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Die Frau Doktor lag auf die Bahre geschnallt, der Notarzt hatte ihr bereits eine Infusion an den Arm gehängt, die an einem improvisierten Gestell über ihr baumelte. Erbarmungswürdig sah sie aus, dachte Gasperlmaier bei sich, mit dem blutverkrusteten Gesicht, den verklebten Haaren. Hilflos, wie ein kleines Mädchen. Ohne dass es ihm wirklich bewusst wurde, strich ihr Gasperlmaier sanft mit dem Zeigefinger über die linke Wange, die zuerst noch sauber gewesen, jetzt jedoch von Gasperlmaiers Blut verschmiert war. Die Frau Doktor lächelte. „Gasperlmaier, jetzt müssen Sie allein weitermachen.“ Ihre Stimme war sehr klein geworden, sehr schwach, kaum wahrzunehmen. „Gott sei Dank, Frau Doktor, war es nur ein Baseballschläger“, beruhigte sie Gasperlmaier. Der hatte allerdings ganze Arbeit geleistet: Die Frau Doktor war k. o. gegangen und erst nach einer Viertelstunde wieder aufgewacht, und die Rissquetschwunde auf ihrem Kopf würde dafür sorgen, dass sie ein ganzes Büschel ihrer schönen Haare vor dem Nähen der Wunde verlieren würde, dachte Gasperlmaier.

Er selbst hielt einer Sanitäterin die Hand hin, um sich verarzten zu lassen. Die zog mit einer Pinzette vorsichtig die Glassplitter aus Ballen, Handrücken und Fingern. Im Laufe des Gefechts musste er mehrmals in den Scherbenhaufen gelangt haben. Gasperlmaier zuckte und sah über seine linke Schulter, um nicht Augenzeuge der schmerzhaften Operation sein zu müssen. „Sind’s doch nicht so wehleidig! Die anderen hat’s viel schwerer erwischt!“ Ein wenig psychologisches Feingefühl, fand Gasperlmaier, wäre bei einer Sanitäterin im gegenständlichen Fall schon angebracht, auch wenn er offenbar nicht zu den Schwerverletzten gezählt wurde.

Gasperlmaier sah sich um. Der Friedrich saß immer noch an die Wand des Vorraums gelehnt, seine Uniformhose hing am linken Bein in Fetzen herunter und war an mehreren Stellen blutgetränkt, auch über seine Stirn zogen sich breite rote Streifen. Der Zivildiener war damit beschäftigt, die Reste seines Hosenbeines abzuschneiden und seine Wunden zu reinigen und notdürftig zu verbinden. Sein Bruder, der Georg, saß draußen auf der Terrasse, rechts und links von sich zwei Uniformierte, Gasperlmaier glaubte, die junge blonde Polizistin wiederzuerkennen, die schon zusammen mit ihrem Partner den Gaisrucker Marcel vom Bootshaus abgeholt hatte. Der Georg hatte offenbar den geringsten Schaden von allen davongetragen. Er wand sich noch immer vor Wut und schrie herum: „Die scheiß Wiener! Jetzt liegt sie die ganze Zeit zu Hause und heult! Und niemand kann mit ihr reden!“ Gasperlmaier begann ein Verdacht zu dämmern: Wer da zu Hause lag und heulte, das konnten nur die Evi oder die Natalie sein. Und der Georg war wohl auf die Idee gekommen, dass irgendwer aus dem Hause Naglreiter am Elend seiner Frau oder seiner Tochter schuld war. Und jetzt war der sonst so ruhige und verschlossene Georg womöglich auf die unselige Idee verfallen, sich an den Naglreiters rächen zu müssen, möglicherweise in Unkenntnis der Tatsache, dass von denen nur mehr die Judith am Leben war. Und zu ihrer aller Unglück hatte er dabei die Frau Doktor kampfunfähig geschlagen und auch ihm und dem Friedrich allerhand Blessuren zugefügt. Aber dass einer wie der Georg gleich durchdrehte, weil eine seiner Frauen zu Hause heulte? Das war doch eigentlich eher Alltag. Am Ende, dachte Gasperlmaier, wäre es vernünftig, gleich ein Kriseninterventionsteam zum Kitzer’schen Haushalt zu schicken, war sich aber dessen angesichts der eher traurigen Vorstellung der Frau Schwarz im vorliegenden Krisenfall doch nicht ganz sicher. Am besten würde es sein, selbst bei den Kitzerischen vorbeizuschauen, denn wenn hier aufgeräumt wäre, dann würde der Georg wahrscheinlich Richtung Verhör abtransportiert sein, während die Frau Doktor und der Kahlß Friedrich bereits mehr oder weniger auf dem Weg ins Krankenhaus waren. Er, dachte Gasperlmaier, würde jedenfalls die Stellung halten und die beiden nicht begleiten.

Im Haus gegenüber ging das Licht an und der eingefallene Brustkorb des Herrn Ingenieur Podlucki schob sich vor den Lichtkegel der Lampe. „Was ist denn da schon wieder für ein Lärm?“, krähte er mit seiner unangenehmen Stimme herunter. Der, dachte Gasperlmaier, hat uns zu unserem Glück noch gefehlt, und ihn packte der Zorn: „Ich schick Ihnen gleich ein Vernehmungsteam hinauf, Herr Podlucki, und wenn sich auch nur der geringste Verdacht gegen Sie ergibt, dann lass ich Sie vorläufig festnehmen und in Handschellen abführen, wenn Sie nicht sofort Ihr Fenster hinter sich zumachen!“ Podlucki wollte schon, wie Gasperlmaier zu erkennen glaubte, zu einer Entgegnung ansetzen, zog sich dann aber doch zurück und schloss das Fenster. Gar so mutig war er wohl auch wieder nicht.

