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„Kommst jetzt erst? Und rufst nicht einmal an?“ Sehr herzlich war der Empfang nicht, der Gasperlmaier zuteil wurde, als er durch die Küchentür trat, mit dem festen Vorsatz, freundliche Stimmung zu verbreiten. „Der Christoph hat schon gegessen. Ich hab auf dich gewartet.“ Ein vorwurfsvoller Blick traf Gasperlmaier aus den graugrünen Augen, die ihm schon damals so gefallen hatten, als die Christine sich entschlossen hatte, nach der Matura die Pädagogische Akademie in Salzburg zu besuchen und Lehrerin zu werden. Gasperlmaier begann gerade innerlich an einer Entschuldigung zu feilen, als die Christine schon viel versöhnlicher fragte: „Magst ein Bier zum Essen?“ Gasperlmaier fand es nicht klug, sich jetzt in Einzelheiten über die Biere und Schnäpse zu verlieren, die er bei der Evi konsumiert hatte, und nickte nur ergeben. „Bitte!“

„Setz dich einfach hin!“, sagte die Christine zu ihm, „immerhin hast du heute einen langen Tag gehabt. Ich hab ja noch Ferien.“ In günstigen Jahren fiel der Schulbeginn nicht auf den ersten, sondern auf den zweiten Montag im September. Das ermöglichte es den Schulkindern, ebenso natürlich ihren Lehrerinnen und Lehrern, ausgiebig am Kirtag teilzunehmen. So war es auch heuer gewesen. Die Christine stellte einen Teller vor Gasperlmaier hin, auf dem sich ein kleines Häufchen Spaghetti mit irgendeinem klein geschnittenen Gemüse drinnen befand, gekrönt von einem Saiblingsfilet mit knusprig braun gebratener Haut. Die Christine, dachte Gasperlmaier bei sich, war zwar eine begnadete Köchin, und was sie auf den Tisch brachte, schmeckte meist so gut, dass Gasperlmaier nach jedem einzelnen Bissen innerlich Gott dafür dankte, dass diese Frau sein Werben erhört hatte. Aber in der Regel gab es zu wenige von diesen Bissen, die göttlichen Gerichte kamen in recht bescheidenen Portionen daher und hoben sich zu Gasperlmaiers Leidwesen ziemlich krass von dem ab, was er bei seiner Mutter als deftige Hausmannskost kennen und schätzen gelernt hatte. Da waren die Schnitzel schon einmal über den Tellerrand gehangen, und es hatte immer noch eine Scheibe Schweinsbraten und noch einen Knödel gegeben, wenn Gasperlmaier seinen Teller leergeputzt hatte.

Als die Christine bemerkte, dass Gasperlmaier seinen Sailbling ohne rechte Begeisterung musterte, ermahnte sie ihn: „Kost doch erst einmal. Und denk daran, dass du ohne meine Kost wahrscheinlich schon so fett wärst wie der Kahlß Friedrich.“

Gasperlmaier begann den Saibling gleich viel attraktiver zu finden, als die Christine sein Kinn zwischen ihre Finger nahm, zu sich herumdrehte und ihm einen zarten, feuchten Kuss auf die Lippen drückte. Gasperlmaier schätzte sich glücklich, dass seine Frau nach mehr als zwanzig Ehejahren immer noch so küsste, wie sie eben küsste, mit Gefühl und Leidenschaft, und nicht einfach nur gedankenlos zuschnappte.

Die Christine schenkte ihm ein Lächeln und ein Leichtbier in ihre Gläser ein, fein säuberlich aufgeteilt zwischen ihnen beiden, und schnitt sich ein Stück von ihrem Saibling ab. Gasperlmaier widmete sich ebenfalls seinem Abendessen und musste sich eingestehen, dass der Fisch und auch die Nudeln darunter hervorragend schmeckten. Er beeilte sich, das der Christine zu versichern. Sie schenkte ihm dafür ein strahlendes Lächeln, das Gasperlmaier sämtliche Ausschnitte und Beine der Altausseer Damenwelt, denen er heute ausgesetzt gewesen war, vergessen ließ.

Eine schöne Frau war sie, die Christine, dachte Gasperlmaier bei sich, und das mit ihren bald fünfundvierzig Jahren. Wenn sie im Sommer am Altausseer See lagen, Gasperlmaier nach dem Schwimmen aus dem Wasser kam und die Christine mit ihrem Buch auf dem Bauch liegen sah, mit ihren wohlgerundeten Hüften, der schlanken Taille und der glatten Haut an den Oberschenkeln, da gratulierte sich Gasperlmaier immer wieder selbst zu seiner Frau, vor allem, wenn er sich ein wenig umsah, was da sonst auf dem Badeplatz an birnen- und apfelförmigen Körpern, an schlaffen Hintern und aus der Form geratenen Brüsten durch die Gegend geschlenkert wurde. Und recht hatte sie, die Christine, ohne sie wäre der Gasperlmaier bei Bier und Schweinsbratl am Ende völlig versumpert. Einen Narren schalt er sich selbst, dass er den Fisch heute so skeptisch gemustert hatte, wo er doch wirklich ganz einmalig schmeckte. „Safran ist da drinnen. Sehr teuer“, informierte ihn die Christine. „Dafür gibt’s eben weniger.“

Gasperlmaier hatte es gar nicht glauben können, dass sich die Christine für ihn interessierte, als sie aus Salzburg nach Altaussee zurückgekommen war. Als wilde Henn’ hatte sie im Dorf gegolten, rote Haare hatte sie damals gehabt und seltsame Kleider und Röcke aus Indien und Afghanistan getragen, mit Spiegeln darauf sogar. Selten waren solche Mädchen damals gewesen, die in der Stadt studiert hatten und dann wieder zurückkamen. Nichts war damals gewesen mit Dirndl und Tracht und Volksmusik und Bierzelt. Die Christine hatte von Jazz geredet, war immer wieder zu Konzerten von Gruppen mit seltsam klingenden Namen nach Bad Aussee oder Ischl gefahren, und Gasperlmaier hatte sie lange im Stillen mit ein wenig Ehrfurcht, aber auch großem Respekt aus sicherer Distanz mehr beobachtet als geliebt. Sie hatte ja auch einen fürchterlichen Ruf gehabt: In der Volksschule hatte sie mit modernen Unterrichtsmethoden die Mütter auf die Palme gebracht, die mit kooperativem offenem Lernen und anderen neumodischen Ansichten, mit denen die junge Lehrerin daherkam und von denen man in Altaussee nie etwas gehört hatte, überhaupt nichts anzufangen wussten, vor allem, wenn ihre Kinder dann mit seltsamen Zeichnungen heimkamen, die die Beziehungen innerhalb der Familien symbolisch darstellen sollten, anstatt dass sie brav Szenen aus der biblischen Geschichte abgemalt hätten, wie das seinerzeit üblich gewesen war. Verdenken hatte Gasperlmaier es ihnen nicht können, war doch in diesen Zeichnungen schon einmal eine Mutter als Spinne oder ein Vater als rosaroter Zuchteber dargestellt gewesen.

