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Auf der einen Seite konnte es Gasperlmaier noch gar nicht fassen, dass er jetzt sozusagen mit der Frau Doktor Kohlross ein Team bildete, wie er da so mehr hinter als neben ihr die paar Meter zum Haus der Familie Naglreiter zurücklegte. Andererseits wiederum war es naheliegend: Die Frau Doktor wusste, dass aus ihm wichtige Informationen herauszuholen waren, die er noch nicht preisgegeben hatte. Und genau deshalb hatte sie bei der Besprechung auf dem Polizeiposten darauf bestanden, dass man ihr einen ortskundigen Beamten zur Seite stellte, der die Leute, die Gegend und die Verhältnisse kannte und ihr dadurch bei den Ermittlungen Zeit zu sparen half.

Einen Fehler allerdings hatte die Frau Doktor schon gemacht, bei der Besprechung vorhin, und Gasperlmaier lächelte deswegen still in sich hinein, als er die Gartentür des Naglreiter’schen Anwesens öffnete. Die Frau Doktor hatte gemeint, es sei jetzt von vordringlicher Wichtigkeit, all jene Bierzeltbesucher zu befragen, die in der gestrigen Nacht am Tisch oder in der näheren Umgebung des Tisches gesessen waren, an dem der Herr Doktor Naglreiter sein, wie man nun wusste, vierundfünfzig Jahre währendes Leben ebenso unfreiwillig wie plötzlich beendet hatte.

Der Kahlß Friedrich hatte ob dieses Vorhabens nur schwer zu atmen begonnen und seine Pranken hilf- und ziellos durch die schlechte Luft des Polizeipostens rudern lassen: Das sei gänzlich unmöglich, Hunderte Leute, hatte er ihr darzulegen versucht, seien an diesen Tischen gesessen, gekommen und gegangen, teilweise angeheitert, ja sogar betrunken, sodass sich am Ende die wenigsten davon überhaupt noch erinnern mochten, wo und mit wem zusammen sie ihre Räusche erworben und schließlich mehr oder weniger lautstark nach Hause getragen hatten.

Schließlich hatte sich die Frau Doktor Kohlross nach umständlicheren Verhandlungen dazu bereit erklärt, zunächst einmal nur das Servierpersonal befragen zu lassen, um davon ausgehend vielleicht weitere Zeugen ausfindig zu machen, die Licht in die Angelegenheit bringen konnten.

Das Naglreiter’sche Anwesen, in dessen Vorgarten auf einem hübsch gekiesten Weg sich Gasperlmaier und die Frau Doktor jetzt befanden, war ein mit äußerster Präzision nachgebautes neues Altausseer Haus, bei dem sogar dafür Sorge getragen worden war, dass sich die sägefrischen Lärchenbretter an der Verkleidung der Veranda nicht im hellen Goldbraun eben gefällten Holzes, sondern bereits im edlen Grausilber der Verwitterung präsentierten. Am Ende, so dachte Gasperlmaier, hatte sich der Herr Doktor Naglreiter sogar Altholz kommen lassen, damit der Eindruck eines bereits angejahrten, ehrwürdigen Hauses auch gelänge. Wie ihre Schritte auf dem Weg knirschten, sah Gasperlmaier sich um, und er nahm einen umsichtig und fachmännisch gepflegten, an blühenden oder in verschiedenen Grüntönen vor sich hin sprießenden Pflanzen so reichen Garten wahr, dass er sich sicher war, dass die Frau des Doktor Naglreiter, oder gar er selbst oder seine Kinder, keinen Handgriff darin taten. Wer sich um diesen Garten kümmerte, dachte Gasperlmaier, brauchte sonst keine Beschäftigung mehr.

