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So kam es, dass der Kahlß Friedrich und der Gasperlmaier ohne die Frau Doktor am späten Nachmittag in der Stube der Evi saßen, wo sie sich den Speck in feine, schmale Streifen schnitten, weil er so besser schmeckte, und die Speckstreifen samt dem Brot, das ihnen die Evi hingestellt hatte, mit einem Gösser-Bier aus der Flasche hinunterspülten.

Ein wenig schwierig war die Situation für den Gasperlmaier schon, denn der Kahlß Friedrich war von sich aus nicht der Gesprächigste, und die Evi hantierte ständig mit einem finsteren Gesicht bei der Abwasch herum, sodass Gasperlmaier während des Speckessens und Biertrinkens bisher nicht den rechten Augenblick gefunden hatte, um endlich zum Thema Naglreiter zu kommen.

„Wollt’s einen Schnaps?“, fragte die Evi, und der Kahlß Friedrich nickte behäbig, während Gasperlmaier zögerte. Das Angebot der Evi hatte nicht wirklich einladend geklungen. So sprach man hierzulande, wenn man Hockenbleiber, die nicht und nicht heimfinden wollten, aus der Stube hinauskomplimentieren wollte. Gasperlmaier wurde einer Antwort enthoben. Die Evi knallte ihnen die Stamperl vor die Nase und ließ sie volllaufen. Es war jetzt nicht etwa so, dass Gasperlmaier den Obstler der Evi normalerweise verschmäht hätte, aber er saß schon beim zweiten Bier, und er war sich nicht gänzlich sicher, ob er und der Kahlß mit der Evi noch ein präzises, sachlich ergiebiges Gespräch würden führen können, wenn sie jetzt anfingen zu schnapseln. Auf der anderen Seite: Vielleicht konnte der Obstler die Zunge der Evi ein wenig lösen.

„Wennst einen mittrinkst?“, fragte Gasperlmaier, und endlich ließ sich die Evi auf einen Sessel dem Gasperlmaier gegenüber hinsinken. „Ich brauch jetzt sowieso einen. Das war heute alles viel zu viel für mich. Die arme Frau!“ Schon fürchtete Gasperlmaier, jetzt würde die Evi wieder eine tränenreiche Klage anstimmen wie vorhin beim Bootssteg, aber sie sagte nur „Prost!“, hob ihr Stamperl und stürzte den gut eingeschenkten Schnaps in einem Zug hinunter. Gasperlmaier tat es ihr nach, der Friedrich sowieso.

In diesem Moment öffnete sich die Küchentür und herein schaute die Natalie. Ein wirklich sauber herangewachsenes Dirndl war sie, die Natalie. Ein Dirndl allerdings trug sie nicht, sie hatte Jeans an, mit Löchern drinnen und schwarzen Patzen drauf. Die Evi hatte sich schon bitterlich darüber beklagt, dass die Firmpatin der Natalie ihr zum Geburtstag so eine Designerjean geschenkt hatte. „Wenn’s nicht zerrissen sind, kosten’s neunzig Euro, zerrissen kosten’s hundert und mit Teerflecken drauf hundertzwanzig!“, hatte die Evi gejammert, und es war auch noch keine drei Monate her, erinnerte sich Gasperlmaier, dass es im Hause Kitzer einen Riesenstreit gegeben hatte, weil sich die Natalie ein Nabelpiercing eingebildet und ihre Eltern so lang terrorisiert hatte, bis sie nachgegeben hatten. Der Kahlß Friedrich hatte dem Gasperlmaier ausgiebig darüber berichtet. Die Natalie hatte gedroht, sie würde es sich von einem Pfuscher stechen lassen, wenn sie ihr das Piercing nicht erlaubten, und wenn man ihr den Nabel verbieten würde, dann würde sie sich so eins machen lassen wie die Höller Sabrina, ihre Freundin aus Bad Aussee, die ein Loch in der Nasenscheidewand hatte und darin ein schwarzes Gebilde trug, das aussah, als würden ihr zwei eingetrocknete Nasenrammel zu den Nasenlöchern heraushängen.