Die Christine war es gewesen, die mit dem damals blutjungen Gendarmen immer wieder Gespräche angefangen hatte, wenn sie einander zufällig in einem Wirtshaus begegnet waren. Schließlich hatte sie den unbeholfenen Gasperlmaier sogar höchstselbst und eigenhändig verführt, und schließlich hatte er sich rettungslos in die weder unauffällige noch angepasste junge Frau verliebt.

„Warum gerade ich?“, hatte er sie später manchmal gefragt, weil er sich einfach nicht erklären konnte, warum eine Frau wie die Christine sich ausgerechnet einen Altausseer Gendarmen ohne weiten Horizont, große Erfahrung oder reichhaltige Bildung ausgesucht hatte. „Weil du berechenbar warst, mein Lieber!“, hatte die Christine geantwortet. „Ich hab gleich gewusst, das ist einer, auf den man sich verlassen kann, der bei dir bleibt, der nicht sein ganzes Geld im Wirtshaus lässt, der sein Geld heimbringt und es nicht für teure Motorräder oder Autos verplempert.“ Sie sei sich auch sicher gewesen, hatte sie damals gemeint, dass der Gasperlmaier einer wäre, der nicht vor lauter Feuerwehr und Fußballverein und Bergrettung und Skiclub die Familie ganz aus den Augen verliert. Und so, dachte Gasperlmeier, war es ja auch schließlich gekommen, sonst wäre die Christine ja schließlich nicht mehr bei ihm. Dennoch hatte er manchmal Angst, dass sie sich einen interessanteren Menschen finden würde, die Sorge, dass er ihren Ansprüchen nicht gerecht wurde, vor allem in geistiger Hinsicht, nagte doch ein wenig an ihm, denn gelegentlich schwärmte sie ihm von Künstlern vor, die nicht ungern zu Lesungen und Vernissagen ins Ausseerland kamen, ihre langen Haare hinter die Ohren strichen und mit sanfter Stimme Sätze mit vielen Fremdwörtern von sich gaben.

Die Christine hatte schließlich vieles erlebt in ihrer Studentenzeit, sie hatte sogar in einer Wohngemeinschaft gewohnt.

Einmal hatte sie Gasperlmaier erzählt, was ihre Oma vom Wohnen in der WG gehalten hatte. Für gänzlich verrottet, verloren und verworfen hatte die Großmutter sie damals gehalten und sogar damit gedroht, sich aufzuhängen, falls die Christine tatsächlich in eine Kommune ziehen würde, wie sie das nannte. Fragte Gasperlmaier nach, wie das denn gewesen sei in der WG, setzte die Christine nur ein verschmitztes Lächeln auf, sagte, dass er das gar nicht wissen wolle, und behielt seit mehr als zwanzig Jahren bei sich, welch wildes Leben sie damals am Ende geführt haben mochte. Gasperlmaier wollte es sich gar nicht ausmalen, aber einiges konnte er sich vorstellen, nachdem ihm die Christine beigebracht hatte, was für Möglichkeiten es gab, im Schlafzimmer tiefer gehenden Empfindungen Ausdruck zu verleihen. Gasperlmaiers Erfahrung war dagegen mehr als beschränkt gewesen, genau genommen vor der Christine inexistent, und Gasperlmaier hatte es den Gleichaltrigen, die Mädchen einfach ansprachen, sie zum Lachen brachten und dann gewöhnlich mit ihnen in der Dunkelheit verschwanden, nie gleichtun können. Die Christine hatte, so sah Gasperlmaier das, ihn vor andauernder Einsamkeit gerettet, und mehr noch als Liebe zu ihr empfand er eine überwältigende Dankbarkeit für das, was sie aus ihm und mit ihm gemacht hatte.

Sorgfältig kratzte Gasperlmaier die letzten Reste auf seinem Teller zusammen und schob sie auf die Gabel, um den Zeitpunkt hinauszuschieben, zu dem das Gespräch beginnen musste, vor dem er sich recht fürchtete. Wie würde die Christine reagieren, wenn er ihr von seiner grauenhaft gedankenlosen Leichenverbringung und gar erst von der im Bierzelt vorgebrachten Anschuldigung erzählte?

Gasperlmaier kam jedoch gar nicht dazu, ein kompliziertes Gespräch beginnen zu müssen. „So, und jetzt erzählst du mir, was los ist.“ Die Christine war zu ihm auf die Bank gerückt und hatte ihren Arm hinter seinem Rücken durchgeschoben. Gasperlmaier verschluckte sich fast am letzten Rest seines Leichtbiers, den er noch im Mund hatte. Die Christine hatte ihn immer schon schnell und vollkommen durchschaut, wie sie das machte, war ihm ein Rätsel. „Du brauchst dich gar nicht zu wundern“, legte sie nach, „erstens hast du nicht jeden Tag mit Mord und Totschlag zu tun, dazu eine Mordsfahne und außerdem noch eine schicke Kommissarin, die man dir vor die Nase gesetzt hat. Da kommt was zusammen.“ Gasperlmaier fühlte sich ausgezogen, gehäutet, völlig nackt und bloß lagen seine innersten Regungen vor der Christine, ohne dass er überhaupt den Mund hatte aufmachen müssen. Fast fürchten konnte man so eine Frau, auf jeden Fall war es vernünftig, sie nicht zur Feindin zu haben.

„Christine.“ Gasperlmaiers Stimme brach heiser. „Da ist noch was.“ Und nun begann Gasperlmaier zu erzählen, die Worte begannen zu fließen und er erzählte der Christine alles, was er an diesem Morgen angestellt hatte, wie er den Doktor Naglreiter tot vorgefunden hatte, wie er vor lauter Angst, der Kirtag möge wegen des Todesfalls ein vorzeitiges Ende nehmen, den Doktor ins Gebüsch hatte zerren wollen, von dem Brauereilaster jedoch unterbrochen worden war und den toten Naglreiter schließlich im Pissoir hatte deponieren müssen. Fast flehentlich sah er die Christine an. „Was mach ich jetzt nur? Was soll ich tun?“ Gasperlmaier vertraute seiner Christine so blind, dass er sich nicht einmal vorstellen konnte, dass sie keinen Ausweg aus dieser Situation wusste.