„Wo waren eigentlich Sie gestern Abend?“, fragte die Frau Doktor Kohlross, während sie auf den Klingelknopf drückte, neben dem in fein geschwungener Schrift „Dr. Naglreiter“ stand. Gerade hatte sich Gasperlmaier dafür gewappnet, einer Witwe, die von ihrer Witwenschaft noch nichts wusste, ebendiesen Sachverhalt darzulegen, er hatte sich auf Weinkrämpfe eingestellt, auf Heulen und Zähneknirschen, und mit einer ebenso banalen wie deplatzierten Frage hatte ihn nun die Frau Doktor Kohlross um seine ganze Konzentration gebracht. Er hoffte, dass nach einem kurzen Bartkratzen und einem ein wenig hinausgezogenen „Äh …“ ohnehin die Tür geöffnet werden würde, sodass er seine Erklärungen würde hinausschieben können, doch im Haus blieb alles still.

„Ja, ich war natürlich auch im Bierzelt, ich bin ja bei der Feuerwehr, was glauben Sie denn?“, entrang sich schließlich Gasperlmaiers Brust der längste Satz, den er der Frau Doktor gegenüber bisher zustande gebracht hatte. Sie zog nur die Augenbrauen hoch und die Andeutung eines Lächelns streifte wie ein zarter Windhauch ihr Gesicht. Gasperlmaier verstand die damit verbundene Aufforderung auch ohne ein weiteres Wort. „Nein, den Doktor Naglreiter habe ich nicht gesehen, weil ich ihn ja zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht gekannt habe, da hätte ich gar nicht gewusst, dass ich ihn sehe, wenn ich ihn gesehen hätte“, erläuterte Gasperlmaier ebenso logisch wie umständlich.

Im Haus blieb es nach wie vor still. Frau Doktor Kohlross drückte ihren sorgsam manikürten, lila lackierten Fingernagel neuerlich auf den Klingelknopf. „Wann sind Sie denn nach Hause gegangen?“, bohrte sie weiter.

„Frau Doktor“, bemühte sich Gasperlmaier, ihr Altausseer Verhältnisse näherzubringen, „ich hab heute um fünf Uhr auf müssen, weil ich ja den frühen Dienst gehabt habe. Und wenn schon einmal Kirtag ist, dann gehe ich auch nicht um zehn nach Hause, auch wenn ich früh aufstehen muss.“

Verzweifelt stierte Gasperlmaier durch eine der vier kleinen Glasscheiben, die in die Haustür eingelassen waren, konnte aber nichts erkennen, weil es sich um die mehr undurchsichtige Art von Glas handelte, die man auch in Badezimmern findet und durch die man höchstens erkennen kann, ob dahinter Licht brannte oder nicht. Wieder hob die Frau Doktor fragend die Augenbrauen, Gasperlmaier kam sich vor wie ein Fisch, der sich am Haken wand, die Frau Doktor hatte eine Art, einem die Privatsphäre nur mit einem Zucken der Augenbrauen herauszureißen, dass einem angst und bange werden konnte. „Um zwei bin ich nach Hause“, seufzte er schließlich.

Stille im Haus, die Frau Doktor drückte nachhaltig und ausdauernd auf den Klingelknopf. Fast hatte Gasperlmaier das Gefühl, dass auch die Klingel lauter, durchdringender und gequälter aufschrie, bloß weil die Frau Doktor wieder einmal die Augenbrauen gehoben hatte.

„Was haben S’ denn getrunken?“ Gasperlmaier betete darum, dass endlich, endlich jemand in diesem Haus aufwachen möge. „Schaun S’, Frau Doktor, wenn man den ganzen Tag …“ – „… und die ganze Nacht …“, ergänzte Frau Doktor Kohlross ungefragt – „… also, wenn man da dabei ist und jeden kennt, und man hat auch was zu tun dabei, dann trinkt man schon so seine Bier.“ Fest entschlossen, keinerlei private Auskünfte mehr zu erteilen, verschränkte Gasperlmaier auch zum äußerlichen Zeichen seiner von nun an herrschenden Verschwiegenheit die Arme vor der Brust.

„Da können S’ ja froh sein, dass ich hier heraufgefahren bin – bei dem Restalkohol, den Sie noch mit sich herumschleppen müssen.“ Nun lächelte die Frau Doktor, als hätte ihr Gasperlmaier ein besonders nettes Kompliment gemacht, der jedoch kam sich zur Rolle eines niedlichen, aber sonst wenig brauchbaren Haustiers herabgewürdigt vor.

