Zehn

Lördag, 12. Februari – Måndag, 14. Februari

32 % aller Wirtschaftsnobelpreisträger sind wegen Sexualverbrechen verurteilt worden, im Gegensatz zu nur 21 % der Literaturnobelpreisträger, 18 % der Friedensnobelpreisträger und 12 % der Physiknobelpreisträger.
Hampus Thorkill, Hundert Jahre Gewinner: Der Nobelpreis 1901 2001 (Stockholm: Fogwhorn & Klov, 2005)

 

Blomberg betrat erneut den rechteckigen Hauptlesesaal des UKEA-Unternehmensarchivs. Lautlos näherte sich ihm eine Archivarin. Sie trug ihr Haar streng hochgesteckt, aber es war nicht dieselbe wie die, die ihm letztes Mal geholfen hatte. Auf ihrem Namensschild stand «Humida Chiklett».

«Was ist denn mit Ihrer Kollegin mit den verschiedenfarbigen Augen?»

«Sie weilt leider nicht mehr unter uns», sagte die neue Archivarin. «Nicht jeder ist dem Druck in diesem Job gewachsen.»

Blomberg schaute sich in dem völlig leeren Lesesaal um. Genau wie bei seinem letzten Besuch hatten sich vier weitere Archivare in den Ecken postiert und beobachteten sie genau. Aber auch sie waren neu hier.

«Wären Sie bitte so freundlich, mir die Akte einer ehemaligen Mitarbeiterin zu bringen? Ihr Name ist Chamelea Salamander.»

Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, begannen alle Archivare gleichzeitig heftig zu husten.

«Sie müssen erst ein Formular ausfüllen», sagte Fräulein Chiklett, als sie wieder zu Atem gekommen war.

Blomberg füllte das Formular sorgfältig aus und unterschrieb die Geheimhaltungsvereinbarung am unteren Rand.

«Wie lautet der Name?»

«Chamelea Salamander.»

Schon wieder dieses Husten.

«Ich kann das nicht lesen.» Die Archivarin zerriss das Papier in vier Teile. «Bitte versuchen Sie es nochmal. Aber lesbar.»

Blomberg schrieb in Grundschul-Druckbuchstaben CHAMELEA SALAMANDER.

Die Archivarin untersuchte die Buchstaben sorgfältig, seufzte und verschwand zwischen den Regalen. Zwei Stunden später kam sie mit einer riesigen Akte wieder. Darin befand sich ein Häufchen Asche. Blomberg berührte sie mit dem Finger. Noch warm.

«Gibt es irgendetwas über Salamander, das nicht gerade eingeäschert wurde?», fragte Blomberg.

«Ich kann mal nachsehen.» Die Archivarin verschwand zwischen den Regalen und kam nach einer Stunde wieder.

«Ich fürchte, das war alles, was wir zu dem betreffenden Namen haben.»

«Verstehe.»

Blomberg gab der Archivarin das Häufchen Asche zurück. Dabei berührten sich ihre Hände. Ein leises Stöhnen entrang sich Fräulein Chikletts Lippen.

«Sie sind Mikael Blomberg, oder?», flüsterte sie.

«Das stimmt.»

Die Archivarin löste die Nadeln aus ihrem Haar. Glänzende braune Locken fielen auf ihre Schultern herunter. Plötzlich erkannte Blomberg Fräulein Chiklett wieder: Sie war Silbermedaillengewinnerin im Riesenslalom bei den Olympischen Spielen gewesen, bevor sie 2006 zum Fröken Universum gewählt wurde. Blomberg bewunderte ihren wunderschön geformten Körper, als sie aus ihrem Archivar-Overall stieg. Diese ehemaligen Fröken Universums bleiben aber auch phantastisch in Form.

Sie half Blomberg, sich auszuziehen.

«Hier?», fragte er.

«Die merken das gar nicht», flüsterte sie. Mit einer energischen Handbewegung fegte sie das Aschehäufchen vom Tisch, legte sich darauf und spreizte die Beine. Die anderen Archivare schienen alles ganz genau zu beobachten.

«Bist du sicher, dass der Tisch nicht unter unserem Gewicht zusammenbricht?», fragte Blomberg. Er hatte es in letzter Zeit nur selten geschafft, auf seinen Brataal zu verzichten.

«Normalerweise würde ich ja sagen», antwortete Chiklett. «Aber dies ist ein UKEA-Tisch.» Sie lachten.

Die Archivarin war eine zärtliche und phantasievolle Liebhaberin. Man merkte gleich, dass sie ihre Kindheit auf einem Bauernhof in der Gesellschaft von Wolfshunden verbracht hatte.

Als sie fertig waren, zündete sich Blomberg eine Zigarette an.

Chiklett berührte zart seine Lippen. «Entschuldigen Sie bitte, aber das Rauchen ist im UKEA-Unternehmensarchiv streng verboten. Wir wollen ja nicht, dass mit unseren Dokumenten ein Malheur passiert, nicht wahr?» Sie warf einen schelmischen Blick auf die Asche, die verstreut auf dem Boden lag.

