt zu haben. In fünf Minuten wäre ich gefahren, und dann hättet ihr hierbleiben können mit euren Dalmatinerkostümen.«

»Uah, voll peinlich!«, rief Tina, während Mattes schon aufs Gas trat.

So schnell es im beginnenden Nachmittagsstau möglich war, kurvte Mattes zur Redaktion zurück. Er zwängte sich hastig aus seinem Dalmatiner-Outfit und wusch sich am Waschbecken die Farbreste aus dem Gesicht. In einer halben Stunde sollte er allerspätestens im Fernsehstudio sein, und für die Fahrt brauchte er schon mindestens sechzig Minuten. Er würde zu spät kommen und das bei seinem ersten Auftritt vor einer Kamera. Hoffentlich hatten sie im Studio eine großzügige Wartezeit einkalkuliert. Hektisch rieb er mit dem Handtuch über das Gesicht. Hatte auf den Farben nicht gestanden, dass sie problemlos mit Wasser zu entfernen waren? Wieso saßen überall noch weiße Farbreste? Schnell überlegte er, was er zum Fernsehsender mitnehmen musste. Autoschlüssel. Was noch? Im Flur stand Peter Plattler, noch immer als Dalmatiner verkleidet, und hielt ihm den Andruck des neuen Magazins hin. »Ah, das war’s!«, rief Mattes, griff danach und rannte los. Ab zum Auto und auf die Autobahn. Mit quietschenden Reifen bog er eine gute Stunde später auf den Parkplatz des Senders ein und wurde von einer am Eingang ungeduldig wartenden »Hi, Sie sind spät dran, ich bin Kerstin« empfangen und gleich in die Maske gebracht. Beim eiligen Gang durch das Gebäude stellte er eine zunehmende Enttäuschung bei sich fest. Das war eines der berühmten Fernsehstudios? Es sah alles so piefig aus wie in einer Behörde. Linoleumböden, Grünpflanzen in Plastikkübeln voller Hydrokulturkörner und Leute, die über die Gänge eilten und auf den ersten Blick auch bei der Stadtverwaltung hätten arbeiten können. Er hatte Chaos, Künstler und einen Hauch von Hollywood erwartet.

»Kann man bei euch auch einen Personalausweis verlängern lassen?«, fragte er seine Begleitung, die ihn verwirrt anblickte und sich mit offenbar null Komma null Verständnis für seinen Humor erkundigte: »Als Requisite, oder was?«

»Nee, schon gut.«

Sie schob ihn in ein kleines Zimmerchen, in dem eine Maskenbildnerin mit knallroten Strähnchen in den kurzen Haaren einladend auf einen Stuhl vor einer beleuchteten Spiegelfläche zeigte.

»Sie sind die Hundezeitung?«, fragte sie und legte ihm einen Plastikkragen um.

»Kann man so sagen«, bestätigte Mattes und nickte zur gleichen Zeit zustimmend, als eine andere Frau im Hintergrund »Kaffee?« fragte. Die roten Strähnchen leuchteten im Schminklicht, als würden sie gleich explodieren. Die Maskenbildnerin lächelte.

»Ich hab auch einen Hund. Freddy heißt er. Moment, ich hol mal ein Bild.«

Ergeben sah Mattes zu, wie sie in ihrer großen Tasche kramte und ihm dann ein leicht unscharfes Foto präsentierte, auf dem ein langhaariger Hund von schräg hinten fotografiert war, der mit seinem Kopf über einem Napf hing.

»Das ist Freddy«, stellte sie vor und erklärte: »Beim Fressen in der Küche.« Sie starrte verzückt auf das Foto. »Ist das nicht süß, wie er da steht und ihm die Ohren ins Essen hängen?«

Mattes räusperte sich: »Wenn er von vorne so gut aussieht wie von hinten, kann ich Sie nur beglückwünschen. Aber ich muss gleich vor die Kamera, und da würde ich auch gerne gut aussehen. Von vorne und von hinten.«

»Sie sind aber auch spät dran«, tadelte die Maskenbildnerin, lehnte Freddy gegen den Spiegel und strich Mattes die Haare aus dem Gesicht. Plötzlich stutzte sie und betrachtete irritiert seinen Haaransatz:

»Da ist Farbe drin.«

»Ja, ich war verkleidet«, erklärte Mattes und griff nach der großen Tasse mit Kaffee, die ihm von der Seite gereicht wurde. Die Maskenbilderin sah ihn fragend und plötzlich mit deutlicher Distanz an. »Verkleidet?«

Mattes nickte: »Ich bin als Hund herumgelaufen. An der Nase könnten auch noch Reste von Schwarz sein, ich hatte nicht viel Zeit, das Zeug wieder abzuwaschen.«

Im Spiegel konnte Mattes sehen, wie sich beide Frauen einen fragenden Blick zuwarfen.