Inzwischen hatte der Kahlß Friedrich, gestützt von zwei Rotkreuzleuten, ächzend den Weg nach draußen zum Krankenwagen angetreten, in den man die Trage mit der Frau Doktor darauf bereits eingeladen hatte. Ob der Zivi und die eher zierlich gebaute Sanitäterin, die Gasperlmaiers Splitter herausgezogen hatte, den Transport des Kahlß Friedrich unbeschadet überstehen würden, wagte Gasperlmaier nicht zu beurteilen. Ihm fiel auf, dass der Zivi auf der linken Seite schon etwas in die Knie ging, während sich die junge Frau noch tapfer aufrecht hielt. Der Kahlß Friedrich hatte dadurch etwas Schlagseite bekommen und lag noch schwerer auf den Schultern des Zivildienstleistenden. Gasperlmaier folgte der Gruppe hinkend nach draußen, wo sich bereits eine ansehnliche Zahl Schaulustiger um die beiden Rettungsfahrzeuge gebildet hatte. Zuckende Blaulichter schienen die Leute anzuziehen wie Motten das Licht. Gasperlmaier sah auch einige bekannte Gesichter unter den Gaffenden und lehnte sich erschöpft an den Türstock der Naglreiter’schen Haustür, weil sein Knie so sehr stach, dass er meinte, keinen weiteren Schritt tun zu können.

Zu viert half man dem Friedrich in den Ambulanzwagen, der sich darauf mit Blaulicht und Sirenengeheul einen Weg durch die Menge bahnte und um die nächste Straßenecke verschwand. Der Notarztwagen folgte. Gasperlmaier wandte sich um, denn das Letzte, was er jetzt wollte, war, den Leuten Rede und Antwort stehen zu müssen.

Die Judith und die Frau Schwarz saßen im Vorhaus auf einer Holzbank, die neben der Garderobe stand, wohl, um den Hausbewohnern das An- und Ausziehen der Schuhe zu erleichtern. Die Judith hatte ihre Decke mit der Frau Schwarz geteilt und sah dem Gasperlmaier recht gefasst entgegen, während das tränennasse Gesicht der Frau Schwarz gelegentlich zuckte. Als sie Gasperlmaier sah, schluchzte sie auf. Judith legte ihr beruhigend den Arm um die Schulter. Wie das möglich sein konnte, dachte Gasperlmaier. Als sie gekommen waren, war die Judith ein Häufchen Elend gewesen, und dann bricht in ihrem Haus ein Kampf aus wie in einem Saloon zu den besten Zeiten des Wilden Westens, und sie erfängt sich und muss nun ihre Betreuerin trösten. „Ich schick euch die Feuerwehr“, sagte Gasperlmaier zur Judith, die ihn fragend ansah. „Na ja, ihr braucht’s ja wen, der hier aufräumt, der die zerbrochenen Scheiben abdeckt und so weiter.“ Judith warf einen Blick auf das Chaos, als nehme sie es zum ersten Mal wahr. „Ja, wirklich“, sagte sie, „da muss jemand aufräumen. Das kann ich nicht.“ Gasperlmaier nickte. „Ich ruf gleich an. Soll ich noch bleiben, bis sie da sind?“ Die Judith schüttelte den Kopf, während die Frau Schwarz den Gasperlmaier ängstlich fixierte, als wolle sie weder erklären, er solle dableiben, weil sie sich fürchte, noch der Judith widersprechen.

Gasperlmaier vergaß auf sein Knie, belastete den Fuß im Versuch, einen Schritt zur Tür hin zu tun, worauf ein Schmerzblitz seinen Körper durchzuckte, sodass er meinte, der Kopf werde ihm vom Hals gerissen. Schon lag er auf dem Teppich, der die roten Keramikfliesen bedeckte. Noch im Liegen gewahrte Gasperlmaier ein Paar Teleskopstöcke, wie man sie zum Bergwandern benutzte, und fragte: „Sie borgen mir doch die Stöcke bis morgen?“ Die Judith nickte nur. Gasperlmaier rappelte sich auf, schnappte sich die Stöcke und machte sich humpelnd auf den Weg. „Also, die kommen eh gleich!“, versuchte er die Frauen anstatt eines Grußwortes zu beruhigen. Schon bei der Gartenmauer erinnerte er sich daran, dass sein Handy zertrümmert im Garten der Naglreiters lag, blieb stehen und rief nach der Judith, denn den Weg zurück wollte er sich nicht noch einmal antun. Die kam fast sofort aus der Haustür geschossen. „Ist was passiert?“ Gasperlmaier schüttelte den Kopf. „Sie müssen selber, ich meine, ich brauch Ihr Handy, wegen der Feuerwehr. Meines ist ja kaputt.“ Schwer atmend nahm er das Handy der Judith und stellte fest, dass er ein flaches Rechteck ohne Tasten in Händen hielt, und drehte es ratlos zwischen den Fingern. Die Judith war, wie Gasperlmaier fand, schnell im Begreifen. „Ich wähl.“ Gasperlmaier sagte ihr die Nummer, worauf sie auf dem Bildschirm herumtippte und ihm das Gerät reichte. Gasperlmaier erklärte dem diensthabenden Kollegen von der Feuerwehr die Situation, der versprach, eine Mannschaft zu schicken, die das Haus der Naglreiters notdürftig für die Nacht zusammenflicken würde.