Aber Blomberg war plötzlich nachdenklich geworden. «Humida, ich möchte, dass du mir ehrlich eine Frage beantwortest. Ich bin siebenundvierzig und um die Mitte etwas auseinandergegangen. Meine Verdauung macht Geräusche, und meine Knie knacken. Mein Zahnfleisch geht zurück, und dasselbe gilt für meinen Haaransatz. Ich stinke nach kaltem Rauch, meine Rülpser riechen nach dem Kaffee von gestern, und meine Zähne haben die Farbe von Köttbullar. Mein Höhepunkt als Journalist liegt Jahre zurück, seither schreibe ich nur noch einen Blog, den niemand liest, und nehme Aufträge von Verrückten an. Warum finden mich Frauen, wunderschöne Frauen, vollkommene Frauen, bloß so unwiderstehlich?»

«Weil du so süß bist», antwortete sie und drückte ihm einen Kuss auf die Nase.

«Aber das bin ich doch gar nicht. Kein bisschen. Ich meine, hey, ich bin doch nun wirklich nicht Daniel Craig. Ich bin plump und alt. Manchmal habe ich das Gefühl, den Traum von jemandem zu leben, der gern ein Weiberheld wäre. Als ob mein ganzes Leben nur die Projektion eines Losers wäre, der sich vorstellt, einen irren Schlag bei den Frauen zu haben. Ergibt das irgendeinen Sinn?»

Chiklett war eingenickt. Blomberg betrachtete sie beim Schlafen. Als sie aufwachte, schliefen sie erneut miteinander. Damit die anderen Archivare nichts hören konnten, flüsterte sie ihm auf dem Höhepunkt der Leidenschaft ins Ohr: «Es gibt noch mehr. In den Regalen.»

«Über Chamelea?»

Sie nickte.

«Kannst du es mir bringen?»

«Ich glaube nicht. Aber wenn du mir dein iPad leihst, kann ich alles abfotografieren.»

«iPads haben keine Kameras.»

«Mist. Das hatte ich vergessen.»

«Aber mein iPhone hat eine Kamera.»

«Gut. Schieb es mir ganz unauffällig rüber, damit die anderen es nicht merken. Ich muss es versteckt halten.»

«Wo soll ich es denn hinlegen?»

«Denk dir was aus.»

 

Sie fuhren in Blombergs Volvo S60 AWD von 2007 zur Bömshüttå am Poppensee. Es war eine Strecke von nur hundert Kilometern, aber sie mussten zweimal anhalten, einmal, weil das Warnlämpchen der Lichtmaschine aufleuchtete, und dann noch einmal, als die Bremsen Feuer fingen.

Humida rollte sich nackt auf dem Bett zusammen und las den neuesten Krimi von Henning Mankell.

«Taugt der was?», fragte Blomberg.

Humida schüttelte den Kopf. «Totaler Mist. Aber man kann damit die Zeit totschlagen.»

Blomberg machte Feuer. Er benutzte eine Ausgabe von BLINK! zum Anfachen. Man schickte ihm die Zeitschrift immer noch umsonst. Er warf einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis. Björn Borgs graues Haar: würdevoll oder nur alt? Prinzessin Victorias Köttbullar: BLINK! enthüllt die geheime Zutat. Er warf die Zeitschrift in den Kamin. Sie brannte noch nicht einmal richtig.

«Hast du es bequem?», fragte er.

«Es ist so gemütlich. Obwohl du ein paar mehr Kissen gebrauchen könntest. UKEA hat ein schickes Kissen mit einem Rentier-Motiv. Das würde sich auf diesem Bett hier prima machen.»

«Ich dachte, das bekommen nur die Angestellten, die länger als zehn Jahre im Betrieb sind.»

«Schon, aber ich glaube, über eBay kann man welche ersteigern.»

Sie schwiegen.

Blomberg ging hinaus, um eine Riesentanne für den Kamin zu fällen. Draußen herrschten frische 60 Grad minus. Er zog sein Flanellhemd aus und band es sich um die Taille. Schon nach ein paar Schlägen war er erschöpft und schwitzte heftig. Als er sich auf seine Axt stützte, glaubte er, eine Bewegung im Wald hinter der Hütte auszumachen. Sicher nur ein riesiger Bär mit blonden Haaren. Halbherzig hackte er noch ein wenig auf das Holz ein und kehrte mit einem bescheidenen Häufchen Zweige in die Hütte zurück.

Humida schaute bewundernd von ihrem Buch auf. «Es gibt so wenige schwedische Männer mit echten Schwimmringen um die Hüften», sagte sie.

Blomberg wollte gerade die jpegs von Chameleas Akte auf seinem Expedia Droid FX45 MOnstER untersuchen, als die ersten Takte von Take a Chance on Me erklangen. Erst neulich hatte er seinen Klingelton geändert. Er hatte allen erzählt, dass ABBA ironisch gemeint sei, aber in Wirklichkeit mochte er den Song.

«Blomberg am Apparat.»

«Mikael.»

«Hallo, Erotikka. Ich wollte dich schon anrufen …»

«Oh, Mikael. Haben wir uns nicht versprochen, uns nie anzulügen? Wer ist sie?»

