Sechs

Fredag, 28. Januari – Måndag, 31. Januari

«In den letzten zehn Jahren sind in den Vororten von Stockholm 16 % mehr unterirdische Sex-Verliese gebaut worden als zuvor.»
«Sklaven in Suburbia: Ein wachsendes gesellschaftliches Problem?»
Report des kommunalen Arbeitsausschusses zur sexuellen Perversion in schwedischen Pendler-Gemeinden (Stockholm, Uppsala und Göteborg), März 2008

 

Wachtmeister Snorkkle starrte die Gefangene durch einen dünnen Schlitz in der titanverstärkten Tür der Einzelzelle hindurch an.

«Ist dir kalt genug?», fragte er mit einem Lachen. «Nutte.»

Salamander verschränkte ihre Arme, um sich warm zu halten. In der Zelle herrschten 34 Grad minus. Sie trug schwarze Jeans und ein schwarzes Tanktop.

«Du sitzt sooooo tief in der Scheiße», flüsterte Snorkkle.

Salamander antwortete nicht.

«Wollen wir doch mal sehen, wie du dir deinen Fluchtweg aus einer Isolierzelle hackst», höhnte Snorkkle.

Salamander joggte auf der Stelle, um Körperwärme zu erzeugen.

«Hat das kleine Hackerflittchen Anpassungsschwierigkeiten an das Leben in Isolierhaft?» Er lachte hämisch.

In diesem Augenblick vernahm Snorkkle den Türöffner am Eingang zum Gefängnistrakt. Vor ihm stand ein junger Mann im Overall von Big Bill’s Pizza. «Ich habe hier eine Spezial-Auslieferung für Lizzy Salamander. Eine große Pizza mit extra Salami und Käse.»

Wachtmeister Snorkkle kramte in seinen Taschen nach Trinkgeld für den Pizzafahrer.

«Machen Sie sich keine Mühe, Wachtmeister. Es ist alles im Voraus bezahlt worden. Über Paypal.»

Eine Stunde später hielt ein UPS-Lieferwagen vor dem Gefängnis. «Ich habe drei Kartons für Lizzy Salamander.»

Wachtmeister Snorkkle half der Lieferantin, die Kartons in die Einzelzelle zu tragen.

Wenig später kam ein Lieferwagen von FedEx.

Wachtmeister Snorkkle lugte in die Zelle. Salamander saß nun in einem bequemen Sessel und las Mathematische Prinzipien der Signalverarbeitung: Fourier-und Wavelet-Analysen von Pierre Brémaud. Über ihren Beinen lag eine flauschige schwarze Mohairdecke. Sie knabberte ein Stück Pizza-Rand und nippte an ihrem Espresso.

«Deine Tage sind so was von gezählt!», schäumte Snorkkle. Wenige Minuten später fragte er höflich: «Könnte ich ein Stück Pizza abhaben?»

Salamander hielt ihm, ohne aufzublicken, den Mittelfinger hin.

 

Seit ihrer Festnahme hatte sich Salamander geweigert, mit der Polizei zu sprechen. Wachtmeister Flunk und Snorkkle hatten lediglich erreicht, in die Stirn gebissen zu werden.

Nach ihrem zweiten Hafttag betrat Hauptkommissar Bubbles Salamanders Isolierzelle und stemmte die Arme in die Hüften. Wortlos öffnete er ein tragbares Schachbrett und setzte es auf den UKEA-Beistelltisch, den Salamander am Morgen zusammengebaut hatte. Bubbles stellte die Figuren auf.

«Wenn Sie gewinnen, keine Fragen. Wenn ich gewinne, dürfen wir Sie verhören. Abgemacht?»

Ein unmerkliches Nicken.

«Kann ich mit Schwarz spielen?», fragte sie beinahe flüsternd.

«Was immer Sie bevorzugen.»

Bubbles stellte die alte sowjetische Schachuhr ein. Sie bekamen beide zwei Stunden für ihre ersten vierzig Züge.

Das erste Spiel endete remis. Ebenso das zweite, dritte und vierte.

«Sie sind ziemlich gut», sagte Salamander widerwillig.

«Sie selbst sind aber auch nicht schlecht», sagte der Kommissar.

Am nächsten Morgen erschien Bubbles wieder in Salamanders Zelle. Ohne zu grüßen, fragte er missmutig: «Was ist besonders an der Zahl 162?»