Obenherum trug die Natalie ein erstens einmal so kurzes Leiberl, dass Gasperlmaier gar nicht umhin konnte, das Piercing in seiner ganzen Pracht bewundern zu müssen. Und zweitens war das Leiberl so eng, dass Gasperlmaier keine Fantasie dazu brauchte, um festzustellen, dass sie, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, sicherlich wieder um eine BH-Größe gewachsen war. Gasperlmaier verbat sich seine Gedanken: Dir wird es einmal ergehen wie dem Naglreiter, sagte er im Stillen zu sich. Zuerst beobachtest und genießt du nur mit Kennerblick, schließlich erleidest du in deiner Faszination einen völligen Kontrollverlust und greifst irgendwo hin, wo deine Pfoten nichts verloren haben, und am Ende rammt dir dann deine eigene Frau ein Messer in den Bauch, weil es mit dir nicht mehr zum Aushalten ist.

Heute schaute die Natalie aber ausgesprochen angewidert drein, als sie die drei am Küchentisch sitzen sah. Als sie zunächst stumm blieb, fuhr sie die Evi gleich ein wenig schroff an: „Grüßen kannst nicht?“, worauf die Natalie nicht antwortete, noch eine Nuance angewiderter dreinschaute, zur Abwasch ging und sich ein Glas Wasser herunterließ. „Und die Höller Sabrina hat jetzt ein Tattoo!“, informierte sie trotzig eher den Wasserhahn als das Trio am Tisch. „Nur ihr seid’s so gemein!“ Plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen. „Keine hat so rückständige Eltern wie ich!“ Und schon war sie wieder draußen bei der Tür und stampfte die Stiegen hinauf, in ihr Zimmer, wie Gasperlmaier vermutete. Sogar für eine Pubertierende ein recht extravagantes Benehmen, dachte Gasperlmaier bei sich. Gleichzeitig war er froh, dass sein Sohn, der Christoph, ohne viel Aufhebens durch die Pubertät sozusagen hindurchgeschlüpft war, während seine Tochter Katharina, fünfzehn Jahre alt, derzeit bei einer Freundin der Christine in Cornwall weilte und so Gasperlmaiers Nerven gezwungenermaßen schon seit drei Wochen schonte.

Die Evi schüttelte verzweifelt den Kopf, selber schon wieder den Tränen nahe. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, was ich mit ihr tu!“ Der Kahlß Friedrich legte ihr beruhigend seine Pranke auf die Schulter. „Wird schon werden. Die Pubertät halt. In der Schule ist doch alles in Ordnung, oder?“ „Schon!“, antwortete die Evi, dann flossen wieder die Tränen. Jetzt, dachte Gasperlmaier, ist es eh schon wurscht, und schenkte die drei Stamperl noch einmal voll. Jetzt, dachte er, würde er halt der Frau Doktor morgen Früh ohne konkrete Details gegenübertreten müssen. Und das in seiner ersten selbstständigen Ermittlertätigkeit. Aufgespielt hatte er sich auch noch, dass er und der Kahlß mit der Evi sicher besser umgehen würden können. Da saßen sie nun, die Evi hatte noch kein Wort zum Fall gesagt, und Gasperlmaier spürte förmlich, wie seine Konzentrations- und Koordinationsfähigkeit mehr und mehr dem einsetzenden Alkoholrausch zum Opfer fielen.

Da plötzlich fing die Evi zu erzählen an, und Gasperlmaier und der Friedrich brauchten gar nichts zu fragen, sie hätten sich nur mehr oder weniger genau merken müssen, was die Evi hervorsprudelte, was zumindest ihm, Gasperlmaier, schon schwerfiel.