„Danke, Sie haben mir sehr geholfen.“ Ein, wie Gasperlmaier fand, warmer Blick der Judith streifte ihn, als er sich mühsam humpelnd auf den Weg in die Finsternis machte. Die Judith blieb am Zaun stehen. Gasperlmaier wandte sich um. „Ist noch was?“ „Herr Gasperlmaier, kann ich Sie wo hinbringen? Sie können doch mit dem Fuß nicht …“ Gasperlmaier überlegte. Er hatte zum Haus der Kitzers gewollt, und die fünfhundert Meter würden eine Qual werden. Am Ende war es gescheiter, sich erst nach Hause bringen zu lassen, seine Frau um einen Verband für das Knie zu bitten und dann wieder mobiler zu sein. „Wenn das geht?“ Die Judith nickte, verschwand aus seinem Blickfeld und kam hinter dem Haus mit einem schicken weißen Auto hervor, dessen Fabrikat Gasperlmaier nicht auf Anhieb erkannte. Sie hielt neben Gasperlmaier und wollte schon aussteigen, um ihm in den Sitz zu helfen, worauf Gasperlmaier heftig abwinkte, die Tür aufriss und die Stöcke hinter den Beifahrersitz warf. Sich an Sitzlehne und Türrahmen abstützend kroch er auf den Sitz, wobei er kurz vor dem glücklichen Ende eine so unglückliche Bewegung vollführte, dass sich sein Schmerz in einem lauten Schrei Luft machte, der ihm unendlich peinlich war. „Geht schon!“, schnaufte er, während ihm die Nachwehen des Schmerzes noch das Wasser in die Augen trieben.

Wenige Minuten später waren sie vor Gasperlmaiers Haus angelangt, und diesmal leistete er keinen Widerstand, als ihm die Judith zur Haustür half. Statt darauf zu warten, dass Gasperlmaier seinen Haustürschlüssel ungeschickt aus der Hosentasche fingerte, drückte die Judith auf den Klingelknopf. Als die Christine die Haustür öffnete, blieb ihr der Mund kurz offen stehen, bevor demselben ein „Ja, um Gottes willen!“ entfuhr. Nach einer Schrecksekunde packte sie den Gasperlmaier unter der rechten Schulter, während die Judith ihm unter die linke griff. So verfrachteten sie ihn gemeinsam ins Wohnzimmer, wo sie ihn auf einem der bequemeren Stühle ablegten.

Gasperlmaier hielt es für notwendig, die Situation zu erklären. „Es ist eh nichts passiert!“, versuchte er seine Frau zu beruhigen, was angesichts seines Erscheinungsbildes selbst in seinen eigenen Ohren denkbar unglaubwürdig klang. Seine Uniform war verdreckt, an mehreren Stellen zerrissen, Gasperlmaiers linke Hand war dick verbunden, sein Gesicht von Schürfwunden gezeichnet.

„Erzähl!“, forderte ihn die Christine kurz angebunden auf. „Ja, ich geh dann!“, wollte sich die Judith noch rasch davonschleichen, doch diesmal war Gasperlmaier schneller. „Möchten Sie nicht dableiben? Ich meine, in Ihrem Haus, da herrscht das Chaos, und ganz allein mit der Frau Schwarz?“ Die Christine begriff und entschied: „Sie bleiben jetzt vorläufig einmal da. Und ich bring einen Schnaps. Und einen Tee.“

Schon über dem ersten Schnaps hatte der Gasperlmaier, trotz seiner manchmal überbordenden Umständlichkeit, die Christine mehr oder weniger genau über die Ereignisse im Hause Naglreiter ins Bild gesetzt.

„Der Georg hat also durchgedreht, weil die Natalie heult und unansprechbar ist. Die Schuld gibt er dem Doktor beziehungsweise dem Stefan Naglreiter. Frage ist, hat er gewusst, dass der Stefan tot ist, oder hat er ihn selbst umgebracht, ohne dass sein Rachedurst dadurch erloschen wäre? Wollte er noch zusätzlich den Besitz der Naglreiters zerstören?“ Die Judith und Gasperlmaier sahen die Christine erstaunt an. Dass der Georg der Täter in zumindest einem der Mordfälle gewesen sein könnte, darauf war Gasperlmaier bisher nicht gekommen. Doch die Christine theoretisierte schon weiter. „Jedenfalls ist er aus dem Verkehr gezogen, ebenso wie dein Chef und die Frau Doktor Kohlross. Du bist praktisch einsatzunfähig und ganz allein mit dem Fall, zumindest bis morgen früh.“

Verständnislos schaute Gasperlmaier seine Frau an. Worauf wollte sie hinaus?

