Drei

Torsdag, 12. Januari – Söndag, 16. Januari

«Bis 1855 existierte in der schwedischen Sprache kein Wort für lachen.»
Folkets Lexikon Svenska

 

Arssen fuhr mit Blomberg in seinem Volvo V70 Turbo zum Olof-Palme-Institut für gerichtsmedizinische Verbrechensaufklärung. Unterwegs hielten sie einmal an, um ein Leck zu stopfen, aus dem Frostschutzmittel auslief. Im Institut erwartete sie der leitende Untersuchungsarzt. Blomberg erkannte ihn sofort. Vor zwei Jahren, als Lizzy Salamander mehrmals aus nächster Nähe in den Kopf geschossen worden war, hatte Dr. Ink Nyquill bei der Operation assistiert. Glücklicherweise hatte Salamander die Kugeln ohne Hirnschaden überstanden, im Gegenteil, sie schienen ihr Rechenvermögen und ihr Endspiel beim Schach verbessert zu haben.

Blomberg und Nyquill schüttelten einander die Hände. «Wie schön, Sie wiederzusehen», sagte der Arzt. «Ihr Artikel über Wilander und das Nordische Dumpfheitssyndrom hat mir gut gefallen. Es ist wirklich Zeit, dass NDS sowohl von der Öffentlichkeit als auch von der Ärzteschaft ernster genommen wird. Wie ich höre, kannten Sie den Verstorbenen?»

Sie standen neben einem mit einem Tuch bedeckten Körper.

Blomberg nickte. «Wir haben zusammen studiert.» Vertraulich fügte er an: «Er war nie ein großer Autor, aber ein echter Sportler. Er hat den Fünf-Kilometer-Permafrost-Lauf gewonnen.»

«Ich fürchte, er hat sich seit seinen Studententagen gehenlassen. Die Autopsie und das Blutbild erzählen eine traurige Geschichte. Cholesterinspiegel über 350, Glycerol-Triester über 500, massive Verkalkung der oberen Hohlvene, Lebersklerose im mittleren Stadium. Erhöhte Werte bei Bilirubin, Ammoniak, Hydroxyprogesteronen und Harnstoff-Stickstoff. Seine CD4-Zellzahl war abnorm, genauso wie seine Amylase-Werte und das Ceruloplasmin.»

Blomberg studierte die Diagramme. «Ich vermute, diese Werte korrelieren mit einer krankhaft gesenkten Osmolalität und gefährlich hoher Globulinkonzentration. Und ich gehe davon aus, dass sein mittlerer Zellhämoglobingehalt ebenfalls im roten Bereich liegt.»

Der Doktor sah Blomberg sichtlich beeindruckt an.

«Ich habe mal über Geldwäsche, sexuelle Versklavung und die Gewinnung von menschlichen Embryonen in Schwedens größtem Blutuntersuchungslabor recherchiert», erklärte Blomberg.

«Auf der Grundlage dieser Testergebnisse», sagte Dr. Nyquill, «würde ich davon ausgehen, dass der Verstorbene durchschnittlich sechzig Zigaretten am Tag geraucht, zwanzig Tassen Kaffee und fünf Liter Bier getrunken hat. Er muss sich ausschließlich von Rancho Diablo Taco Beef Fritter Chips und Brataal ernährt haben. Ich würde mich wundern, wenn seine sportliche Betätigung in den letzten zwanzig Jahren über Nickerchen im Stressless-Liegesessel hinausgegangen wäre.»

Das erwischte Blomberg kalt. Er schluckte. Das klang ziemlich genau nach seinem eigenen Tagesablauf. Er würde sich auf fünfzehn Tassen Kaffee am Tag beschränken müssen. Und kein Brataal mehr. «Also ist er an einem Herzinfarkt gestorben?»

«Das habe ich auch angenommen. Bis ich das hier bemerkt habe.»

Nyquill schlug das Leichentuch zurück. Blomberg schnappte nach Luft. Sein Freund aus Studententagen war nicht wiederzuerkennen. Der einstmals straffe und muskulöse Körper sah blass und aufgedunsen aus. Er hatte mindestens zwanzig Kilo zugenommen. Damals hatte er außerdem einen Kopf gehabt. Nun war alles, was davon übrig war, eine saubere Schnittstelle an seinem Hals.