Blomberg konnte sich nicht an ein solches Versprechen erinnern. Er warf einen Blick auf Humida. Sie war gerade damit beschäftigt, ihr Schamhaar herzförmig zu rasieren. «Schätzchen, es gibt keine andere, das schwöre ich.»

«Wo bist du denn?»

«Immer noch beim Zahnarzt.»

Erotikka seufzte. «Wann sehen wir uns wieder?»

«Bald. Versprochen.»

«Aber wann

Plötzlich riss Blomberg der Geduldsfaden. «Ich weiß nicht, wann. Ehrlich gesagt liegt Humida Chiklett, das ehemalige Fröken Universum, gerade nackt auf meinem Bett, und zwar genau auf der Bettwäsche mit dem Hase-und-Aal-Muster von UKEA, die du ausgesucht hast. Habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich heute zwölfmal mit ihr Sex hatte? Kein bisschen. Du solltest dich schuldig fühlen, weil du mich ständig nervst und dich unmöglich benimmst. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist. Wenn dir wirklich etwas an mir läge, wüsstest du, dass es sehr wichtig für mein Selbstbewusstsein ist, so viele bedeutungslose Sexabenteuer wie möglich zu haben. Anonymer Sex hilft mir zu vergessen, dass ich in einem winzigen Land mit grauenhaftem Klima lebe, voller großer Leute, die die Zähne nicht auseinanderkriegen. Entweder Sex, oder ich saufe mich zu Tode. Wenn du unbedingt hysterisch werden und monogame Liebe haben willst, dann solltest du nach Amerika auswandern.»

«Oh, Mikael. Es tut mir ja so leid, du hast vollkommen recht. Du bist der sensibelste Mann, den ich jemals getroffen habe. Ich liebe dich so sehr.»

«Ich mag dich auch leiden, Erotikka. Sex mit dir hilft mir, die Wettervorhersage zu verdauen. Aber das bedeutet keinerlei Verpflichtung. Im Gegenteil.»

«Das verstehe ich vollkommen.»

«Jetzt muss ich wieder an die Arbeit. Grüß Ralf von mir.»

«Und grüß du Humida. Ich erinnere mich, wie sie 2006 gewann. Wir waren ja so stolz.»

Blomberg machte sich daran, Chamelea Salamanders UKEA-Akte zu lesen. Zwei Dinge fielen ihm auf. Sie hatte sich sehr schnell als begabte junge Designerin für alles Mögliche, von Serviettenringen bis hin zu Sitzkissen, hervorgetan. Am Ende des ersten Jahres hatte sie eine hervorragende Beurteilung von ihrem Betriebsmentor erhalten. Salamander ist kreativ, konzentriert und teamfähig. Mit der entsprechenden Anleitung kann sie bald zu Tischen und Regalen, vielleicht sogar Kommoden aufsteigen. Wir sollten sie unbedingt halten. Nur ein Jahr später klang die Beurteilung ihres Mentors ganz anders. Dem Subjekt wurde gekündigt. Im selben Monat wurde sie in die Anstalt eingewiesen. Der Arzt, der sie untersucht hatte, war Madder Telepathian, derselbe Psychiater, der damals gegen Lizzy ausgesagt und auch Odder Arssens Einweisung unterschrieben hatte. Aus der Akte ging hervor, dass er an Salamander unterschiedliche Behandlungen ausprobiert hatte. Keine hatte gewirkt. Und doch war sie eines Tages plötzlich entlassen worden, ohne ein Wort der Erklärung in der Akte.

Es wird Zeit, dass wir Dr. Telepathian einen Besuch abstatten. Seit Lizzy begonnen hatte, sich in sein Hirn zu hacken, dachte er oft in der ersten Person Plural.

 

Die Praxis von Dr. Madder Telepathian lag in Sluttersholm, einem Stockholmer Stadtviertel, in dem viele Dotcom-Unternehmer, Auswanderer aus Helsinki und Mitglieder der litauischen Unterwelt wohnten.

«Kommen Sie doch bitte herein.» Der Doktor führte Blomberg in sein Büro mit den drei Meter hohen Decken. Telepathian wies auf die UKEA-Psychoanalyse-Couch «Jung» zum Selbstzusammenbauen, deren Polster mit merkwürdigen Zeichen aus dem kollektiven Unbewussten gemustert waren.

«Ich bin nicht als Patient hier», sagte Blomberg.

«Sie sind nicht der Erste, der das behauptet», entgegnete Dr. Telepathian. Der Psychiater war 1 Meter 93 groß, wog aber nur gertenschlanke 80 Kilo. Blomberg schätzte ihn auf 63 Jahre. Er war blass, hatte einen dünnen, spitz zulaufenden Bart und rote Pupillen, die in Blomberg ein gewisses Unbehagen auslösten.

«Wir haben uns schon einmal getroffen», begann Blomberg.

«Ja, ich erinnere mich. Sie haben im Lizzy-Salamander-Prozess gegen mich ausgesagt. Sie haben behauptet, dass ich das Gutachten gefälscht hätte, in dem ich den Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt für den Rest ihres Lebens empfohlen hatte.»