Die Christine aber zog den Arm hinter seinem Rücken hervor, richtete sich kerzengerade auf und sagte nur: „Für so blöd hätte nicht einmal ich dich gehalten.“ Gasperlmaier wusste, dass die Christine sich lange Vorträge voller Vorwürfe und „hättest du“ und „wäre gewesen“ und so weiter, dass sie sich solche Vorträge grundsätzlich ersparte. Die Zeit, die sie so einsparte, widmete sie einem vorwurfsvollen Schweigen, das das Opfer noch viel mehr zermürbte als die ausdauerndste Tirade, die man sich nur vorstellen mochte.

Nachdem sie Gasperlmaier minutenlang auf diese Weise gequält hatte, während er, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, auf ein Urteil wartete, ließ die Christine ihren ausgestreckten Zeigefinger durch die Luft fahren und sagte: „Du weißt, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt?“ Gasperlmaier war verwirrt. Darüber, wie viele Möglichkeiten es gab, aus diesem Schlamassel herauszukommen, hatte er sich bislang nicht den Kopf zerbrochen. „Du kannst es der Frau Doktor gestehen, oder du kannst es für dich behalten.“ Eine so einfache Alternative hatte Gasperlmaier jetzt nicht erwartet. „Du musst dir nur der Konsequenzen bewusst sein, die es für dich hat. Ob du es nämlich sagst oder nicht, beides kann dich den Kopf kosten.“ Vor Gasperlmaiers innerem Auge entstand ein Bild, in dem ihm eine vage der Frau Doktor ähnliche Person in schwarzem Leder mit einer riesigen Axt gegenüberstand, während er mit entblößtem Hals auf die Vollstreckung des Urteils wartete. Es gab zwei Möglichkeiten, und beide führten ins Verderben? Christine fuhr fort: „Wenn du der Frau Doktor gestehst, hat sie zwei Möglichkeiten.“ Gasperlmaier wurde schwindlig ob all der Möglichkeiten. Gab es nicht eine einfache Lösung? „Sie kann es für sich behalten und damit selber ein Risiko eingehen. Sie kann alles offenlegen und dir damit die Hölle heißmachen. Du musst überlegen, wie du sie einschätzt. Wenn sie dich schützt, dann sag es ihr. Wenn sie alles öffentlich macht, zerreißen dich deine Vorgesetzten und die Medien. Überleg es dir gut. Ich halte auf jeden Fall zu dir.“ Gasperlmeier wurde bewusst, wie sehr er sich bisher bemühen hatte müssen, die möglichen Folgen seines Handelns zu verdrängen. Er musste sich eingestehen, dass er schwierigen Situationen begegnete wie ein Kind: verstecken, solange es ging, gestehen, wenn es nicht mehr zu vermeiden war, ein Donnerwetter über sich ergehen lassen, und danach war alles wieder gut. Leider, musste Gasperlmaier sich jetzt eingestehen, lief es in Wirklichkeit meist nicht so, wie sein kindliches Gemüt es ihm vorgaukelte.

Vor lauter Unentschlossenheit und Verwirrung wagte Gasperlmaier einen Ausbruchsversuch in eine unerwartete Richtung, um sich Luft zu verschaffen. Ob er die Christine in die Defensive hatte drängen wollen oder ob es eine Verzweiflungshandlung gewesen war, wusste er später nicht mehr zu sagen. „Im Bierzelt, da war einer, der hat behauptet, dass du mit dem Doktor Naglreiter …“ Weiter kam Gasperlmaier nicht, denn es traf ihn ein so vernichtender Blick – noch dazu mit hochgezogenen Augenbrauen –, dass er augenblicklich verstummte. „Ich hab ihm gleich mein Bier ins Gesicht geschüttet!“, beeilte sich Gasperlmaier hinzuzufügen, in der Hoffnung, seine wehrhafte Haltung im Augenblick der Demütigung seiner Frau möge ihm mildernde Umstände verschaffen.

„Franz“, sagte die Christine nur, doch Gasperlmaier wusste, wenn sie ihn mit seinem Vornamen anredete, dann war die Situation eigentlich schon verfahrener, als ein rostiger Güterwagen auf dem hintersten Abstellgleis der allereingestelltesten der Nebenbahnen der ÖBB sein konnte. Normalerweise nannte sie ihn liebevoll Gasperlmaier, oder auch kurz Gasperl, was manchmal auch als „Kasperl“ daherkam. In besonders intimen Situationen fielen ihr noch allerhand andere Kosenamen für Gasperlmaier ein, doch daran mochte der Angesprochene jetzt gar nicht denken. „Franz“ war so ziemlich das Schlimmste, was ihm passieren konnte. „Du solltest dich schon entschieden haben, Franz“, fuhr die Christine fort, „ob du irgendeinem versoffenen Fetzenschädel im Bierzelt vertraust oder deiner Ehefrau!“ Sie sprang mehr, als dass sie sich erhob, von der Bank, raffte mit entschlossenen Bewegungen das Geschirr auf dem Tisch zusammen und setzte es laut klappernd neben der Abwasch ab. Dann lehnte sie sich mit dem Gesäß daran und verschränkte die Arme unter der Brust, die, wie Gasperlmaier feststellte, heftig wogte.

Gasperlmaier wusste, dass alle Erklärungsversuche ins Leere laufen würden. Er hätte den Vorfall so darstellen müssen, dass er nicht im mindesten an ihrer ehelichen Treue zweifelte, sondern ihr im Gegenteil nur von der haltlosen Anschuldigung, die gegen sie vorgebracht worden war, berichtete, sie gewissermaßen neutral darüber informierte, was ein Betrunkener über sie geäußert hatte, quasi mit ihr gemeinsam über diesen Unsinn lachte. Sein Bericht hatte aber anklagend geklungen, sodass jetzt alle Beteuerungen und Entschuldigungen zu spät kamen, da mochte er reden, so viel er wollte. Dennoch versuchte er es. „Ich hab natürlich keine Minute … ich hab ihm doch sofort das Bier ins Gesicht geschüttet. Obwohl nur mehr ziemlich wenig drinnen war.“ Gasperlmaiers Stimme klang so leer, wie er sich fühlte. „Gasperlmaier, Gasperlmaier“, seufzte die Christine, und da wusste er, dass das Schlimmste schon vorbei war, da sie vom Franz wieder zum Gasperlmaier zurückgefunden hatte. „Nicht nur, dass du der Kommissarin aus Liezen schöne Augen machst, verdächtigst du auch noch deine treu sorgende Gattin des Ehebruchs mit einem Wiener Lederhosenträger.“