»Machen Sie das öfter?«, fragte die Maskenbildnerin leicht angewidert und rieb mit einem nassen Schwamm an den Farbresten herum.

Na klar. Eigentlich war er nur Chef eines Hundemagazins geworden, weil er eine Vorliebe für Sexspiele in Hundekostümen hatte. Für wie krank hielt sie ihn eigentlich? Jetzt musste er gut aufpassen, sonst schickten sie ihn gleich weiter zu ›Britt am Nachmittag‹. An ihrem Blick konnte er erkennen, dass sie ihn mit spitzen Fingern aus der Schublade der netten Leute geholt hatte und jetzt in die der Psychopathen steckte.

Ehe er antworten konnte, und er war sich nicht mal sicher, ob er antworten wollte, kam Saskia Hoffmann in den Raum geeilt. Sie war wieder dick geschminkt und damit für ihn auf Anhieb zu erkennen. Sie lächelte: »Da sind Sie ja. Ich freu mich, dass es noch geklappt hat. In einer Viertelstunde sind Sie schon dran. Das ist alles sicher nicht neu für Sie. Bei Fernsehinterviews waren Sie schon, oder?«

»Klar«, log Mattes und lächelte selbstbewusst. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was erwartet wurde und worauf er achten musste. Wäre es vielleicht besser, das offen zuzugeben?

»Haben Sie ein Magazin dabei?«, fragte sie drängend und lächelte erleichtert, als er nickte.

»Darf ich mal sehen?«

Er reichte es ihr und erklärte: »Es ist nur ein Andruck, aber es sieht aus wie das spätere Magazin. Soll ich es beim Interview dabeihaben?«

Sie sah mit Stolz auf ihr Titelbild und war sichtlich erfreut.

»Ich bitte darum!«, antwortete sie schnell. »Zeigen Sie es gerne in die Kamera, wenn wir darüber sprechen.«

Er grinste. Frau Althoff hatte recht. Sakia Hoffmann war auf dem Titelbild, und das war der Grund, warum er Gast in ihrer Sendung war.

Während die Maskenbildnerin ihm mit einem Schwämmchen eine noch etwas gesündere Gesichtsfarbe gab, erklärte Saskia Hoffmann, dass sie ihn als Chefredakteur des neuen Magazins vorstellen und ein wenig darüber befragen würde.

»Nur drei, vier ganz unpersönliche Fragen, warum Sie das machen, wer die Zielgruppe ist und ab wann es im Geschäft liegen wird. Sie halten das Magazin hoch und erzählen was dazu. Gleich nach Ihnen kommt der Einspieler über den …« Sie wurde von einem Mann unterbrochen, der ins Zimmer kam und Mattes direkt ansprach: »Wir haben Drei Vierzig. Kamera Eins ist für die Anmod, dann kurze Begrüßung in die Zwei. Wir schneiden bei den Fragen auf die Totale, alles wie gehabt.«

Wie gehabt?, dachte Mattes, nickte souverän und schluckte. Saskia Hoffmann sprang auf, drückte ihm das Magazin in die Hand, rief: »Ups, ich muss los. Carolin bringt Sie gleich ins Studio«, und verschwand mit dem Mann im Flur.

»Fertig«, sagte die Maskenbildnerin, nachdem sie zuvor vergeblich versucht hatte, seine Haare in Form zu bringen, riss den Plastikragen auf und drehte seinen Stuhl zur Seite. Das bedeutete wohl, dass er aufstehen sollte. Wer zum Teufel war Carolin?

»Sie können den Kaffee nach nebenan mitnehmen«, sagte die Maskenbildnerin, während sie sich an eine gerade eintretende Frau wandte: »Ach, die Gartentipp-Agatha, setz dich schon mal!«

Mattes griff nach dem Kaffee und wechselte den Raum. War nebenan schon das Studio und würde es beim Eintreten eine Live-Schaltung geben? Wenn er sich doch nur etwas genauer mit dem Ablauf in einem Fernsehstudio auskennen würde.

