Elf

Tisdag, 15. Februari – Tisdag, 22. Februari

Im Jahr 961 verkleidete sich eine kühne Schar schwedischer Jungfrauen als Männer und gründete das Königinnenreich Gandalfa, eine Gynaikokratie, in der Frigga die Üppige herrschte. Der brutale Wikingerkönig Harald Zahnlos bekam bald Wind von der Erhebung der Jungfrauen. Mit zehntausend sexuell ausgehungerten Kriegern im Gefolge griff er Gandalfa an, schlachtete seine Bürgerinnen ab und breitete schließlich den Mantel des Schweigens über die Ereignisse.
Als Frigga herrschte (Dokudrama im History Channel)

 

Blomberg und Bubbles traten in Lizzys Zelle. Sie beendete gerade ihre Morgengymnastik: eine Stunde Core-Muskeltraining, gefolgt von jeweils neunzig Minuten Navy-SEAL-Commando-Workout mit Kniebeugen mit Ball, Oberschenkelbeugen, Hocksprüngen, Kastenspringen, seitlichen Kicks, Liegestützen, Schulterblatt-Turbo-Klimmzügen und umgekehrten Trizeps-Rückkicks. Zum Abkühlen machte sie dreißig Minuten Kenpo-Kampfsportübungen.

Die Haare hatte sie in einen Pferdeschwanz zusammengebunden. Seit sie verhaftet worden war, hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, ihre Haare zu färben, daher sah man jetzt deutlich den roten Ansatz. Bubbles musste unwillkürlich an Pippi Langstrumpf denken, aber er wusste, dass es besser war, den Mund zu halten. Die Fäden seiner Schulterwunde waren erst gestern gezogen worden.

«Hallo, Lizzy.»

Salamander nickte kaum merklich. «Hallo, Kommissar. Hallo, KFB.»

Bubbles wusste, dass Salamander Blomberg gern «Kalle» nannte. Aber woher kam das «F»? Ich dachte immer, sein zweiter Vorname sei Solomon.

Bubbles räusperte sich. «Lizzy, Mikael und ich haben unsere Rechercheergebnisse abgeglichen, und wir würden dir gern ein paar Fragen stellen. Wenn du nichts dagegen hast.»

Der Kommissar bemerkte, dass sich Salamander in Blombergs Gegenwart unbehaglich fühlte. Sie wich seinem Blick aus und stach mit dem Übungsbajonett weiter auf das Gesicht der Puppe mit den Buchstaben KFB ein.

«Wir wissen, dass deine Schwester Arssen umgebracht hat. Wir glauben, dass der Mord etwas mit einem Manuskript zu tun hatte, an dem Arssen arbeitete.»

«Über UKEA und den Führer

Bubbles fiel die Kinnlade herunter. Woher konnte Salamander das wissen? Er hatte sein Gespräch mit Blomberg extra weder auf dem Computer noch auf dem iPhone aufgenommen. Nicht mal eine Zusammenfassung hatte er davon getippt, aus lauter Angst, dass das Dokument, egal wie sicher verschlüsselt es sein mochte, in ihre Hände geraten könnte. Sie hatten es sogar vermieden, Blombergs Großhirn damit zu belasten, für den Fall, dass Salamander es inzwischen gelernt hatte, sich in sein Gehirn zu hacken. Und dennoch wusste sie alles.

«Was kannst du uns über die Geschichte deiner Familie erzählen?»

«Du meinst, ob ich glaube, dass Adolf Hitler mein Großvater war?»

Wieder war ihnen Salamander eine Nasenlänge voraus.

«Jedes Detail über die Vergangenheit deiner Familie könnte hilfreich sein, Lizzy. Wir wissen, dass die Sache nicht … leicht für dich ist.»

«Mein Vater» – es war das erste Mal, dass Bubbles und Blomberg hörten, wie sie das Wort in Bezug auf Kalashnikov benutzte – «hat selten über seinen Vater gesprochen. Aber hin und wieder hat er eine Bemerkung fallenlassen, meistens ziemlich vage. Ich erinnere mich, dass er einmal sagte, wie schwierig es für ihn sei, stolz auf seine eigenen Leistungen als Auftragskiller zu sein. Immerhin war sein Vater der größte Massenmörder in der bisherigen Geschichte. Vater sagte, dass seine Arbeit ihm im Vergleich dazu so belanglos erschien.»

Bubbles und Blomberg wechselten einen Blick. Keiner von ihnen hatte erwartet, dass Salamander sich so öffnen würde.

«Sprich bitte weiter.»

«Von Zeit zu Zeit hat sich Vater furchtbar betrunken und in Selbstmitleid gewälzt. Ich erinnere mich, wie er einmal sagte, dass sein Vater sich in den Mund geschossen und befohlen hätte, seine Leiche zu verbrennen – aus Enttäuschung über seinen Sohn. ‹Wenn ich nicht so ein Versager wäre, wäre mein Vater heute noch am Leben!›

Ich erinnere mich genau, dass meine Mutter ihm sagte, wie lächerlich das sei. Dass Opa – so hat Mutter den Vater meines Vaters immer genannt – sich umgebracht hat, um der Gefangennahme durch 20 Millionen Soldaten zu entgehen, die die Militärmacht der gesamten zivilisierten Welt darstellten. Dass es nichts damit zu tun hatte, dass er enttäuscht von seinem Sohn war. Aber mein Vater wollte das nicht gelten lassen.»

«Haben deine Eltern Hitler jemals namentlich genannt?»

«Nein, daran würde ich mich erinnern. Chamelea und ich haben sogar oft darüber gestritten. Sie war überzeugt davon, dass Opa Hitler war, und ich war sicher, dass er Stalin sein musste. Ich war so … naiv.»

«Wieso naiv? Immerhin ist dein Vater in der Sowjetunion aufgewachsen und hat für den KGB gearbeitet.»

«Das ist wahr. Ich war ja damals erst fünf Jahre alt, daher ergab es für mich keinen Sinn, dass Hitlers Sohn sowjetischer Agent werden konnte. Aber später habe ich mir die Geschichte genau angeschaut, warum, weiß ich auch nicht. Die Sache hat mich immer runtergezogen. Hitler oder Stalin – beides klang schlimm.»

«Wann wurde dein Vater denn geboren?»

«1935. Er war 56, als Chamelea und ich auf die Welt kamen. Aber noch ziemlich rüstig.»

«Von der Abfolge der Ereignisse her kann es also stimmen. Soweit ich mich erinnere, hat kein Historiker je beweisen können, dass Hitler überhaupt Kinder hatte, obwohl im Laufe der Jahre einige Vaterschaftsklagen aufkamen.»

«Deshalb habe ich mich mit meinen Recherchen auf die Mutter meines Vaters konzentriert. Sie hieß Herta Gebärmutter.»

«Gebärmutter. Das klingt irgendwie bekannt. War das nicht die Frau, die die Göttin teutonischer Schönheit in den frühen Leni-Riefenstahl-Filmen verkörperte?»

«Genau! Sie war eine Schönheit, und viele führende Nazis haben ihr den Hof gemacht. Als sie 1935 niederkam, brodelte die SS-Gerüchteküche. Goebbels schrieb in sein Tagebuch: «Der reizende kleine Junge hat einen grimmigen Blick, schwarze Haare mit einem strengen Seitenscheitel und einen Leberfleck auf der Oberlippe, der ganz klar wie ein kleiner Schnurrbart aussieht.» Und dann verschwand Herta, um erst 1936 in Moskau wieder aufzutauchen.»

«Sie war eine Spionin.»

«Offenbar hatte sie die ganze Zeit für den KGB gearbeitet. Hitlers Kind im Kreml zu haben wurde allgemein als erstaunlicher Coup angesehen, insbesondere da er als Musterbürger der Sowjetunion aufgezogen werden konnte. Leider wurde Vater nur zum Musterpsychopathen. Ohne jedes Selbstbewusstsein.»