«Ihr Gutachten war gefälscht.»

«Eine Interpretation. Aber seien Sie versichert, Herr Blomberg: Ich hege keinen Groll. Zugegeben, ich habe nach dem Prozess ein paar persönliche und berufliche Schwierigkeiten gehabt. Ich wurde entlarvt als Betrüger, Extremist und Besitzer der größten Kinderporno-Sammlung in Westeuropa. Ich musste meine Praxis schließen, und meine Talkshow auf Radio3, Fragen Sie Doktor Telepathian, wurde abrupt abgesetzt. Aber ich habe eine Menge an Lebenserfahrung gewonnen und meine Memoiren geschrieben. Vielleicht hätten Sie ja mal Lust, in Ihrem Blog darüber zu berichten.»

Er übergab Blomberg eine Ausgabe von Ein verwundeter Heiler: Wie ein führender Psychiater sich seinem Sadismus, seinen pädophilen Neigungen und seinem Neonazismus stellte. Blomberg blätterte in dem Buch. Es waren einige Fotos vom jungen, gutaussehenden Telepathian darin, der neben mit Riemen fixierten Patienten posierte.

«Bitte, Sie können es behalten. Es interessiert Ihre Leser vielleicht, dass ich große Kraft aus der altnordischen Mythologie ziehe.»

Blomberg sah, dass der Doktor eine kleine Rune um den Hals trug.

«Ich nehme jedoch an, dass Sie nicht hergekommen sind, um über mein bemerkenswertes Comeback zu reden. Und Ihrer Nachricht habe ich entnommen, dass Sie auch nicht über Lizzy Salamander sprechen wollen.»

«Nein, mich interessiert ihre Zwillingsschwester Chamelea.»

«Zweieiige Zwillingsschwester, wenn ich mich nicht irre.»

«Stimmt.»

Ein Lächeln huschte über Telepathians Gesicht, während er laut nachdachte. «Seltsam, dass ich für die Einweisung zweier so unterschiedlicher Zwillinge verantwortlich sein soll. Dennoch war ich es, der so viele unserer schwedischen Mitbürger in den letzten dreißig Jahren zwangseingewiesen hat. Und auch eine große Zahl unserer estnischen Nachbarn.»

«In welcher Hinsicht unterschieden sich Lizzy und Chamelea?»

«Ich habe Lizzy viel früher getroffen. Als zwölfjähriges Mädchen zeigte sie die klassischen Symptome eines periodisch auftretenden Wutsyndroms, von Pyromanie zusammen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, einer sexuellen Aversionsstörung und einer schizoaffektiven Störung, gepaart mit transvestitischem Fetischismus und Vaginismus. Aber im Schach war sie ziemlich gut.»

«Und Chamelea?»

«Sie litt unter einer Störung, die wir Größenwahn nennen.»

«Aus ihrer Akte geht hervor, dass Sie verschiedene Therapien ausprobiert haben.»

«Richtig. Zuerst habe ich gehofft, dass die Patientin auf eine Kombination aus Tabletten und Verhaltenstherapie ansprechen würde.»

«Hier gibt es Hinweise, dass Sie Risperdal, Seroquel, Zyprexa, Fluphenazin und Pimozid verabreicht haben, erst einzeln und dann zusammen in täglichen Psychopharmaka-Cocktails.»

«Leider ist sie dadurch nur noch wacher geworden.»

«Dann haben Sie Elektroschocks, eine Lobotomie und Zwangssterilisation durchgeführt.»

«Auch hier hat die Patientin nicht mit der gewünschten Besserung reagiert.»

«Sie gingen schließlich dazu über, sie in verschiedenen Zwangshaltungen verharren zu lassen, und wandten Schlafentzug und Waterboarding an.»

«Es hat nicht so gewirkt, wie wir gehofft hatten.»

«Welche Symptome hatte sie denn eigentlich?»

«Sie müssen verstehen, Herr Blomberg, als Chamelea Salamander bei UKEA anfing, erreichte sie ein Normal plus in der Skandinavischen Arbeitsdiagnostik-Prüfung, die Bestnote. Sie war nicht nur eine begabte und phantasievolle Designerin, sondern auch eine außergewöhnlich glückliche und gut angepasste Angestellte. Allein in ihrem ersten Jahr erreichte sie zehn monatliche , ein absolut beispielloses Ergebnis.

Dann, im zweiten Jahr, änderte sich plötzlich alles. Chamelea verkündete, dass sie UKEA verklagen wolle. Die Mitglieder der Geschäftsführung von UKEA – um ehrlich zu sein, leiden viele von ihnen unter einer manisch-depressiven Störung mit psychotischen Zügen – nahmen an, dass es dabei um sexuelle Belästigung ging, und reagierten streng nach den UKEA-Richtlinien. Sie schickten Tausende Mails an Salamanders Büroadresse, die beweisen sollten, dass sie geradezu artistische Sexspiele mit all ihren Untergebenen getrieben hatte.