Salamander antwortete umgehend. «Es ist die kleinste Zahl, die auf neun verschiedene Arten als Summe von vier positiven Quadraten dargestellt werden kann.»

Bubbles nickte kaum.

Dann feuerte Salamander eine eigene Frage auf ihn ab: «Wie sieht’s mit 164 aus, Bulle?»

«Die kleinste Zahl, die auf zwei verschiedene Arten als Summe zweier Quadratzahlen geschrieben werden kann», sagte der Kommissar.

Salamander erschauerte kaum merklich.

«183?», fragte Bubbles.

«Die kleinste Zahl n, deren Quadratsumme mit n+1 wieder eine Quadratzahl ist!», schrie Salamander. «187?»

«Die kleinste Quasi-Carmichael-Zahl zur Basis 7!», rief Bubbles. «210?»

«Produkt der ersten vier Primzahlen!»

«9415?»

«Summe der ersten neunzehn Zahlen mit Quersumme 19!»

«9856?»

«Summe der Möglichkeiten, zwei nicht angreifende Springer auf einem zwölf mal zwölf Felder großen Schachbrett zu platzieren!»

Sie lehnten sich verschwitzt und erschöpft auf ihren Stühlen zurück. Salamander pustete gegen eine pechschwarze Haarsträhne, die ihr in die Augen fiel. «Das war … gut», sagte sie kaum lauter als im Flüsterton.

Bubbles rückte seine Krawatte zurecht und strich sich das Haar zurück. «Ich komme wieder», sagte er.

 

«Hey, du flachbrüstiges Hackerflittchen», schnarrte Wachtmeister Snorkkle. «Besuch für dich.»

Salamander war selbst davon überrascht, wie sehr sie Snorkkles Beleidigungen verletzten. Im Jahr zuvor war sie nach New York geflogen und hatte sich von einem weltberühmten Schönheitschirurgen auf Long Island die Brüste machen lassen. Sie hatte nichts Extravagantes haben wollen, ihre Oberweite sollte nur einfach größer sein als die ihres vierzehnjährigen Neffen. Der Chirurg fand, sie sollte eine Vergrößerung auf wenigstens 70A vornehmen lassen, aber Salamander wollte nicht vollbusig wirken. Jetzt bereute sie, dass sie den Vorschlag des Schönheitschirurgen nicht angenommen hatte.

«Hey, Cybernutte. Hast du mich verstanden? Irgend so ein Loser will dich besuchen.»

Eines Tages senge ich Snorkkle die Eier ab, schwor sich Salamander.

Sie wurde in den Besucherraum geführt. Das Erste, was sie wahrnahm, war die Aktenmappe mit dem vertrauten Monogramm. KFB.

Kalle Fucking Blomquvist. Oder wie immer er jetzt heißt.

«Hallo, Lizzy.»

«Hallo, Blomstein.»

«–berg.»

«Ist doch egal.»

«Weißt du, ich habe entdeckt, dass meine Familie jüdische Wurzeln hat.»

«Erspar mir die Vorlesung über die Phase der Toleranzherrschaft der Königinwitwe Hedwig Eleonora von Schleswig-Holstein-Gottorp.»

Blomberg musste lächeln, als ihm wieder einfiel, dass Salamander die Geschichte seiner Vorfahren kannte, seit sie sich in seinen Computer gehackt und seine gesamte Festplatte gelöscht hatte. Zwei Jahre lang hatten sie sich nicht gesehen. In diesen zwei Jahren hatte sich viel verändert. Man hatte Volvo nach China verkauft. Saab war für tot erklärt worden, nur um in letzter Minute von den Holländern gerettet zu werden. Und in Stockholm hatten drei neue Cafés aufgemacht.

Blomberg fand, dass sich Salamander zu ihrem Vorteil verändert hatte. Sie war immer noch zierlich, aber etwas voller geworden. «Du hast ein paar Gramm zugelegt», sagte er.

Unvermittelt krallte sie eine Hand in die Speckfalten seines Bauches. «Und wie nennst du das?», zischte sie.

Blomberg krümmte sich vor Schmerz. «Das sollte ein Kompliment sein, Lizzy. Du siehst gut aus. Und dein T-Shirt gefällt mir auch.»

Es war ärmellos und schwarz. Vorne drauf stand: SEHE ICH ETWA WIE EIN GESELLIGER MENSCH AUS?

