Zwölf

Onsdag, 23. Februari – Lördag, 16. Mars

1. d4 Nf6 2. c4 e6 3. Nf3 d5 4. g3 dxc4 5. Bg2 a6 6. Ne5 c5 7. Na3 cxd4 8. Naxc4 Bc5 9. O-O O-O 10. Bd2 Nd5 11. Rc1 Nd7 12. Nd3 Ba7 13. Ba5 Qe7 14. Qb3 Rb8 15. Qa3!? Qxa3 16. bxa3 N7f6 17. Nce5 Re8 18. Rc2 b6 19. Bd2 Bb7 20. Rfc1 Rbd8 21. f4!? Bb8 22. a4 a5 23. Nc6 Bxc6 24. Rxc6 h5?! 25. R1c4 Ne3? 26. Bxe3 dxe3 27. Bf3 g6 28. Rxb6 Ba7 29. Rb3 Rd4 30. Rc7 Bb8 31. Rc5 Bd6 32. Rxa5 Rc8 33. Kg2 Rc2 34. a3 Ra2 35. Nb4 Bxb4 36. axb4 Nd5 37. b5 Raxa4 38. Rxa4 Rxa4 39. Bxd5 exd5 40. b6 Ra8 41. b7 Rb8 42. Kf3 d4 43. Ke4
Spiel 2, Salamander – Bubbles, 25. Februari 2010

 

Chamelea zog in Lizzys Zelle. Snorkkle traute seinen Augen nicht. «Nutte, zweiter Teil», bemerkte er. «Du bist ja soooo am Arsch.»

Chamelea schaute nicht einmal von ihrer Proust-Lektüre auf. Lizzy hatte ihr alles dagelassen, außer ihrem Tera-10. Sie hatte sogar den Vertrag für den Kabelanschluss ihres Bang-&-Olufsen-Flachbildschirms verlängert. Aber Chamelea sah nicht fern.

Hauptkommissar Bubbles kam am Morgen nach ihrer Festnahme.

«Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.»

«Spricht meine Schwester mit Bullen?»

«Nein.»

«Na also. Ich auch nicht.»

Bubbles dachte darüber nach. «Wollen Sie eine Partie Schach spielen?»

«Ich kann kein Schach.»

«Sie behaupten, das Manuskript geschrieben zu haben, das wir in Odder Arssens Besitz gefunden haben. Haben Sie Beweise dafür?»

«Frag Schwesterchen.»

Bubbles betrachtete sie einen Augenblick. «Ich konnte mich nie für Proust erwärmen.»

«Nach den ersten tausend Seiten wird es spannender.»

«Vielleicht versuch ich es irgendwann nochmal damit.» Er wandte sich zum Gehen.

«He, Bulle. Vielleicht findest du das ja zwischendurch ganz interessant.» Sie warf ihm ihre Flip-Videokamera zu.

 

Salamander zog zurück in ihr 353-Quadratmeter-Appartement in der Svartensgatan. Es war schön, wieder zu Hause zu sein, in ihrer geräumigen unmöblierten Wohnung. Sie brachte einen Stapel schimmliger Big-Bill’s-Pizzakartons in den Müll und kaufte ein Dutzend Literflaschen Cola. Das sollte für eine Woche oder so reichen. Sie rief ein Umzugsunternehmen an und bestellte einen neunachsigen Sattelschlepper, um ihren Tera-10 zurück in die Wohnung transportieren zu lassen.

Als sie den Hauptrechner hochgefahren hatte, entdeckte sie ein neues Dokument auf dem Desktop. Es kam von Chamelea. Sie hätte es Lizzy leicht per E-Mail schicken können, aber stattdessen hatte sie sich in den Tera-10 gehackt – Lizzy hatte das für absolut unmöglich gehalten. Langsam begriff sie, dass ihre Schwester vielleicht doch nicht die Pflaume war, für die sie sie gehalten hatte. Tatsächlich musste sie widerstrebend einsehen, dass es nur deshalb so leicht gewesen war, Chamelea zu finden, weil sie gefunden werden wollte; dass sie nur deshalb in den Kharma Klub gegangen war, um dort gesehen zu werden; und dass es niemals wirklich ihre Absicht gewesen war, Salamander reinzulegen, sondern dass sie sie im Gegenteil auf ihre Spur hatte locken wollen. Aus Gründen, die jetzt vermutlich gleich klarwerden würden.