«Enthauptet», sagte Blomberg.

«Ja», bestätigte der Arzt. «Und noch etwas sollten Sie wissen. Wer immer Ihren Freund geköpft hat, hat keine Kettensäge benutzt. Ich habe so eine Enthauptung noch nie gesehen. Die Luftröhre wurde perfekt durchtrennt. Der Mörder kannte sich mit Anatomie aus.»

«Also suchen wir nach einem psychopathischen Serienkiller, der vermutlich außerdem ein Weltklasse-Chirurg ist.»

«Ich glaube, ja. Entweder das oder ein erfahrener Samurai-Krieger.»

 

Salamander saß im Afhild’s, einem in der Jazzszene von Torbjörntorp sehr beliebten Kaffeklub, und gurgelte mit Espresso.

Sie war schlechter Laune. Sie hatte ihren liebsten Salamander-Augenbrauenring verloren. Sie hatte sich den Ring selbst zur Belohnung geschenkt, nachdem sie weitere hundertfünfzig Millionen Kronen vom Offshore-Konto von Schwedens brutalstem frauenfeindlichem Hedgefonds-Manager abgezapft hatte. Letzte Woche hatte sie einen Zungenstecker verloren. Vielleicht lag es an den Jahren, die sie, bewegungsunfähig an eine Trage gefesselt, unter dem Einfluss bewusstseinsverändernder Drogen verbracht hatte – ganz abgesehen davon, dass sie von Familienmitgliedern wiederholt in den Kopf geschossen worden war.

Am Nebentisch zankte sich ein amerikanisches Paar. «Ich will mir nicht noch ein altes Boot ansehen», beklagte sich die Frau.

«Es handelt sich um kein altes Boot», sagte der Mann. «Es ist eines der bedeutendsten maritimen Museen der Welt.»

«Dasselbe hast du über dieses langweilige Ding in Kopenhagen gesagt.»

«Dieses ist besser. Ich verspreche es dir.»

«Aber was ist mit den hinreißenden kleinen Geschäften, an denen wir heute Morgen vorbeigekommen sind? Ich will unbedingt eines dieser original handbemalten Holzpferde kaufen. Sie sind so sinnlich.»

«Wir haben morgen den ganzen Tag Zeit zum Shoppen.»

Während sie weiter stritten, bemerkte Salamander, dass der Mann seinen Rucksack an die Stuhllehne gehängt hatte. Beiläufig lehnte sich Salamander hinüber und stibitzte sein iPhone 4 mit GSM/EDGE 1900 MHz. Sie brauchte dreißig Sekunden, um seine Facebook-, Twitter-, E-Mail- und Merrill-Lynch-Konten zu knacken, und weitere dreißig Sekunden, um sich Tausende Seiten privater Korrespondenz und komplexer finanzieller Transaktionen zu merken. Wenigstens war ihr Gedächtnis noch intakt. Der Mann hieß Harvey Hirsch und war ein amerikanischer Kieferorthopäde. Letztes Jahr hatte Hirsch 97 000 US-Dollar verdient, aber nur 24 000 Dollar Steuern gezahlt. Kein Wunder, dass dieses kranke Land keine Hochgeschwindigkeits-Trassen besitzt. Seine Frau hieß Alison. Sie verkaufte Diätkekse in einem 50 Quadratmeter großen Laden, den Windfang nicht eingerechnet. Viele von Hirschs E-Mails waren an eine Frau namens Jennifer gerichtet. In einer stand: «Ich könnte am 20. um eins kurz mit dir Mittag essen.»

Das Arschloch hat also vor der Nase seiner Frau eine Affäre mit der minderjährigen Tochter seines Gemeindepfarrers.

In diesem Moment bemerkte Salamander, dass der Mann aufgestanden war; seine Hände bewegten sich auf den Hals seiner Frau zu. Whoa. Das Arschgesicht will seine Frau mitten im Afhild’s ermorden. Diese Dreistigkeit.

Wie der Blitz war Salamander auf den Beinen. «Schlechter Schachzug, du Frauenprügler-Schwein», flüsterte sie kaum hörbar. «Mach dich bereit zu sterben.»