„Angefangen hat es mit dem Doktor Naglreiter im Frühjahr. Zuerst ist es mir ja nicht aufgefallen, aber plötzlich war er immer wieder im Zimmer, wenn ich etwas gemacht hab. Und eigenartige Komplimente hat er mir gemacht. Wie hervorragend mir mein Dirndl steht. Und dass es doch ganz was anderes sei, wenn eine gestandene Altausseerin in so einem Dirndl vor einem stehe. Und zuerst hab ich mir ja wirklich nichts dabei gedacht. Aber es ist mir dann doch unangenehm gewesen, weil ich ihn dabei erwischt hab, wie er mir auf den Hintern starrt, wenn ich mich wo drübergebeugt hab, oder wie er versucht hat, mir in den Ausschnitt zu schauen.“

„Siehst du“, unterbrach sie nun der Kahlß Friedrich, „das ist, was die Frau Doktor mit sexuelle Belästigung gemeint hat. Hat er was von dir wollen?“

Die Evi nahm einen Schluck von dem Schnaps, den Gasperlmaier eingeschenkt hatte. „Was weiß denn ich. Vielleicht wollte er nur schauen. Und ich war so blöd, mir hat es am Anfang sogar noch gefallen. Der Georg, der schaut mich ja nicht einmal mehr richtig an.“ Der Georg, das war der Mann von der Evi, der Bruder vom Friedrich, aber körperlich sein ganzes Gegenteil, lang, hager und etwas ausgemergelt schlich der durch die Gegend. Der Georg war einer der letzten Bergmänner in Altaussee, denn obwohl das Salzbergwerk vor dem Zusperren gerettet worden war, kam es mit einer ganz kleinen Belegschaft aus.

Dass sich der Georg mit Familiennamen Kitzer schrieb, während sein leiblicher Bruder als Kahlß Friedrich durch Altaussee patrouillierte, lag daran, dass ihre Mutter den Friedrich ledig zur Welt gebracht und ihm den Namen gelassen hatte, was im Salzkammergut durchaus nichts Ungewöhnliches war, auch damals vor mehr als einem halben Jahrhundert nicht, als der Friedrich das Licht der Welt erblickt hatte.

Siehst du, dachte sich Gasperlmaier, das hätten wir ohne den Schnaps niemals erfahren, denn über ihren Mann hätte die Evi niemals etwas erzählt, wenn sie ganz nüchtern gewesen wäre.

Die Evi leerte ihr Stamperl. „Und dann hat er einmal die Natalie gesehen, ich blöde Gans hab sie noch ewig sekkiert, dass sie mir beim Putzen helfen soll. Und das auch nur, weil sie immer gejammert hat, dass sie kein Geld hat und dass sie einen Job braucht. Nur, immer wenn ihr dann klar geworden ist, dass man bei einem Job zuerst arbeitet und nicht nur das Geld abholt, da hat es sich wieder gespießt. Und dann, beim Vorhängewaschen, da hat der Doktor Naglreiter die Natalie gesehen, ihr seht’s ja selbst, wie sie sich herrichtet, da ist es ja kein Wunder, wenn so einem alten Bock das Wasser im Mund zusammenläuft. Und dann kommt er mit seinen blöden Fragen, und ob die Natalie nicht einmal kommen will, in ihrem Swimmingpool baden. Ich hab natürlich gleich gesagt, dass das nicht in Frage kommt, aber die Natalie, die dumme Gurken, die hat über das ganze Gesicht gestrahlt, weil sie gemeint hat, das ist weiß Gott was für eine Ehre, von den reichen Leuten eingeladen zu werden. Und dann ist auch noch der Stefan dazugekommen, der hat sie auch von oben bis unten gemustert wie ein Stück Vieh. Und als wir an dem Abend fertig waren, hab ich ihr das Geld für die Arbeit gegeben, und ich habe ihr verboten, dass sie dort jemals wieder hingeht, und ihr könnt’s euch gar nicht vorstellen, was sie mir deswegen wieder für ein Theater gemacht hat. Ich versteh sie nicht! Und ich gönn ihr nichts! Und alle dürfen alles, und sie darf nichts! Und so weiter.“