Bubbles hatte Salamanders Erzählung mit Erstaunen zugehört. Blomberg sah ebenso verblüfft aus, nicht nur wegen der Neuigkeiten, sondern auch wegen Salamanders Offenheit. Zum ersten Mal hörte er sie zusammenhängende Sätze sagen, die keine Drohungen waren. Aber jetzt wirkte sie erschöpft und niedergeschlagen von der Tortur des Erzählens. «Tolle Familie, was?», sagte sie.

Bubbles streichelte zärtlich ihre Schultern.

Keine gute Idee, dachte Blomberg.

«Lass das bitte», sagte Salamander.

«Also, was denkst du?», fragte Blomberg. «Glaubst du, dass die Geschichte wahr ist, nach allem, was passiert ist?»

«Ich weiß verdammt nochmal gar nicht mehr, was ich denken soll», sagte Salamander leise.

Bubbles schob ihr ein Twinkie zu. Sie nahm es.

«Wir glauben außerdem, dass deine Zwillingsschwester vermutlich mit deinem Halbbruder Reinhard Niemand zusammenarbeitet. Und dass die RentierMorde mit der Suche nach Arssens Manuskript zusammenhängen. Was sagst du dazu?»

Salamander zuckte die Schultern.

«Na komm, Lizzy. Du hast uns bis hierher geholfen. Jetzt nur noch ein paar letzte Fragen. Es bringt doch nichts, sich hinter dieser ‹Krieg’s doch verdammt nochmal selbst raus, Kalle Fucking Blomberg›-Haltung zu verschanzen.»

Bubbles war überrascht, Blomberg so mit Salamander reden zu hören. Immerhin wusste er jetzt, wofür das «F» stand. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie ihm dafür die Nase zertrümmern würde. Stattdessen seufzte sie nur. «Chamelea und Reinhard Niemand? Das kann ich mir nicht vorstellen.»

«Warum nicht?»

«Die Niemands haben uns einmal zu Weihnachten besucht. Chamelea und ich müssen damals acht gewesen sein. Sie waren so riesig und ungeschlacht und bluteten ständig alles voll. Ich erinnere mich, dass Reinhard Chameleas hölzernen Brio-Spielzeugschlitten kaputt gemacht hat. Sie schrie und schrie und verpetzte Reinhard. Mein Vater war wütend und hat Reinhard zur Strafe während des Weihnachtsessens draußen im Schneesturm sitzen lassen. Am nächsten Morgen hat Reinhard versucht, Chamelea am Frühstückstisch zu erwürgen.»

«Aber wenn Chamelea und Niemand nicht zusammenarbeiten, für wen arbeitet Niemand dann?», fragte Blomberg.

Er beantwortete sich seine Frage gleich selbst. «Ukea.»

 

Genau in diesem Moment betrat Wachtmeister Snorkkle die Zelle. «Zwei weitere RentierMorde, Chef.»

«Was können Sie mir über die Opfer sagen?»

«Das erste ist ein ausgewachsenes Weibchen mit großem Vorbau.» Snorkkle warf einen herablassenden Blick auf Salamanders Brüste; sie zeigte ihm den Stinkefinger. «Das zweite: ein ausgewachsenes Männchen mit einem weißen Fleck auf der Brust.»

«Und wo wurden sie ermordet?»

«Das erste Opfer mitten in Rättvik. Das zweite im Fulu-Gebirge.»

«Wann?»

«Nach den Angaben von Svenssen am Institut für Rentier-Pathologie sind die Morde fast genau zur selben Zeit passiert. Gestern um die Mittagszeit.»

«Aber Rättvik ist fast zwei Autostunden von den Fulus entfernt. Wenn es keinen Stau gibt.»

«Das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit, Chef. Das Weibchen in Rättvik ist erwürgt worden, aber das Männchen im Fulu-Gebirge nicht. Es wurde geköpft.»

«Wurden sie beide ausgeweidet?»

«Ja, Chef.»

«Sonst noch was?»

«Am Tatort in Rättvik wurde ein Stück von einem Zeigefinger gefunden.»

«Danke, Wachtmeister.»

Snorkkle wandte sich an Salamander. «Ich hab da ein Problem mit meiner Pflanzen-gegen-Zombies-App …»

«Bring’s heute Nachmittag vorbei, Bullenschwein.»

«Super! Danke.»

Sobald der Wachtmeister die Zelle verlassen hatte, wechselten Bubbles, Blomberg und Salamander Blicke.

«Jetzt bringen Niemand und Chamelea schon beide Rentiere um», sagte Blomberg. «Bist du sicher, dass sie nicht zusammenarbeiten?»

«Ich würde an deiner Stelle mein Leben drauf verwetten», sagte Salamander.

Blomberg fand die Formulierung ein wenig beunruhigend.

«Wenn Niemand und Chamelea nach Twigs Manuskript suchen», wandte Bubbles ein, «warum verschwenden sie dann die ganze Zeit damit, Rentiere zu ermorden?»

«Vielleicht sollte ich noch einmal mit Twigs Vater sprechen», sagte Blomberg.

 

Blomberg traf sich mit Nix Arssen im KaffeKultur, einer neuen Espresso-Bar in Skeppsholmen, in der sich die schicken Örnsköldsviker Medienleute mit Koffein versorgten. Arssen schien in den letzten Wochen gealtert zu sein. Seine Nasenspitze war ganz schwarz geworden, ein sicheres Zeichen für Erfrierungen. Der Winter war wirklich lang gewesen.

«Wie geht die Suche nach Chamelea Salamander und nach dem Manuskript meines Sohnes voran?» Arssen klang müde, als ob er nicht viel erwartete.

«Wir machen Fortschritte.»

«Wir?»

«Ich und mein Bandwurm.»

Arssen lachte nicht über Blombergs Scherz.

«Aber ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen», fuhr Blomberg fort. «Hat sich Twig jemals für Rentiere interessiert?»

Arssen warf Blomberg einen misstrauischen Blick zu. «Was wollen Sie denn damit andeuten?»

«Gar nichts. Aber es könnte wichtig sein.»

«Wir alle wissen, dass Twig so seine Schwierigkeiten mit Frauen hatte. Aber mit Rentieren? Nein. Nie.»

«Hat er sich vielleicht in seiner Kindheit außergewöhnlich stark für Rentiere interessiert?»

«Nicht mehr als der durchschnittliche schwedische Junge.»

«Sie haben neulich gesagt, dass Twig alles andere als der durchschnittliche schwedische Junge war.»

«Stimmt. Aber in Bezug auf Rentiere war Twig wirklich ziemlich normal. Er hat Reitstunden in der Schule genommen, genau wie jeder andere, und er saß recht gut im Sattel, obwohl er nicht gern sprang.»

«Sie haben gesagt, dass Twig vor dem letzten Manuskript ein paar unveröffentlichte Krimis geschrieben hat.»

«Ja, mindestens drei. Drei … erfolglose Versuche.»

«Haben Sie eine Idee, wo sie sich befinden könnten?»

«Natürlich, sie sind bei mir zu Hause. Ich wollte sie eigentlich zum Feuermachen benutzen, bin aber nie dazu gekommen.»

«Darf ich mal einen Blick darauf werfen?»

«Natürlich, aber warum?»

«Kennen Sie zufällig Nicolas Cage, den amerikanischen Schauspieler?»

«Ja. Ich kann mich noch lebhaft an seine Rolle in Mondsüchtig erinnern, die berührende Darstellung eines Italo-Amerikaners.»

«Nun, einige von Cages neueren Filmen, einschließlich des Kassenhits Das Vermächtnis des geheimen Buches, legen nahe, dass Schriftsteller oft geheime Codes in ihre Werke einbauen. Vielleicht können Twigs frühere Arbeiten einen Hinweis darauf geben, wo er sein letztes Manuskript versteckt hat.»