«Ich fühle mich aber nicht gut», sagte sie.

«Was hast du denn?» Liegt es womöglich daran, dass du im Hochsicherheitstrakt in einer Zelle mit zwei gewissenlosen Mördern zusammengesperrt bist?

Sie zuckte mit den Schultern. «Ich weiß auch nicht. Ich werde bald dreißig.»

Blomberg bekam einen Melancholieanfall. Lizzy wurde dreißig! Als sie im Kellerverlies eines der mächtigsten schwedischen Industriebosse/psychopathischen Killers miteinander geschlafen hatten, war sie eine knabenhafte Fünfundzwanzigjährige gewesen.

Sie schlenderten zum Gefängnis-Starbucks hinüber, das bei den Gruppenvergewaltigern aus Jämtland sehr beliebt war. Blomberg sah ihr zu, während sie vier gehäufte Teelöffel Zucker in ihren Kaffee schaufelte. Also hatte sich doch nicht alles geändert.

«Wie geht’s deiner Familie?», fragte Blomberg.

«Alle tot.»

«Und deine Schwester?»

«So gut wie.»

Blomberg lächelte. Er dachte an das Foto in Salamanders Wohnung. Die beiden Schwestern, die eine rothaarig, die andere blond. Er betrachtete die roten Ansätze, die unter ihrem pechschwarz gefärbten Haar durchschimmerten.

«Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt», fragte Blomberg, «dass du glatt als Pippi Langstrumpf durchgehen könntest, wenn du deine Haare nicht färben würdest?»

Salamander schnaubte verächtlich. «Ja klar, so ungefähr jeder, du Dummkopf. Aber ich will von dieser Versagerin nichts mehr hören, das macht mich krank. Pippi hat zugelassen, dass ihr Vater mit ihr unaussprechliche Sachen an unaussprechlichen Körperstellen macht.»

«Wirklich? Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern.»

«Dann solltest du nochmal Pippi und die Oxelösund Bömshüttå lesen.»

«Ich glaube nicht, dass mir meine Mutter diesen Band vorgelesen hat.»

«Es war der letzte aus der Reihe.» Salamander starrte mürrisch auf den Boden. Dann ließ sie einen Speichelfaden aus ihrem Mund laufen und saugte ihn wieder ein.

«Es wäre mir lieber, wenn du das nicht machen würdest.»

Sie zündete sich eine Zigarette an und blies ihm den Rauch ins Gesicht.

«Und das auch nicht. Sieh mal, Lizzy, ich bin gekommen, um dir zu helfen.»

«Ich brauche deine Hilfe nicht, Kalle Fucking Blomski.»

«–berg. Und mein erster Vorname ist Mikael. Und ich habe zufällig einen richtigen zweiten Vornamen. Solomon.»

«Kalle Fucking Blomski», wiederholte sie.

«Du hast zwei Männer umgebracht, Lizzy. Ich bin nicht hier, um darüber zu urteilen. Ich weiß, dass du über die Jahre ein paar Probleme mit der Aggressionskontrolle hattest. Aber du brauchst einen guten Anwalt. Es gibt immer noch eine Menge Staatsanwälte und Polizisten, die es nicht okay finden, dass du ungeschoren davongekommen bist, nachdem du deinem Vater mit der Axt den Schädel gespalten, deinen Halbbruder an den Boden getackert, deinen gesetzlichen Vormund kopfüber an einem Angelhaken aufgehängt und eine Motorradgang in eine Eunuchentruppe verwandelt hast.»

Selbst Lizzy musste zugeben, dass sie eine ziemlich komplizierte Beziehung zum Gesetz hatte. Und dann, wie um Blombergs Mahnung zu unterstreichen, ging Wachtmeister Snorkkle an ihnen vorbei und murmelte beinahe unhörbar: «Dieses Mal nageln wir deine Satansfotze an die Wand, du krankes transsexuelles Luder.»

«Ich wurde freigesprochen, schon vergessen?», fragte Salamander.

«Das war damals, Lizzy. Aber jetzt ist jetzt. Die Staatsanwaltschaft hat einen Doppelmord zu bearbeiten. Inklusive körperlicher Verstümmelungen. Und fachmännisch ausgeführter Enthauptung. Sie werden dich mit Beschuldigungen überhäufen. Wir sind hier in Schweden, Lizzy, nicht in Island. Die können dich für fünf Jahre in den Knast schicken. Womöglich sogar für sechs.»