Der Raum nebenan war eindeutig nicht das Studio, sondern ein Warteraum, der an den Vorraum einer Arztpraxis erinnerte. Gepolsterte Kunstlederstühle mit Chrombeinen und ein Kunstledersofa von Ikea standen auf dem pflegeleichten Behördenteppichboden. In einer Ecke waren mehrere Leute in ein Fachgespräch vertieft, das sich bei genauerem Hinhören, und Mattes konnte in dem kleinen Raum einfach nicht weghören, als üblicher Firmenklatsch herausstellte. In Fernsehstudios ging es also zu wie in jeder anderen Firma auch. Hin und wieder guckte jemand in den Raum hinein, nickte kurz und verschwand sofort wieder. Auf einem Monitor in der Ecke konnte er die laufende Sendung verfolgen, und er bemühte sich gerade, das aktuelle Gesprächsthema zu erfassen, da steckte eine sehr aufgestylte junge Frau den Kopf ins Zimmer und forderte ihn knapp auf, ihr zu folgen. O. k. Jetzt musste er sich nur ganz souverän verhalten und alles um ihn herum genau beobachten, dann würde er schon mitbekommen, was verlangt war.

»Sind Sie Carolin?«, fragte er, als er ihr folgte, während sie in klappernden High Heels über den Flur lief.

»Ja«, bestätigte sie und blickte sich mit arrogantem Gesichtsausdruck fragend um, als ob sie eine weitere Frage erwarten würde. Als keine kam, zuckte sie mit den Schultern und schritt weiter. Die findet mich total uninteressant, dachte Mattes und versuchte das witzig zu finden. Er fand es aber ziemlich blöd. Warum behandelte sie ihn so herablassend? Die war ja gerade mal knapp über zwanzig und vermutlich eine kleine Praktikantin. Und er war der Leiter einer Redaktion! Wusste sie das nicht? Solange sie auch noch in diesem Tempo vor ihm herlief, kriegte sie nicht mal mit, wie souverän und lässig er hinter ihr herging. Jede Faser ein Chef. Ob sie ihn nicht doch zu Britt brachte? Hier kommt unser nächster Gast zum Thema »Perverse in Hundekostümen«.

An einer Tür hielt sie, drehte sie sich kurz um, sagte: »Hier rein!«, lächelte geschäftsmäßig emotionslos und ging klappernd weiter. Völlig unbeeindruckt von ihm. Hätte sie Robbie Williams ebenfalls so behandelt? Nein, den hätte sie vermutlich charmant, mit überbordender Begeisterung und echter Sorge um sein Wohlergehen bis ins Studio hineinbegleitet. Blöde Kuh. Es ging ja nicht mal um ihn privat, aber wenn er es nicht mal schaffte, die Aufmerksamkeit einer kleinen Praktikantin zu erlangen, wie wollte er dann bei einem Millionenpublikum Eindruck machen?

Er öffnete vorsichtig die Tür, und auf einmal ging alles ganz schnell. Die Regieassistentin blickte auf eine Liste, hakte etwas ab und sagte in den Raum hinein: »In vier Minuten ist er dran«, der Regisseur rief von der anderen Seite: »Ist das der Hundetyp und hat er die Zeitung dabei?«, woraufhin sie auf seine Hand blickte, in der er das Magazin hielt, und bestätigte: »Ja, alles da.« Ohne Vorwarnung bekam er von einem jungen Mädchen die Nase und die Stirn abgepudert, gleichzeitig wurde ihm ein kleines Mikrofon an den Halsausschnitt geklemmt, und eine Hand, von der er hoffte, dass sie weiblich war, griff von hinten unter sein Hemd und zog ein Kabel an seinem Rücken entlang. Irgendjemand stopfte ihm einen Sender in die hintere Hosentasche, und die Dame, die ihn vorher gepudert hatte, versuchte jetzt seine Haare zu ordnen. Durch eine Glasscheibe konnte er ins Studio blicken, in dem Saskia Hoffmann gerade lächelnd in eine Kamera sprach. Im Studio verteilt standen eine Menge von Leuten, die anscheinend alle wichtig waren. Auf einmal wurde die Studiotür geöffnet, er bekam einen leichten Schlag auf die Schulter, hörte ein geflüstertes »Los geht’s!« und wurde ins Studio gedrängt. War er jetzt schon auf Sendung? Live geschaltet auf jeden Fernseher? Dann sollte er lieber lächeln und nicht so blöd fragend gucken. Saskia Hoffmann ging ihm hastig entgegen und begrüßte ihn halblaut, was ihn vermuten ließ, dass die Szene nicht auf die Bildschirme ging. Vermutlich war Werbepause, und die Zuschauer vor den Fernsehern bekamen von den Vorzügen eines Geschirrspülmittels erzählt. Die Regieassistentin griff hektisch an seinen Ärmel und bugsierte ihn zu einem Sessel, während eine Maskenbildnerin an Saskia Hoffmanns Haaren zippelte und die neu erschaffene Lebendigkeit mit Haarspray fixierte. »Zwanzig!«, rief eine laute Stimme, die Moderatorin lief zu dem neben ihm stehenden Sessel, jemand kam, zupfte an ihren Blusenärmeln, um die Falten zu vermindern, sprang weg, und Saskia Hoffmann bekam ein strahlendes Lächeln, blickte gut gelaunt in eine der Kameras, die plötzlich ein rotes Licht über dem Objektiv hatte, und es ging los.