Salamander öffnete die Datei.

 

Hallo, Schwesterchen. Als einer der größten Hackerstars der Welt solltest du vielleicht ein besseres Passwort als ausgerechnet Walpurgisnacht wählen, das ist immerhin unser Geburtstag. (Herzlichen Glückwunsch im Voraus zum 30.!)

 

Dabei heißt es doch immer, dass die offensichtlichsten Passwörter die sichersten sind, dachte Salamander.

 

Jedenfalls waren meine ersten Tage im Knast gar nicht so übel. Ich habe mich mit Snorkkle ein wenig angefreundet, indem ich ihm gezeigt habe, wie man Shazam aufs iPhone lädt. Und danke, dass du deine Möbel dagelassen hast. Der Crosstrainer ist super. Aber seit wann stehst du so auf Twinkies? Ich habe all die leeren Verpackungen gefunden, und dabei ist mir klargeworden, wie wenig wir übereinander wissen. Wir haben es zugelassen, dass uns die Jahre voneinander entfremdet haben. Nicht, dass wir je Busenfreundinnen gewesen wären. Ich weiß genau, dass du mich gehasst hast, weil ich Papas Liebling war und dich immer beim Bingo geschlagen habe. Und ich weiß auch, dass dir das Leben übel mitgespielt hat; ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es ist, lebendig begraben zu sein. Du hast mein volles Mitgefühl. Ehrlich.
Aber das Leben war auch für mich nicht gerade ein Ponyhof, Schwesterchen. Nachdem du Papa in Brand gesetzt hattest – ich verurteile dich nicht, sondern stelle nur die Tatsache fest –, habe ich so sehr nach dem Sinn all dessen gesucht. Ich musste schließlich begreifen, dass wir keinesfalls die glückliche Familie waren, als die ich uns immer gesehen hatte. Ich begann, die Schule zu vernachlässigen, und verlor das Interesse am Eiskunstlauf und Köttbullar-Braten. Schließlich begann ich mein Grafikdesign-Studium und hatte endlich das Gefühl, dass mein Leben wieder eine Richtung hatte. Ich bekam den Job bei UKEA und fühlte mich dort sofort zu Hause. Ich wusste, dass der UKEA-Gründer Sløber während des Krieges eine mobile SS-Vernichtungseinheit geführt hatte und sein Sohn Dagher aktiver Neonazi war. Aber das Unternehmen bot Raum für meine persönliche Entwicklung und ausgezeichnete Vergünstigungen. Und da wir – oder zumindest ich – vermuteten, dass Hitler unser Großvater war (ich weiß, dass du immer auf Stalin bestanden hast) – wer war ich, den ersten Stein zu werfen?
Während meiner Arbeit bei UKEA hörte ich von einem Angestellten namens Odder Arssen. Odder war ins UKEA-Heim gesperrt worden, nachdem er behauptet hatte, dass Hitler viele der frühen und einflussreichen Designs des Unternehmens entworfen hätte. Etwa zu dieser Zeit erfuhr ich auch, dass Dagher eine neue Partei mit dem Slogan «Sicherheit für Schwedens Ausländerfeinde» gegründet hatte. Auf einmal fand ich das Unternehmen total abstoßend, gerade weil sein Image immer so quietschsauber gewesen war. Ich reichte Klage ein und hoffte, damit die Verlogenheit dieser beschissenen Firma aufzudecken. Aber auch ich wurde für meine Bemühungen eingewiesen. (Habe übrigens gerade unseren lieben Dr. Telepathian auf TV4 Fakta gesehen, wie er versucht, seine Lebenserinnerungen zu verhökern.)