„Da trifft es sich gut“, sagte die Christine, „dass ich dich einen großen Schritt weiterbringen werde, ohne dass du einen Fuß vor die Tür setzen musst.“ Die Christine schenkte dem Gasperlmaier und der Judith noch einen Schnaps ein. „Trinkt’s den!“, sagte sie, „den werdet ihr nämlich brauchen. Wir haben Besuch. Sitzt in der Küche.“ Gasperlmaier fragte sich langsam, ob die Christine den Fall am Ende gelöst hatte und ihnen nun den Mörder oder die Mörderin präsentieren würde. Er prostete der Judith zu und stürzte seinen Schnaps hinunter, um die Angelegenheit zu beschleunigen. Wohlige Wärme breitete sich in seinem ganzen Körper aus, und auch die Schmerzen schienen sich ein wenig von ihm zu entfernen. Die Christine ging in die Küche hinüber und kam mit ihrem Gast zurück.

Gasperlmaier riss vor Erstaunen die Augen auf. Ein Mädchen mit blauschwarzen Haaren kam auf ihn zu. „Grüß Gott, Herr Inspektor!“, sagte sie, streckte ihm die Hand hin, zuckte aber unschlüssig zurück, als Gasperlmaier ihr seine blutverschmierte rechte hinhielt. Die Christine befreite sie aus der peinlichen Situation. „Das ist die Sabrina Höller“, sagte sie. „Setz dich einfach da aufs Sofa.“ Die Sabrina setzte sich folgsam, obwohl ihr ganzes Äußeres Folgsamkeit nicht gerade als ihre herausragendste Eigenschaft nahezulegen schien, wie Gasperlmaier bei sich dachte. Sie hatte ein Piercing in der Nase, zudem hatte sie mehrere Löcher in beiden Ohrläppchen, von denen allerlei Metallteilchen herabbaumelten. Auch die Unterlippe und die rechte Augenbraue waren durchbohrt und mit Metall geschmückt. Da die Sabrina nur ein schulterfreies Oberteil mit Spaghettiträgern trug, blieben dem Gasperlmaier auch die Tätowierungen eines Schlangenkopfs über ihrer rechten Brust und der Drache auf der linken Schulter nicht verborgen. Die Schlange, konnte Gasperlmaier beobachten, war nicht gänzlich zu sehen, sie verschwand im Ausschnitt der Sabrina, und Gasperlmaiers Fantasie reichte aus, sich halbwegs vorzustellen, worum oder worauf das Hinterteil der Schlange sich wohl schlängeln mochte.

„Erzählst du den beiden noch einmal, was du mir erzählt hast?“ Der Kehlkopf der Sabrina zuckte, Gasperlmaier sah, dass sie den Tränen nahe war. Verneinend schüttelte sie den Kopf. Die Christine seufzte. „Sabrina, du weißt, dass das, was du mir erzählt hast, sowieso nicht geheim bleiben wird. Die Polizei wird auf jeden Fall draufkommen. Und wenn wir es für uns behalten, wird es uns beide schwer belasten, helfen wird es wahrscheinlich keinem. Und ich finde, auch die Judith hat ein Recht darauf, zu erfahren, was wirklich passiert ist. Auch wenn es für sie sehr unangenehm ist.“

Der Sabrina begannen die Tränen über die Wangen zu rollen, sie blieb jedoch stumm. „Sabrina, überleg es dir noch einmal“, fuhr die Christine fort. Die Judith richtete sich auf und rutschte zur Stuhlkante vor. „Was ist für mich unangenehm?“

Die Christine wandte sich noch einmal an die Sabrina: „Wenn ich jetzt alles genau so erzähle, wie du es mir gesagt hast, und wenn wir dann entscheiden, ob es jemand anderer erfährt, ist das dann in Ordnung?“ Nach langem Zögern kam ein unschlüssiges Nicken von ihr.

„Also!“, begann die Christine. „Und du korrigierst mich, wenn ich was Falsches sage?“, wandte sie sich nochmals der Sabrina zu, die nun schon ein wenig zuversichtlicher nickte. „Die Natalie hat der Sabrina Folgendes erzählt, weil sie es einfach nicht mehr ausgehalten hat, damit allein zu sein. Die Sabrina wiederum ist eine ehemalige Schülerin von mir, eine sehr nette, übrigens!“ Gasperlmaier kam sich ertappt vor, denn er hatte gerade den üppigen Körperschmuck der Sabrina unverhohlen bewundert, fasziniert auf der einen, abgestoßen von den unnatürlichen Veränderungen an dem eher mageren, blassen Körper auf der anderen Seite. Ihre letzten Worte hatte die Christine betont zu ihm und seinen abschätzigen Blicken hin gesprochen, deshalb wandte sich Gasperlmaier schnell seiner Frau zu, die jetzt fortfuhr: „Die Natalie war am Sonntagabend auf dem Kirtag. Sie war eigentlich viel zu lange dort, denn das, was passiert ist, hat sich etwa um drei Uhr früh zugetragen. Die Natalie hat aufs Klo müssen, wollte in den Wagen, dort aber war die Klofrau gerade damit beschäftigt, Erbrochenes wegzuputzen. Der Natalie hat gegraust, sie hat sich gedacht, sie erledigt ihr kleines Geschäft zwischen zwei parkenden Autos. Leider ist sie dort, gerade als sie die Hose hinuntergelassen hat, vom Doktor Naglreiter gesehen worden. Der war, wie die Natalie erzählt, betrunken, hat sich ihr genähert und anzügliche Bemerkungen gemacht, als er sie erkannt hat. Die Sabrina weiß, was genau er gesagt hat, aber das lassen wir jetzt beiseite.“ Die Judith seufzte auf. „Es tut mir leid, Frau Naglreiter, aber das ist, was die Natalie behauptet, mehr nicht. Und Sie werden sehen, dass es durchaus glaubwürdig ist, wenn ich weitererzähle.“