Nix Arssen senkte traurig den Blick. «Cages jüngste Filme sind wenig wertvoll, fürchte ich. Der typische Fall einer einst vielversprechenden Karriere, die durch eine Serie entwürdigender Rollen aus dem Gleis geraten ist. Um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, dass Sie da ziemlich im Trüben fischen.»

«Vielleicht. Aber einen Versuch ist es wert. Man weiß nie.»

 

«Hast du das Manuskript gefunden?»

«Noch nicht, Meister.»

«Wie viele Finger, Reinhard?»

«Eins, zwei, drei, vier, fünf … Fünf und ein halber, Meister.»

Dagher Ukea lutschte an einem golfballgroßen Klumpen Crystal Meth. Er schaltete den Lautsprecher aus und sprach leise in den Hörer.

«Hör zu, Reinhard. Ich will dich persönlich treffen. Ein bisschen plaudern unter vier Augen.»

«Jawohl, Meister. Ich komme zu Ihrem Büro sofort.»

«Nein! Nein, Reinhard. Du musst nicht den ganzen Weg hierherfahren. Lass uns draußen vor der Stadt treffen. Ich kann ein bisschen frische Luft gut gebrauchen, und du hast dir eine Pause verdient nach all der RentierWürgerei. Ich kenne da diesen netten ruhigen Ort, den UKEA früher als Massengrab genutzt hat. Dort sind wir ungestört. Wir können da ganz privat miteinander sprechen. Vielleicht können wir sogar einen Spaziergang machen. Lass uns da in einer Stunde treffen, dann haben wir noch ein bisschen Tageslicht, okay?»

«Jawohl, Meister. Die Trolle heute kommen nicht vor vier Uhr fünfzig heraus.»

«Großartig. Wir sehen uns gleich.»

 

Blomberg ging mit Arssens drei Manuskripten zurück in Salamanders Zelle. Kommissar Bubbles, Salamander und er nahmen sich je ein Manuskript vor.

«Scheiße, ist das lang», sagte Lizzy. Sie blätterte zum Ende – 557 Seiten, in Cambria, zwölf Punkt. Seit Vilfred, komm nach Hause in der dritten Klasse hatte sie keinen Roman mehr gelesen. Sie wusste nicht mal, ob sie es überhaupt noch konnte. Relativistische Raum-Kosmologie oder heterotische E-Stringtheorie war das eine – aber ein unveröffentlichter Roman?

«Vielleicht solltet ihr in dieser Sache lieber nicht auf mich zählen», sagte sie.

«Du musst ja nicht den Inhalt lesen», sagte Blomberg. «Du suchst einfach nur nach Mustern, Codes, Verschlüsselungen. Das ist doch genau dein Ding.»

«Okay. Aber dafür brauche ich eine Menge Twinkies.»

Blomberg sog präkolumbianischen Espresso aus einem Trinkrucksack, Bubbles schlürfte Pfefferminztee. Sie lasen schweigend.

Alle paar Minuten schaute Salamander nach neuen Nachrichten auf ihrem iPhone und machte ein paar leichte Kickbox-Übungen.

Nach ungefähr einer Stunde erwischte Blomberg sie beim Spielen.

«Na komm, Lizzy. Konzentrier dich.»

«Fick dich, Kalle. Ich hasse es, diesen Scheiß lesen zu müssen. Ich habe eine Lernschwäche. Kommt von meiner schweren Kindheit. Versuch du mal, mit einem Schuss in den Kopf zurechtzukommen.»

«Versuch du mal lieber, dein iPhone auszuschalten.»

«Schalt du doch dein Scheiß-iPhone aus.»

«Hab ich schon.»

Salamander riss ungeduldig eine neue Packung Erdbeer-Twinkies auf. «Diese beschissene Plastikverpackung macht mich noch ganz verrückt.»

«So viel Zucker ist gar nicht gut», bemerkte Blomberg.

«Hab ich ihr auch schon gesagt», mischte sich Bubbles ein.

«Warum kümmert ihr Arschkriecher euch nicht um eure eigenen Angelegenheiten? Habt ihr nichts zu tun?» Erschrocken stellte sie fest, dass sie schon doppelt so viel gelesen hatten wie sie. Wie schaffen sie es bloß so schnell? Bestimmt lesen sie nur quer.

Sie nahm heimlich ihren Zungenstecker heraus und rammte ihn sich in die Handfläche. Das sollte mir helfen, mich zu konzentrieren.

«Lizzy, deine Hand blutet.»

«Kümmer dich gefälligst um deinen eigenen Scheiß.»

Sie lasen den ganzen Tag. Zum Abendbrot bestellten sie Pizza bei Big Bill’s.

«Ist Salami mit extra Käse okay für euch, Jungs?», fragte Salamander.

«Ich esse kein Schweinefleisch», wandte Bubbles ein.

«Könnten wir vielleicht auch eine halbe mit Brataal nehmen?», fragte Blomberg.

Schließlich einigten sie sich auf zwei Pizzas: eine mit extra Käse, die andere halb mit Salami und halb mit Brataal – und auf ein paar Liter Thorkills Malzbier.

Blomberg und Bubbles waren zuerst mit der Lektüre fertig. Sie schauten sich zusammen ein paar Folgen CSI Norrbottens Iän auf Salamanders 50-Zoll-Bang-&-Olufsen-Flatscreen an. Den Ton hatten sie ausgeschaltet, um Salamander nicht zu stören. Kurz vor Mitternacht hatte auch sie ihren Teil durchgelesen.

«Also, was haben wir?», fragte Bubbles.

«Fünfzehnhundert Seiten Dreck?», schlug Salamander vor.

«Einer nach dem anderen fasst jetzt mal zusammen, was er gelesen hat», sagte der Kommissar.

Blomberg begann. «Wo soll ich anfangen? Das Manuskript ist total chaotisch. Eine von diesen typisch britischen Internat-Geschichten. Die Hauptperson ist Waise und wohnt bei seiner Tante und seinem Onkel, die ihn schäbig behandeln und ihn in einem Schrank schlafen lassen. Dann bekommt er ein Stipendium für dieses supervornehme Internat und wird ein echter Held. Aber es ist kein gewöhnliches Internat, sondern eine Schule für junge Zauberer, und damit meine ich nicht hochbegabte Kinder. Es stellt sich heraus, dass der Junge magische Fähigkeiten hat.»

Bubbles und Salamander stöhnten.

«Ja, ja, ich weiß. Total unglaubwürdig. Es wird aber noch schlimmer. Der Junge spielt Fußball auf einem Besenstiel und lernt, wie man Leute verhext und Zaubertränke braut. Das geht so Hunderte von Seiten lang. Komischerweise hat Twig offenbar wirklich geglaubt, dass sich dieser Müll verkaufen würde. Auf der ersten Seite hat er notiert, wofür er all die Millionen aus dem Verkaufserlös ausgeben will.»

«Armer Kerl.»

«Irgendwas über Rentiere?», fragte Salamander.

«Nichts. Aber sonst kommt so ziemlich jedes andere Tier unter der Sonne vor. Es gibt mehrere Eulen, eine Ratte, die sich in einen Zauberer verwandelt, einen Werwolf, einen dreiköpfigen Hund, ein fliegendes Ungeheuer, das sich als Kreuzung zwischen einem Greif und einer Stute herausstellt. Aber kein einziges Rentier.»

«Irgendein anderer Hinweis vielleicht?»

«Ich glaube nicht. Der Junge hat ein Tattoo in Form eines Blitzes auf der Stirn, das hat mich ein bisschen an eine SS-Rune erinnert. Erst dachte ich, der Junge würde im Verlauf der Geschichte Neonazi werden, aber nein, das Zeichen ist nur eine Narbe, die er sich bei einem Unfall als Kind zugezogen hat.»

«Sonst noch was?»

«Ein finsterer Zauberer, der die Welt zerstören will, aber der wirkt eher wie Pol Pot oder Saddam Hussein als wie Hitler. Das war’s eigentlich auch schon.»