»Ein neues Magazin sitzt in den Startlöchern, um die Welt der Hundefans zu erobern. Es heißt ›doggies live‹, und ich habe heute den Chefredakteur Mattes Reuter zu Gast«, begrüßte ihn Saskia Hoffmann und wandte ihm ihr Gesicht zu. Eine Kamera wurde in Kopfhöhe vor ihnen vorbeigerollt, und Mattes wusste nicht, ob er zur Moderatorin oder auf die rollende Kamera blicken sollte. Gerade als er sich für die rollende Kamera entschieden hatte, ging dort das rote Licht aus und an der Kamera rechts von ihm an. Neben sich hörte er Saskia Hoffmann sagen: »Warum gerade Hunde?« Ja, warum eigentlich? Was für eine blöde Frage. Wenn es die Tennisclub-Zeitung gewesen wäre, wäre es eben die geworden. Souverän bleiben!

Mattes grinste verlegen: »Wenn es die Tennisclub-Zeitung gewesen wäre, wäre es eben die geworden.« Scheiße! So ging’s ja gar nicht.

Die Moderatorin lachte herzlich und zeigte eine Reihe perfekter Zähne. »Ich sehe schon, das Heft wird humorvoll, das ist ja auch wichtig. Haben Hundehalter Humor, Herr Reuter?«

Jetzt nichts Falsches sagen. »Ja, Hundehalter haben Humor. Und den brauchen im Park auch die Jogger.«

Wieder lachte Saskia Hoffmann. Sie war schnell zufriedenzustellen, wenn eine Kamera lief, das machte es ein wenig einfacher. Trotzdem spürte er im ganzen Körper Stress. Er musste gut rüberkommen, sonst würde das Magazin nicht verkauft werden.

»Ich habe gehört, Sie haben uns das neue ›doggies live‹ schon mitgebracht, auch wenn es erst am Montag erscheinen wird.«

Oh, das Heft! Das hatte er in dem Chaos, als er die Hand unter seinem Hemd spürte und gleichzeitig an seinen Haaren gezupft wurde, auf einem Stuhl abgelegt. Er sah sie entschuldigend an und bemerkte, dass ihr Blick groß wurde. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass die starren, gelangweilt herumstehenden Personen am Studiorand plötzlich in Bewegung kamen. Die Regieassistentin gab wild wedelnd Handzeichen, die er nicht deuten konnte, die Saskia Hoffmann aber verstand. Sie lächelte in die Kamera, allerdings bemerkte Mattes sofort, dass sie nicht mehr so natürlich fröhlich wirkte, und sagte: »Ich höre gerade, dass das Heft noch nicht da ist, aber ich hoffe, dass es gleich nachgereicht wird.« Vor ihnen wuselten aufgeschreckte Mitarbeiter herum, hinter der Scheibe sah er den Regisseur gestikulieren, und seltsamerweise fiel plötzlich alle Anspannung von ihm ab. Es war nicht seine Aufgabe, für einen reibungslosen Ablauf der Sendung zu sorgen. Die Verantwortung hatten die anderen übernommen, und wenn Saskia Hoffmann ihr Titelbild noch in die Kamera halten wollte, mussten sie sich beeilen. Er wandte sich an sie und konnte auf einmal entspannt lächeln: »Wir können uns in der Zwischenzeit ja über den Inhalt des Magazins unterhalten!« Sie wirkte aus dem Konzept gebracht und nickte verwirrt. Mattes suchte kurz nach der Kamera mit dem Rotlicht, stand auf und ging langsam darauf zu. So etwas hatte er immer schon mal machen wollen, und er dachte dabei kurz an seine Mutter, die ihm seit Jahren in den Ohren lag, dass er vor eine Kamera gehöre. Wenn sie ihn jetzt sehen könnte! Obwohl – besser nicht.