„Schon gut. Ich weiß, wie mein Vater war. Ich …“ Sie zögerte und wandte sich zu Gasperlmaier. „Ich glaube, in irgendeiner Weise zähle ich auch zu seinen … Opfern.“ Die Sabrina warf der Judith einen überraschten Blick zu, woraufhin Gasperlmaier mit einer beruhigenden Geste versuchte, die Christine dazu zu bewegen, weiterzureden.

„Er ist also letztlich zudringlich geworden, so zu-dringlich, dass die Natalie schreien wollte, woraufhin ihr der Doktor Naglreiter den Mund zugehalten und sie geohrfeigt hat. Die Natalie hat gezappelt und gestrampelt, und dabei zufällig das Messer in die Hand bekommen, das der Doktor in der Lederhose stecken hatte. Sie hat es in ihrer Verzweiflung herausgezogen und einfach drauflosgestochen, um sich von ihm zu befreien. Die Sabrina erzählt, er habe kurz aufgestöhnt, dann die Natalie weiter beschimpft und bedroht, sei aber schließlich hinter den parkenden Autos verschwunden, mit vor den Bauch gehaltenen Händen.“

Gasperlmaier sah zur Judith hinüber, die ihr Gesicht hinter den Händen verborgen hatte und schluchzte. „Ich verstehe, Frau Naglreiter, dass das für Sie schwer zu ertragen ist. Aber ich glaube, dass die Wahrheit für alle auf den Tisch muss, das ist letzten Endes für alle Beteiligten das Beste.“ Die Judith nickte, hörte aber nicht auf zu schluchzen.

„Die Natalie ist in Panik geraten, hat sich angezogen, das Messer genommen, ist zum See hinunter und hat es hineingeworfen. Dann ist sie sofort heim. So wie sie das erzählt hat und wie wir es sehen, hat sie in Notwehr gehandelt.“

Die Christine schenkte allen noch einen Schnaps ein. Beim Versuch, das Schnapsglas vom Tisch zu nehmen, verspürte Gasperlmaier einen heftigen Schmerz in seinem lädierten Bein und fegte in einer ungelenken Bewegung sein Stamperl vom Tisch. Seufzend stand die Christine auf, sammelte die Scherben ein und gab Gasperlmaier ein neues, gefülltes Stamperl in die nicht verbundene, immer noch blutige Hand. Gasperlmaier schüttete seinen Schnaps sofort hinunter, einerseits, um den Schmerz zu betäuben, andererseits, um die Erschütterung zu dämpfen, die ihn erfasst hatte, als er hatte hören müssen, dass die Natalie den Doktor erstochen hatte. Was dem Mädchen bevorstand, selbst wenn ihr letztendlich Notwehr zugestanden werden würde, das wagte sich Gasperlmaier gar nicht auszumalen.

„Ihr könnt euch vorstellen, wie geschockt die Natalie war, als sie gestern Vormittag erfahren hat, dass der Doktor Naglreiter tot ist. Sie hatte ja geglaubt, ihn nur verletzt zu haben. Leider hat die Natalie dann einen schweren Fehler gemacht“, fuhr die Christine fort. „Sie hat sich nämlich nicht ihren Eltern anvertraut, nicht einer Freundin und schon gar nicht der Polizei.“

Die Christine machte eine Pause, weil es ihr schwerfiel, dachte Gasperlmaier bei sich, das zu sagen, was jetzt kommen musste. Gasperlmaier hatte es schon geahnt und kommen sehen.

„Sie hat sich dem Stefan Naglreiter anvertraut. Bis zum Abend hat sie sich nicht aus dem Haus gewagt, dann den Stefan angerufen und sich mit ihm getroffen. Die Natalie behauptet, er habe sie verraten und enttäuscht. Erst habe er sie nach ihrem Geständnis beruhigt, von seinem Erbe geredet und dass sie ins Ferienhaus einziehen könne und er für sie sorgen werde. Und dass sie natürlich auch für ihn da sein müsse. Er helfe ihr schließlich, ihr Geheimnis zu bewahren. In die Öffentlichkeit wollte der Stefan nicht, weil schließlich seine Eltern erst verstorben waren, hat er behauptet. Stattdessen sind sie spazieren gegangen. Als sie dann schließlich im Dunkeln bei der Seewiese angekommen sind, ist der Natalie schön langsam gedämmert, dass er sie nicht mit nach Wien nehmen würde, sondern hier in Altaussee als Betthäschen halten wollte. Außerdem ist ihr, als er sie gedrängt hat, mit ihm zu schlafen, klar geworden, dass sie sich ihm durch ihr Geständnis völlig ausgeliefert hatte. Da hat er nämlich so eine Bemerkung gemacht, dass es ganz schlecht für sie sein könnte, nein zu sagen. Stimmt’s, Sabrina?“

Die Sabrina nickte heftig, während auch ihr wieder die Tränen über die Wangen kullerten. Die Judith hatte die Hände vom Gesicht genommen und Gasperlmaier dachte, ihr Gesichtsausdruck wäre am besten mit „fassungslos“ zu beschreiben, als auch ihr klar werden musste, was auf der Seewiese geschehen war.