«Das Manuskript, das ich gelesen habe, ist noch schlimmer, wenn das überhaupt möglich ist», meldete sich Bubbles zu Wort. «Es geht um einen amerikanischen Professor für Symbolik an der Universität von Harvard …»

«Hat Harvard überhaupt einen Lehrstuhl für Symbolik?», fragte Blomberg.

«Klingt ziemlich lächerlich, oder? Aber vielleicht hat der Professor ja seine Ausbildung im englischen Internat für Zauberer genossen.»

Sie lachten.

«Auf jeden Fall wird dieser weltberühmte Harvard-Professor für Symbolik gebeten, den Mord an einem Louvre-Kurator aufzuklären. Dessen Leiche wurde nackt und auf den Boden genagelt gefunden, in der Haltung des vitruvianischen Menschen.»

«Das fängt ja sehr glaubwürdig an», sagte Blomberg.

«Ich habe diese Zeichnung von Leonardo da Vinci immer gemocht», sagte Salamander. «Mein Vater hat mir mal ein Poster davon mitgebracht, als er in Italien auf Dienstreise war, um einen NATO-General zu ermorden. Es hing in meinem Kinderzimmer an der Wand.»

«Hat Bill Gates nicht das Original gekauft?»

«Das war der Codex Leicester», verbesserte Salamander ihn. «Der vitruvianische Mensch ist in Venedig.»

Bubbles fuhr fort: «Das Manuskript ist voller lächerlicher Codes und Verschlüsselungen, alle unfassbar primitiv. Und es gibt ein geheimes Schweizer Bankschließfach mit den Ziffern 1 1 2 3 5 8 13 21.»

Salamander lachte verächtlich, aber Blomberg verstand nicht, was so lustig daran sein sollte.

«Die Fibonacci-Folge», erklärte sie. «Ein Code für Dreijährige. Ein Code für Nicolas-Cage-Filme.»

Merkwürdig, dass dieser Name schon wieder fällt, dachte Blomberg. Er war immer noch verwirrt. Mathe war nie seine Stärke gewesen.

«Erkläre ich später», sagte Salamander.

«Es gibt da eine Menge Zeug über den Vatikan», fuhr Bubbles fort, «und über jesuitische Geheimorden, den Heiligen Gral und Jesus. Aber nichts über Hitler und Rentiere. Und es geht Hunderte von Seiten immer so weiter.»

«Und der Stil?»

«Hölzern. Die Personen sind ziemlich platt dargestellt, einfach nur Ansammlungen von Ticks und Sonderbarkeiten. Überhaupt keine glaubwürdige Psychologie oder Motivation.»

«Klingt ja wirklich schlimm», sagte Blomberg. «Schon damals auf der Journalistenschule fanden alle, dass Twig überhaupt kein Talent zum Schreiben hat, aber ich wusste nicht, wie grauenvoll er wirklich ist. Das ist ja kaum zu glauben.»

«Das Merkwürdige ist, dass er auch hier offenbar dachte, der Roman würde sich verkaufen. Er hat auf die erste Seite gekritzelt: Mit dem Vorschuss wird eine Villa auf Mallorca bezahlt

«Vielleicht hat Chamelea ihm einen Gefallen damit getan, ihn zu köpfen.»

«Okay, Lizzy. Nun zu deinem Manuskript.»

«Also, auch das hier ist das reine Chaos. Es geht um … Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll …»

Mit gerunzelter Stirn blätterte Salamander nervös durch ihre schlampig hingekritzelten Notizen. Bubbles und Blomberg sahen sich überrascht an. Sie waren es gewöhnt, sie immer und überall aggressiv und überlegen auftreten zu sehen.

«Warum fängst du nicht einfach damit an, uns die Hauptperson zu schildern?»

«Aber das ist es ja. Es gibt so verdammt viele verschiedene Personen, und sie haben alle total lächerliche Namen. Und sie suchen alle nach dieser Frau, die Five heißt.»

«Five?»

«Ja, und ich weiß noch nicht mal, ob es Five überhaupt gibt. Sie scheint sich von Kapitel zu Kapitel zu verändern.»

«Ist sie eine Zauberin?»

«Weiß ich nicht. Die Geschichte schwenkt dauernd hin und her. Erst jagen diese Marine-Typen Alligatoren in der Kanalisation von New York, und dann ist man plötzlich im alten Ägypten. Ein totales Durcheinander.»

Blomberg und Bubbles wechselten noch einen Blick. «Hey, ihr könnt diesen Scheißhaufen ja selbst durcharbeiten, wenn ihr mir nicht glaubt.»

«Irgendwelche Rentiere?»

«Nicht, dass mir welche aufgefallen wären. Nur diese Alligatoren in der Kanalisation.»

«Und was bleibt uns jetzt?»

«Nichts.»

«Und wenn wir einfach die ersten Buchstaben von jedem Kapitel hintereinander aufschreiben?», schlug Bubbles vor. «Vielleicht ergibt das ja einen Hinweis auf Rentiere oder auf das verlorene Manuskript.»

«Schon versucht», sagte Salamander. «Ich hab KICHERFABRIKSCHWEDISCHBRINGTMICHZUMLACHEN. Nicht gerade vielversprechend.»

«Hast du einen DES versucht?»

«Data Encryption Standard, ein Verschlüsselungsalgorithmus», erklärte Salamander, an Blomberg gewandt. «Na klar. Nichts.»

«Vielleicht hat er eine Feistel-Funktion genommen.»

«Schon gecheckt. Nein.»

«Ein symmetrisches Kryptosystem?»

«Negativ.»

«Den Skipjack-Chiffrieralgorithmus?»

«Nein, Che-hef.»

«Aber irgendwas muss doch da drinstecken.»

Sie kauten ratlos auf dem kalten Pizza-Rand herum. Blomberg pickte den Brataal von einem übriggebliebenen Stück und aß ihn. Salamander machte ein paar Schattenbox-Übungen.

«Hast du nicht gesagt, dass er einen Blog geschrieben hat?», fragte sie und versetzte einer imaginären Stirn einen tödlichen Schlag.

«Sein Vater hat gesagt, dass den niemand gelesen hat, nicht einmal Twig.»

«Na ja, ich hab da diesen Nicolas-Cage-Film gesehen, in dem die Hauptfigur eine geheime Botschaft in einem Blog versteckt. Einen Versuch ist es wert.»

 

Das Mädchen parkte seinen Saab 9 - 3 FWD an einem kleinen Bestand von Birken am hinteren Ende des Feldes. Sie hatte auf ihrer dreistündigen Fahrt zweimal anhalten müssen, einmal, um die Kupplung zu reparieren, und ein zweites Mal, um die Motoraufhängung zu richten. Es war ein Kinderspiel gewesen, dieses abartige Monster aufzuspüren. Der Trottel hatte sein Palm Treo Pro auf seinen eigenen Namen registrieren lassen. Sie hatte sich nur noch in sein Smartphone hacken müssen und konnte dann sein GPS nutzen, um ihm zu folgen. Das hätte selbst ihre saudumme Zwillingsschwester geschafft, die sich für den allertollsten Hackerstar überhaupt hielt. Tja, willkommen in der Realität, Kleine. Eigentlich hatte der Riese ihr die Sache so leichtgemacht, dass sie zuerst eine Falle vermutet hatte, aber dann hatte sie erkannt, dass er einfach nur ein hoffnungsloser Depp war. Und ein komischer Kauz. Er bewegte sich nur tagsüber und schien nachts nirgendwo hinzugehen. Und der wollte Auftragskiller sein? Soweit sie es beurteilen konnte, hatte er noch nie jemanden umgelegt. Nur einen Haufen beschissener Rentiere.

So ein Pech. Und trotzdem musste er sterben. Er hätte eben kein Kopfgeld für ihre Ermordung annehmen sollen. Und er hätte niemals ihren Brio-Holzschlitten kaputt machen dürfen. Sorry, du Gorilla.