In diesem Moment – nach einem neuerlichen Stakkatoläuten der Frau Doktor Kohlross – hörte man plötzlich ein Geräusch aus dem Haus. Ein unwirsches „Ja, verdammt noch einmal!“ schien aus dem oberen Stockwerk herunterzuklingen. Ein Fenster links über Gasperlmaier öffnete sich und ein junger Mann mit nacktem Oberkörper und wirren, dunklen Haaren beugte sich daraus hervor, um zu sehen, wer da vor der Haustür stand.

„Was issn los?“, nuschelte er mit zusammengekniffenen Augen, die das Licht der Sonne an diesem herr-lichen Montagmorgen noch nicht zu schätzen wussten, und Gasperlmaier zog den einzig möglichen Schluss: Auch der junge Herr da oben war der Faszination des Altausseer Bierzelts gestern Abend erlegen und hatte wohl ebenso lang wie ausgiebig dem Gösser-Bier zugesprochen.

Die Frau Doktor zückte ihre Marke und verwies gleichzeitig auf die Unform Gasperlmaiers. „Kriminalpolizei. Machen Sie bitte die Tür auf.“

Der junge Mann zögerte. „Kriminalpolizei? Hören Sie, ich bin nicht g’fahren! Wenn das jemand behaupt’, dann ...“

„Mich interessiert momentan nicht, wer wann wohin gefahren ist“, unterbrach ihn die Frau Doktor Kohlross. „Bitte öffnen Sie die Tür. Ich habe eine wesentliche Mitteilung für die Gattin des Herrn Doktor Naglreiter und vielleicht auch für Sie, wenn Sie zur Familie gehören.“

Verwirrt nickte der junge Mann und sein Oberkörper zog sich aus dem Fenster zurück. Frau Doktor Kohlross grinste Gasperlmaier an. „Und wenn sich heute herausstellen sollte, dass es irgendeinen ungeklärten Sachschaden oder Unfall mit Fahrerflucht gegeben hat, dann würde ich mir diesen jungen Mann später noch genauer anschauen.“

Drinnen hörte man nackte Füße auf Holzstufen klatschen und sich die Treppe herunter nähern, und nach kurzem Schlüsselgeschepper öffnete sich die Tür. Der junge Mann überragte Gasperlmaier um einen halben Kopf und trug nun ein schwarzes T-Shirt mit einem Drachenkopf darauf sowie eine ausgebeulte, blau geblümte Pyjamahose.

„Bitte!“ Mit einer entsprechenden Geste bedeutete er den beiden Polizeibeamten einzutreten, machte aber drinnen keinerlei Anstalten, sie weiter als bis ins Vorhaus vordringen zu lassen.

„Herr Naglreiter, nehme ich an?“, leitete Frau Doktor Kohlross die Unterhaltung ein, der junge Mann aber nickte nur mit verschwollenen Augen: „Stefan Naglreiter. Der Sohn.“ Gasperlmaier ließ seine Blicke umherschweifen. Sehr groß war das Vorhaus nicht, wie es ja dem Baustil hier entsprach. Die übrigen Gemeinsamkeiten mit Häusern, die er kannte, hielten sich aber in Grenzen. Der Boden war von rotbraunen, recht unebenen Keramikkacheln bedeckt, und an den Wänden hingen richtige, gemalte Bilder, auf denen offenbar Familienmitglieder zu sehen waren. Auf einem meinte Gasperlmaier den Kopf eines Buben zu erkennen, der dem Stefan Naglreiter ähnlich war. Daneben befand sich ein blonder Mädchenkopf.

„Könnten wir bitte die Frau Naglreiter, also Ihre Mutter, sprechen?“

„Ich weiß nicht, wenn sie die Tür nicht aufg’macht hat?“ Stefan ließ den Satz ausklingen, als wolle er damit andeuten, dass seine Mutter möglicherweise nicht im Haus sei. Gasperlmaier zuckte innerlich zusammen, weil ihm der Tonfall, in dem der junge Mann antwortete, die Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Es war diese typische Sprechweise des Wiener Bürgertums, die man jetzt immer häufiger auch im Fernsehen hören konnte, wenn Wiener Jugendliche zu Wort kamen. Die Christine nannte es „Simma-gangen-hamma-gmacht-Soziolekt“ und behauptete, es sei weder Hochsprache noch Dialekt, sondern sprachlicher Ausdruck einer völligen kulturellen Entwurzelung. Es war ja sogar schon so weit, dass die Kinder selbst in Aussee von „einer Cola“ sprachen, wenn sie glaubten, sich fein ausdrücken zu müssen. Und in Wien, hatte Gasperlmaier kürzlich in der Zeitung gelesen, bekamen achtzig Prozent der Kinder keinen Fünfer mehr, sondern eine Fünf.