„Er hat sie also erpresst, und sie hat nachgegeben und mit ihm geschlafen. Ich brauch dir nicht zu erklären, dass auch das eine Vergewaltigung darstellt!“, sprach sie Gasperlmaier direkt an. Der war nun ebenso wie die Judith fassungslos, reagierte kaum und wollte nur, dass die Christine endlich ans Ende kam, das sie alle schon kannten. „Die Natalie hat in ihrer Verzweiflung die Hand in den Boden gekrallt, dabei einen Stein erwischt und den auf den Kopf des Stefan geschlagen. Mehrmals.“

Die Christine stand auf, setzte sich neben die Judith und legte deren Kopf an ihre Brust, wie man es tat, um ein kleines Kind zu trösten. Auch der Christine stiegen nun, wie Gasperlmaier bemerkte, die Tränen in die Augen. Die Sabrina hatte sowieso schon vor einiger Zeit zu schluchzen begonnen. So war es Gasperlmaier fast recht, als ihn ein neuerlicher heftiger Schmerz in seinem Bein von den drei weinenden Frauen ablenkte.

Gasperlmaier war unschlüssig, was nun zu tun war. Auf der einen Seite schmerzte sein Knie so sehr, dass er nichts lieber getan hätte, als eine Schmerztablette zu schlucken und sich ins Bett zu legen. Auf der anderen Seite wollte er die Sache unbedingt noch heute zu einem Ende bringen und zu den Kitzers nach Hause fahren. Die Evi und die Natalie konnten in dieser Situation nicht allein bleiben, auch weil sie nicht wussten, wo der Ehemann und Vater geblieben war. Als die Christine kurz zu ihm aufschaute, sagte Gasperlmaier: „Du wickelst mir jetzt eine elastische Binde ums Knie und gibst mir eine Schmerztablette. Wir müssen zu den Kitzers. Es geht nicht anders. Die Sabrina und die Judith, ihr beide bleibt hier. Das ist besser so.“ Zu Gasperlmaiers eigener Überraschung nickten alle. Dass seine Autorität so ernst genommen wurde, war er nicht gewohnt.

Innerhalb weniger Minuten hatte die Christine sein Gesicht und seine freie Hand vom Blut gereinigt, ihm das Knie mit einer elastischen Binde verbunden, was nicht ohne Stöhnen und Schmerzensschreie abgegangen war, und ihm ein Glas Wasser und zwei Tabletten gebracht. Jetzt stand sie mit zwei Krücken vor ihm. Richtig, dachte Gasperlmaier bei sich, die haben wir noch vom letzten Skiunfall des Christoph zu Hause. Der brauchte sie leider fast jeden Winter, sodass man irgendwann darauf verzichtet hatte, sie der Krankenkasse wieder zurückzubringen.

Gasperlmaier richtete sich auf und machte sich auf den Weg zur Haustür. Gerade als er im Vorhaus beim Telefon vorbeihumpelte, klingelte es. Gasperlmaier ließ eine Krücke los, erwischte zwar den Hörer noch, ging dann aber mit einem Schmerzensschrei zu Boden. Christine nahm den Hörer, aus dem immer wieder ein aufgeregtes „Hallo? Gasperlmaier?“ erklang, noch bevor sie dem stöhnend auf dem Boden Liegenden zu Hilfe kam. „Ja?“, meldete sie sich. „Eingeknickt ist er. Am Knie tut’s ihm weh“, sagte sie, nachdem sie ein paar Sekunden zugehört hatte. Kurz hielt sie die Hand über die Muschel und flüsterte ihm zu: „Die Frau Doktor Kohlross!“ Während die Christine telefonierte, half sie dem Gasperlmaier so weit auf, dass er sich an die Wand lehnen konnte. Wieder entfuhr seinem Mund gequältes Stöhnen. „Machen Sie sich um meinen Mann mal keine Sorgen“, entgegnete die Christine am Telefon, „Unkraut verdirbt nicht!“ Gasperlmaier fand, sie hätte seinen Zustand mit etwas mehr Einfühlsamkeit darstellen können und musste über ihren Scherz nicht lachen.

Die Christine hielt ihm den Hörer hin. „Gasperlmaier, wie geht’s Ihnen? Am Handy hab ich Sie nicht erreicht“, hauchte die Frau Doktor mehr, als dass sie sprach. „Geht schon!“, brummte der. „Das Handy, das ist hin. Seit der Rauferei. Sie sollten sich lieber schonen und nicht telefonieren.“ „Gasperlmaier, es ist aber wichtig. Ich hab den Obduktionsbefund bekommen, vom Doktor Naglreiter. Auf den ist zweimal eingestochen worden, mit zwei verschiedenen Messern. Wahrscheinlich auch von zwei Personen, zu verschiedenen Zeitpunkten, wobei der letzte Stich mit der zweiten Waffe tödlich war, die davor eher oberflächlich.“ Gasperlmaier blieb der Mund offen stehen. „Ja, das wollte ich Ihnen sagen. Morgen ermittelt statt mir jemand anderer weiter, ich bin ja nicht einsatzfähig. Und wenn ich mir Ihr Geschrei anhöre, glaube ich, Sie gehen auch besser ins Krankenhaus.“ „Gute Besserung. Und danke für den Anruf“, brummte Gasperlmaier anstatt einer Antwort und legte den Hörer auf.