Nachdem ich meine Entlassung aus dem Heim ausgehandelt hatte, fiel ich erst mal in ein tiefes Loch. Ich hatte keine Lust mehr, Serviettenringe zu entwerfen, aber etwas anderes fiel mir nicht ein. Also begann ich Tagebuch zu schreiben und wurde Mitglied in einer Schriftstellergruppe. Und siehe da, manchmal geht der Zufall seltsame Wege: Dort traf ich Twig Arssen. Twig war ein arbeitsloser Journalist, der von literarischem Ruhm träumte. Ich erzählte ihm, dass ich von seinem Großvater Odder gehört hatte, und es stellte sich heraus, dass Twig Odders Geschichte über Hitler und die Gründung von UKEA kannte. Da ich ja nun selbst ein Interesse daran hatte herauszufinden, welcher Art die Beziehung unserer Familie zu AH war, schlug ich vor, dass Twig und ich gemeinsam ein Buch über unsere Familien schreiben sollten. Wir waren unglaublich begeistert. Wir waren so sicher, dass unser Buch ein Bestseller werden und die wichtigsten Literaturpreise gewinnen würde. Und dass es UKEA vernichten würde.
Wir zogen nach Berlin, um zu recherchieren. Aber wir hatten wenig Erfolg mit unseren Bemühungen. Twig fand heraus, dass Hitler nur sehr wenige Möbelstücke entworfen hatte. Die paar Stücke, die auf sein Konto gingen, waren schwer, imposant und mit Schnitzereien von scheußlichen Adlern überladen. In den späten Vierzigern hatte Odder diese Entwürfe Sløber Ukea vorgelegt, der sie sehr lobte, weil sie aus Hitlers Feder stammten – aber für sein Unternehmen lehnte er sie ab, weil sie zu dessen leichterer Ästhetik nicht so recht passen wollten.
Meine Nachforschungen in unserer Familiengeschichte führten ebenfalls zu nichts. In Wehrmachtsarchiven fand ich, dass unser Großvater – nicht Adolf Hitler war, sondern ein junger Offizier, der während der Besetzung Schlesiens verwundet wurde. Er heiratete eine Sowjetsoldatin, unsere Großmutter, während seines Aufenthalts auf der Krankenstation, als er seinen Tripper auskurierte. Nach dem Krieg zogen sie nach Moskau, wo unser Vater aufwuchs. Jede glorreiche (oder weniger glorreiche) Verbindung zu AH hatte sich Papa nur für unsere Gutenachtgeschichten ausgedacht.
Und so löste sich unser Projekt, ein Buch über Hitler, UKEA und die beiden bösen Großväter zu schreiben, in nichts auf!
Twig und ich waren sehr niedergeschlagen – besonders Twig, denn er hatte all seine literarischen Hoffnungen in dieses Buch gesetzt. Wir zogen zurück nach Stockholm und bliesen Trübsal. Um ihn aus seinem Tief zu holen, schlug ich vor, es mit einem anderen Buch zu versuchen, vielleicht mit einem weiteren Krimi. Ich sagte mir: «Twig ist einer von diesen talentierten Autoren, die noch nichts veröffentlicht haben und nur auf ihren Durchbruch warten.» Dann zeigte er mir seine früheren Manuskripte. Ich konnte es kaum fassen, so schlecht waren sie. Kein Gefühl für Sprache, kein Verständnis für die Charaktere. Völlig außerstande, sich auf ein Setting zu konzentrieren, sprang er von Schauplatz zu Schauplatz, von englischen Internaten zum Vatikan, von Ägypten in die Kanalisation von New York.