Die Christine hatte nur Verachtung übrig für die ganzen Touristen aus Wien, den Landeshauptstädten, aus West- und Ostdeutschland und wo auch immer sie herkommen mochten, wenn sie sich mit der ortsüblichen Tracht verkleideten, wie sie das nannte. Sogar über den Salzbaron, den ehemaligen Minister, hatte sie gehöhnt, als der sich für eine Werbebotschaft eines Telekommunikationsunternehmens in Altausseer Tracht auf einer Plätte mitten im Altausseer See hatte ablichten lassen. „Die Wiener“, pflegte die Christine zu wettern, „verkleiden sich in unsere Tracht, weil sie das alles putzig und niedlich finden, zu einer reinen Mode verkommen lassen und glauben, sie können hinten bei der Seewiese einen Heimatfilm aufführen, wenn sie dort ihre Taufen und Hochzeiten in Dirndln und Lederhosen herunterspielen.“ Die Tracht gehörte den Ausseern allein, war ihre Meinung, und sogar bei den eingesessenen Trachtenschneidern, die auch den Wiener Prominenten, dem russischen Reeder und dem schottischen Whiskybrenner eine Lederhose anmaßen, hatte sie sich schon mit spitzen Bemerkungen unbeliebt gemacht. Sogar Gasperlmaiers Cousin zweiten Grades, der Herbert, der lediglich einmal zwei Monate in Bad Aussee in die Volksschule gegangen war und sonst achtzig Kilometer entfernt im oberösterreichischen Schwanenstadt seinen Beschäftigungen nachging, hatte sich, als er sich zu seinem Fünfziger eine Ausseer Lederhose hatte schneidern lassen, ihre sarkastischen Bemerkungen anhören müssen.

Eigentlich, dachte Gasperlmaier, hätte er es wissen müssen. Niemals im Leben hätte sich die Christine mit so einem Wiener Schnösel eingelassen, selbst wenn er sie hinten und vorne nicht befriedigen hätte können, er ihr ganztags wie nachts nur auf die Nerven gegangen wäre und sein ganzes Gehalt versoffen hätte. Die Christine hätte sich vielleicht mit einem feschen, vielleicht auch jungen Altausseer getröstet, oder mit einem Jazzmusiker in Jeans und einem schwarzen Leiberl mit einem Totenschädel drauf, oder vielleicht noch lieber mit einem Literaten im Rollkragenpullover. Eifersucht keimte in Gasperlmaier auf, völlig ohne Anlass, dennoch, wenn er an die Musiker und die Literaten dachte, war sein Minderwertigkeitsgefühl den Gebildeten gegenüber stets präsent. Auch war es ihm schon wieder innerlich peinlich, dass er Gedanken wie „vorne und hinten befriedigen“ überhaupt denken konnte, wo er es doch viel eigentlicher geistig hatte meinen wollen, während ihm die drastischen Gedanken mehr oder weniger ausgekommen beziehungsweise dazwischengerutscht waren. Wie in solchen Situationen üblich geriet Gasperlmaier mit seinen Grübeleien, Assoziationen und Kreuz- und Quergedanken in so einen Schlamassel, dass er außer ratlosem Gliederzucken und verständnislosem Vorsichhinstarren keinerlei passende Reaktion zustande brachte.

Zu Gasperlmaiers Glück war es gerade sieben Uhr geworden, und der Christine fiel ein, dass es doch interessant wäre, „Steiermark heute“, die regionale Nachrichtensendung, anzusehen, denn da würde sicher über den Tod des Doktor Naglreiter und seiner Gattin in Altaussee berichtet werden.

Tatsächlich war es die Spitzenmeldung der Sendung. Kaum hatte Christine den entsprechenden Knopf der Fernbedienung gedrückt, erschien die blonde Moderatorin auf dem Bildschirm und kündigte einen Bericht über einen spektakulären Doppelmord in Altaussee an. Zu Tode gekommen, so die Moderatorin, seien „der bekannte Wiener Rechtsanwalt Doktor Hubert Naglreiter und seine Gattin Sophie“.

Die Christine setzte sich aufs Sofa und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich, um den Gasperlmaier dazu zu bewegen, sich neben sie zu setzen. Während er der Aufforderung Folge leistete, waren bereits Bilder vom Altausseer Kirtag zu sehen. Eine womöglich noch blondere Reporterin in einem altrosa Kostüm kam ins Bild, hinter ihr war der Getränkeausschank des Bierzelts zu sehen. „Ein wirklich spektakulärer Doppelmord!“, wiederholte sie die bereits von der Studiomoderatorin benutzte Phrase, „hat sich heute in Altaussee ereignet. Wie soeben bekannt geworden ist, sind die Opfer der bekannte Wiener Rechtsanwalt Doktor Hubert Naglreiter und seine Frau.“ „Das wissen wir jetzt schon!“, fauchte die Christine ungehalten dazwischen. „Doktor Naglreiter wurde heute früh von einem Polizisten auf einer Routinestreife leblos auf dem Jahrmarktgelände aufgefunden.“ Gasperlmaier hoffte inständig, dass weder sein Name noch sein Bild in der Berichterstattung auftauchen mögen, er hatte an dieser Art von Prominenz keinerlei Interesse. Auch fiel ihm auf, dass die Dame im Fernsehen kein Wort über das Klo und die Todesursache verloren hatte. Wusste man das beim Fernsehen nicht oder war ihnen das zu ordinär, dass man eine Leiche im Pissoir gefunden hatte? „Wenig später wurde die Leiche der Gattin des Rechtsanwalts im Altausseer See treibend aufgefunden. Aus Polizeikreisen verlautet, der Anwalt sei im Ostgeschäft tätig gewesen und habe verschiedene Investoren aus den ehemals sowjetischen Republiken in Geschäftsangelegenheiten in Österreich vertreten. So können derzeit Verbindungen zwischen diesen Geschäften und dem Tod des Rechtsanwalts und seiner Frau nicht ausgeschlossen werden.“

Gasperlmaier zog die Mundwinkel skeptisch nach unten. „Die Frau Doktor Kohlross meint nicht, dass es die Russenmafia war. Obwohl, sie hat schon angeordnet, dass der Vollständigkeit halber alle Hotels in der Gegend überprüft werden sollen, ob da Russen abgestiegen sind.“ Da fiel ihm siedend heiß ein, dass sie ja ihm den Auftrag gegeben hatte, nach den Russen zu suchen, und dass er noch keinen Finger gerührt hatte, um ihn zu erfüllen.