Frau Doktor Kohlross blieb gelassen und freundlich. „Dann sehen Sie bitte nach, ob Ihre Mutter im Haus ist. Es ist wirklich sehr wichtig.“

Wieder beließ es der Sohn bei einem Nicken, schlich die Stiegen hinauf, worauf Gasperlmaier ein zunächst verhaltenes, nach einigen Sekunden kräftigeres Klopfen an einer Tür hörte. „Mama, Papa?“, hörte Gasperlmaier den Sohn rufen, worauf Frau Doktor Kohlross ohne viele Umstände ebenfalls die Stiegen hinaufstieg und Gasperlmaier bedeutete, ihr zu folgen.

Stefan hatte schon die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern geöffnet. „Sie sind nicht hier. Und die Betten sind unbenutzt!“ Nun schien er wacher als vorher, zumindest hatte er seine Augen weiter geöffnet, als er das bisher zustande gebracht hatte. Die Frau Doktor Kohlross nickte nur und warf einen kurzen Blick in das Zimmer.

„Herr Naglreiter, ich habe Ihnen eine sehr traurige Mitteilung zu machen“, kam die Frau Doktor nun zum eigentlichen Thema des Besuchs. „Ihr Vater, Herr Doktor Naglreiter, ist heute Morgen tot aufgefunden worden. Es besteht begründeter Verdacht, dass Fremdeinwirkung vorliegt.“

Dem Naglreiter junior blieb der Mund offen stehen. „Hä? Nicht wirklich, oder?“

Die Frau Doktor Kohlross war diese Art von Reaktion offenbar gewohnt, sie fasste den Stefan am Arm und zog ihn zur Treppe. „Wir sollten uns jetzt wirklich wo hinsetzen.“ An ihrem Arm stolperte er die Stufen hinunter, während Gasperlmaier folgte. Nicht ohne betrübt festzustellen, dass sowohl seine als auch die Schuhe der Frau Doktor auf dem hellen Teppich, der die Stufen bedeckte, Schmutzspuren hinterlassen hatten, die Souvenirs von der Bierzeltwiese sein mussten. Die Evi würde sich freuen, wenn sie hier jemals noch putzen sollte.

Stefan führte die beiden in die Küche, die mit dem Wohnzimmer verbunden war und in der ein großer Esstisch stand, der einem Tisch in einer bäuerlichen Stube oder einem Wirtshaus ähnelte. Gasperlmaier vermutete, es könnte sogar ein echter Bauerntisch sein, wenn sich der Doktor Naglreiter sogar die Mühe mit den Lärchenbrettern an der Veranda gemacht hatte. Geld hatte hier offenbar keine Rolle gespielt.

Stefan ging zur Abwasch, holte ein Glas aus dem Schrank darüber und ließ es voll Wasser laufen, das er in wenigen Zügen hinunterstürzte. Dann erst nahm er am Tisch Platz, an den sich Gasperlmaier und die Frau Doktor Kohlross inzwischen gesetzt hatten. Den Kopf in die Hände gestützt hörte er sich an, was ihm die Frau Doktor Kohlross an Einzelheiten über den Tod seines Vaters erzählte. Gasperlmaier fiel auf, dass er wenig Reaktion zeigte, er schien manchmal gar nicht zuzuhören, Fragen stellte er keine.

„Herr Naglreiter, wo ist Ihre Mutter? Wann haben Sie Ihre Eltern zum letzten Mal gesehen?“

Der Angesprochene stierte der Frau Doktor Kohlross ins Gesicht, die nicht einmal mit der Wimper zuckte. Auch die Augenbrauen blieben diesmal unten.