«Jetzt schreiben wir mal über etwas, wovon wir wirklich Ahnung haben», sagte ich zu ihm. «Unser Krimi spielt in Stockholm.» Ich half ihm, Handlung und Figuren zu entwickeln. Bald übernahm ich auch das Scheiben. Es fiel mir ganz leicht, sobald ich eine klare Vorstellung von meiner Hauptperson vor Augen hatte (rate mal, an wen ich sie angelehnt habe, Schwesterchen?). Und mir gefiel das Tippen auf der alten Schreibmaschine, die Twig auf eBay ersteigert hatte. Ich glaubte, Twig wäre froh über meine Hilfe, aber kennen schwedische Männer überhaupt so etwas wie Dankbarkeit? Um die zu erleben, muss man wohl nach Dänemark ziehen. Twig benahm sich abweisend, zog sich immer mehr zurück, und dann wurde er zu meinem Erstaunen auch noch brutal. Er betrank sich, verfluchte meine Schreiberei, nannte mich Schlampe und Schmierfink. Und eines Nachts schlug er mich dann.
Eine Woche später waren wir zu einem Abendessen bei seinem Freund Jerker Ekkrot eingeladen, dem Experten für Baltische Störe. Ich freute mich sehr darauf, ihn zu treffen. Schon als kleines Mädchen (das überrascht dich jetzt sicher) liebte ich den Baltischen Stör mehr als jeden anderen schwedischen Fisch, und die Störstunden in der Schule machten mir immer am meisten Spaß. (Daher auch das Tattoo.) Aber sobald ich Ekkrot die Hand gab, wusste ich, dass er ein Scheißkerl war. Ich lobte sein Buch, aber er lachte nur zynisch, als ob er das alles schon tausendmal gehört hätte. Während des Abendessens ignorierten Twig und er mich völlig und betranken sich sinnlos. Dann schleppten sie mich hinunter in Ekkrots Keller. Wie so viele schwedische Männer hatte auch er ihn in eine Folterkammer verwandelt. Sie taten mir Unaussprechliches an. Dinge, von denen ich nie geglaubt hätte, dass man sie mit Peitschen, heißem Wachs und Hamstern anstellen kann.
Bin ich geflohen? Nein. Warum? Ich glaube, ich muss gerade dir die komplexen Gründe nicht erklären, die eine Frau dazu bringen, in Unterwerfung zu verharren. Wir haben beide mit angesehen, was unsere Mutter ertragen musste, obwohl nur du es wirklich verstanden hast. Aber ich bin zu Twigs Vater gegangen. Ich flehte ihn an, mit seinem Sohn zu reden. Er nannte ihn einen Versager, wies aber ansonsten jede Verantwortung von sich.
In der Zwischenzeit hatte Twig langsam begriffen, dass mein Buch ziemlich gut war (obwohl er das natürlich niemals in meiner Gegenwart zugegeben hätte). Er sperrte mich jeden Tag mit meiner Schreibmaschine in ein Zimmer und ließ mich erst wieder hinaus, wenn ich zweitausend Wörter geschrieben hatte. Das ging monatelang so weiter. Als ich endlich fertig war, nahm er das Manuskript an sich, strich meinen Namen auf der Titelseite durch und warf mich aus seiner Wohnung. Als ich ein paar Stunden später wiederkam, musste ich feststellen, dass er die Schlösser ausgetauscht hatte. Ich war ratlos. Also ging ich nach Berlin zurück, wohnte dort bei Freunden und begann wieder mit meinem Kampfsporttraining. Eines Tages las ich seinen Blog, und das bewog mich dazu, nach Stockholm zurückzukehren.