Plötzlich erschien die Frau Doktor Kohlross vor der Kamera. Als am unteren Bildschirmrand ihr Name und ihre Funktion eingeblendet wurden, wandte sich die Christine mit einem verschmitzten Lächeln Gasperlmaier zu: „Da schau her, die ist aber wirklich sehr fesch, deine Frau Kommissar. Wundert mich nicht, dass sie dich ein wenig durcheinandergebracht hat.“ Gasperlmaier jedoch wollte lieber hören, was die Frau Doktor Kohlross zu sagen hatte. „Wir ermitteln derzeit in alle Richtungen, eine Verbindung zu den Geschäften des Opfers kann weder ausgeschlossen noch nachgewiesen werden.“ Wie gut sie reden konnte, dachte Gasperlmaier bei sich, er hätte im Angesicht der Kamera und des vor seinen Mund gehaltenen Mikrofons sicher keinen vollständigen Satz herausgebracht. Und die Christine hatte natürlich recht, sie war sehr fesch, die Frau Kommissar, und selbst im Fernsehen waren ihre aus einem ernsten Gesicht blitzenden Augen auffällig schön.

„Gibt es schon konkrete Spuren, einen konkreten Verdacht?“, wollte die Reporterin wissen. Die Frau Doktor Kohlross strich sich mit einer Hand die Haare hinter die Ohren. „Konkrete Spuren gibt es sehr wohl, die werden gerade von der Spurensicherung ausgewertet. Wir wissen zum Beispiel, dass der Fundort im Falle des männlichen Opfers nicht der Tatort war. Und wir suchen intensiv nach dem Tatort für den zweiten Fall. Mehr Einzelheiten möchte ich aus ermittlungstechnischen Gründen derzeit nicht bekannt geben.“

„Die Polizei weiß also wieder einmal nichts.“ Die Reporterin wandte sich von der Frau Doktor ab und den Zuschauern vor dem Bildschirm zu. „Wenn Sie allerdings geglaubt haben, dass sich die Altausseer von einem Mord auf ihrem Kirtag vom Feiern abhalten lassen würden, dann haben Sie sich getäuscht.“

Nun sah man Filmausschnitte vom Kirtag, während die Reporterin aus dem Off weitersprach. Man sah Männergruppen in Lederhosen, die sich krachend mit Bierkrügen zuprosteten, Gasperlmaier erkannte auf einem kurzen Ausschnitt den Spendlingwimmer Leo, den man gefilmt hatte, als er gerade in einem einzigen langen Zug eine Halbe Bier leertrank. Dann kamen Bilder von der Musik im Bierzelt, und dazu sprach die Reporterin: „Nur Stunden, nachdem nebenan auf der Toilette ein Mann kaltblütig ermordet worden ist, wird hier wieder zünftig aufgespielt. Die Blutspuren sind beseitigt, das Fest kann weitergehen.“

„Das ist eine dermaßen blöde Kuh!“, ereiferte sich die Christine, „die drehen einfach alles so hin, wie sie es gerade brauchen. Dass die Leute da im Bild mit dem Doktor Naglreiter so viel zu tun haben wie ich mit dem Bürgermeister von Pago-Pago, daran denken die nicht einmal!“

Wenigstens, dachte Gasperlmaier, glauben sie immer noch, dass der Doktor im Pissoir verblutet ist. Jetzt kam die Schneider Traudl ins Bild, die Gasperlmaier schon seit der Schulzeit kannte. „Was sagen Sie zu dem Doppelmord, der heute in Altaussee passiert ist?“ Die Schneider Traudl sah der Reporterin ins Gesicht, blickte dann aber direkt in die Kamera, sodass man den Moment erkennen konnte, in dem sie bemerkte, dass sie ins Fernsehen kommen würde. „Furchtbar ist das! Ganz furchtbar!“, wimmerte sie ins Mikrofon der altrosa Blonden. „Dass es so was bei uns in Altaussee geben könnt’, das hätten wir uns nie gedacht! Das gibt’s doch sonst nur in Wien! Der war doch auch ein Wiener, oder?“ Es folgte ein Schnitt, und das Wohnhaus der Naglreiters war zu sehen. „Hier hatte sich die Wiener Familie einen Lebenstraum erfüllt. Doktor Naglreiter und seine Frau haben dieses Haus erst vor wenigen Jahren erbaut und wollten es als Alterssitz nutzen. Ein tragisches Schicksal hat das verhindert.“ Die Christine redete wieder drein: „Das ist ja das Letzte, wie die das ausschlachten. Da wird einem ja schlecht bei so viel Gefühlsduselei.“

Nun hatte die Reporterin einen Mann in Lederhose und kariertem Hemd angehalten, den Gasperlmaier nicht kannte. „Was sagen Sie zu den Morden?“ Der Mann zögerte, worauf die Kamera nahe an sein Gesicht heranzoomte. „Eine Sauerei ist das, sag ich. Kann man nicht einmal mehr auf den Kirtag gehen? Geht’s da schon zu wie in Chicago?“ Ein Schnitt folgte, und Gasperlmaier traf fast der Schlag. In der nächsten Einstellung konnte man ihn und den Kahlß Friedrich auf einer Bierbank vor dem Bierzelt sitzen sehen, wie sie gerade ihre Mittagspause gemacht hatten. Der Pfarrer Ainhirn war durch Gasperlmaier halb verdeckt, die Frau Doktor Kohlross war offenbar gänzlich hinter dem Kahlß Friedrich verschwunden. Die Kamera zoomte auf Gasperlmaiers Kopf, der gerade das Bierglas ansetzte, um einen tiefen Schluck daraus zu nehmen. Der Kommentar der Reporterin dazu: „Und was macht die Polizei? Die sitzt gemütlich vor dem Bierzelt und feiert. Kein Wunder, dass noch keine Ergebnisse der Ermittlungen vorliegen.“ Damit war der Bericht zu Ende.

Gasperlmaier schlug die Hände vor das Gesicht. Wie sollte er mit diesem Bild, das sicher alle im Ort gesehen hatte, leben? Es war doch nur eine harmlose Mittagspause gewesen, jeder musste doch einmal jausnen, und ein Bier dazu zu trinken, war das denn ein Verbrechen?