»Es geht natürlich um Hunde. Aber auch um ihre Halter. Wie schön es zusammen ist, was man miteinander erleben kann und wo es Probleme gibt.«

Er zwinkerte locker in die Kamera, und das war nicht mal gespielt, denn er fühlte sich wirklich wohl. Moderator beim ›Aktuellen Sportstudio‹, das wär wirklich kein schlechter Beruf gewesen. Lässig ging er weiter auf die Kamera zu. »Unter uns: Wenn Sie einen Hund haben, sagen Sie da nicht auch oft: ›Eigentlich ist er ganz lieb, aber …‹ Und um dieses ›Eigentlich-Aber‹ geht es uns.«

Der Kameramann, der nicht damit gerechnet hatte, dass in dieser Sendung jemand auf ihn zugehen würde, wich hektisch immer weiter nach hinten aus, und seine Kabelhilfe hatte Mühe, die verschlungen liegenden Kabel rechtzeitig aus dem Weg zu räumen. Eine andere Kabelhilfe sprang dazu und half mit. Links winkte die Assistentin weit ausholend und verzweifelt, rechts trugen die vorher arbeitslos herumstehenden Leute eilig ein kleines Tischchen und einige Stühle zur Seite, bevor der immer weiter zurückfahrende Kameramann dagegenknallen würde. Wie die auf einmal springen können, dachte Mattes und genoss die Situation. Langsam und immer mit Blick in die Kamera näherte er sich in einem weiten Halbkreis wieder seinem freien Stuhl, erwähnte die von Mina R., einer anerkannten Hunde-Expertin, geleitete »Ich hätt’ da mal ’ne Frage«-Rubrik und dass es im Magazin alles gäbe, nur keine Berichte über Hundeplätze mit Trainergebrüll. Er setzte sich hin, lächelte charmant der Moderatorin zu, die sichtlich erleichtert war, dass er wieder neben ihr saß, und sagte: »Im Magazin gibt es einen Bericht über sehr exklusives Hundezubehör. Sie haben doch auch einen Hund. Wäre das was für Sie?« Das war ihr Stichwort, und das Magazin hatte ihr inzwischen auch jemand gereicht. Saskia Hoffmann hob es hoch, und die vorbeifahrende Kamera, die jetzt wieder das Rotlicht hatte, hielt an und zoomte darauf zu. Hinten an der Wand stand die andere Kamera, und ihr rot angelaufener und nur gestisch fluchender Kameramann schien überhaupt nicht begeistert zu sein, sie jetzt wieder nach vorne rollen zu müssen. Die Kameraassistentin machte ruhige Handbewegungen von oben nach unten, die sogar Mattes verstand: Unbedingt sitzen bleiben!, hießen die. Aus der Regiekabine winkte ungeduldig der Regisseur, der die nach hinten gedrängte Kamera schnellstmöglich wieder auf ihrer alten Position haben wollte.

Mattes war gut gelaunt. War ganz schön hier. Vor allem, wenn man als Gast der Sendung machen konnte, was man wollte. Die würden ihn nicht einfach kommentarlos aus dem Bild laufen lassen. Neben ihm hielt die Moderatorin weiterhin das Magazin hoch und redete in die Kamera, und daneben hielt eine Frau ein Schild mit 1:00 hoch, was er als restliche Sendezeit für seinen Besuch deutete.

»Das ist das neue Magazin«, sagte Saskia Hoffmann gerade und schien vor Stolz fast zu platzen. Sie wirkte gerührt, und ihre Stimme hörte sich weich an, als sie sagte. »Das Foto habe ich eben auch zum ersten Mal gesehen. Ich bin überrascht, wie stimmungsvoll es geworden ist. Es ist von einem richtig berühmten Fotografen gemacht worden, der gerade aus New York kam. Wie heißt er noch mal?« Fragend wandte sie sich an Mattes.

»Pieter Plättler«, sagte der lässig und sprach den Namen amerikanisch aus. Da würden sich die Zuschauer jetzt die Finger wundgoogeln und nichts finden. Die Assistentin winkte schon wieder hektisch, und Saskia Hoffmann verabschiedete ihn mit strahlendem Gesicht und herzlichem Lächeln. Sie wandte sich an die Kamera: »Wenn Sie Fragen zum Umgang mit Ihrem Hund haben, schreiben Sie uns, wir leiten alle Anfragen an die Expertin bei ›doggies live‹ weiter.« Schnell kündigte sie einen Filmbericht über die Neueröffnung eines Stralsunder Luxushotels an, lächelte starr und wartete, bis das Rotlicht erlosch.

Sofort kam Leben in die Bude. »Drei Minuten!«, rief eine Stimme laut, die Regieassistentin eilte auf Mattes zu, um ihn aus dem Studio zu bringen, und Saskia Hoffmann rief: »Hat doch gut geklappt. Danke, dass Sie da waren. Das Titelbild ist wunderschön geworden.« Die Maskenbildnerin eilte mit gezücktem Puderpinsel auf sie zu, und von der Seite rempelte ihn der rotgesichtige Kameramann an und zischte ihm im Vorbeigehen »Arschloch!« zu. Mattes lachte auf und rief ihm gut gelaunt zu: »Das war ja mal eine Kamerafahrt!«

Der Regisseur hatte die Hemdärmel hochgekrempelt und sah verschwitzt aus.