 

«Ich bin mit dem Manuskript fertig», sagte Blomberg. Er gab Nix Arssen das Bündel Papier zurück. «Danke, dass Sie es mich haben lesen lassen.»

«Gern geschehen. Das ist doch das Mindeste, was ich tun konnte, zumal Sie es ja entdeckt haben.»

Sie saßen in Angstrom’s Literaturklub, der sehr beliebt war bei den Lektoren vom Norstedts Förlag.

«Also nichts mit UKEA und Möbeldesign und Hitler», sagte Blomberg. «Das war alles ein Ablenkungsmanöver.»

«Ja, sozusagen. Twig muss seine Meinung geändert haben.»

«Das ist doch wirklich ein Ding. Wir sind alle von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Mit schwerwiegenden Folgen, in Dagher Ukeas Fall. Sie haben sicher gehört, dass er des Mordes an Reinhard Niemand angeklagt ist.»

«Soweit ich weiß, hatte er Niemand auch mit dem Mord an verschiedenen anderen Leuten beauftragt. Sie eingeschlossen.»

«Na, ich nehme an, ich muss mir wegen Dagher Ukea erst einmal keine Sorgen mehr machen. Er könnte sechs Jahre bekommen.»

«Wenn nicht sogar sieben. Die Gerichte gehen in den letzten Jahren härter mit Mördern um.»

Blomberg nahm einen Schluck aus seinem Trog mit schwärzlichem Eyjafjallajökull-Gebräu.

«Ich muss zugeben, dass ich keinen Roman erwartet hatte.»

«Dichtung war schon immer Twigs Steckenpferd.»

«Ja. Ich habe seine früheren Manuskripte gelesen. Aber dieses hier ist ganz anders.»

«Das nehme ich an.»

«Diesmal ist es ein Krimi, der in Stockholm spielt.»

«Schreib über das, was du kennst», sagte Arssen und lächelte dünn. Er hatte sein Perrier nicht angerührt.

«Ich war jedenfalls ziemlich beeindruckt. Dieses Buch ist hervorragend.»

«Das sehe ich auch so.»

«Viel konzisere Sätze. Konturiertere, rundere Charaktere. Viel besserer Handlungsbogen.»

«Offenbar hat mein Sohn mit der Zeit dazugelernt.»

«Bemerkenswert viel, würde ich sagen. Er zeichnet allerdings kein sehr schmeichelhaftes Bild von unserer Stadt. Ich wusste gar nicht, dass sich Twig so sehr für Gewalt gegen Frauen interessiert.»

«Nun, er war natürlich immer ein sensibler Mensch.»

«Interessant ist auch, dass er seine Hauptfigur an Lizzy Salamander anlehnt. Ohne dass er sie jemals getroffen hätte.»

Arssen schob die Perrier-Flasche ein paar Zentimeter zur Seite. «Fröken Salamander war im Laufe der Jahre oft in den Schlagzeilen, Herr Blomberg.»

«All die Details aus ihrer Kindheit. Hat er die auch aus der Presse?»

«Was wollen Sie damit andeuten, Herr Blomberg? Nicht, dass das von Belang für mich wäre. Sie haben das Manuskript gefunden. Ich habe Sie mehr als angemessen dafür entlohnt. Jetzt können Sie sich wieder Ihrem Blog widmen.»

«Da liegen wir ja ganz auf einer Linie, Herr Arssen. Gerade hatte ich darüber nachgedacht, in meinem nächsten Blogeintrag über Ghostwriter zu schreiben.»

Arssens Augen wurden zu Schlitzen. «Unglücklicherweise ist Chamelea Salamander kein Geist, sondern nur allzu real. Allzu real und allzu gestört.»

«Sie schenken ihrer Geschichte keinen Glauben?»

«Erst behauptet sie, dass Hitler ihr Großvater war, als Nächstes, dass sie die Autorin von Twigs Buch ist. Wo hört sie auf zu lügen? Ich darf Sie daran erinnern, dass sie bereits in einer geschlossenen Anstalt war.»

«Außerdem war sie Twigs Freundin. Drei Jahre lang.»

«Es waren wohl eher zwei.»

«Und dennoch haben Sie das in unseren Gesprächen niemals erwähnt.»

«Ein zufälliges Versäumnis.»

«Diesen Ausdruck benutzen Sie oft: ‹ein zufälliges Versäumnis›.»

Nix Arssen tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab, obwohl er nichts gegessen oder getrunken hatte. «Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Herr Blomberg. Sie müssen mich entschuldigen.»

«Ich dachte, Sie wären längst im Ruhestand.»

«Ich bin heute Nachmittag mit einigen Literaturagenten und Verlegern verabredet, die sich für das Buch meines Sohnes interessieren.»

 

Lizzy untersuchte die verschiedenen Geheimkonten und illegalen Firmen. Wie die meisten Wirtschaftsbetrüger war auch Dagher Ukea ein totaler Trottel, was den Schutz seiner eigenen Daten anging. Aber der Mann hatte Chuzpe, das konnte man nicht leugnen. Nach ihren Schätzungen hatte er fast 3,2 Milliarden Kronen von UKEA auf seine verschiedenen Überseekonten transferiert. Sie konnte es nicht begreifen, wie er es geschafft hatte, nicht erwischt zu werden. Hatte UKEA denn keine Rechnungsprüfer? Sie müssen eine amerikanische Firma angeheuert haben.