Mühsam rappelte er sich hoch und saß schließlich, nach ausgiebigem Ächzen und Stöhnen, neben der Christine im Auto. „Nach der Natalie muss noch jemand mit einem Messer auf den Doktor Naglreiter losgegangen sein“, sagte er. „Gut für die Natalie“, antwortete die Christine. „Und wir wissen natürlich auch, wer das war!“ Die Christine trat aufs Gas, dass es Gasperlmaier in den Sitz drückte, und grinste verschmitzt. Gasperlmaier war ratlos. Woher konnte die Christine wissen, wer nach der Natalie dem Doktor ein weiteres Messer in den Bauch gerammt hatte? „Überleg doch!“, forderte die Christine Gasperlmaier auf, „die Natalie muss aufs Klo. Mit wem war sie auf dem Kirtag? Mit dem Stefan. Es kann ja nur jemand gewesen sein, der mitbekommen hat, wie sich die Natalie gegen den Doktor Naglreiter gewehrt und ihn verletzt hat. Wer kann sie gesucht haben, als sie nicht beim Klo war? Der Stefan. Wer hatte ein Motiv, den Doktor Naglreiter endgültig umzubringen? Der Stefan. Wer hatte eine Mordswut auf seinen Vater, als er mitgekriegt hat, dass der auf die Natalie losgegangen war? Der Stefan. Natürlich muss das so passiert sein, dass die Natalie davon gar nichts mitbekommen hat. Der Stefan hat sich bei ihr gar nicht mehr blicken lassen, sodass sie glauben musste, sie habe seinen Vater getötet, als sie am nächsten Tag von dessen Tod erfuhr. Und diese Situation wollte der Stefan für seine eigenen Zwecke ausnutzen!“

Gasperlmaier erschien das logisch, aber er mochte es gar nicht glauben. Zunächst bringt der Ehemann die Ehefrau um, dann der Sohn den Vater, und schließlich muss auch noch der Sohn ins Gras beißen. Ob sich diese komplizierte Geschichte auch beweisen lassen würde, davon war Gasperlmaier nicht überzeugt. Schließlich waren zwei der drei Täter tot.

Als sie vor dem Haus der Kitzers hielten, folgte eine umständliche Prozedur des Aussteigens, Krücken-in-die-Hand-Nehmens und sie begleitender Schmerzenslaute. Nur kurz musste die Christine läuten, bis die Evi öffnete. Sie sah völlig verschrumpelt und verheult aus, fand Gasperlmaier. Überrascht starrte sie die Besucher an, während die Christine bat: „Lass uns hinein, Evi. Es ist wichtig.“

Wortlos begleitete die Evi die beiden in die Küche, wo sich Gasperlmaier auf einen Sessel neben dem Esstisch plumpsen ließ, an dem er tags zuvor noch mit der Evi und dem Kahlß Friedrich ausgiebig dem Selbstgebrannten der Kitzers zugesprochen hatte. Gasperlmaier erinnerte sich, wie kratzbürstig die Natalie gestern noch gewesen war, obwohl die Sache mit dem Doktor Nagl-reiter da ja schon passiert war. Erst nach der Geschichte mit dem Stefan, dachte Gasperlmaier, ist sie also zusammengebrochen. Den Doktor, den hat sie noch verdrängen können. Seltsam, dachte Gasperlmaier, er konnte über die Todesfälle nur in Wörtern wie „Geschichte“ oder „Sache“ denken, das Wort „Mord“ wollte sein Hirn im Zusammenhang mit der Natalie nicht einmal denken.

Weder Gasperlmaier noch die Evi machten Anstalten zu sprechen, worauf Gasperlmaier der Christine einen Blick zuwarf, von dem er hoffte, dass sie ihn verstehen würde: Sie sollte reden. Und die Christine ließ sich nicht lange bitten. Während sie der Evi langsam, in beruhigendem Tonfall, alles erzählte, was die Natalie und den Georg betraf, wurde deren Gesicht immer starrer. Gasperlmaier hatte das Gefühl, die Evi bekam gar nicht recht mit, was ihr da eigentlich erzählt wurde. Obwohl die Christine alles in Worte kleidete, die so schonend wie möglich ausfielen, schien die Evi einfach nicht in der Lage zu sein, all das Schreckliche aufzunehmen, mit dem sie sich jetzt konfrontiert sah. Bevor die Christine zum Ende der Geschichte kam, zu dem Vorfall im Haus der Naglreiters, fragte sie die Evi: „Evi, hörst du, was ich sage? Verstehst du mich?“ Rein mechanisch, wie es Gasperlmaier schien, bewegte die Evi den Kopf auf und ab.