Sie griff nach einem Stuhl und zerschmetterte ihn über einem leeren Tisch, bis sie nur noch ein einzelnes Stuhlbein in der Hand hatte. Sie hielt es wie einen Baseballschläger – Salamander bewunderte amerikanische Sportarten, Motorräder und Twinkies, aber keine Frauen vergewaltigenden, bibeltreuen Freaks –, holte weit aus und traf voll die rechte Schläfe des Mannes. Er ging zu Boden, wie alle Männer, die Salamander mit roher Gewalt auf den Kopf geschlagen hatte.

Einen Moment später war sie über ihm. Ein Hieb nach dem anderen landete auf Gesicht, Hals und zwischen den Beinen des Mannes.

«Großer Gott!», schrie die Frau. «Lass meinen Mann los, du klapprige Punkerbraut!»

Salamander kannte das psychologische Muster dahinter nur zu gut: Frauen, die jahrzehntelang der Brutalität von soziopathischen Monstern ausgesetzt gewesen waren, identifizierten sich mit ihren Peinigern. Man nannte das nicht umsonst Stockholm-Syndrom.

«Hilfe!», schrie die mitleiderregende Frau. «Sie bringt ihn um!»

Salamander zielte mit ihrem Schläger ein letztes Mal zwischen die Augen des Mannes und ließ das lädierte Stuhlbein dann fallen. Keine Kinderpornos mehr für dich, du Riesendildo. Sie schwitzte, seufzte aber befriedigt auf. Sie hörte, wie die Frau sich beim Oberkellner ausheulte: «Mein Mann wollte mir mit dem Verschluss meiner neuen Runen-Kette helfen, da ist dieses Mädchen am Nebentisch total durchgedreht.»

Salamander nahm gelassen ihre schwarze Lederjacke und verließ das Restaurant. Sie deponierte das iPhone des Mannes in einem Mülleimer, jedoch nicht ohne zuvor ihre Fingerabdrücke abzuwischen. Sie seufzte. Arme Alison. Eines Tages wird sie mir dafür danken, dass ich ihr das Leben gerettet habe.

 

Blomberg und Arssen waren zurück in Mellqvists Kaffebar und nippten an Trögen mit ukrainischem Cappuccino.

«Es sieht so aus, als hätte ein psychopathischer Chirurg Ihren Sohn enthauptet», sagte Blomberg. «So jemand oder ein hochtalentierter Samurai-Schwertkämpfer.»

Arssen schüttelte den Kopf. «Das glaube ich nicht.»

«Warum nicht? Hatte Twig Feinde?»

«Ich weiß nicht genau. Wie ich schon erwähnte, war unsere Beziehung seit seinem dritten Geburtstag nicht die beste. Da hatte ich ihm einen Spielzeug-Volvo P210 mit, wie sich herausstellte, defekter Steuerung gekauft. Aber möglicherweise ist Twig bei der Recherche für sein Buch auf gefährliche Informationen gestoßen. Ich hatte gehofft, er hätte sich Ihnen als seinem engsten Freund anvertraut.»

«Ich hatte ihn seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen», sagte Blomberg. «Und nicht mal damals haben wir miteinander geredet.»

«Twig war gern allein. Er war ein zurückhaltender Mensch. Das ist angesichts unserer Familiengeschichte einigermaßen verständlich. Sehen Sie, Twigs Großvater – mein Vater, Odder – wurde im Norden geboren, oberhalb des Polarkreises. Er war einer von siebzehn Jungen, aber tragischerweise der Einzige, der seinen zweiten Geburtstag überlebte. Alle seine Geschwister sind den plötzlichen Kindstod gestorben. Damals wussten die Mütter nicht, dass es ein Gesundheitsrisiko ist, die Säuglinge mit auf das Gesicht gepressten Kissen schlafen zu lassen. Meine Großmutter hat der Tod ihrer sechzehn kleinen Jungen verständlicherweise hart getroffen, sie hat die letzten Jahrzehnte ihres Lebens in einem Gefängnis für unzurechnungsfähige Straftäter verbracht.