Nun war es an der Zeit, das Vermögen wieder umzuschichten. Ukea würde es nicht mehr brauchen; er würde sechs, vielleicht auch sieben Jahre im Gefängnis bleiben. Im Prinzip hätte man alles dem Unternehmen zurücküberweisen müssen, aber Prinzipien hatten nur beschränkt Gültigkeit, wenn man es mit multinationalen Ungetümen zu tun hatte. Sie überwies drei Milliarden an die Pensionskasse des Unternehmens. Damit blieben ihr 200 Millionen Kronen als Provision.

Mit einem Software-Programm, das sie selbst geschrieben hatte, eröffnete Salamander vier geheime Konten unter verschiedenen Decknamen. Jedes Konto war einer eigenen Mantelgesellschaft zugeordnet. Die Rechnungen für jedes dieser Unternehmen waren durch Kreditkarten gedeckt, die miteinander verbunden waren. Einzahlungen auf die Konten wurden automatisch in kleinere Beträge gesplittet und durch andere Konten geschleust, die Salamander vor ein paar Jahren eröffnet hatte, um einen anderen Psychopathen des globalen Kapitalmarktes um ein paar Milliarden zu erleichtern. Die gesplitteten Einzahlungen wurden wiederum nach dem Zufallsprinzip geteilt und zwischen Salamanders verschiedenen Scheinfirmen in Lichtgeschwindigkeit hin und her überwiesen, bis die Transaktionen nicht mehr nachvollziehbar waren. Salamander lächelte über ihre eigene Raffinesse, sandte aber gleichzeitig ein paar Dankgebete an die Finanzgesetzgebungen von Belize, Zypern, Malta und Panama.

Als Nächstes musste sie das Diebesgut ausgeben. Häuser in Grönland waren auffallend günstig. Sie wusste, dass Bubbles immer schon von einem gemütlichen arktischen Bungalow geträumt hatte. Warum sie ihm einen kaufen wollte, wusste sie selbst nicht so genau. War es ein Geschenk dafür, dass er ihr beigebracht hatte, einem Mann beinahe über den Weg zu trauen? Oder war es nur ein Mittel zu dem Zweck, ihn wieder aus ihrem Leben zu manövrieren? Salamander schüttelte diese Gedanken ab. Selbstreflexion war nie ihre Stärke gewesen.

Sie fand ein tolles Anwesen, das für 2,6 Millionen Euro zum Verkauf stand. Das war erschwinglich, aber brauchte Bubbles wirklich 24 Millionen Hektar? Vielleicht war das doch ein wenig … übertrieben.

Dann fand sie ein hübsches Haus am Rand von Ittoqqortoormiit. Zwei Schlafzimmer, zwei Bäder, eine Bibliothek, eine renovierte Küche und ein wunderschöner Blick auf die Arktische See. Und es hatte ein eigenes Hochseekajak sowie eine Herde Moschusochsen.

Salamander überwies das Geld von einem ihrer Scheinkonten direkt an die GrønlandsBANKEN. Dann richtete sie es so ein, dass sie das Haus von ihrem Alter ego erwarb, damit ihr Name ins Grundbuch eingetragen wurde. Und dann überschrieb sie das Haus auf Bubbles.

Ukeas Villa auf den Kaimaninseln wäre ein hübsches Geschenk für ihre Schwester – etwas, worauf sie sich freuen konnte, wenn sie aus dem Gefängnis kam. Was Ukeas Dassault-Falcon-50EX-Firmenjet betraf: Den übereignete sie KFB. Nicht, dass sie im Ernst annahm, dass Blomberg ihn benutzen würde. Sie wollte nur sein Gesicht sehen.

Kurz überlegte sie, Ukeas Ferrari Enzo dem Bullenschwein zu schenken, verwarf die Idee dann aber wieder. Der kam ja kaum mit seinem iPhone zurecht.