Sie lag auf der gefrorenen Erde und spähte durch ihr Leica-Geovid-15 × 56-HD-BRF-Fernglas mit Laser-Entfernungsmesser. Da stand er in demselben merkwürdigen Schaffellmantel, den sein Zwillingsbruder immer getragen hatte. Unglaublich, dass sie und diese Missgeburt dieselben Gene in sich trugen. Vater war nur ungefähr eins achtzig groß. Ihre Mutter muss eine verdammte Amazone gewesen sein. Diese Ostdeutschen züchten ihre Frauen wirklich GROSS.

Er trug weder Hut noch Handschuhe, obwohl um die 35 Grad minus herrschten. Er hatte nicht einmal seinen Mantel zugeknöpft. Der Junge wird sich erkälten, wenn er nicht aufpasst.

Sie hatte das Fernglas dem Chef einer Hubschrauber-Spezialeinheit der schwedischen Marine geklaut. Üble Optik. Sie schaute sich die Finger des Riesen näher an. Armes dämliches Arschloch. Pass mal besser auf deine Griffel auf, wenn du noch jemals ein Messer benutzen willst.

Sie tätschelte liebevoll ihr Thaitsuki-Nihonto-Katana-Schwert aus japanischem Carbonstahl. Vielleicht würde sie einen Daumen als Souvenir mitnehmen.

Ein paar Minuten später hielt ein uraltes blaues Mercedes-770-K-Cabrio neben dem Riesen. Heraus stieg Dagher Ukea. Wow. Das Arschloch fährt noch nicht einmal ein schwedisches Auto. Na, mach dich bereit zu sterben. Zwei für den Preis von einem.

Ukea und der Riese schüttelten sich die Hände. Dann verschwanden sie in einem verlassenen Lagerhaus am anderen Ende des Feldes. Distanz: 437 Meter, sagte der Laser-Entfernungsmesser. Ein Kinderspiel, wenn man ein Bravo-51-Scharfschützengewehr mit Zielfernrohr hatte. Aber sie zog es vor, aus der Nähe zu operieren.

Sie wickelte sich ein Palästinensertuch um den Kopf, wie es die Mudschaheddin taten. Dann zog sie sich bis auf ihr Ninja-Outfit aus. Sie trug jetzt die Ninja-Slippers mit Gummisohle, die sie bei H&M erstanden hatte, und lief geräuschlos über das gefrorene Feld. Weit entfernt sah sie ein Rentier. Um dich kümmere ich mich später.

Aus dem Lagerhaus kam der Knall einer kleinen Explosion. Instinktiv warf sie sich auf den Boden. Sie wartete, bis ihr Puls sich beruhigt hatte, sprang dann auf und rannte über das Feld. Sie musste halb um das Lagerhaus herumgehen, bis sie eine offene Tür fand. Aber sobald sie hineingeschlüpft war, hörte sie, wie sich ein Auto entfernte. Verdammt, da fährt Ukea. Muss ihn wohl ein andermal köpfen.

Sie fand den Riesen in einem riesigen Raum mit zerbrochenen Fenstern, in dem hohe Palettenstapel vor sich hin rotteten. Dicke Möbelbolzen ragten zu beiden Seiten aus seinem Hals, das Blut strömte pulsierend heraus. Sie trat näher heran und sah, dass der Riese mit Füßen und Händen auf den Boden genagelt war, sodass sein Körper einen Tisch bildete.

Sie stand über ihm und schaute prüfend auf ihn herunter.

«Lebst du noch?»

«Ja.»

«Wer hat das getan?»

«Der Meister.»

«Wer ist der Meister?»

«Herr Ukea.»

«Wart mal eine Sekunde. Noch nicht sterben.»

Sie zog eine Flip-MinoHD-Videokamera aus ihrer Ninja-Gürteltasche.

«Würdest du das bitte nochmal wiederholen», sagte sie. «Wer hat dich umgebracht?»

«Herr Ukea.»

«Die Ukea-Familie ist ziemlich groß. Welcher Herr Ukea?»

«Dagher Ukea.»

«Wie hat er dich umgebracht?»

«Er hat mir genagelt.»

«Mit einer Pistole?»

«Mit einer Nagelpistole. Er lachen. Nun Reinhard bin an seinem Ende, Reinhard bin Beistelltisch.»

Krankes Arschloch, dieser Dagher.

«Warum hat dich Ukea umgebracht?»

«Nicht froh mit Reinhards Arbeit.»

«Welche Arbeit?»

«Mordsarbeit.»

«Wen solltest du denn ermorden?»

«Viele Person. Dich. Andere Halbschwester Lizzy. Fetter Journalist Blomquvist.»

«–berg.»

«Ja.»

«Warum wollte Ukea, dass du all diese Leute umbringst?»

«Sucht nach Buch. Von schlecht unveröffentlicht Autor. Den du köpfen.»

«Wart mal eine Sekunde. Lass uns den letzten Teil nochmal filmen.»

Das Mädchen machte ein paar Aufnahmen vom Lagerhaus für die Atmo und packte ihre Flip dann zurück in die Tasche.

«Hast du Schmerzen?»

«Was ist Schmerzen?»

Stimmt. Das hatte ich vergessen.

«Halbschwester Chamelea?»

«Ja, Reinhard.»

«Bitte lass Reinhard nicht für die Trolle.»

«Die Trolle?»

«Ja. Trolle kommen in Nacht.»

«Ist gut, Reinhard. Ich bleibe bei dir, das verspreche ich dir.» Sie zog ein Buch aus ihrer Gürteltasche. «Ich hab das neueste von Henning Mankell. Soll ich dir daraus vorlesen?»

«Reinhard nicht mag Mankell. Aber ja, lesen. Bitte.»

Sie hatte erst ein paar Seiten vorgelesen, als sie bemerkte, dass keine kleinen Dampfwölkchen mehr vom Mund des Riesen aufstiegen. Er war tot.

 

Salamander fuhr ihren Tera-10-Großrechner hoch und verursachte damit einen partiellen Stromausfall in der nahegelegenen Gemeinde Tyresö. Nach ein paar Sekunden Suche war klar, dass Twigs Blog aus dem Web gelöscht und durch ein Stub-Netzwerk ersetzt worden war, das nirgends hinführte. Keine große Überraschung. Das bedeutete nur, dass irgendjemand verhindern wollte, dass andere den Blog lasen. Natürlich hatte das an sich schon eine Bedeutung. Warum sollte man sich die Mühe machen, einen Blog zu entfernen, den ohnehin niemand las? Allein der Versuch legte nahe, dass hier etwas wert gewesen war, gelöscht zu werden.

Natürlich konnte einem der Idiot nur leidtun, der glaubte, dass es ausreichte, den Blog selbst und seine Spuren aus den Suchmaschinen zu löschen. Irgendwo da draußen im Cyberspace schwirrte er noch herum. Irgendein Loser in Island, irgendein Arschloch in Estland, ein Freak in Finnland hatte den Blog ganz sicher gelesen, ihn heruntergeladen und an einen Freund geschickt. Man musste ihn nur finden.

Sie brauchte sieben Minuten. Länger, als ich dachte. Ein Genetik-Student an der Linné-Universität hatte eine Webseite, die dem Zeitgenössischen Schwedischen Dadaismus gewidmet war. Unter der Überschrift «Wörterschmiede im Web» hatte der Student geschrieben:

 

Hier ist eine kleine Sammlung neuerer Gedichte, schräge Einzeiler, die so klingen, als hätte ein Haiku ein Techtelmechtel mit Dada gehabt. Ich habe sie in dem Blog eines Schriftstellers gefunden, der unter dem Pseudonym Angst Wiser schreibt. Ihr werdet sie lieben! Viel Spaß beim Lesen!

 

Das Pseudonym erregte sofort Salamanders Aufmerksamkeit. Angst Wiser? Twig Arssen, also bitte. Nicht schon wieder Anagramme.