Die Christine legte ihm einen Arm um die Hüfte. „Reg dich jetzt nicht auf, Gasperl“, flüsterte sie beruhigend, „das kann jedem von uns einmal passieren. Das passiert doch andauernd. Aus dem Zusammenhang gerissene, sensationsgeile Bilder mit hämischen Kommentaren – das ist der Alltag in den Medien.“

Gasperlmaier stöhnte: „Aber die Leute glauben doch das, was sie sehen! Das Fernsehen lügt ja nicht!“ Die Christine musste ihm recht geben. Gasperlmaier merkte das daran, dass sie den Kopf an seine Schulter legte und nichts sagte. Das tat sie oft, wenn Widerspruch nicht möglich und Zustimmung nicht sinnvoll erschien.

Gasperlmaier hatte genug, endgültig genug. „Ich ruf jetzt die Frau Doktor Kohlross an und sag ihr, dass ich den Naglreiter ins Klo gelegt hab, und sie sollen mit mir machen, was sie wollen, und dass ich mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben will.“ Gasperlmaier hatte ein Gefühl, als hätte er völlig die Kontrolle über sein Leben verloren, als stürzten Dinge auf ihn herein, mit denen er nichts anfangen konnte, bei denen er nicht wusste, wie er handeln sollte, um sie wieder loszuwerden. Alles prasselte auf ihn herab, er fühlte sich schutzlos und völlig außerstande, sich von all dem zu befreien, was ihn zu Boden drückte.

Gerade als er aufstand, um sein Handy aus der Uniformjacke zu holen, fing es an zu läuten. Gasperlmaier zuckte zusammen. Sicher war es jemand, der ihn im Fernsehen gesehen hatte und sich jetzt auch noch über sein Unglück lustig machen wollte. Unsicher blickte er zur Christine hinüber, das piepsende Handy in der Faust, und wusste nicht, ob er abheben oder es zerquetschen sollte. Die Christine nickte und Gasperlmaier sah auf das Display, bevor er den grünen Knopf drückte. Jetzt konnte er endlich reinen Tisch machen.

„Lieber Herr Gasperlmaier, regen Sie sich bitte nicht allzu sehr auf. Ich habe auch gerade ferngesehen.“ Die Stimme der Frau Doktor Kohlross beruhigte ihn. Offenbar musste er sich nicht auf das Donnerwetter gefasst machen, das er erwartet hatte. Das Handy am Ohr, sank Gasperlmaier wieder auf seinen Platz auf dem Sofa neben der Christine. „Ich war ja schließlich auch dabei, ich hätte ja eingreifen können, wenn ich der Meinung gewesen wäre, Sie dürften in dieser Situation in der Öffentlichkeit nicht einmal ein Bier trinken.“ Die Christine lehnte sich an Gasperlmaiers Schulter, um das Gespräch mithören zu können. Weit davon entfernt war Gasperlmaier, dass ihm das peinlich gewesen wäre. „Ich möchte Ihnen auch …“, Gasperlmaiers Redefluss versiegte, bevor er noch richtig ins Strömen gekommen war. Die Christine stieß ihn sanft in die Rippen und nickte auffordernd.

Doch bevor er, nach ausgiebigem Atemholen, zu einem Geständnis ansetzen konnte, unterbrach ihn die Frau Doktor. „Gasperlmaier, ich habe einen Verdacht, wer den Toten vom Tatort ins Klo gezerrt haben könnte. Mittlerweile wissen wir, wo der Mann verblutet ist. Er ist auf einer Bank gesessen und dort offenbar zusammengebrochen, ohne hinunterzufallen.“ Gasperlmaier nickte. „Und ich habe den starken Verdacht, dass Sie ihn hinausgeschleift haben.“

Die Frau Doktor schwieg. Gasperlmaier nickte heftig und zuckte dazu mit den Schultern. Eine Form der Kommunikation, die er heute bereits sehr häufig hatte anwenden müssen und die der Christine zwar seine Verwirrung und Ratlosigkeit deutlich machte, während die Frau Doktor am anderen Ende der Leitung offenbar auf eine Reaktion wartete, die auch sie wahrnehmen konnte. Wiederum musste die Christine den Gasperlmaier stoßen und dazu heftig nicken. Zur Beruhigung legte sie ihm die Hand auf den Oberschenkel. „Ja“, brachte Gasperlmaier heraus, „ich hab das getan. Es war ein furchtbarer Blödsinn, Frau Doktor, ich weiß, dass jetzt …“ Wieder unterbrach sich Gasperlmaier, der sich dabei ertappte, dass er gar nicht genau wusste, was jetzt passieren würde, nur dass er ganz der Gnade der Frau Doktor ausgeliefert war. „Sagen Sie mir nur eines, Gasperlmaier – warum?“ Wieder vergingen einige Sekunden, bevor sich Gasperlmaier Worte zurechtgelegt hatte. „Ich wollte, dass … wegen dem Kirtag, dass das Bierzelt nicht zugesperrt … wo doch für alle der Kirtag so wichtig ist, wissen Sie, Frau Doktor“, jetzt war Gasperlmaier ein wenig in Fahrt gekommen. „Das ganze Jahr machen sie ein Theater wegen dem Kirtag, dass sie das Geld so dringend brauchen, und die Touristen, die kommen schon aus ganz Österreich, und da machen sie Druck, und ich hab mir gedacht, wenn jetzt wegen mir der Kirtag ausfällt, dann habe ich den Scherm auf, den sprichwörtlichen, und …“ Gasperlmaiers Energie war verpufft und aufgebraucht. Am anderen Ende der Leitung atmete die Frau Doktor tief durch. „Gasperlmaier“, sagte sie nach einer kurzen Pause, „für so blöd hätte ich Sie nicht gehalten.“ Christine fing an zu kichern. „Gasperlmaier, sind Sie nicht allein? Wer ist denn bei Ihnen?“

„Äh, Frau Doktor, es ist nur meine Frau, die weiß eh schon alles, ich kann doch vor ihr nichts verbergen. Sie hat übrigens schon genau das Gleiche gesagt, vorhin, ich meine, das mit, dass sie mich nicht für so blöd …“ Gasperlmaier mochte den Satz nicht vollenden, zu peinlich war ihm das gemeinsame Urteil der beiden Frauen, die einander, was das Durchschauen des Gasperlmaier betraf, durchaus ähnlich zu sein schienen. Und das, dachte Gasperlmaier bei sich, wo ihn die Frau Doktor doch erst seit heute früh, praktisch seit einem Tag erst, kannte, und die Christine schon mehr als zwanzig Jahre!