Gasperlmaier meinte zu spüren, dass der Schmerz in seinem Knie nachließ, am Ende begann die Schmerztablette doch zu wirken, was er schon nicht mehr geglaubt hatte. „Ich geh jetzt hinauf zur Natalie!“, sagte er, weil er fand, dass es Zeit war, mit dem Mädchen zu reden, mit der Evi mussten sie sich nicht zu zweit beschäftigen, die saß ohnehin völlig erstarrt auf der Küchenbank. Gasperlmaier schnappte sich seine Krücken und stellte fest, dass der Schmerz im Knie, wenn er es belastete, ein wenig dumpfer und leichter erträglich war. Ohne dass die Evi oder die Christine widersprochen hätten, machte er sich auf den beschwerlichen Weg die engen Stiegen hinauf, nur im Flüsterton fluchend, damit er sich nicht allzu früh verriet. Die Natalie fand er auf ihrem Bett vor, zusammengekauert und vollständig angezogen. Zwar hatte sie ihr Gesicht dem Gasperlmaier zugewandt, der jetzt nach einem Sitzmöbel Ausschau hielt, sie starrte aber ausdruckslos ins Leere. Der Georg, dachte Gasperlmaier bei sich, war der Einzige in der Familie, der seine Wut hatte herauslassen können, die Frauen fraßen offenbar alles in sich hinein und erstarrten dabei. Gasperlmaier angelte sich den Bürostuhl, der vor dem Schreibtisch der Natalie stand. Ein wenig mühsam war es, gleichzeitig mit den Krücken und dem Stuhl zu hantieren, bis Gasperlmaier schließlich die beiden lästigen Gehhilfen von sich warf, die lautstark zu Boden polterten. Schon fürchtete Gasperlmaier, die beiden Frauen unten könnten nachsehen kommen, ob oben etwas geschehen war, aber das konnte er jetzt auch nicht mehr ändern. Auf die Stuhllehne gestützt, schob er das Sitzmöbel in den engen Spalt zwischen Regal und Bett, ließ sich darauf nieder und konnte mit knapper Not den Sessel noch so drehen, dass er zur Natalie hinsehen konnte. Der Schmerz im Knie, den er dabei empfand, war wieder frisch und heftig, so als habe er sich gerade eben verletzt. Gasperlmaier stöhnte nur leise, mit Rücksicht auf die Natalie, deren Schmerz weit größer sein musste als sein unwesentlicher.

Wie anfangen? Gasperlmaier mochte nicht herumreden. „Den Doktor Naglreiter, den hast nicht du umgebracht. Was du ihm getan hast, das war nur ein Kratzer.“ Zwar rührte sich die Natalie nicht, aber Gasperlmaier meinte, ein Aufglimmen von Interesse in ihren Augen zu bemerken. „Die Sabrina hat uns alles erzählt“, fuhr Gasperlmaier fort. „Sie hat das nicht für sich behalten können. Es war ihr zu schwer.“ Die Augäpfel der Natalie bewegten sich, ohne dass sie Gasperlmaier direkt anblickte. „Für dich ist es auch leichter, wenn endlich alles herauskommt. Das ist ja kein Leben, so!“ Gasperlmaier wies mit einer unbestimmten Geste auf die zusammengekauerte Natalie. „Hör einmal zu: Das mit dem Stefan, da sind wir uns sicher, das war Notwehr. Schließlich hat er dich …“ Gasperlmaier überlegte, wie er den sexuellen Aspekt, den er nicht direkt ansprechen wollte, ja konnte, deutlich machen sollte. „Also, er hat dich gegen deinen Willen gezwungen. Und du hast das nicht geplant, da war kein Vorsatz!“ Gasperlmaier fragte sich, ob er da nicht auf dem besten Weg war, der Natalie etwas in den Mund zu legen, was sie entlasten konnte. Aber, auf der anderen Seite, wozu war er sonst da, als ihr die Sache ein wenig leichter zu machen? „Und du hast ihn doch bestimmt auch nicht umbringen wollen, du wolltest ihn doch nur …“ Neuerlich überlegte Gasperlmaier, wie fortzusetzen war. „Du wolltest, dass er weggeht. Dass er dich in Ruhe lässt. Du wolltest, dass er endlich aufhört.“ Na ja, dachte Gasperlmaier, jetzt habe ich der Natalie mit meiner Hausfrauenpsychologie erklärt, was sie gewollt hatte, und er fragte sich, ob das wirklich eine so gute Idee gewesen war. Jedenfalls warf sie ihm endlich einen Blick zu, und zwar, ohne in Tränen auszubrechen, ohne zu zucken, ohne loszubrüllen. „Muss ich ins Gefängnis?“, fragte sie unvermittelt. „Ich geh nämlich nicht ins Gefängnis. Lieber bring ich mich um.“

Gasperlmaier vollführte einige Gesten, die er für beruhigend hielt, wusste aber keine Antwort. „Niemand kommt ins Gefängnis!“, sagte die Christine bestimmt. Sie stand in der Tür, ohne dass Gasperlmaier sie heraufkommen gehört hatte, und offenbar hatte sie Natalies Worte mitgehört. „Wir fahren jetzt alle ins Krankenhaus. Die Natalie und die Evi brauchen psychologische Betreuung und keine Polizei. Und du, Gasperlmaier, du brauchst einen Arzt, der sich um dein Knie kümmert.“

Wunderbar, dachte Gasperlmaier, dann sind wir morgen früh alle zusammen im Krankenhaus, alle Überlebenden der Katastrophe. Und Gasperlmaier fragte sich, ob er den nächsten Kirtag würde genießen können. Mit einem Blick auf die Natalie, die von der Christine in den Arm genommen worden war, dachte er, dass das wohl sehr stark davon abhängen würde, wie es dem Mädchen in einem Jahr ging.