«Ich habe es nicht getan. Warum sollte ich meine Zeit damit vergeuden, einen unveröffentlichten Krimiautor umzubringen?»

«Du weißt genauso gut wie ich, dass Arssen für zwei Fälle von nur halbeinvernehmlichem Geschlechtsverkehr mit einer schlaftrunkenen Frau verurteilt wurde.»

«Also hatte er den Tod verdient. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich es getan habe.»

«Lizzy, ich habe das Video gesehen.»

«Was für ein Video?»

«Die ganze Sache wurde von einer Überwachungskamera aufgezeichnet. Milksop, dein alter Arbeitgeber, hat zwei Wochen vor der Enthauptung mehrere Kameras in Arssens Wohnung installiert.»

«Ich frage mich, warum sie mir diesen Job nicht freiberuflich angeboten haben.» Salamander klang leicht beleidigt.

«Auf jeden Fall habe ich das Video gesehen. Die Aufnahmen sind gestochen scharf. Und man sieht dich, Lizzy, wie du den Kopf abschneidest und ihn durchs Wohnzimmer kickst. Es ist dein Schwert, es sind deine Bewegungen, und es ist dein Fußballstil.»

«Nur dass ich es nicht war.» Sie heftete den Ich-sag-verdammt-nochmal-die-Wahrheit-Blick ihrer pechschwarzen Augen auf Blomberg.

«Kannst du das beweisen?»

«Ich brauche meinen Computer.»

Blomberg dachte nach. «Ich sehe mal, was sich machen lässt.»

«Und, Blomski: Eine Packung Twinkies könnte auch nicht schaden.»

Als Blomberg auf dem Weg aus dem Gefängnis war, fiel ihm eine Wärterin auf, die seine Wampe musterte. Sie hieß Mirka Määttä. Määttä war einen halben Kopf größer als Blomberg. Ein Paar perfekte Brüste bohrte kleine Löcher in ihr hautenges, gelbblaues Polizei-Tanktop. Bevor sie zur Polizei gegangen war, hatte Määttä als jetsettendes Supermodel gearbeitet, doch dann war ihr klargeworden, dass sie sich stärker für das Wohl der schwedischen Gesellschaft einsetzen wollte.

«Ich vermute, du wirst gleich sagen, dass ich dich wahnsinnig geil mache», sagte er und entblößte grinsend sein zurückweichendes Zahnfleisch.

Die Wärterin stopfte ihm ihren Polizeiuniform-Tanga in den Mund. Dann packte sie ihn an der Krawatte und zog ihn in eine Zelle für Spezialverhöre.

 

Salamanders acht Tonnen schweren Tera-10-Großrechner in ihre enge Zelle zu schmuggeln war komplizierter, als Blomberg gedacht hatte. Glücklicherweise hatte Blomberg immer noch einen Kontaktmann bei Posten AB, seit er einen Artikel über Erpressung, Gruppenvergewaltigung und Geldwäsche im schwedischen Overnight-Kurier-Geschäft geschrieben hatte. Dem Kontaktmann, einem Esten mit einem lettischen Großonkel, gelang es, sich einen Lastwagen von der Königlich Schwedischen Post «auszuleihen». Er verpackte den Großrechner in dreißig Viking-Kühlschrankkisten. Salamander behauptete, sie bräuchte die Kühlschränke für ihre Twinkies. Seit ihrer Verhaftung war sie in einen Hungerstreik getreten und hatte sich ausschließlich von Salamipizza mit extra viel Käse ernährt. Irgendwann hatte Kommissar Bubbles nachgegeben und ihr eine Lieferung von 2000 Packungen Twinkies gestattet. Trotzdem wurde ein Wachmann misstrauisch, als der Laster von der Königlich Schwedischen Post mit den dreißig «Kühlschränken» ankam.

«Seit wann müssen Twinkies im Kühlschrank aufbewahrt werden?», fragte die Wache.

Dem Esten brach der kalte Schweiß aus, aber er fing sich sehr schnell wieder. «Die Kühlschränke sind nicht dazu da, um die Twinkies zu kühlen», erklärte er. «Die Gefangene befürchtet, dass sich Mäuse über die Twinkies hermachen, wenn sie nur in Pappkartons herumstehen.»