Aber Fröken Salamanders Klage war ganz anderer Natur. Sie forderte einen Teil des gesamten UKEA-Gewinns. Sie behauptete, dass sie ein Recht auf Anteile am Gewinn aus UKEAs Originalentwürfen habe, und zwar bis zurück in die 1940er Jahre, als die Firma gegründet wurde.»

«Aber sie war doch erst 2004 in das Unternehmen eingetreten.»

«Richtig. Und sie war lediglich verantwortlich für die Gestaltung eines allerdings sehr verkäuflichen Duschvorhangs und zweier Serviettenringe.»

«Das klingt ziemlich verrückt.»

«Als Arzt ziehe ich es vor, dieses Wort nicht zu benutzen. ‹Verwirrt› wäre angemessener. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Fröken Salamander behauptete nie, dass sie persönlich für UKEAS frühe Designs verantwortlich zeichnete. Stattdessen gab sie an, dass ihre Familie die Rechte daran besitze, weil sie glaubte, dass alle Originalentwürfe von ihrem Großvater stammten.»

«Und wer war ihr Großvater?»

«Ich fürchte, an dieser Stelle grenzt ihre Störung an Größenwahn. Fröken Chamelea Salamander bestand darauf, dass ihr Großvater Adolf Hitler war.» Doktor Telepathian lächelte dünn. «Verwirrt, nicht?»

«Das klingt wirklich verrückt», nickte Blomberg. «Aber dennoch: Auch Odder Arssen behauptete, dass Hitler die Skizzen angefertigt hätte, die UKEA für seine erste Einrichtungslinie benutzte.»

«Ah, Odder Arssen. Noch so ein unheilbarer Schizophrener. Sicher schenken Sie diesen traurigen Phantasien keinen Glauben, Herr Blomberg. Wenn Sie das nämlich täten, dann hätten wir da einige Medikamente, die Ihnen sicher helfen würden.»

Doktor Telepathian kritzelte ein paar Worte auf einen Rezeptblock und reichte ihn Blomberg. Haloperidol 20 mg 2-mal tgl. «Da ist eine Apotheke unten an der Straße. Ich kann das Präparat für Sie bestellen.»

«Danke schön. Aber warum wurde Chamelea Salamander kaum ein Jahr später wieder entlassen, wenn sie so unheilbar krank war?»

«Ah, sehr gute Frage. Hier liegt, fürchte ich, ein trauriges Beispiel dafür vor, wie das Gesetz die medizinische Wissenschaft außer Kraft setzt. Die Anwälte von UKEA, von denen ich einige nur zu gern medikamentös ruhigstellen und einweisen würde, weil sie unter akuten Stresssymptomen leiden, haben sich außergerichtlich mit Fröken Salamanders Anwältin geeinigt. In dieser Übereinkunft hat UKEA sich bereit erklärt, Fröken Salamander aus der Anstalt zu entlassen, wenn sie freiwillig auf ihr Recht zu klagen verzichtet.»

«Und sie hat das unterschrieben?»

«Ja. Ich glaube, vor allem deshalb, weil ihre Anwältin sie dazu drängte, übrigens eine Frau mit einer Neigung zu Platzangst. Aber sogar nach der Einigung und kurz vor ihrer Entlassung bestand Salamander weiter darauf, dass sie Hitlers Enkelin sei. Sie hat nie aufgehört, das zu behaupten.»

«Erinnern Sie sich zufällig noch an den Namen ihrer Anwältin?»

«Sie hieß Anoraka Giardia. Vielleicht kennen Sie sie.»

«Das ist meine Schwester.»

«Tatsächlich. Sie hat mir das Leben ziemlich schwergemacht, als sie Lizzy Salamander vertrat. Aber das ist eine andere Geschichte, nicht wahr? Und wie ich schon sagte: Ich hege keinen Groll.»

 

Blomberg fuhr in seinem Volvo S60 AWD nach Hause. Er hielt nur einmal an, um einen defekten Zahnriemen zu ersetzen. Als er in die Bellmansgatan einbog, fiel ihm etwas Merkwürdiges auf: Ein riesiger Mann in einem schwarzen Smart kam ihm entgegen. Der Mann war so groß, dass sein Kopf aus dem offenen Verdeck ragte. Der dichte Schnee bedeckte sein Gesicht fast völlig, und Eiszapfen hingen von seinen Ohren, aber dem Mann schien das nichts auszumachen. Er und Blomberg wechselten einen Blick, als sich ihre Autos in der engen Straße aneinander vorbeidrängten. Sonderbar. Er sieht genauso aus wie … Aber nein. Das ist unmöglich.

Blomberg trat in seine 84-Quadratmeter-Dachgeschosswohnung und sah sofort, dass jemand eingebrochen war. Der Eindringling hatte sein MacBook Pro mit dem 2.53-GHz-Intel-Core-2-Duo-Prozessor gestohlen, aber sonst schien nichts zu fehlen. Die Wohnung war jedoch gründlich verwüstet. Socken und Unterwäsche waren auf den Boden geworfen, Hemden von den Bügeln gerissen und Bleistifte entzweigebrochen. Sogar die DVDs aus Blombergs Ingmar-Bergman-Filmsammlung – die Criterion Collection – hatte man durch das Wohnzimmer geschleudert. Instinktiv untersuchte er die DVD von Das siebente Siegel. Zerkratzt. Langsam wallte Zorn in ihm auf.