Für sich selbst bestimmte sie Ukeas Flottille ausgemusterter Kriegsschiffe. Salamander hatte sich schon immer einen eigenen Zerstörer gewünscht.

Sie fuhr ihren Tera-10 herunter. Es war ein ausgesprochen erfolgreicher Morgen gewesen. Aber sie war noch nicht ganz fertig.

 

Nach einem weiteren langen Tag voller Meetings mit Agenten und Verlegern kehrte Nix Arssen in sein 110-Quadratmeter-Appartement in Vasastaden zurück. Eigentlich war er überrascht von dem riesigen Interesse, das das Manuskript hervorrief. Agenten umwarben ihn mit Graved-Lachs-Lunches, und Verleger sprachen von pan-skandinavischen Lesereisen, internationalen Rechten und sogar von der Möglichkeit einer Kooperation mit Brio. Es war alles ein bisschen anstrengend.

Er schaltete das Licht im Wohnzimmer an und erschrak. Lizzy Salamander saß in seinem dänischen Stressless-Sessel.

«Ich sehe, dass die kriminelle Energie in der Familie liegt», sagte er. «Ich nehme an, das hier nennt man Einbruch.»

Salamander knabberte an einem Twinkie und ließ die Verpackung auf den Boden fallen.

So eine schlechte Kinderstube!

«Was kann ich für Sie tun, Fröken Salamander? Ich schlage vor, dass Sie mir antworten, denn sonst rufe ich die Polizei.»

«Meine Schwester hat das Buch geschrieben. Und du weißt das.»

«Ihre Schwester hat meinen Sohn geköpft.»

«Dein Sohn hat meine Schwester mit ein paar Freunden vergewaltigt. Und ihren geistigen Besitz gestohlen.»

«Dann ziehen Sie doch vor Gericht, Fröken Salamander», sagte Arssen. «Es mag Sie überraschen zu hören, aber unser Staat hat tatsächlich eine Rechtsordnung. Es ist übrigens dieselbe Rechtsordnung, die Ihre Schwester gerade des Doppelmordes bezichtigt.»

Salamander schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht an Gerichte. Ich glaube an Selbsthilfe.»

«Was bedeutet?»

«Dass ich dir die Haut von deinem beschissenen Gesicht abziehe, wenn du mir nicht sofort das Manuskript meiner Schwester gibst.» Sie fuchtelte mit Chameleas Katana-Ninja-Schwert. Chamelea hatte es ihr zur sicheren Verwahrung übergeben.

«Sie sind genauso krank wie Ihre Schwester, die Mörderin.»

«Geschlechtsspezifische Substantive sind mit dem Volvo 240 ausgestorben, du Arschloch. Und Mörder oder nicht, sie ist eine verdammt unglaubliche Schriftstellerin. Und jetzt gib mir das Manuskript.»

Aus einer Schublade zog Arssen ein Bündel Papier und reichte es Salamander. «Da. In seiner Gesamtheit. Und nun verlassen Sie umgehend mein Appartement.»

Salamander blätterte seelenruhig durch das Manuskript und erhob sich dann.

Arssen sah zu, wie sie die Eingangstür öffnete und ins Treppenhaus trat. «Du kranke Schlampe», sagte er. «Du glaubst doch nicht im Ernst, ich hätte vergessen, das Manuskript zu kopieren? Wir sehen uns vor Gericht.»

 

«Ich kann das Geschenk nicht annehmen», sagte Kommissar Bubbles verlegen. Er betrachtete die Urkunde mit dem Siegel der GrønlandsBANKEN.

«Dann nenn es einfach nicht Geschenk», sagte Salamander. «Nenn es einfach ein … irgendwas

Sie saßen bei Brunö’s, einem neuen Kaffeklub, der von den Immobilienmaklern aus Sigtuna frequentiert wurde.

«Das muss dich doch ein Vermögen gekostet haben.»

«Ich habe vor langer Zeit Apple-Aktien gekauft.»