Der Wachmann musterte ihn kritisch, dann winkte er ihn durch.

Eine verlässliche Stromquelle für den Tera-10 bereitzustellen war ein weiteres Problem. Die eine Sicherheitssteckdose in Salamanders Zelle reichte bei weitem nicht aus. Wie Blomberg erfuhr, hatte Vattenfall vor kurzem etwa drei Meilen von dem Gefängnis entfernt einen 90-Megawatt-Windpark errichtet. Mit der Hilfe seines estnischen Freundes schaffte er es, ein paar Starkstromleitungen von dem Windpark in Salamanders Zelle zu legen. Der Anschluss verursachte einen teilweisen Stromausfall im westlichen Svealand, aber Blomberg nutzte seinen Blog, um ungewöhnlich windstilles Wetter dafür verantwortlich zu machen.

Nachdem der Computer zusammengebaut und angeschlossen war, besuchte Blomberg Salamander wieder in ihrer Zelle.

«Checken wir erst mal dieses Video», sagte Salamander.

Die Polizei hatte die Datei in ihrem Cray-X2-«Black Widow»-Supercomputer abgelegt, der für die extrem hochsensiblen Beweismittel reserviert war. Die Dateien waren mit einer SonicWALL-E-Class-NSA-7500-Firewall geschützt, und das war die sicherste auf der Welt.

Salamander brauchte zwanzig Sekunden, um sich in den Polizeicomputer zu hacken.

«Wie zum Teufel machst du das?», fragte Blomberg.

«Ich habe das System und die Sicherheitsprotokolle entwickelt.»

«Ach so.»

Blomberg schlürfte Kaffee, und Salamander kaute Twinkies, während sie sich das Video ansahen.

«Das bist du, Lizzy.»

«Falsch.» Sie kniff ihre Augen zusammen wie eine wütende Giftschlange. «Schau genau hin, Kalle Fucking Blomwitz.»

«–berg.»

Konzentriert betrachtete er die Filmbilder. Die Angreiferin sah bis hin zu ihrem pechschwarzen Lippenstift ganz genauso aus wie Lizzy.

«Das T-Shirt, Kalle, achte auf das T-Shirt.»

Er achtete auf das T-Shirt. Es war schwarz. Auf der Vorderseite zeigte ein Aufdruck Tweety, der eine M16 abfeuerte. Mach dich bereit zu sterben, beschissene Miezekatze!

«Na und?»

«Bist du blind oder was? Das T-Shirt gehört mir nicht! Ich hasse gelbe Kanarienvögel, verdammt!»

Also ist Tweety ein Kanarienvogel. Darüber hatte Blomberg irgendwie nie nachgedacht. Aber trotzdem, was sollte das beweisen?

«Ich rede mit Bubbles», sagte er, «aber ich bin nicht sicher, ob ihn das dazu bringen wird, die Anklage fallenzulassen. Sonst noch was?»

«Sieh dir mal das hier an.»

Blomberg sah zu, wie die Angreiferin ihr Samuraischwert in einer Zurschaustellung mörderischer Virtuosität durch die Luft fahren ließ.

«Ja, ich sehe es mir an …»

«Ich bin Linkshänderin, Mister Oberschlau.»

Es stimmte. Die Kriegerin hielt das Schwert mit der rechten Hand. «Das ist schon mal was», räumte Blomberg ein. «Aber bestimmt nicht entscheidend. Noch was?»

Als Nächstes hielt Salamander den Film an und vergrößerte das Standbild. Vor diesem Moment war die Angreiferin leichtfüßig die Wände hinauf und über die Decke gelaufen, und nun machte sie sich daran, zum tödlichen Schwerthieb gegen ihr Opfer auszuholen. In diesem Augenblick war der Hals der Angreiferin nach vorn geneigt und zeigte einen Teil einer Tätowierung.

«Na und?»

«Das Tattoo. Sieh es dir genau an.»

Blomberg rückte näher an den Bildschirm. «Es scheint ein … Fisch zu sein … vielleicht ein Stör.»

«Ein Baltischer Stör, um genau zu sein», sagte Salamander.