Vaters Vater war ein talentierter Möbelschreiner und strenger Protestant, der an den Rohrstock glaubte, wenn Sie verstehen, was ich meine», fuhr Arssen fort. «Er hat Vater ebenfalls zum Möbelschreiner ausgebildet, aber Vater rebellierte gegen die strengen religiösen Regeln und die ständigen Schläge. Als der Erste Weltkrieg endete, lief Vater davon. Er war jung und ein hervorragender Läufer, und er lief den ganzen Weg bis nach Deutschland. Das hat natürlich ein paar Wochen gedauert, er musste ja erst Finnland, Russland, Estland, Lettland, Litauen und Polen durchqueren. In München hielt er schließlich an. Da waren seine Lederturnschuhe endgültig durchgelaufen. Dort traf er auf einen radikal antisemitischen, arbeitslosen Bohemien, der davon träumte, Künstler zu werden, aber bereits zweimal von der prestigeträchtigen Akademie der bildenden Künste in Wien abgelehnt worden war.»

«Hitler.»

«Genau. Damals bestritt Hitler seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf kitschiger Aquarelle, lebte weitgehend auf der Straße und verbrachte seine Tage bei politisch radikalen Gesprächen in Brauhäusern. Mein Vater verfiel ihm gänzlich. Er war sogar der Erste, der ihn mein Führer genannt hat. Später haben sich Hitlers Pläne geändert, aber in diesem frühen Stadium seiner Laufbahn hegte er den Traum, ein Möbelgeschäft zu eröffnen, Völkische Form-Möbel.

Hitler machte die Entwürfe», fuhr Arssen nach einem ausgiebigen Schlürfen fort, «und Vater kümmerte sich um die Ausführung. Sie begannen mit einfachen Stücken für Büros und Haushalt – Wohnzimmertische, Bücherregale, Schreibtischstühle. Nette, funktionale Gegenstände. Leider gerieten sie damit in die furchtbare Inflation, und nur sehr wenige Deutsche konnten sich einen Nachttisch leisten, der acht Trillionen Mark kostete. Wenn sie mit dem Laden Erfolg gehabt hätten, wäre der Welt wohl erhebliches Elend erspart geblieben. Aber die Geschäfte liefen schlecht, und Hitlers Ehrgeiz verlagerte sich von Möbeln auf die Weltherrschaft. Nachdem der Laden pleitegegangen war, folgte mein loyaler Vater Hitler in die Politik und wurde ein fanatischer Nazi. 1942 berief Hitler ihn zum Leiter des Ministeriums für Arische Möbeltischlerei. Diese Position hatte Vater bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands inne. Nach Kriegsende floh er zurück nach Schweden, wo er sich mit Tausenden anderen Schweden zusammentat, die entweder zu Hause oder im Ausland für das Dritte Reich gearbeitet hatten. Er besaß keinen Pfennig, hatte aber all die Möbelentwürfe aufbewahrt, die Hitler in den Tagen gezeichnet hatte, in denen sie Kompagnons gewesen waren. Indem er sie für seine eigenen ausgab, verkaufte er sie an Sløber Ukea, dessen Traum es war, ein Unternehmen zu gründen, das den von einem katastrophalen Krieg genesenden Kontinent mit günstigen Möbeln versorgen würde. Die Entwürfe entpuppten sich als äußerst beliebt, und Sløber Ukea stellte Vater als Tischlermeister ein.»

Blomberg blickte von seinem Trog auf. «Habe ich das korrekt verstanden? Erzählen Sie mir gerade, dass UKEA in den letzten sechzig Jahren Möbel nach Entwürfen von Adolf Hitler gebaut hat?»

«Ganz genau.»

«Wusste Twig davon?»

«Ich habe versucht, die Familiengeschichte geheim zu halten. Ich habe alles in einem abschließbaren Aktenschrank mit der Aufschrift ‹Unaussprechliche Familiengeheimnisse: nicht öffnen› aufbewahrt. Aber es ist möglich, dass er einiges herausgefunden hat. Twig hat gern herumgeschnüffelt.»

«Besitzen Sie Hitlers Möbelentwürfe?»

«Nein. Die müssten sich im Unternehmensarchiv von UKEA befinden.»

«Haben Sie irgendeine Ahnung, wovon Twigs fehlendes Manuskript handelte?»