Er schickte Bubbles mit seinem iPhone eine SMS:

 

<Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich glaube, dass Ronni Niemand von den Toten auferstanden ist. Entweder das, oder man hat ihn geklont. Jedenfalls glaube ich, dass er gerade in mein Appartement eingebrochen ist.>

 

Bubbles’ Antwort kam prompt.

 

<Wir sollten mal unsere Rechercheergebnisse abgleichen.>

 

Sie trafen sich bei Yngve’s, einer neuen Kaffeklinik, die bei den jungen Software-Designern von Egidii sehr beliebt war. Blomberg trank Guevaras antiimperialistische-Bio-Röstung aus einem 20-Liter-Aquarium. Kommissar Bubbles schlürfte Pfefferminztee.

«Lassen wir das mit der Scharade», schlug der Kommissar vor.

«Einverstanden.»

«Also, was hast du herausgefunden? Ich weiß, dass Fröken Salamander nicht das Mädchen mit dem Stör-Tattoo ist.»

«Es ist Salamander. Aber nicht Lizzy. Sondern ihre zweieiige Zwillingsschwester Chamelea.»

Bubbles musste das erst einmal verdauen. «Ich wusste nicht mal, dass Fröken Salamander eine Schwester hat, und schon gar nicht, dass sie ein Zwilling ist.»

«Lizzy spricht nie von ihr – nicht, dass Lizzy überhaupt viel reden würde. Die beiden haben sich nie verstanden, nicht mal, als sie noch ganz klein waren. Jetzt haben sie sich vollständig überworfen.»

«Ganz offensichtlich. Sie hat versucht, ihrer Schwester den Mord an einem unveröffentlichten Schriftsteller anzuhängen. Was hatte Chamelea Salamander gegen Arssen? Und gegen Ekkrot?»

«An dieser Stelle wird die Sache kompliziert. Ich habe dir ja erzählt, dass Arssens Vater glaubt, Twig habe an einem Buch geschrieben, in dem er behauptet, dass Hitler die frühen UKEA-Designs entworfen hat, zum Beispiel die beliebte ÜberAlles-Schlafzimmermöbel-Linie. Arssen denkt, dass man Twig ermordet haben könnte, um ihn daran zu hindern, das Buch zu veröffentlichen. UKEA hätte sicher mehr als genug Gründe sicherzustellen, dass sein Buch nie in die Regale der Buchhandlungen kommt. Ich habe herausgefunden, dass Chamelea Salamander einige Jahre lang für UKEA gearbeitet hat. Erst schien das Rätsel damit gelöst: Dagher Ukea hat Chamelea angeheuert, um das Manuskript zu finden und Twig umzubringen. Aber dann habe ich entdeckt, dass Chamelea Dagher und sein Unternehmen hasst. Vor ein paar Jahren hat sie einen Prozess gegen die Firma angestrengt, um Hunderte Millionen Kronen Honorar einzufordern, weil sie glaubt, als Erbin von UKEAs allererstem Designer ein Recht darauf zu haben.»

«Aber wenn man Arssen Glauben schenkt, dann war Hitler der allererste Designer.»

«Genau. Chamelea behauptet, dass Hitler ihr Großvater war.»

«Erstaunlich. Was ist bei dem Prozess herausgekommen?»

«Chamelea hat die Klage fallenlassen. Sie hat sich außergerichtlich geeinigt, um aus UKEAs Firmenanstalt für geisteskranke Straftäter herauszukommen. Sie war sofort eingewiesen worden, als sie die Klage eingereicht hatte. Der Psychiater, der das Gutachten zu ihrer Einweisung verfasst hat, war Madder Telepathian.»

«Ah, der Psychiater, der auch gegen Lizzy und Odder Arssen ausgesagt hat. Soweit ich weiß, hat Telepathian gerade eine Autobiographie herausgebracht, in der er den Kampf mit seinen pädophilen Neigungen und seinen Neonazi-Überzeugungen beschreibt.»

«Ja, das liegt auf meinem Nachttisch. Er will, dass ich in meinem Blog darüber schreibe.»

«Aber wenn Chamelea Salamander nicht für UKEA arbeitet, für wen arbeitet sie dann?»

«Gute Frage. Vielleicht für sich selbst. Wenn sie die Verwandtschaft zu Hitler beweisen kann und wenn Twigs Manuskript Hitlers Verbindung zu UKEA belegt, dann muss sein Buch von unschätzbarem Wert für sie sein.»

«Das ist wahr. Aber warum hätte sie ihn dann köpfen sollen? Warum hat sie ihn nicht einfach sein Buch veröffentlichen lassen? Und warum hat sie Ekkrot umgebracht? Welche Rolle spielt er in der ganzen Sache?»