Als hätte sie Blombergs Gedanken gelesen, beugte sich Salamander vornüber und ließ ihr Haar herunterhängen, sodass ihr Nacken frei lag. Über dem Rand ihres Burton-Kapuzenpullis zeigte sich der vertraute Schädel des Tyrannosaurus, der am Bein eines Velociraptors kaute.

«Siehst du», sagte sie, «keine neuen Tattoos. Nur die alte Zallinger-Wandmalerei.»

Blomberg dachte an den Moment vor fünf Jahren, in dem er Salamander zum ersten Mal nackt gesehen hatte. Sie war eine energiegeladene, aber überraschend befangene Geliebte gewesen. Und sie hatte über die Tätowierung gejammert, die beinahe ihren gesamten Rücken bedeckte. «Ich sollte es überarbeiten lassen. Zallingers Arbeit ist in einer Zeit entstanden, in der Dinosaurier noch als trübsinnige Reptilien galten. Auf Zallingers Wandgemälde schleppt der Tyrannosaurus seinen Schwanz hinter sich her. Heute glauben die Paläontologen, dass der Schwanz hochgereckt wurde, um bei der Jagd ein Gegengewicht zu seinem Körper zu bilden. Dieser Bursche war keine Trantüte.»

«Vielleicht hast du den T. rex ja mit Make-up abgedeckt und ein Aufkleber-Tattoo mit einem Baltischen Stör benutzt.»

«Aha», sagte Salamander. «Und was ist damit?»

Einer der Vorteile, wenn man den leistungsstärksten Computer von ganz Kontinentaleuropa in seiner Gefängniszelle hatte, bestand darin, dass Salamander Bildvergrößerungen mit unglaublicher Auflösung machen konnte. Sie zoomte auf einen Abschnitt vom Nacken der Angreiferin. Blomberg erkannte jede einzelne Hautpore und auch die Einstichstellen für den Farbeintrag in die Haut, aus denen sich das Stör-Tattoo zusammensetzte. Die Tätowierung war echt. Außerdem erkannte er die Ansätze des pechschwarz gefärbten Haars der Angreiferin. Sie waren blond.

«Tja, wenn das Mädchen mit dem Stör-Tattoo nicht du bist», sagte er, «wer ist es dann?»

Salamander lächelte ihr schiefes Nichtlächeln. «Da habe ich eine ziemlich genaue Vorstellung.»

 

Sie stand auf der Waldlichtung. Die Lichtung war ungefähr 14 000 Quadratmeter groß, und vielleicht war sie inzwischen sogar noch ein bisschen größer, nachdem eine Biberfamilie die Douglasfichte am Bach umgelegt hatte. Die Flechten schmeckten für diese Jahreszeit sehr gut. Nicht so gut wie Novemberflechten natürlich, die süß und moosig waren, aber immer noch viel besser als die trockenen, unaromatischen Augustflechten. Ihre Lippen waren ein bisschen wund von dem Geknabber am Permafrost, und ihr vierter Magen grummelte. Sie wusste, dass sie diese modrigen Blätter nach dem Frühstück nicht hätte essen sollen. Wenigstens schmerzte ihr Geweih nicht mehr so sehr. Es hatte seit ihrem Streit mit Partner wehgetan. Es war das erste Mal, dass es zu Tätlichkeiten gekommen war, und jetzt schlichen sie unruhig umeinander herum. Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, worüber sie gestritten hatten. Ich kann mich sogar nicht einmal mehr daran erinnern, wann Junior geboren wurde. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich überhaupt keine Erinnerungen. Alles ist einfach nur eine immerwährende Gegenwart. Es ist echt ätzend, ein Rentier zu sein.

Wenigstens wusste sie, dass die Tage wieder länger wurden. Bald wäre sie brünstig. Dann musste sie es mit Partner aushalten. Er war ein attraktiver Bulle mit einem beeindruckenden Geweih. Um sein Kinn war in letzter Zeit ein grauer Bart gewachsen, aber seine Nüstern waren immer noch hinreißend, und sie wurde nie müde, seinen Brunftschrei zu hören. AGGGGGGWWRRHHHHHHH.

Trotzdem.

Sie warf Partner einen verstohlenen Blick zu. Da stand er und urinierte direkt auf die schönen Flechten. Hatte er so etwas schon immer getan? Oder woher kam dieses Verhalten? Wenn die Natur rief, ging sie selbst lieber in ein Birkenwäldchen. Aber ihn schien das nicht zu stören. Und es schien ihm auch nichts auszumachen, dass er auf sein Mittagessen pinkelte. Stattdessen knabberte er sogar gleich an den dampfenden Flechten weiter. So ein Schwein.