«Zuerst nahm ich an, es sei ein neuer Krimi. Ich habe mit meinem Sohn nie über seine schriftstellerische Arbeit gesprochen. Ich war der Ansicht, dass es profitabler wäre, wenn er sich mal an einer postmodernen Familienromanze versuchen würde, wie der Amerikaner Jonathan Franzen. Aber Twig war stur. Inzwischen glaube ich, dass er ein Sachbuch über diese gefährliche Geschichte geschrieben hat. Er hat mir eine Postkarte zu seinem Projekt geschickt. Ich habe sie mitgebracht, hier.»

Blomberg sah sich die Postkarte an. Auf der Vorderseite befand sich das Foto eines modernen Industriegebäudes, des UKEA-Unternehmensarchivs. Die Schrift auf der Rückseite war klein und säuberlich.

 

Lieber Vater, ich mache mit meinem neuen Buch schöne Fortschritte. Ich bin guter Hoffnung, dass es in den USA Aufmerksamkeit erregen wird, denn dieses Mal habe ich einen schwedischen Blickwinkel gefunden. Vielleicht kommt es sogar als Hardcover heraus. Ich fürchte jedoch, dass es mich mein Leben kosten, die aktuelle Regierung stürzen und zum Zusammenbruch des schwedischen Staates führen wird.
Viele Grüße, Twig

 

Hauptkommissar Bubbles stieg über das Absperrband, das Twig Arssens Wohnung abriegelte. Warum sollte jemand Interesse daran haben, den Autor unveröffentlichter schwedischer Krimis zu köpfen? Und natürlich durfte man Ekkrot nicht aus dem Blick verlieren. Zwei Enthauptungen in einer einzigen Woche. Ein ausgebildeter Chirurg – oder ein Samurai – als Serienkiller auf freien Füßen. Gerade wenn ich darüber nachdenke, eine Woche freizunehmen und in Grönland auszuspannen.

Bubbles nickte Wachtmeister Nemo Snorkkle zu. «Was habt ihr?», fragte er kühl. Snorkkle war in der Truppe nicht Bubbles’ Lieblingspolizist. Obwohl er nicht annähernd so dumm war wie Wachtmeister Flunk, der Finne, war Snorkkle ein halber Lappe, also anfällig für Irrationalität und spontane Gewaltausbrüche. Bubbles mochte es nicht, wie er seinen Dienstrevolver streichelte, auch wenn der lediglich eine Schreckschusspistole war. Im letzten Jahr hatte sich aus der standardmäßig ausgegebenen 9-Millimeter-Sig-Sauer eines Streifenpolizisten versehentlich ein Schuss gelöst und den Vorderreifen eines geparkten Saab punktiert. Der darauf folgende Tumult führte zu einem nationalen Referendum, in dem eine überwältigende Mehrheit der Schweden dafür stimmte, das Schusswaffenarsenal der Polizei auf Schreckschuss-, Wasser-und Paintball-Pistolen zu beschränken. Außerdem mussten die Beamten nun Pullover mit Zopfmuster aus organisch gefärbter Wolle tragen.

«Wir haben Arssens Wohnung durchsucht. Das hier haben wir gefunden.»

Snorkkle zeigte Bubbles eine kleine gläserne Einlassung in der Wand gegenüber der Eingangstür zur Wohnung des Schriftstellers.

«Eine Überwachungskamera?»

«Ja. Die Kamera selbst ist in Arssens Kleiderschrank versteckt. Es gibt noch eine in seinem Schlafzimmer und eine weitere im Bad.»

«Für selbstgemachte Pornos?»

«Ich glaube nicht. Auf seiner Kommode habe ich eine Quittung gefunden. Die Kameras wurden erst zwei Wochen vor dem Mord von Milksop Security installiert.»

Bubbles kannte Milksop gut. Die Firma wurde von Radovan Armanskovitzdullah geleitet, dem Sohn eines estnisch-serbisch-mongolisch-senegalesischen Jazz-Saxophonisten und einer kambodschanisch-malaiisch-tansanisch-ukrainischen Doppelagentin. Außerdem stellte Armanskovitzdullah, der zu einem Teil Moslem, einem Teil Jude und einem Teil papua-neuguineischer Schamane war, den alleinigen Vorstand von Stockholms neuem multikulturellem Zentrum. Bubbles und Armanskovitzdullah spielten bei fettfreien Latte macchiatos und Heringslakritzen oft miteinander Schach.