«Das weiß ich auch nicht. Vielleicht ist sie zu Twig gegangen, hat gebeten, einen Blick auf das Manuskript werfen zu dürfen, und er hat abgelehnt. Er war schon immer ein Geheimniskrämer. Vielleicht hat er das Manuskript verteidigen wollen, und sie hat ihn deshalb getötet.»

«Und Ekkrot?»

«Er war Twigs bester Freund, noch aus der Zeit, in der sie zusammen an der Königlichen Tennis-Akademie waren. Vielleicht dachte Chamelea, dass Ekkrot das Manuskript für Twig versteckt hat. Aber das ist reine Spekulation.»

«Glaubst du, dass Chamelea jetzt im Besitz des Manuskripts ist? Im Mordvideo sieht man deutlich, dass sie Twigs Laptop gefunden hat.»

«Twigs Vater zufolge hat Twig auf seinem Computer nur gebloggt. Er hat alles auf einer alten Hermes-Schreibmaschine getippt.»

«Wie Peter Høeg.»

«Genau.»

«Was bedeutet, dass Chamelea immer noch nach dem Manuskript sucht.»

«Ja.»

«Und Ukea?»

«Ich nehme an, dass er das Manuskript ebenfalls gern hätte.»

In diesem Augenblick wandte sich eine attraktive Frau in den Vierzigern zu ihnen um. «Entschuldigen Sie bitte, aber ich konnte nicht umhin, Ihre Unterhaltung mit anzuhören. Das ist ja so faszinierend. Es klingt, als wäre es direkt aus einem Schwedenkrimi.»

Bubbles zeigte ihr diskret seinen Polizeiausweis. «Offizielle Angelegenheit», flüsterte er. «Streng vertraulich.»

Die Frau nickte, schien aber Bubbles gar nicht zugehört zu haben. Ihre meergrünen Augen waren nur auf Blomberg gerichtet. «Sind Sie nicht zufällig …?»

«Der bin ich.»

Die Frau kritzelte hastig ihre Telefonnummer und ein paar Worte auf einen Zettel und drückte ihn Blomberg unter dem Tisch in die Hand. Wenn Sie mal eine kleine Pause vom Ostseeklima brauchen …

Sie verließ die Kaffeeklinik und warf ihm noch einen sehnsuchtsvollen Blick über die Schulter zu.

Bubbles schlürfte seinen Pfefferminztee. Blomberg leerte sein Espresso-Aquarium.

«Wollen wir uns eine Portion Brataal teilen?», fragte Blomberg.

«Nein, aber bestell dir ruhig etwas. Vielleicht esse ich ein bisschen mit.»

Blomberg bestellte, und Bubbles fasste zusammen, was er erfahren hatte.

«Der Zwei-Meter-Riese, der unempfindlich ist gegen Kälte und den du im Smart gesehen hast, war nicht der Wiedergänger von Ronni Niemand. Es war sein eineiiger Zwilling Reinhard. Im Gegensatz zu den Salamander-Zwillingen scheinen sich die beiden Niemands sehr nahezustehen. Sie wuchsen in Leipzig auf und zogen nach dem Fall der Mauer nach Berlin. Reinhard wollte Koch lernen, aber durch einen Gendefekt kippte er sich ständig versehentlich kochendes Wasser über die Haut oder setzte sich in Brand. Genau wie sein Zwillingsbruder erledigte er hie und da ein paar Kleinigkeiten für seinen Vater – meist schmuggelten sie Waffen nach Island oder erwürgten Prostituierte. Seit dem Mord an seinem Vater und dem Tackertod seines Bruders hat er sich offenbar treiben lassen. Sein IQ ist unterdurchschnittlich, seine Ausbildung minimal. Seine Muttersprache ist Deutsch, sein Schwedisch ist mittelprächtig. Er kann sich gebrochen auf Holländisch, Russisch und Polnisch unterhalten; Französisch, Spanisch und Italienisch liest er nur. Ich würde sagen, dass er lediglich ein ganz normaler Kleinkrimineller ist – wenn wir nicht Beweise hätten, die ihn mit den aktuellen Rentiermorden in Verbindung bringen.»

«Was für Beweise?»

«Ein kleiner Finger, den er sich am letzten Tatort zufällig abgetrennt haben muss. Die DNA ist seine. Und der kleine Finger war riesenhaft.»

«Aber Niemand passt doch gar nicht in das Profil des typischen Rentier-Rippers.»

«Genau. Ich hatte die ganze Zeit gedacht, dass die Enthauptungen von Arssen und Ekkrot nichts mit den Rentier-Ausweidungen zu tun haben können. Aber seit Niemand unter Verdacht geraten ist, habe ich so meine Zweifel daran. Und was du mir über Chamelea erzählt hast, bestärkt mich in der Annahme, dass die beiden Verbrechen miteinander verbunden sein müssen. Weißt du, nachdem er aus der Kochlehre geflogen war, hat Reinhard Niemand kurz als Tischler in der UKEA-Filiale in Hamburg gearbeitet. Und jetzt diese Sache mit dem Einbruch in deine Wohnung. Meine Ermittler» – an dieser Stelle schluckte Bubbles trocken, weil er daran denken musste, wie Wachtmeister Flunk Beweismaterial zusammentrug – «haben deine Wohnung untersucht und eine Kleinigkeit gefunden, die uns ganz klar zeigen wird, ob Reinhard Niemand für den Einbruch verantwortlich ist oder nicht. Wenn er es war, beweist das die Verbindung. Du hast doch den Rentier-Fall nicht ohne mein Wissen weiterverfolgt, oder?»