Gasperlmaier hörte, wie draußen wieder jemand die Stiege herunterkam. Er hatte das Gefühl, dass er dringend mit der Natalie reden musste, wenn er der Frau Doktor morgen ein paar Ergebnisse präsentieren wollte. Schon war er bei der Tür hinaus und passte die Natalie ab, bevor sie durch die Haustür verschwinden konnte. Gasperlmaier hielt sie am Arm zurück. „Natalie, ich muss mit dir ein paar Worte reden.“ Die Natalie riss sich los. „Was willst denn? Ich will nicht mit dir reden!“ Gasperlmaier flüsterte: „Ist es dir lieber, wenn du morgen mit dem Polizeiauto abgeholt wirst und eine Aussage auf dem Posten machst?“ Wenn die Natalie nicht so blass geschminkt gewesen wäre, dachte Gasperlmaier, dann wäre ihr jetzt tatsächlich alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Mit offenem Mund starrte sie ihn an. Das mit dem Polizeiauto und dem Posten hatte Gasperlmaier schon oft in Kriminalfilmen gesehen, dafür brauchte es gar keinen Fortbildungskurs. Dass es tatsächlich wirken würde, hatte sich Gasperlmaier gar nicht gedacht. Er zog die Natalie vor die Haustür und setzte sich mit ihr auf die Stufen.

„Wie hast du denn den Doktor Naglreiter gefunden?“, fragte Gasperlmaier. „Wie, gefunden? Ich hab gedacht, du hast ihn gefunden, heute in der Früh?“ Die Natalie stellte sich blöd und starrte den Gasperlmaier finster und bockig an. Gasperlmaier präzisierte: „Ich meine, was du für eine Meinung von ihm gehabt hast.“

„Wie jetzt?“ Diese Taktik kannte Gasperlmaier von seinen eigenen Kindern. Oft fragten sie einfach zurück, um einer Antwort auszuweichen oder um Zeit zu gewinnen.

„Deine Mama meint, dass der Doktor Naglreiter dich irgendwie komisch angeschaut hat, als ob er was von dir wollen hätte. Wie ihr beim Vorhängeaufhängen wart. Und der Stefan auch.“

Die Natalie sprang wieder auf. „So ein Blödsinn!“, schrie sie Gasperlmaier an, „von denen hat keiner was von mir wollen. Und der Stefan schon gar nicht, der wollt’ bloß nett sein. Der ist voll lieb. Und die Mama, die sieht sowieso überall Gespenster!“

Schon machte sie Anstalten, über den Kiesweg zum Gartentor zu verschwinden. Gasperlmaier rief ihr nach: „Setz dich wieder hin! Denk ans Polizeiauto!“ Folgsam kam die Natalie die drei Schritte zurück und hockte sich, sprungbereit, wieder auf die Stufen. Den Blick zu Boden gerichtet, fielen ihre langen Haare vor das Gesicht, sodass Gasperlmaier ihre Augen nicht sehen konnte.

„Hast du einen von denen, den Doktor Naglreiter oder den Stefan, später noch einmal gesehen, oder mit einem von ihnen gesprochen?“ Die Natalie schüttelte nur den Kopf, ohne den Mund aufzumachen.

„Natalie, die Naglreiters haben dich eingeladen. Zum Schwimmen. Bist du einmal hingegangen?“ Wieder schüttelte die Natalie den Kopf. „Boot fahren war ich ein paarmal mit ihm. Die haben ja ein Boot. Eine Plätte.“

„Weißt, Natalie, das können wir nachprüfen. Den Stefan können wir fragen, und das werden wir auch, und du weißt ja eh, dass da bei uns ständig alle Leute beim Fenster herausschauen, vor allem die Pensionisten. Wenn du also dort warst …?“ Gasperlmaier stellte seine Frage, ohne den Satz vollenden zu müssen. Die Natalie hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. „War ich halt dort! Na und? Ist das verboten? Willst du mich dafür verhaften? Was ist denn das für ein Paragraf, jemanden besuchen?“ Gasperlmaier hatte das Gefühl, dass das Gespräch schwierig werden würde. „Also warst dort. Warst auch schwimmen, im Pool?“

„Ist das jetzt auch ein Verbrechen? Darf ich jetzt auch nicht mehr schwimmen? Soll ich mich vielleicht verschleiern? Oder ein Dings, wie heißt das, eine Burka tragen, so wie die Musliminnen?“ Der Ton der Natalie war gereizt und aggressiv, wie Gasperlmaier das von gelegentlichen Auseinandersetzungen mit seinen eigenen Kindern kannte.