«Warum sollte ein unveröffentlichter Schriftsteller seine Wohnung mit den neuesten Überwachungskameras aufrüsten?», fragte Bubbles.

Wachtmeister Flunk gesellte sich zu Bubbles und Snorkkle.

«Vielleicht befürchtete er, zum zufälligen Opfer eines köpfenden Serienkillers zu werden», mutmaßte er.

«Finnen-Hirni», murmelte Snorkkle.

«Ich toleriere keine Verunglimpfung anderer Bevölkerungsgruppen», sagte Bubbles. Insgeheim nährte er jedoch selbst verletzende Vorurteile. Natürlich gibt es intelligente Finnen, aber die Mehrzahl von ihnen ist wirklich außergewöhnlich dumm. Und außer bunter Bettwäsche haben sie nichts von bleibendem kulturellem Wert geschaffen.

«Haben Sie überprüft, ob die Kameras am Abend des Mordes eingeschaltet waren?», fragte Bubbles.

«Es sieht ganz danach aus», antwortete Snorkkle.

«Dann haben wir unseren Mörder ja vielleicht auf Video», sagte Bubbles. «Packen Sie die Kameras ein. Wir sehen uns das auf dem Revier an.»

 

«Herr Blomberg, es ist mir eine große Freude, Sie kennenzulernen», sagte Dagher Ukea, der Vorstandsvorsitzende der UKEA AB. Blomberg saß im vornehmen 30-Quadratmeter-Büro des CEOs im Hauptgeschäftssitz von UKEA. Ukea war groß und hatte sich für einen Mann von sechzig Jahren ausnehmend gut gehalten. Seine Augen waren polareisblau, sein Haar eisbärenweiß. Seine Nägel glänzten noch von der morgendlichen Maniküre. Ukea legte seine Fingerspitzen leicht aneinander, ein Zeichen der kapitalistischen Verschwörung. «Ich bewundere Ihre Arbeit seit vielen Jahren. Ich habe Ihre Enthüllungsstorys über Insiderhandel, Unzucht und Verrat in den höchsten Kreisen der schwedischen Wirtschaftselite immer mit großem Interesse gelesen. Ich meine mich jedoch zu erinnern, dass Ihre Verfasserzeile – wie soll ich sagen – volkstümlicherer Art war.» Ukea lächelte dünn.

«Ich habe kürzlich meinen Namen geändert, nachdem ich die jüdischen Wurzeln meiner Familie entdeckte. Meine Vorfahren sind während der Phase der Toleranzherrschaft der Königinwitwe Hedwig Eleonora von Schleswig-Holstein-Gottorp nach Schweden eingewandert.»

«Hedwig war eine sehr großzügige Witwe», sagte Ukea mit maliziösem Lächeln, indem sich seine Fingerkuppen wieder leicht berührten. «Ich erinnere mich, einen Blick auf ihren kürzlichen Blog-Eintrag über Mats Wilanders Kampf mit dem Nordischen Dumpfheitssyndrom geworfen zu haben.»

«Es ist eine ernstzunehmende Krankheit. Sie befällt viele Schweden.»

«Daran zweifle ich nicht. Ich persönlich habe Stefan Edberg Mats Wilander immer vorgezogen.» Ukea starrte ihn kalt an. «Aber Ivan Lendl war mein Lieblingsspieler.»

«Ja, Lendl», sagte Blomberg. Er erinnerte sich gut an Lendl und seine vernichtende einhändige Rückhand. Der griesgrämigste Cyborg, der je Weltranglistenerster war.

«Aber wir sind nicht hier, um uns über Tennis zu unterhalten, nicht wahr? Sie sagten, Sie hätten einen Auftrag. Ich freue mich, dass der große Mikael Blomquvist …»

«–berg.»

«Ja, entschuldigen Sie», Ukea bedachte ihn mit einem weiteren vergifteten, kleinzahnigen Strahlelächeln. «Es ist jedenfalls gut zu wissen, dass Sie wieder für ernsthafte Printmedien schreiben.»