»Machen Sie das immer so, wenn Sie in einem Studio sind?«

»Aufstehen und rumlaufen?«, fragte Mattes und nickte sofort: »Ja, in den Staaten ist das üblich, da habe ich mir das angewöhnt. Hat es Sie überfordert?«

»Nein, das nicht«, sagte der Regisseur schnell und guckte dabei hart. »In Deutschland sollten Sie das aber nur machen, wenn es angekündigt wurde. Wir haben hier unsere Ablaufpläne, die eingehalten werden müssen.«

»Bisher hatte noch kein deutscher Sender Probleme mit mir«, erklärte Mattes treuherzig und blieb damit vollkommen bei der Wahrheit. Die Kameraassistentin schob ihn schnell vor die Tür, wo Carolin schon auf ihn wartete.

Ihr Blick war nun deutlich aufgeschlossener, wenn nicht zu sagen hochinteressiert. »Fertig?«, strahlte sie ihn an. »Dann bringe ich Sie in die Garderobe zurück.« Kaum waren sie drei Schritte gegangen, strahlte sie ihn gewinnend an: »Sie sind Chefredakteur? Ich mag Hunde übrigens total gerne. Vielleicht hol ich mir bald einen.« Ihre High Heels klapperten wieder über den Linoleumboden. »Wenn Sie mal jemanden für Fotos in Ihrem Heft brauchen, ich mache das öfter. Ich kann Ihnen meine Setkarten schicken. Am besten gebe ich Ihnen mein Kärtchen gleich mit, dann können Sie anrufen, wenn Sie mich brauchen.« Sie reichte ihm eine Visitenkarte, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten haben musste, und guckte ihm tief und sehr intensiv in die Augen. Gleich bietet sie mir an, mit ihr essen zu gehen, dachte Mattes fasziniert und erschrocken zugleich. Oder mehr. Himmel, was war geschehen? Dass er Chefredakteur war, brachte sie auf einmal dazu, sich an ihn ranzuwerfen. Einmal im Fernsehen und sofort hatte er die Hammerfrauen an den Fersen. Nicht übel.

»Ich habe in der nächsten Woche zwei freie Tage, da kann ich doch einfach mal bei Ihnen vorbeikommen«, hörte er Carolin sagen. »Dann bringe ich meine Fotos mit, und wir beide können vielleicht …«, sie machte eine kunstvolle Pause, blickte ihm wieder tief in die Augen und gurrte: » … eine Kleinigkeit essen gehen.« Dabei strahlte sie ihn so intensiv an, dass er fast Mühe hatte, sich ihre vorher so arrogante Art ins Gedächtnis zu rufen. Er lächelte ihr zu. »Am besten wenden Sie sich mit allem an Pieter Plättler, der ist unser Fotograf. Allerdings ist es schwer, ihn zu erreichen, denn er ist natürlich immer unterwegs. New York, Tokio, Paris. Aber ich gebe Ihnen einen Tipp: Gehen Sie zu einem Suizeed-Konzert, da treffen Sie ihn bestimmt.« Ihre Augen blitzten, und Mattes konnte ihr Gehirn rattern sehen. Sie witterte ihre Chance. Ein Titelbild-Fotograf war für Karrieresprünge nicht schlechter als ein Chefredakteur, und Mattes sah Peter Plattler vor sich. Die Vorstellung, dass diese »Bitte-bitte-bitte-entdecke-mich-Tussi« sich schmachtend vor Pieter Plättler hockte, und dieser an nichts anderes denken konnte als an seine nächste selbst gedrehte Zigarette, ließ ihn innerlich vor Lachen erbeben.

Er holte seine Jacke aus der Garderobe und begab sich zum Ausgang. Diesmal alleine, denn er war pünktlich bis zur Sendung geleitet worden, hatte seinen Auftritt gehabt und damit war seine Aufgabe erfüllt. Noch auf dem Gang wurde er von einer aufgeregten Frau angesprochen, die gerade aus einem der Büros kam: »Wir haben schon über 200 Anrufe und E-Mails bekommen.«

»Ach ja?«, sagte Mattes zögernd. Warum sollte ein Sender keine Anrufe und E-Mails bekommen?

»In der letzten Viertelstunde, nur wegen Ihnen und dem neuen Magazin!«, stieß die Frau heftig aus, als sie merkte, dass ihn die Angaben nicht beeindruckten.