„Weißt, Natalie“, setzte Gasperlmaier fort, „die in Wien glauben eh, dass der Doktor Naglreiter seine Finger im Geschäft mit der Ostmafia gehabt hat, dass er deswegen irgendwie einem russischen Oligarchen oder so in den Weg geraten ist, aber auf der anderen Seite – es wird auch so viel geredet über die Naglreiters, dass er Verhältnisse gehabt hat und dass sie auch …“

„Verdammt noch einmal!“ Wieder sprang die Natalie auf. Gasperlmaier musste ohne das geringste Vergnügen feststellen, dass der Natalie beim Hinhocken die Hose tief über den Hintern hinuntergerutscht war und dass sie darunter so ein Höschen trug, das nur ein Schnürl durch den Popo hatte. Gasperlmaier hätte es nicht gefallen, wenn seine Tochter so im Bierzelt gesessen wäre – wo man praktisch den halben Hintern sehen konnte und nur ein bisschen Vorstellungskraft brauchte, um sich auszumalen, wo das mit Glitzersternchen besetzte Schnürl hin verschwand, und so viel Vorstellungskraft, meinte Gasperlmaier, haben sogar die Besoffenen im Bierzelt noch. Und die kommen da noch auf ganz andere Gedanken. Aber er konnte doch nicht der Natalie sagen, dass sie sich gefälligst eine andere Unterhose anziehen soll, wenn nicht einmal ihre Mutter das schaffte.

Unwillkürlich musste Gasperlmaier daran denken, wie sich so ein Bub in der Schule fühlen musste, wenn da vor ihm ein halber Hintern aus der Hose herausragte, aus dem ein Glitzerschnürl herausführte, das dann auch noch in ein paar Glitzersternchen endete, da war es kein Wunder, dass sie sich nicht konzentrieren konnten und einen Fünfer nach dem anderen schrieben. Und für die Lehrer, dachte sich Gasperlmaier, konnte das auch nicht einfach sein, wenn du dich über ein Heft beugst, weil dich eine was fragt, und schon hüpft dir ein Busen mehr oder weniger ungefragt ins Gesicht, wo du dann sogar genau lesen kannst, von welcher Marke der BH ist, so weit hinein siehst du da.

„Ihr glaubt’s ja alle, dass ich nichts anderes zu tun hab, als mit jedem ins Bett zu hüpfen, der mich nur anschaut? Was seid’s denn ihr für Menschen? Denkt’s ihr vielleicht überhaupt nie an was anderes?“

Gasperlmaier fühlte sich auf dem falschen Fuß erwischt. Wie ein Film zogen seine heutigen Verfehlungen an ihm vorbei, die Blicke nach den Beinen, dem Ausschnitt der Frau Doktor, das Hinfallen auf ihren Hintern, die teils wohl auch begehrlichen Blicke auf die magere Ines im Bett des Gaisrucker Marcel, sein Wohlgefallen an dem überaus üppigen Dekolleté der Kellnerin, die ihm in der Schlange im Bierzelt eine Halbe in die Hand gedrückt hatte, und er musste sich sagen, dass die Natalie nicht unrecht hatte.

„Nein, Natalie, hast recht, das ist jetzt falsch herausgekommen“, beeilte er sich sich zu entschuldigen. „Ich hab nur gemeint, dass du vielleicht irgendwelche Informationen hast, die uns helfen könnten, draufzukommen, mit wem der Doktor Naglreiter seine … seine …“ Gasperlmaier wollte nicht der rechte Ausdruck zur Beschreibung dessen einfallen, was der Doktor Naglreiter getrieben haben mochte. Die Natalie verstand ihn auch so.

Sie sank auf die Stufen nieder, legte ihre Arme auf die Knie, den Kopf darauf und begann zu schluchzen. Gasperlmaier überlegte, ob es gescheit war, seinen Arm um ihre Schulter zu legen, aber noch bevor er zu einer endgültigen Entscheidung gelangte, während sein Arm hilflos vor und zurück zuckte, begann die Natalie zu reden.