Es waren vier kryptische Einzeiler unter einem kryptischen Titel:

 

VIER DADAISTISCHE GEDICHTE

(EINEM AHNUNGSLOSEN TROTTEL GEWIDMET)

 

  1. HEISERE STIRN DA
  2. BADE-MOTIV RUM
  3. LECKS STEIF WEG
  4. NETT FARBLICHE IDEE

Salamander schüttelte verächtlich den Kopf. Dada-Poesie? Glaub ich nie im Leben. Warum konnten die Leute, die mit Geheimcodes herumspielten, ihr nicht einmal eine echte Herausforderung bieten?

Sie schickte eine SMS an Bubbles und Blomberg.

 

<hab die rentier-sache kapiert. das hätte sogar KFB herausgekriegt.>

 

«Ein psychopathischer Auftragskiller weniger, um den wir uns kümmern müssen.» Wachtmeister Snorkkle überbrachte Bubbles die Neuigkeiten. «Heute Morgen haben wir einen anonymen Hinweis bekommen, doch mal in einem verlassenen Lagerhaus nördlich der Stadt nachzusehen. Und raten Sie mal, wen wir da gefunden haben?»

«Wen?»

«Na los, raten Sie schon.»

«Wachtmeister, ich bin gerade gar nicht in der Stimmung.»

Irgendwie ist er furchtbar empfindlich geworden, seit er sich mit Lizzy eingelassen hat.

«Reinhard Niemand, Chef. Er ist auf den Boden genagelt worden. In der Form eines Beistelltisches.»

«Was Neues für den UKEA-Frühlingskatalog. Irgendwelche Verdächtigen?»

«Die üblichen. Chamelea Salamander. Dagher Ukea. Andere fallen mir nicht ein.»

«Beweise?»

«Wir haben den neuesten Roman von Henning Mankell bei der Leiche gefunden. Keine Fingerabdrücke.»

«Ein Mörder mit literarischen Vorlieben.»

Snorkkle räusperte sich. «Bei allem Respekt, Chef, aber ich würde Henning Mankell nicht gerade als Literatur bezeichnen.»

 

«Er hat das Manuskript in einem Rentier mit großem Vorbau und weißen Brustflecken versteckt, das in der Nähe der berühmten alten Fichte in Dalarna lebt.»

«Du machst doch Witze», sagte Blomberg.

«Schön wär’s.»

Salamander zeigte Blomberg und Bubbles die einfachen Anagramme.

 

  1. HEISERE STIRN DA = Sieh das Rentier
  2. BADE-MOTIV RUM = Mit dem Vorbau
  3. LECKS STEIF WEG = Weiss gefleckt
  4. NETT FARBLICHE IDEE = Bei der alten Fichte

«Und für wen war die Nachricht?»

«Ich würde sagen, für Jerker Ekkrot. Er hat die Blogs geschrieben, kurz bevor Ekkrot ermordet wurde.»

«Vielleicht ist das der Grund für Ekkrots Ermordung. Um ihn daran zu hindern, das Manuskript zu finden.»

«Möglich», sagte Bubbles. «Obwohl mir immer noch nicht klar ist, warum Chamelea all die Leute umbringt, wenn sie doch nur einen Beweis dafür haben will, dass sie mit Hitler verwandt ist. Ich verstehe, aus welchen Gründen Ukea Twig tot sehen wollte. Und wenn Ekkrot die Anweisung hatte, alles zu veröffentlichen, sollte Twig etwas zustoßen, dann verstehe ich auch, warum er auf Ukeas Todesliste stand. Aber Chamelea? Damit hat sie Ukea doch einen Gefallen getan. Warum hat sie Twig nicht einfach alles veröffentlichen lassen?»

Salamander zuckte die Schultern. «Schwesterchen ist einfach total durchgeknallt.»

«Aber ist sie so durchgeknallt, dass sie ohne Grund töten würde?»

«Wartet doch mal einen Moment», warf Blomberg ein. «Wie genau versteckt man eigentlich ein Manuskript in einem Rentier? Bin ich hier der Einzige, der das ein wenig merkwürdig findet?»

Salamander schlug ein Lehrbuch für Topologie auf. Sie mochte die ganze Haarspalterei nicht. Mathe ergab Sinn, Menschen nicht.

«Sonderbar», sagte Bubbles. «Aber nicht beispiellos. In den frühen 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben die Letten Atomgeheimnisse in einem Elch versteckt.»

«Du willst damit sagen, irgend so ein Typ hat den Elch narkotisiert, einen Schnitt gemacht, die Atomgeheimnisse in seinen Bauch gepflanzt und ihn wieder zugenäht?»

«In der baltischen Spionagegeschichte wimmelt es von solchen Begebenheiten.»

«Und was ist dann schiefgelaufen? Ihr meint also, dass Niemand den Blog entschlüsselt hat? Ich bezweifle, dass Niemand das Wort Rentier überhaupt buchstabierten konnte, selbst wenn man ihm alle Konsonanten gezeigt hätte.»

«Nicht Niemand. Wahrscheinlich Ukea. Der hat dann Niemand angeheuert.»

«Ich dachte, wir hätten gerade festgestellt, dass Ukea Niemand umgebracht hat.»

«Vielleicht gefiel es ihm nicht, dass Niemand die Angewohnheit hatte, seine Finger am Tatort zu hinterlassen. Vielleicht ist er in Panik geraten aus Angst, dass die Spur zu ihm zurück führen würde.»

«Warum wurden die Rentiere eigentlich erwürgt? Warum hat man sie nicht einfach erschossen und aufgeschlitzt?»

«Niemand wollte uns offenbar auf eine falsche Fährte locken. Er wollte, dass wir glauben, wir hätten es mit einem Rentier-Ripper zu tun. Damit hat er ja auch vollen Erfolg gehabt, muss ich zugeben.»

«Und wie passt Chamelea in die Sache hinein?»

«Sie muss den Blog ebenfalls gefunden haben. Entweder das, oder sie hat plötzlich die Logik hinter Niemands Morden begriffen.»

«Und was machen wir jetzt? Sollen wir jedes Rentier aufschlitzen, das zufällig bei einem alten Baum lebt?»

«Nicht bei irgendeinem Baum. Die Dalarna-Fichte ist der älteste Baum der Welt.»

«Darum geht es doch nicht. Die ganze Sache ist doch lächerlich. Es muss Tausende Rentiere mit großem Vorbau und weißen Flecken auf der Brust geben, die in der Nähe dieser Fichte leben.»

«Vielleicht. Ich frag mal bei Svenssen im Rentier-Institut nach.»

«Vergiss Svenssen. Die Sache ist absolut sinnlos. Hat Twig erwartet, dass Ekkrot alle Rentiere abschlachtet, die auf seine Beschreibung passen, bis er endlich das richtige findet?»

«Kommt mir ziemlich ineffizient vor.»

«Kommt mir völlig idiotisch vor. Irgendwas stimmt hier nicht.»

 

Das Mädchen lächelte den Türsteher des Kharma Klubs an, einer Disco, die in der Hip-Hop-Szene der Valhallavägen-Straße sehr beliebt war. Sie hatte ihr Haar erst neulich wieder blond gefärbt, ihre natürliche Haarfarbe. Das Schwarz war echt schwierig rauszukriegen gewesen. Sie trug einen signalroten Minirock. Selbst auf Stilettos war sie kaum 1 Meter 50 groß. Sie tanzte zu DJSving und balancierte dabei eine Flasche Aquavit auf dem Kopf.

Ein besoffener Anwalt aus Östermalm tanzte sich an sie heran. «Will die kleine Nutte vielleicht meinen mulkku lutschen?»

Das Mädchen langte zu dem Typen herüber, riss ihm das Ohr ab und schrie in die übriggebliebene Öffnung: «Ich glaube, heute lieber nicht.» Das Ohr warf sie auf den Boden.

Das führte zu einer gewissen Unruhe.