»Wegen mir?«

»Ja, wir drehen hier gleich durch! Wir sitzen schon zu viert an den Telefonen und kommen kaum hinterher.«

»Sind 200 Anrufe und E-Mails viel?«, fragte Mattes verwundert.

Sie starrte ihn ungläubig an: »Viel? Das ist unglaublich. Sie sind doch gerade erst auf Sendung gewesen. Solche Reaktionen hatten wir das letzte Mal, als Dieter Bohlen hier blöde Sprüche über Frauen abgelassen hat. Die meisten wollen wissen, wo sie das Hundemagazin bekommen können. Und vier haben über Ihre Frisur gemeckert.«

»Das werden noch mehr«, tröstete Mattes und sah ihr nach, wie sie eilig in das nächste Büro lief. Schien nicht schlecht anzulaufen. 200 Anfragen wegen des Magazins. Und das in den ersten 15 Minuten. Er konnte das alles kaum fassen. Solch eine Resonanz hatte er sich in den kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Die schienen alle begeistert von dem neuen Magazin und seiner überzeugenden Art zu sein.

Aufgekratzt fuhr er nach Hause. Das zufriedene Lächeln war nicht aus dem Gesicht zu bekommen. Er hatte mit seinem Fernsehdebüt einen Treffer gelandet und alles andere war ihm momentan völlig egal. Völlig egal – bei diesem Gedanken musste er breit grinsen, denn er dachte an einen Winterabend vor vielen Jahren, an dem sich im Haus von Tante Thea Unglaubliches abgespielt hatte. Es war in der Vorweihnachtszeit, in der sie traditionell Plätzchen backte. Tagelang war sie damit beschäftigt, verschiedene Teige zu kneten, sie auszurollen und mit kleinen Metallformen Kekse in den unterschiedlichsten Formen und Größen auszustechen. Blech für Blech wurde in den Ofen geschoben, und es roch im ganzen Haus nach Plätzchen. Aber Tante Thea backte, im Gegensatz zu den anderen Hausfrauen des Viertels, keine Plätzchen für ihre Familie, sondern für Tiere. Sie war vermutlich die legitime Erfinderin des tierischen Weihnachtsgebäckes und beglückte damit Arco, die Hunde ihrer Freundinnen, streunende Katzen, ihren Wellensittich Jokki und alle Vögel, die zur Winterfütterung auf ihren Balkon kamen. Gegen Ende ihres Backwahns konnte es passieren, dass alle gut verschließbaren Dosen und die zum Verschenken vorbereiteten Zellophantütchen voll waren und die Reste von Mehl, Eiern und Nüssen zu nachlässig ausgestochenen Keksen für Onkel Günther und die Jungen verarbeitet wurden und somit den Weg ins Wohnzimmer fanden. Es war nicht so, dass Tante Thea spezielle Rezepte hatte, die auf die Bedürfnisse der Tiere zugeschnitten waren, nein, für sie gehörten in die richtig guten Plätzchen viel Butter und vor allem viel Zucker. Und man konnte nicht behaupten, dass ihre Plätzchen von den Beschenkten mäkelig angesehen und verschmäht wurden. Was alleine Arco in den Wochen vor Weihnachten verschlang, reichte, um seinen Kalorienbedarf bis in den Mai zu decken.

Tante Gerlinde, die sich bei jedem Besuch über das ignorante Verhalten Onkel Günthers aufregte, der ihr höchstens grunzend zunickte und sich dann wieder dem Fernsehprogramm widmete, war selber ein Ausbund an Lebendigkeit. Von der wollte sie ihrem Schwager etwas abgeben. Ein wenig beschwingter auf der Couch zu sitzen könnte ihm nicht schaden, dachte sie, griff heimlich in ihren Haschvorrat, den sie bei ihren Schiffstouren nach Holland immer wieder auffüllte, denn ein kleiner Joint machte ihr lustiges Leben manchmal noch etwas bunter, und schmuggelte eine ordentliche Portion des Zeugs in Tante Theas Plätzchenteig. Sie ging davon aus, dass so kurz vor Weihnachten endlich die Familienkekse dran waren, aber Tante Thea hatte noch Platz in den Hundedosen und dachte gar nicht daran, für die menschlichen Zweibeiner zu backen. Ahnungslos stach sie kleine Sterne aus dem Teig, drückte in jeden Keks eine Haselnuss – Arcos Lieblingsvariante – und schob die Bleche in den Ofen. Ebenfalls ahnungslos fuhr Tante Gerlinde nach Hause und lachte sich ins Fäustchen. Völlig ahnungslos fraß Arco am gleichen Abend eine Handvoll sternenförmiger Nussplätzchen.