«Offen gestanden ist es ein privater Auftrag.»

«Privat … Ich verstehe.» Sein Mund verzog sich voller Schadenfreude. Blomberg bemerkte, dass auf Ukeas Schoß plötzlich eine Perserkatze saß. Der Vorstandsvorsitzende streichelte sie träge. Die Katze beäugte Blomberg mit sichtlicher Boshaftigkeit. «Na ja, Arbeit ist Arbeit, nicht?»

«So sehe ich das ebenfalls», entgegnete Blomberg. Er warf einen Blick auf die gerahmten Fotos auf dem Schreibtisch des CEO. Ukea, der George Steinbrenners Hand schüttelt; Ukea, der Gordon Gekko zuprostet; Ukea, der Charles Montgomery Burns umarmt.

«Helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Der Auftrag kommt von wem?»

«Twig Arssens Vater.»

Die Katze zischte wild.

«Ist ja gut, Miez», sagte Ukea. «Ah ja, ich habe vom Tod des Mannes gelesen. Eine höchst unglückliche Enthauptung.»

«Wie ich erfahren habe, war Twigs Großvater bei UKEA beschäftigt.»

«Ja, Odder Arssen war ein äußerst talentierter Designer. Bis er wahnsinnig wurde.»

«Arssen wurde wahnsinnig?»

«Aber natürlich!», rief Ukea. Die Katze schnurrte wie verrückt. «Hier, schauen Sie sich das an.» Aus der obersten Schublade seines UKEA-Schreibtisches zog Ukea eine Akte und reichte sie Blomberg.

Darauf stand zu lesen: «Arssen, Odder: Wahnsinn des».

Merkwürdig, dass er die Akte gerade zur Hand hatte.

Blomberg blätterte durch die Mappe. Sie umfasste mindestens fünfzig Seiten. Er überflog die Diagnose. Paranoide Schizophrenie. Multiple Persönlichkeitsstörung. Bipolare Kleptomanie. Ich-dystonische homosexuelle Störung. ADHS. Münchhausen-Syndrom. Selbstzerstörerische Tendenzen. Prämenstruelle Verstimmung. Er bemerkte, dass der Bericht von Dr. Madder Telepathian unterschrieben war, demselben Psychiater, der einst Lizzy Salamander diagnostiziert hatte.

«Lebte Arssen je in einer Anstalt?»

«Wir hatten keine andere Wahl. Er hatte schreckliche Wahnvorstellungen. Er beschuldigte unsere Abteilung für Wohnzimmertische der Verbrechen gegen die Menschheit.» Ukea konnte ein kleines Lachen nicht unterdrücken. «Diese Hirnverbranntheit – Hersteller von Wohnzimmertischen mit solch unaussprechlichen Verbrechen in Verbindung zu bringen! Wir konnten diese Anschuldigungen nicht länger hinnehmen. Sie untergruben die Moral. Die Qualität unserer Tische begann zu leiden.»

«Wo befand sich die psychiatrische Klinik?»

«Wieso? Natürlich hier.»

«UKEA unterhält seine eigene Psychiatrie?»

«Natürlich. Wir glauben an unsere Verantwortung den Angestellten gegenüber, die der unvermeidlichen Belastung an ihrem Arbeitsplatz nicht standhalten. Das gehört einfach zu einem Unternehmen, das sich um seine Angestellten kümmert.» Ukea spielte mit einem diamantenbesetzten Montblanc-Füller.

«Dürfte ich mir diese Einrichtung einmal ansehen?»

«Unmöglich. Da führt nur ein Weg hinein, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

Die Katze schlug mit ihren langen Klauen nach dem Füller.

«Wäre es möglich, Einblick in Ihr Firmenarchiv zu erhalten?»

«Selbstverständlich.» Ukea lachte breit, die Katze tat es ihm nach. «Aber ich fürchte, Sie werden auf wenig Interessantes stoßen. Wir haben penibel saubere Arbeitsabläufe hier bei UKEA. Alles ziemlich dumpf. Mats Wilander würde sich ganz zu Hause fühlen.»