Ein hartes Biker-Girl aus Kungälv kam näher. «Du hast Eier. Komm, wir tanzen.»

Was sie auch taten.

«Geiles Tattoo», sagte das Biker-Mädchen. «Ist das ein Sibirischer Stör?»

«Ein Baltischer.»

«Cool. Wo hast du diese irre Drehbewegung mit der AquavitFlasche auf dem Kopf gelernt?»

«Jahrelanges Training als Auftragskillerin.»

«Ha! Kommst du mit zu mir?»

«Vielleicht ein andermal.»

Eigentlich hätte sie lieber zur Musik der neuen House-Bands aus Linköping getanzt, aber beim Hip-Hop konnte sie gut nachdenken. Es hatte ihr nichts ausgemacht, Ekkrot und Arssen zu köpfen. Die kranken Arschlöcher hatten es verdient. Aber ein zufällig dahergelaufenes Rentier umzubringen war etwas ganz anderes. Das machte überhaupt keinen Spaß. Und vor allem ergab es keinen Sinn. Wer versteckte ein Manuskript in einem unschuldigen Säugetier? Irgendetwas musste sie übersehen haben. Ukea hatte offenbar keine Ahnung. Und wen gab es da noch? Twigs Vater, Nix Arssen, wusste so gut wie nichts. Warum hätte er sonst diesen fetten Journalisten angeheuert, der immer nur Kaffee trank und Brataal aß? Blieb noch Odder Arssen, Twigs hundertjähriger Großvater, der immer noch in Ukeas Heim für Arbeitsplatzversehrte und geisteskranke Straftäter unter den Angestellten eingelocht war. Sie hatte Odder während ihrer eigenen Zeit in dem Heim kennengelernt und den alten Mann gemocht, der sie aus Respekt vor ihrer vermuteten Herkunft immer mit einem steif in die Höhe gereckten Arm und einem forschen «Heil!» gegrüßt hatte. Aber Odder war schon damals zu sehr hinüber gewesen, um ihre Fragen zu beantworten. Er hatte seine Tage damit verbracht, auf dem Bett seines verwahrlosten 7-Quadratmeter-Zimmers zu liegen, den Rücken gestützt auf seine fünf Dienstjahrzehnt-Kissen. Dem Pflegepersonal zufolge schickte UKEA ihm alle zehn Jahre ein neues Kissen, immer mit demselben scheußlichen Rentier-Motiv …

Die Bewegungen des Mädchens gefroren mitten im Nummer-eins-Hit «Fatta eld» von Fattaru. Die AquavitFlasche glitt von ihrem Kopf und zerbrach auf dem Boden. Sie hastete zu ihrer Handtasche und zog ihr General-Dynamics-Sectéra-Edge-SME-PED-Smartphone heraus. Sie brauchte zwei Minuten, um sich in den Server des UKEA-Heims für Arbeitsplatzversehrte und geisteskranke Straftäter unter den Angestellten einzuhacken. Vom Hauptmenü aus klickte sie sich in die Besucherliste. Zwei Wochen vor seiner redlich verdienten Enthauptung hatte Twig seinen Großvater besucht. Es war der erste Besuch seit zehn Jahren gewesen.

Bingo!

Das war eines der wenigen amerikanischen Spiele, das ihr Spaß machte.

Das und Cluedo.

 

<bist du ok?>

 

Die SMS kam um 2.17 Uhr morgens. Sie war von Mia Hu, Salamanders Kickboxer-Freundin und ehemaliger Bettgefährtin. Nicht, dass Salamander eine Lesbe gewesen wäre. Natürlich nicht.

Salamander hatte seit sechs Monaten nichts mehr von Hu gehört. Ihre Freundschaft war nicht mehr ganz dieselbe, seit sie Hu in ihrem Appartement hatte wohnen lassen, aber vergessen hatte, ihr zu sagen, dass sie von einer internationalen Todesschwadron verfolgt wurde. Zum Glück war Hu nicht nachtragend, und die Beinprothesen erlaubten ihr immer noch zu kickboxen.

 

<warum sollte ich nicht ok sein?>
<na, weil du die aquavitflasche fallen gelassen hast & aus dem club abgehauen bist>

 

Salamander schloss ihr Buch über die Riemann’sche Geometrie und setzte sich auf.

 

<du sagst ich bin abgehauen?>
<wie würdest du das nennen?>
<ich glaub … >
<obwohl ich die blonden haare & roten minirock toll finde. eine ganz neue lizzy.>
<kann man so sagen>
<bin hinterher, aber glaub nicht dass du mich gesehen hast. hab die neue karre gesehen. wann hast du den 9 - 3er gekauft? dachte du hasst saab>
<meinung geändert. wie findest du die farbe?>
<schwarz wär cooler.>
<als was?>
<hä?>
<du hast gesagt, schwarz wär cooler. cooler als was?>
<als die farbe, die du hast>
<und die wäre?>
<ich glaube, das kapier ich nicht>

 

Wäre nicht das erste Mal, du saudumme Scheißlesbe.

 

<welche farbe hat mein auto? ich bin doch farbenblind, schon vergessen?>
<o. ich glaub, das wusste ich nicht. eine art nachtblau metallic>

 

Spießige Farbe.

 

<thx>
<willst du rumkommen? hab nen nagelneuen ratschenschrauber>
<heute nacht nicht>
<schlampe>
<nenn mich nochmal so & ich komm dir den hintern versohlen>
<schlampe>

 

«Könntest du mir vielleicht zeigen, wie ich diese neue Horrible-Vikings-App auf mein iPhone runterladen kann?»

«Jetzt nicht, Bullenschwein. Echt. Ich hab zu tun. Komm morgen wieder.»

«Aber du brauchst doch sicher nicht mehr als eine Sekunde dafür», wandte Wachtmeister Snorkkle ein.

«Ich habe gesagt, ich helfe dir morgen. Jetzt mach dich gefälligst sofort vom Acker.»

Der Wachtmeister trottete mit gesenktem Kopf davon.

Salamander musste nachdenken. Schnell. Klick! Ihre Schwester war in Stockholm. Wie konnte sie sie am schnellsten finden? Klick! Klick! Das Auto! Wie spürt man am leichtesten einen Saab auf? Klick! Klick! Klick! Indem man seine Rückruf-und Reparaturnachweise findet!

Sie hackte sich in die zentrale Datenbank von Saab-Scania AB ein und suchte die Kundendatei nach dem Geburtsdatum ab. 12. März 1991. Noch knapp drei Wochen bis zur großen 30, Schwesterchen.

Da war es. Saab 9 - 3 Turbo X, Baujahr 2010. Und genau, Wu: nachtblau metallic. Gut aufgepasst.

Salamander durchsuchte die Rückrufprotokolle:

Bremskraftverstärker; Hydraulik; Vakuumschlauch; Benzinpumpe; Zündung; Beifahrer-Airbag; Vorder-und Hinterachse; Kolbenringe

Warum hat das kleine Dummchen keinen Japaner gekauft? Na, Toyota trägt es sicher mit Fassung.

Das Auto war auf eine gewisse Ursula Undress angemeldet.

Nicht gerade originell, Schwesterchen. Abgesehen davon, dass Andress Schweizerin ist und jetzt wie eine alte Kuh aussieht.

Von hier aus ging es ganz schnell. Die Protokolle des Kundenservice hatten eine E-Mail-Adresse vermerkt: [email protected]. So was Schlampiges. Sich in Chameleas Computer einzuhacken war damit ein Kinderspiel. Zu schön, um wahr zu sein. Auf ihrem Desktop lag ein Ordner mit dem Titel «Meine neuesten Hackerfolge».

Schlauer Titel. Bloß weil du damals bessere Pfefferkuchen gebacken hast, denkst du, dass du deine alte Schwester überhacken kannst. Hey, vergiss nicht, wer fünf Minuten vor wem geboren wurde!

Der Ordner enthielt einen Unterordner mit dem Titel «Arssen». Mann, du machst es aber wiiirklich schwer, Cam.