Gasperlmaier hörte die Frau Doktor durch das Telefon und die Christine direkt neben sich kichern. „Eins noch, Gasperlmaier!“, die Frau Doktor war wieder ernst geworden. „Die Spurensicherung wird Faserspuren Ihrer Uniform an der Leiche des Herrn Doktor gefunden haben. Wenn Sie also bei einer eventuellen Befragung sagen, Sie hätten den Toten umdrehen wollen, weil Sie ihn zunächst für einen schlafenden Betrunkenen gehalten haben, dann erklärt das die Fasern unter seinen Achseln. Sie müssen sich aber gut überlegen, wie Sie das erklären, damit der Fundort der Fasern mit Ihrer Erklärung übereinstimmt. Probieren Sie’s mit Ihrer Frau aus, vielleicht.“ Wieder kicherten beide Frauen, und Gasperlmaier beschlich das leise Gefühl eines Komplotts der beiden, die sich noch nie gesehen hatten, niemals direkt miteinander gesprochen hatten und trotzdem in wesentlichen Fragen wie selbstverständlich übereinstimmten. „Gute Nacht, Gasperlmaier!“ Bevor der Angesprochene reagieren konnte, hatte die Frau Doktor schon aufgelegt. Ratlos hielt Gasperlmaier das Handy noch einige Sekunden an sein Ohr, bevor er begriff, was geschehen war, und es auf den Tisch legte.

„Schau, Schau, Gasperlmaier, da hast du ja noch einmal Glück gehabt. Die Frau Doktor hat anscheinend einen Narren an dir gefressen. Pass du nur auf, dass du ihr nicht bald aus der Hand frisst!“

Ein wenig war Gasperlmaier erleichtert, und er hatte ein Gefühl, als gelänge es ihm langsam, den tonnenschweren Schutt, der auf ihn heruntergeregnet war, ein wenig zu bewegen, ein paar Trümmer beiseitezuschieben und wieder das Tageslicht zu sehen. Dennoch blieben noch schwere Brocken auf seinem Herzen liegen.

„Was wird denn passieren, wenn ich morgen auf den Posten gehe? Wegen dem Film im Fernsehen, meine ich.“ Die Christine beruhigte ihn. „Die Leute vergessen schnell. Ein paar blöde Bemerkungen halt, und in der Faschingssitzung nächstes Jahr wirst du wohl vorkommen, da hilft dir nichts.“ Missmutig dachte Gasperlmaier daran, wie man ihn und den Kahlß Friedrich genüsslich durch den Kakao ziehen würde, die Polizisten, die gemütlich vor dem Bierzelt jausneten und Bier tranken, während sie einen Doppelmord hätten aufklären sollen. Dabei, zu diesem Zeitpunkt, erinnerte sich Gasperlmaier, war ja von einem Doppelmord noch gar nicht die Rede gewesen, weil die Frau Naglreiter ja noch friedlich und unentdeckt im Altausseer See umhergetrieben war, anstatt dass sie, wie man das von einer anständigen Wasserleiche hätte erwarten dürfen, sang- und klanglos untergegangen war.

In dem Moment läutete es an der Tür. Wer konnte jetzt noch was von ihm wollen? Einer seiner Freunde, der ihn überreden wollte, noch mit ins Bierzelt zu gehen? Ein vom Fernsehen aufgestachelter Amokläufer, der sich dafür rächen wollte, dass die Polizei den Mörder des Doktor Naglreiter noch nicht dingfest gemacht hatte? Die Christine ging aufmachen, während der Gasperlmaier auf dem Sofa sitzen blieb.

„Ja, grüß dich, Friedrich!“, hörte Gasperlmaier die Stimme der Christine aus dem Vorhaus. „Was treibt dich denn noch zu uns herauf?“ Gasperlmaier hörte den Friedrich nur schnaufen und grunzen, da stand er auch schon im Türstock. „Gasperlmaier“, schnaufte er, „wir haben ein Problem.“ Ächzend ließ sich er sich auf den Polstersessel fallen, der Gasperlmaier gegenüber stand. „Magst einen Schnaps, Friedrich?“, fragte die Christine, „schaust aus, als könntest einen brauchen!“

Der Friedrich nickte. Die Christine holte den Obstler, den ihr Vater selber brannte, aus dem Wohnzimmerschrank, brachte drei Stamperl mit und schenkte den beiden Männern großzügig einen doppelten, sich selber einen einfachen ein. Bevor der Friedrich noch anfing zu erklären, was das Problem denn sei, stürzte er den Schnaps hinunter, worauf sich sein heftiges Schnaufen ein wenig beruhigte. Gasperlmaier hatte seinen nur zur Hälfte geleert, die Christine hatte nur genippt.

„Ich hab grad einen Anruf gekriegt. Vom Bezirkspostenkommandanten. Von dem Herrn Magister, aus Liezen. Der hat mich zusammengeschissen wegen dem Fernsehen. Wo wir vor dem Bierzelt … ein Bier getrunken haben … in der Mittagspause.“ So wenig Atem hatte der Kahlß Friedrich, dass er nach jedem seiner kurzen Sätze eine Pause einlegen musste. „Und der hat“, fuhr der Friedrich fort, „einen Anschiss bekommen … vom Landespolizeikommandanten, sagt er. Und der sagt … der Herr Magister, mein ich … dass sogar jemand aus dem Innenministerium!“ Jetzt schwieg der Kahlß Friedrich und schob der Christine das Stamperl hin. Sie stand wortlos auf und füllte nach, der Friedrich stürzte auch den zweiten Obstler in einem Zug hinunter. „Auf jeden Fall, wir haben Erklärungsbedarf … sagt der Herr Magister … in Liezen.“ Damit ließ er sich ein wenig zurücksinken. Gasperlmaier hatte keine klare Vorstellung davon, was sie beide jetzt hatten. Was genau war ein Erklärungsbedarf und wer sollte wem was erklären? Der Kahlß Friedrich aber hob sofort an, dem Gasperlmaier den Erklärungsbedarf zu erklären, indem er eine seiner riesigen Pranken durch die Luft im Gasperlmaier’schen Wohnzimmer sausen ließ. „Der Herr Magister will genau wissen … was wir … und warum wir dort beim Bierzelt … und dass wir während dem Dienst keinen Alkohol … und wenn das noch einmal passiert … und wir müssen einen Bericht.“ So ungefähr konnte sich der Gasperlmaier nun vorstellen, was der Friedrich und der Herr Magister unter diesem Erklärungsbedarf verstanden. Eigentlich war er recht beruhigt, dass dienstrechtlich bei der ganzen Geschichte nicht mehr als ein Erklärungsbedarf herausgekommen war.