Unvermittelt begann sie sich vor der Paarungszeit zu fürchten. Es störte sie nicht, bestiegen zu werden, wenn es nicht gerade während des Essens war oder wenn sie zu schlafen versuchte, oder wenn Junior zusah. Aber darauf nahm Partner keine Rücksicht. Manchmal hatte sie sogar den Verdacht, dass er sie absichtlich beschämen wollte. Er bestieg sie bei Tag und Nacht, bei Regen und Sonnenschein, befriedigte ausschließlich seine eigenen Bedürfnisse, rein raus, und vielen Dank auch – nur dass er sich nicht einmal bedankte. Bloß ein Grunzer, und schon knabberte er wieder an urinbesudelten Flechten. Ihr Vergnügen zählte nicht. Alles, was sie davon hatte, waren unheimliche Rückenschmerzen, weil sie sein Gewicht tragen musste. Er ist wirklich kein bisschen besser als ein wilder Eber.

Vielleicht waren die Bullen ja alle gleich. Im Allgemeinen war er für Junior ein gutes Vorbild, und er zeigte ihm, wie er mit seinen Geweihstangen das Moos von den Baumstümpfen schälen konnte. Nicht, dass Junior schon viel Geweih vorzuweisen hätte. Junior … Wo war er eigentlich? Sie ließ ihren Blick umherschweifen. Wo hatte sie ihn zuletzt gesehen? Kein Gedächtnis zu haben ist einfach ätzend.

Plötzlich erstarrte sie. Wer hatte diesen Ast zertreten? Partner nicht. Er mampfte immer noch Flechten à l’Urine. Und ganz bestimmt nicht Junior. Sein Schritt war viel zu sanft. Sie zuckte mit den Ohren. Sie sah einen gleitenden Schatten zwischen zwei Farnen. Was zum Teufel? Sie hatte noch nie einen Bären gesehen, aber sie wusste instinktiv, dass das keiner war. Und Wölfe gingen nicht auf den Hinterbeinen und hielten lange, blitzende Jagdmesser hoch. Sie erhaschte einen weiteren Blick auf das Wesen, das kein Bär und kein Wolf war. Es war relativ groß, mit blondem Kopffell, und es hatte kein Geweih. Panisch sah sie sich nach Junior um, doch er war nirgends zu entdecken. Dann sprang die Kreatur hinter einer Fichte hervor und rannte auf sie zu. Partner knabberte an den Flechten, ohne etwas zu bemerken. Riesige Pranken packten sie an der Kehle. Sie versuchte zu schreien, doch dann wurde ihr klar, dass weibliche Rentiere keine Geräusche machen.

 

Kaum hatte Blomberg ihre Arrestzelle verlassen, mailte Salamander an Bubonic, einen befreundeten Hackerstar. Krankhaft fett, chronisch ungewaschen und total paranoid, war Bubonic vor ein paar Jahren Salamanders Sexpartner gewesen. Von seiner ungeheizten 6-Quadratmeter-Kellerwohnung aus hatte er vor kurzem einen Cyberangriff auf Europas und Amerikas größte Banken gestartet und dadurch einen blitzartigen Kurseinbruch auf sämtlichen relevanten Märkten und eine kurze globale Wirtschaftskrise ausgelöst.

Salamander tippte.

 

<he. bubonic.>
<manhater. lang nicht gechattet. was hast du die ganze zeit gem8?>
<lange geschichte. erzähl ich später mal. muss dich um 1 gefallen bitten. hab dir grade 1 video als mpeg-anhang geschickt.>
<hab’s schon. HAHAHA. du köpfst 1 kerl. klassischer stil. typisch manhater.>
<danke, aber ich bin das nicht. sieh mal genauer hin.>
<kapiert. die tante hat 1 anderes tattoo. sieht nach 1 baltischen stör aus.>
<schnellmerker. jetzt kommt der gefallen. hab gehofft, du könntest mit dem video ein bisschen kreativ werden. so was wie die bilder von der frau rausblenden und jemand anderen einfügen.>
<jemand bestimmten?>
<lass deine phantasie spielen.>
<mach ich. fahre nebenbei schon meinen greenscreen hoch.>