„Der Stefan liebt mich!“, schluchzte sie in ihre Arme hinein, „und er nimmt mich nach Wien mit, wenn ich achtzehn bin. Und dann können sie mir daheim alle den Buckel hinunterrutschen!“

Da war der Gasperlmaier baff. Einerseits tat ihm das Mädel ja leid. Dass ein Wiener Student mit einem Hintergrund wie der Naglreiter Stefan eine sechzehnjährige Schülerin aus Altaussee „liebte“, wie die Natalie meinte, und dass er sie nach Wien mitnehmen würde, das konnte ja doch nur in der Fantasie einer Pubertierenden passieren. Da hatte sich wohl, dachte Gasperlmaier bei sich, der Stefan mit ein paar unglaubwürdigen Schmeicheleien und ein paar Cocktails einen netten Abend verschafft. Gasperlmaier mochte die Gedanken an diesen netten Abend gar nicht zu Ende denken.

„Natalie.“ Jetzt landete der Arm des Gasperlmaier doch väterlich auf der Schulter des Mädchens. „Ich versprech dir – wenn du uns was sagst, über deine Beziehung zum Stefan, dann darf die Polizei das auf keinen Fall an deine Eltern weitergeben. Und sagen wirst du es sowieso müssen, und die Frau Kommissar, die Frau Doktor Kohlross, die ist furchtbar nett, vor der brauchst du keine Angst zu haben.“

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mit der Polizei über meine Liebe rede!“, fauchte die Natalie den Gasperlmaier an, und als sie wiederum aufsprang, hielt der sie am Arm zurück.

„Glaub mir’s doch, Kinderl!“, flehte Gasperlmaier, „dem kommst du nicht aus!“ Die Natalie riss sich los. „Lass mich aus!“ Aus Angst, es könnte ein Aufruhr entstehen, der drinnen in der Stube zu hören sein würde oder gar eine neugierige Nachbarin ans Fenster rief, ließ Gasperlmaier los. Die Natalie sah ihn starr an, ohne wegzulaufen, wie er es vermutet hatte. „Sag mir nur noch eins, Natalie. Hast du mit dem Stefan …?“ Die Natalie lief zum Gartentor und verschwand in der untergehenden Sonne. Keine Antwort, dachte sich Gasperlmaier, ist in diesem Fall eine mehr als deutliche Antwort.

Unangenehm wurde die ganze Sache dem Gasperlmaier, höchst unangenehm. Die Angelegenheit begann ihre Fühler in seinen Freundeskreis, am Ende gar in seine Familie auszustrecken. Da hatte anscheinend die Nichte von seinem Postenkommandanten irgendetwas laufen mit diesem Hallodri von einem plötzlich zum Vollwaisen gewordenen Studenten aus Wien. Da war ein anderer Hallodri wie der Gaisrucker Marcel, der in seinem Haus ein und aus zu gehen schien, ein Liebhaber eines der Mordopfer. Und da wurde schließlich seine Frau öffentlich beschuldigt, mit dem anderen Mord-opfer eine Affäre unterhalten zu haben. Nicht, dass er das geglaubt hätte – aber da waren doch diese nagenden Zweifel, die ihm Magenschmerzen verursachten. Und zu guter Letzt hatte er auch noch eine ganz unangenehme Beichte vor sich, weil er doch der Frau Doktor Kohlross gestehen musste, dass er die Leiche vom Bierzelt ins Pissoir geschleppt hatte – völlig überflüssig noch dazu, wie sich bald darauf herausgestellt hatte. Unangenehm und höchst unübersichtlich wurde das alles für den Gasperlmaier, der, in seine Gedanken vertieft, wieder auf die Stufe vor dem Kitzer’schen Haus hingesunken war. Das Gespräch mit seiner Christine würde lang und sicherlich auch nicht allzu erfreulich ausfallen. Gasperlmaier schlug all das auf den Magen, der wie ein fester Klumpen in seinem Leib saß und weit über sein eigentliches Gewicht hinaus von der Schwerkraft nach unten gedrückt zu werden schien.