«Natürlich nicht.»

«Also bist du durch deine Nachforschungen in Sachen Arssen, UKEA und Chamelea Salamander auf sein Radar geraten.»

«Aber warum ist er bei mir eingebrochen?»

«Vielleicht hat er gedacht, dass du Twigs Manuskript gefunden hast.»

«Glaubst du, dass er mit seiner Halbschwester gemeinsame Sache macht?»

«Das nehme ich an. Aber es ist eben nur eine Vermutung.»

«Und die Rentiere? Wie passen die in die Geschichte?»

«Noch so ein Rätsel. Vielleicht waren die Morde nur eine Ablenkung. Ich weiß es nicht.»

«Und Twigs Manuskript haben wir auch noch nicht gefunden.»

«Nein, aber offenbar auch sonst niemand. Es muss noch da draußen sein. Irgendwo.»

«Und Lizzy?», fragte Blomberg.

«Wir haben die Mordanklage gegen sie offiziell fallenlassen. Wir hätten sie erneut festnehmen können, weil sie sich widerrechtlich Zugang zu geschützten Daten verschafft hat, aber wir fanden, dass es der Mühe nicht wert war. Genau genommen ist sie eine freie Frau, obwohl sich ihr Computer immer noch in der Arrestzelle befindet, genau wie ein Großteil ihrer Garderobe und ihre Fitnessgeräte. Also schläft sie auch in der Zelle. Sie scheint es ziemlich … gemütlich zu finden.»

Erst jetzt fielen Blomberg das blaue Auge seines Freundes und die Bisswunden auf seiner Stirn auf. Er wollte das Thema nicht weiter vertiefen und sagte nur: «Vielleicht sollten wir ein Wörtchen mit Lizzy reden und sehen, ob sie die Sache aufklären kann.»

 

«Ich will das Manuskript!»

«Jawohl, Meister!» Die Stimme am Telefon hatte einen starken Akzent und klang seltsam quäkig und schrill.

«Dann finde es!»

«Jawohl!»

«Was ist mit Du-weißt-schon-wem? Hast du sie erwürgt?»

«Auf meiner To-do-Liste, Meister.»

«Und Blomberg?»

«Reinhard gestern ihn fast erwürgen.»

«Was ist dazwischengekommen?»

«Es ist worden dunkel.»

Ukea massierte sich etwas Kokain ins Zahnfleisch. Im Federkasten, der auf dem Schreibtisch stand, hatte er immer ein paar Gramm in Reserve. Ein Auftragskiller, der Angst vor der Dunkelheit hat. Der auch noch schlecht Schwedisch spricht. Seine Stimmung sank in den Keller.

«Volltrottel.»

«Ja, Meister.»

«Hast du das Abendblatt gelesen?»

«Nur Fußballergebnisse, Meister.»

«Die Polizei hat dich als Verdächtigen im Visier. Du sollst etwas mit den RentierMorden und dem Einbruch in die Wohnung des Journalisten Mikael Blomberg zu tun haben. Wieso bringen sie dich damit in Verbindung?»

«Reinhard nicht wissen, Meister.»

«Du hast nicht zufällig irgendwas an den Tatorten verloren oder zurückgelassen?»

«Nein.»

«Reinhard, wie viele Finger hast du im Moment?»

Ukea hörte, wie Niemand leise zählte. «Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … Sechs und ein halben, Meister. Fast sieben.»

«Hattest du nicht acht, als wir letztes Mal miteinander gesprochen haben?»

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

«Reinhard, hast du etwa noch einen Finger verloren? Vielleicht auch einen Fingernagel? Und hast du sie womöglich dortgelassen?»

«Das sein möglich, Meister.»

Ukea rammte sich eine Nadel in den Oberschenkel und injizierte sich einen Speedball in die untere Hohlvene. Endlich hörten seine sechzig Jahre alten Nerven auf zu flattern. Nüchtern dachte er: Mein Auftragskiller wird langsam zu einer echten Belastung. Niemands Verhaftung wird sie direkt zu mir führen, und dann war’s das. Ich hätte keine andere Wahl, als den Vorstandsvorsitz bei UKEA aufzugeben, vielleicht sogar die Aufsichtsratsposten bei Volvo und H&M. Das musste er unter allen Umständen verhindern. Er rief sich den Rat seines Vaters Sløber Ukea ins Gedächtnis zurück: Mein Sohn, manchmal muss man den Killer killen. Ja. Aber noch nicht.

«Ich brauche das Manuskript.»

«Verstanden, Meister.»

«Und, Reinhard – versuch bitte, nicht noch mehr Finger zu verlieren.»

«Jawohl, Meister!»