Und in dem Unterordner befand sich eine Datei, die erst vor zwei Stunden erstellt worden war: das Protokoll von Twigs letztem Besuch bei Odder Arssen.

Bingo!

Nicht, dass ihr das Spiel jemals wirklich Spaß gemacht hätte. Ihr Vater hatte es gern gespielt. Irgendwie hatte Chamelea immer gewonnen. Lizzy hatte den Verdacht, dass sie dabei gemogelt hatte.

 

Salamander, Blomberg und Bubbles drängten sich in den Volvo-XC70-Streifenwagen des Kommissars. In der Nacht waren ein paar Meter Neuschnee gefallen, und der Verkehr war für sechs Uhr morgens noch recht ruhig. Eigentlich war es nicht nötig, das Blaulicht einzuschalten, aber Bubbles fuhr so gern mit den blinkenden Lichtern.

Nach kaum einem Kilometer hielt er abrupt an.

«Sicherheitsgurte!», befahl er.

Lizzy schnallte sich verdrießlich an.

«Warum hat Twig seinen Großvater eigentlich besucht?», fragte Blomberg.

«Weiß ich nicht», antwortete Salamander. «Aber ich weiß, dass Chamelea es für wichtig hält. Und wie ich sie kenne, werden wir sie genau dort finden.»

«Und wenn es eine Falle ist?»

«Du denkst offenbar die ganze Zeit, dass meine Schwester eine Meisterstrategin ist. Ist sie aber nicht. Sie ist eine dreckige Schlampe.»

Blomberg nickte. Soweit er sich erinnerte, war Chamelea in der Schule in allen Fächern besser gewesen als Lizzy, außer vielleicht in Mathe. Aber selbst in Mathe war sie noch ziemlich gut. Bringt nichts, das Thema jetzt zu vertiefen.

Blomberg rief Nix Arssen an und sagte ihm, dass er zu der Anstalt kommen sollte. Er verdiente es dabei zu sein, wenn Chamelea festgenommen wurde.

Sie bogen auf den Besucherparkplatz ein, der bis auf einen Saab 9 - 3 in Nachtblau-metallic vollkommen leer war. Der Wagen schien Öl zu verlieren.

Sie rannten in die Eingangshalle. Am Empfangstresen saß eine dünnlippige Krankenschwester, die eine Augenklappe trug. «Besuchszeit erst ab zehn», sagte sie. «Sie können die nächsten vier Stunden im Wartesaal verbringen.»

«Was ist mit der Cafeteria?», fragte Blomberg.

«Öffnet um neun.»

Auf einmal versetzte Salamander der Krankenschwester einen Kopfstoß, der sie bewusstlos hintenüberkippen ließ.

«Fröken Salamander!», rief der Hauptkommissar.

«Herrgott nochmal!», stieß Blomberg aus.

Salamander wich ihren zornigen Blicken aus. «Nervenheilanstalten wecken immer so unangenehme Erinnerungen bei mir.»

«Mund halten!», befahl Bubbles. «Wenn du dich nicht benehmen kannst, muss ich dich festnehmen. Und glaub mir, ich tu das wirklich.»

«’tschuldigung.»

Hinter dem Tresen entdeckten sie eine zweite bewusstlose Krankenschwester.

«Offenbar sind wir nicht allein.»

Sie fanden Odder Arssens Zimmernummer und hasteten auf seine Station. Die gepolsterte Zellentür stand weit offen. Aber kaum waren sie drinnen, krachte die Tür ins Schloss. Sie fuhren herum. Vor ihnen stand eine sehr kleine Frau mit zartem Knochenbau und riesigen braunen Augen. Blonde Haare lugten unter ihrem schwarzen Ninja-Kopftuch hervor.

«Hey, Schwesterchen.»

«Hallo, Cam.»

 

Nix Arssen war vor ihnen im Heim angekommen. «Sie hat mich mit vorgehaltenem Messer bedroht», beschwerte er sich. «Die Mörderin meines Sohnes.»

«Mörderin stimmt», nickte Chamelea. «Aber es ist ein Schwert.»

Sie tauschten Blicke und versuchten, die Situation einzuschätzen. Dann richteten sich aller Augen auf Odder Arssen, der tief und fest in seinem engen Gitterbett zu schlafen schien. Um ihn herum lagen fünf übergroße Kissen. Das Motiv zeigte jeweils ein Rentier mit großem Vorbau und weißen Flecken auf der Brust, das unter einer alten Fichte graste.

«Nicht irgendeine Fichte», sagte Bubbles wie zu sich selbst.

«Die Dalarna-Fichte», flüsterte Blomberg. «9550 Jahre alt.»

Gemeinsam nahmen sie den Moment in sich auf. Nur Nix Arssen hatte nichts begriffen.

«Würde mich vielleicht mal jemand aufklären, was hier los ist?», fragte er.

«Geduld», sagte Bubbles.

«Wer macht den Anfang?», fragte Blomberg.

«Cam hat das Schwert», bemerkte Salamander. «Versprichst du, es nicht gegen uns zu richten?»

Chamelea nickte. «Fürs Erste.»

Salamander reichte ihrer Schwester das erste Kissen. Chamelea hielt ihr kurzes Katana-Schwert horizontal vor sich und hob es dann langsam über ihren Kopf. Wie ein Blitz war das Kissen der Länge nach aufgeschlitzt.

Salamander half ihrer Schwester, die Füllung herauszuholen.

«Füllwatte», sagte Chamelea. «UKEA hat es als norwegische Entendaunen beworben.»

«Alles eine Frage des Marketings», sagte Blomberg.

Der erste Kissenbezug war leer.

Der zweite auch.

Ebenso wie der dritte.

«Ich glaube, ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was hier vor sich geht», sagte Arssen. «Ich fürchte, wenn mein Vater aufwacht und sieht, dass seine geliebten Kissen aufgeschlitzt sind, könnte er einen Anfall bekommen.»

«Ich glaube nicht, dass Sie sich da Sorgen machen müssen», bemerkte Chamelea.

Irgendwie gefiel Arssen ihr Ton nicht. Er untersuchte seinen Vater auf Lebenszeichen. Es gab keine. Er war tot.

«Ich würde sagen, er ist mindestens schon einen oder zwei Tage tot», sage Chamelea, die sich vor dem vierten Kissen in Position brachte.

«Dieses Heim ist eine Schande», schimpfte Blomberg. «Wir sind hier doch nicht in Amerika.»

Chamelea holte aus.

Lizzy zog die Füllwatte aus dem Bezug. Plötzlich fühlte sie Papier. Sie langte hinein und zog mehrere hundert Seiten heraus, die von zwei Gummibändern über Kreuz zusammengehalten wurden.

«Das Manuskript!», rief Arssen. «Wie lautet der Titel?»

«Den können Sie selbst lesen», sagte Lizzy. «Es gehört Ihnen.»

«Nicht so schnell», unterbrach Chamelea. Sie hob ihr Katana-Schwert und nahm die Todesboten-Haltung an.

Bubbles zog seinen Dienstrevolver. Er nahm ihn zum ersten Mal in den zwanzig Jahren seines Berufslebens aus seinem Holster. Betroffen stellt er fest, dass er völlig eingestaubt war.

«Fröken Chamelea Salamander, ich befehle Ihnen, Ihre Waffe sofort fallen zu lassen. Sie sind wegen der Morde an Professor Doktor Jerker Ekkrot und Twig Arssen verhaftet.»

Chamelea schob ihr handgeschmiedetes Schwert vorsichtig in seine Scheide. «In der Zeit, in der du deine Waffe gezogen hast, hätte ich euch alle köpfen können», bemerkte sie. Bubbles musste zugeben, dass darin ein Körnchen Wahrheit lag. «Ihr könnt mich gern festnehmen. Aber gebt mir vorher das Manuskript», fuhr sie fort.

«Und warum?»

«Weil ich das Buch geschrieben habe.»