Mattes hörte von den Folgen, als Tante Thea am nächsten Morgen aufgelöst mit seiner Mutter telefonierte. Arco lag in ihrer Küche, hatte Mühe, seinen Kopf zu heben, und reagierte kaum noch. Er war vergiftet worden, vermutete Tante Thea und weinte vor Kummer. Es war ihr allerdings ein Rätsel, wo er das Gift gefressen haben könnte, und obwohl er so kraftlos herumlag, stellte er sich doch hin und wieder mühsam auf die Beine und torkelte zu seinem Wassernapf.

»Er hat noch Lebenswillen«, schluchzte Tante Thea, »aber er läuft, als könnte er seine Beine nicht mehr sortieren. Seine Nerven sind angegriffen.«

Mattes warf sich sofort auf sein Fahrrad und sprintete zu Tante Thea. Tatsächlich, Arco lag im Sterben. Wie sonst war es zu erklären, dass er beim Klingeln nicht bellend zur Türe gestürzt kam und auch sonst kein Interesse an seinem Besuch zeigte. Es war ihm alles völlig egal. »Sieh mal!«, schluchzte Tante Thea, warf Arco einen Fleischknochen vor die Schnauze, ging dann zu ihm hin und hob ihn einfach wieder auf. Es war unglaublich. Nur seine Lieblingskekse, die sternförmigen mit den Haselnüssen, fraß er noch, wenn er zwischendurch wach war. Tante Thea weinte viel und verwöhnte ihren Liebling in seinen letzten Stunden.

Zwei Tage später lebte Arco immer noch. Tante Thea hatte herausgefunden, dass sein matter Zustand an den Plätzchen lag. »Die Haselnüsse sind nicht in Ordnung. Da muss bei der Lagerung etwas schiefgegangen sein, die sind verdorben«, sagte sie.

»Seit Arco keine Nussplätzchen mehr bekommt, geht es ihm jeden Tag besser«, und sie fügte glücklich hinzu, »Er macht wieder richtig Theater, der Sauhund, wenn er einen Knochen hat.«

Tante Gerlinde bekam einen Lachanfall, als sie davon hörte, und bedauerte zutiefst, dass die restlichen Plätzchen im Müll gelandet waren, ehe sie Onkel Günther erreicht hatten. Tante Thea hielt Gerlindes Erklärung jedoch für eine ihrer typischen Übertreibungen und schwor darauf, dass die Haselnüsse verdorben gewesen waren.

Als Mattes später mit immer noch anhaltendem Triumphgefühl in seine Wohnung kam, begrüßte ihn Mina freudig. Astrid hatte sie in seine Wohnung zurückgebracht und einen Zettel auf den Tisch gelegt. »Dein Hund ist blöd!!!« Drei Ausrufezeichen, das bedeutete, dass sie extrem aufgebracht war. Astrid sprach zwar gerne mit Ausrufezeichen, verwendete sie bei schriftlichen Mitteilungen aber nur, wenn es äußerst dringend und angesichts einer katastrophennahen Situation unverzichtbar war. »Hast du ihr was kaputtgemacht?«, fragte Mattes Mina und kraulte sie liebevoll hinter den Ohren. Er lachte plötzlich: »Du hast mich heute auf der Straße erkannt und fast verraten. Deine dicke Nase ist viel besser als die von der dummen Astrid.« Er wusste genau, dass Mina nicht verstand, wovon er redete, aber wenn sie ihn so verständnisvoll ansah, konnte er einfach nicht anders. »Kluges Mädchen«, lobte er. »Du verstehst kein Wort, aber du bist trotzdem ein ganz kluges Mädchen.« Warum zum Teufel verfiel er in eine Art Babysprache mit viel zu hoher Stimme? Astrid hatte vermutlich recht. Hundehalter hatten alle einen Knall.

Als er schon im Bett lag, schreckte er plötzlich hoch. Was war, wenn Astrid die Sendung gesehen hatte? Sie guckte sonst nie um diese Zeit Fernsehen, aber wie es der Zufall wollte, hatte sie vielleicht eingeschaltet und ihn mit dem neuen Magazin herumwedeln sehen. Mein Bruder, der Chefredakteur eines Hundemagazins. Sie würde wahnsinnig werden. Aber dass sie bei seiner Rückkehr nicht wie ein kurz vor der Explosion stehender Lavaberg vor seiner Haustüre auf ihn gewartet hatte, zeigte, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Fernsehen geguckt hatte. Ansonsten hätte unter »Dein Hund ist blöd!!!« mit drei Ausrufezeichen zumindest noch »Und du auch!!!!!« mit fünf Ausrufezeichen gestanden. Bei so was war Astrid verlässlich.