Bubbles betrachtete sie eingehend. «Du verstehst sicher, dass ich das auf keinen Fall annehmen kann, wenn das Geld für den Kauf aus illegalen Quellen stammt.»

«Ich schwöre beim Grab meines Vaters, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist.»

Bubbles betastete die Urkunde. «Das ist wirklich außerordentlich großzügig von dir.»

«Ich hab dich auch für einen Grönländisch-für-Anfänger-Kurs angemeldet. Es ist immerhin eine der wenigen Sprachen, deren morphosyntaktische Anordnung ergativ ist.»

Bubbles lächelte. «Bist du sicher, dass du nicht mit mir kommen willst?»

«Ein Land ohne Menschen – das ist verführerisch. Aber nein.»

«Was machst du dann?»

Sie zuckte die Achseln. «Rentiere züchten, nehme ich an.»

«Ernsthaft?»

«Nein. Chamelea und ich denken darüber nach, gemeinsam ein Buch zu schreiben. Nicht, dass ich auch nur für fünf Pfennig schreiben könnte. Wir haben auch darüber gesprochen, vielleicht eine Schule für Ninja-Mädchen zu eröffnen.»

«In knapp zwei Jahren kommt sie aus dem Gefängnis.»

«Blombergs Schwester ist eine gute Anwältin.»

«Und Chamelea hat jetzt auch noch einen riesigen Vorschuss für das Manuskript bekommen.»

«Den sie mit diesem Scheißkerl Arssen teilen muss.»

«Das war eine salomonische Entscheidung.»

«Es war eine beschissene Entscheidung. Twig hat kein einziges Wort geschrieben.»

«Sie konnte es nicht beweisen.»

«Wir werden sehen, was das Berufungsgericht sagt.»

Salamander bestand darauf, die Rechnung zu bezahlen. Sie verließen das Café und schlenderten den Bürgersteig entlang. Gestern war die Temperatur zum ersten Mal seit August über den Gefrierpunkt gestiegen. Heute waren es wieder minus 15 Grad. Dennoch, die Tage wurden länger, und es war nur noch eine Frage von Monaten, bis der Schnee schmelzen und die Sonne durch die dicke Wolkendecke brechen würde.

Bubbles betrachtete Salamanders Gesicht. «Du lässt dein Haar rot herauswachsen.»

Sie warf ihm einen mordlustigen Blick zu. «Sag das nicht. Denk das nicht mal.»

«Ich wollte doch nur sagen, dass es hübsch aussieht. Damit siehst du mehr aus wie … du.»

Salamander senkte den Blick und scharrte mit den Füßen. Sie trug schwarze knöchelhohe Converse-Chucks. Nicht alles hatte sich verändert.

«Ich hab auch ein kleines Geschenk für dich», sagte Bubbles. «Zu deinem Dreißigsten. Ein bisschen verspätet.»

Er überreichte ihr eine kleine Schachtel, die in Geschenkpapier mit Rentier-Muster gewickelt war. Salamander riss das Papier ab und fand darin ein Reiseschachspiel.

«iPhones und iPads haben die Reiseschachspiel-Industrie an den Rand des Ruins gebracht», erklärte Bubbles. «Aber ich fand dieses hier sehr hübsch. Du kannst es mit nach Ittoqqortoormiit bringen, wenn du mich jemals besuchen solltest.»

«Danke.» Salamander lächelte schüchtern, verwirrt und ein bisschen schief.

«Das ist das erste Geschenk ohne Zünder, das ich je bekommen habe.»

Zum Abschied umarmten sie sich ungeschickt, stießen fast mit den Köpfen gegeneinander und küssten sich dann hastig auf den Mund.

«Auf Wiedersehen, Lizzy.»

«Auf Wiedersehen, Bulle.»

Bubbles sah ihr nach, wie sie davonging, die Hände in die Taschen ihres Kapuzenpullis vergraben. Sie hatte gerade ein Dutzend schnelle Schritte gemacht, als er ihr hinterherrief: «Hey, Fröken. 5199.»

«Teilt sich durch die Summe der dritten Potenz der ersten 5199 Primzahlen.» Salamander wandte sich nicht um.