„Sehr geschickt war das von euch freilich nicht“, mischte sich die Christine ein. „Ihr hättet wissen müssen, dass man einen Mordfall nicht wie einen Mopeddiebstahl behandeln kann und so weitermacht wie üblich. Ihr hättet ja auch in der Wachstube jausnen können, wenn schon klar ist, dass ein Fall vorliegt, der die Medien interessiert.“ Die beiden Männer schwiegen verlegen und versuchten den Blicken der Christine auszuweichen. „Ja, du hast leicht reden!“, meinte Gasperlmaier dann, „die Frau Doktor hat mich ja förmlich hingeschleift zum Bierzelt, und dass die überhaupt haben aufmachen dürfen, das hat ja die Frau Doktor veranlasst!“

„Dass sie euch in der Öffentlichkeit hat Bier trinken lassen, nach diesem Vorfall, das finde ich auch von ihr nicht gescheit. Anscheinend hat sie auch nicht mit so promptem Medieninteresse gerechnet.“ Die Christine legte den Finger an den Mund, als müsse sie über etwas nachdenken. „Möglicherweise stammt das Bildmaterial über euch gar nicht von jemandem, der wegen des Mordes angereist ist, sondern von irgendeinem Lokalsender, der sowieso dauernd jemanden auf dem Kirtag herumstehen hat.“ Gasperlmaiers Zorn auf die Medien begann sich zu vertiefen und zu konzentrieren, musste er doch gerade in diesem Moment wieder daran denken, wie ihm schon gestern, als die Welt noch in Ordnung gewesen war, ein lästiges Kamerateam aufgefallen war, das sich in der Nähe des Pissoirs herumgetrieben und am Ende sogar Benutzer desselben gefilmt hatte.

„Das ist jetzt auch schon wurscht.“ Mit einem ärgerlichen Wedeln seiner Handfläche versuchte der Kahlß Friedrich nun wieder die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Es darf nichts mehr passieren, Gasperlmaier, wir dürfen keinen Fehler mehr machen.“

Gasperlmaiers Gedanken waren abgeschweift. Hoffentlich hatte niemand auf den Auslöser gedrückt, als er in der Plätte praktisch mit dem Gesicht auf dem Hintern der Frau Doktor Kohlross zu liegen gekommen war. Oder als er am Ufer ungeschickt ins knöcheltiefe Wasser gepatscht war. Was für Peinlichkeiten mochten noch auf Film oder Magnetband gebannt worden sein? Gasperlmaier wollte es sich gar nicht ausmalen.

Der Kahlß Friedrich machte Anstalten, sich zu erheben. „Wart noch einen Moment, Friedrich!“, hielt ihn Gasperlmaier zurück. Recht schwer war der Friedrich nicht zu überreden, denn er ließ sich, kaum dass er seinen Hintern ein klein wenig aus dem Polstersessel gelupft hatte, gleich wieder hineinfallen, und in der gleichen Bewegung, so viel Koordination und Geschmeidigkeit hätte Gasperlmaier ihm gar nicht zugetraut, schob er der Christine das Stamperl wieder hin, die es, diesmal aber nur zur Hälfte, nachfüllte.

„Ich hab doch vor dem Haus von der Evi noch mit der Natalie geredet“, fuhr Gasperlmaier fort. „Und da sollten wir noch einmal drüber reden, ich mein, ich glaub, ich muss dir da was sagen. Und fragen, ob wir die Frau Doktor darüber informieren müssen.“ Der Kahlß Friedrich warf einen skeptischen Blick auf die Christine, dann auf Gasperlmaier, der ihn richtig deutete. „Die Christine hat gute Ideen. Und sie ist auch kein Tratschweib. Vielleicht kann sie uns helfen.“ Der Friedrich nickte ergeben, sinnierend sein leeres Stamperl vor die Augen haltend.

Und dann erzählte Gasperlmaier alles, was er aus der Natalie herausgeholt hatte: dass es der alte wie der junge Naglreiter auf sie abgesehen gehabt hatten, dass sie im Naglreiter’schen Haus schwimmen gewesen war, und dass sie glaubte, der Stefan Naglreiter liebe sie und werde sie mit nach Wien nehmen, sobald sie achtzehn sei. Und dass er, Gasperlmaier, vermute, die Natalie habe ein Verhältnis mit dem Stefan Naglreiter.

Die Christine starrte den Gasperlmaier ungläubig an. „Weißt du, ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier in Altaussee nicht auffällt, wenn zwei miteinander gehen. Die werden doch dann und wann wo gesehen, und jeder erzählt das doch weiter, die Freunde der beiden, die müssen doch was gewusst haben. Unsere Kinder müssten was gewusst haben.“

Der Friedrich grunzte zustimmend. „Ich glaub’s auch nicht, Gasperlmaier. Die hat sich da was zusammengesponnen, du hast es ja selber gesehen, wie sie sich aufführt. Der kommen ihre Traumwelt und die Wirklichkeit momentan durcheinander. Aber dass der alte Naglreiter auf ihr hübsches Arscherl aufmerksam geworden ist, das kann ich mir gut vorstellen. Der ist ja als geiler Bock verschrien im ganzen Ort.“ Die Christine bedachte den Friedrich mit einem strafenden Blick, und der verstand sofort, dass er seiner derben Ausdrucksweise galt. „Entschuldigung, das ist mir so rausgerutscht.“ Die Christine behielt ihren strengen Blick bei. „Nur das, was auch drinnen ist, kann herausrutschen, lieber Friedrich!“, fügte sie in vorwurfsvollem Ton hinzu. Wie oft hatten er und die Kinder diesen Spruch schon zu hören bekommen, dachte Gasperlmaier bei sich.

„Gasperlmaier, da hat dir deine Fantasie einen Streich gespielt“, meinte die Christine. „Selbst wenn die Natalie von einer Beziehung mit dem Naglreiter Stefan träumt, selbst wenn er sie verführt und ausgenutzt hat, ist es doch nicht sehr wahrscheinlich, dass sie irgendwas mit der Mordgeschichte zu tun hat. Wie käme sie denn dazu, die Frau Naglreiter in den See zu schmeißen, zum Beispiel, nachdem sie sie erschlagen hat? Und warum hätte sie das tun sollen?“

Gasperlmaier war entsetzt über Christines Gedankengänge. So weit hatte er niemals gedacht. Ihn hatte es schon genug beschäftigt, dass die Natalie und die Evi irgendwie in diese fatale Sache verwickelt waren. Sich präzise Gedanken dazu zu machen, hatte er noch keine Gelegenheit gefunden.