„Keine Ahnung!“, war Stefans Antwort, von einer unklaren Geste mit dem rechten Arm begleitet. „Wir waren gestern am Kirtag, alle, meine Schwester auch, und die Alten waren gar nicht mehr da, wie ich gefrühstückt hab. Ich weiß gar nicht, ob ich sie gestern überhaupt gesehen hab.“ Nach kurzem Nachdenken – die Frau Doktor Kohlross hob die Augenbrauen, diesmal meinte Gasperlmaier, das Zucken um ihre Mundwinkel sei eher verärgert als amüsiert – fuhr er fort: „Der Papa hat mich noch einmal angerufen, so um zwei, drei am Nachmittag.“ Gasperlmaier fiel auf, dass er das Wort „Papa“ auf der zweiten Silbe betonte. Eine Marotte, wie Gasperlmaier fand, die eingebildet und affektiert klang und typisch für die Wiener sein mochte.

Weswegen der Vater angerufen hatte, wollte Frau Doktor Kohlross wissen, worauf Stefan ein verächtliches Zischen entfuhr. „Weswegen Väter halt so anrufen: Nicht so viel saufen, nicht besoffen fahren, nicht so viel Geld ausgeben und so weiter. Dabei hat der es nötig gehabt, so daherzureden!“

Frau Doktor Kohlross zog die Augenbrauen nun so hoch, wie Gasperlmaier sie noch nie gesehen hatte. Zudem atmete sie tief durch, was ihre Kostümjacke oben auseinander und ihre Brüste ein wenig höher den Ausschnitt hinauftrieb, was Stefan nicht wahrzunehmen schien, Gasperlmaier jedoch, der der Frau Doktor gegenübersaß, einiges Wohlbehagen bereitete.

Sich selbst zur Ordnung rufend, löste Gasperlmaier widerstrebend den Blick von den Brustansätzen der Frau Doktor und wandte sich wieder dem Stefan zu, der zwar seinen Kopf etwas angehoben hatte, aber noch weit von direktem Blickkontakt mit seinen Gesprächspartnern entfernt war. Gasperlmaier vermochte weder Trauer noch Schmerz in seinem Gesicht zu lesen, auch keine sonderlich große Überraschung, doch gleichzeitig wusste er, dass es so leicht nicht war, aus Gesichtern eindeutige Antworten auf Fragen herauszulesen, vor allem nicht, was seine eigene Fähigkeit dahingehend betraf. Seine Christine war da ein ganz anderes Kaliber, für sie war er – und waren auch ihre Kinder – ein offenes Buch, was das Lesen des Gesichtsausdrucks betraf. Möglicherweise war auch die Frau Doktor Kohlross wesentlich begabter in dieser Kunst als er, denn bevor sie ihre nächste Frage stellte, begannen ihre Augenbrauen schon wieder leicht, aber wahrnehmbar zu zucken. „Herr Naglreiter, wo genau haben Sie sich denn heute Nacht aufgehalten, und damit meine ich eher den zweiten Teil der Nacht?“

Stefan Naglreiter verstand nicht sofort oder heuchelte zumindest Verständnislosigkeit. „Ich?“, versuchte er Zeit zu gewinnen. „Was glauben Sie wohl, wo ich war?“

Die Augen der Frau Doktor Kohlross verdunkelten sich, sodass ihre scharfen Blicke wie Pfeile auf den übernächtigen Halbwaisen zu schießen schienen. „Herr Naglreiter, bitte!“, wurde ihre Stimme jetzt etwas lauter. „Meine Arbeitszeit kostet Geld, und abgesehen davon müssen wir so schnell wie möglich arbeiten, denn je länger sich eine Ermittlung hinzieht, desto schwieriger wird sie und desto unwahrscheinlicher ein Erfolg. Darf ich jetzt also um Auskunft bitten? Oder ist Ihnen eine Vorladung zum Bezirkskommando lieber?“

Mit einem solchen Ausbruch hatte Stefan Naglreiter nicht gerechnet, er nickte eingeschüchtert, begleitet von beschwichtigenden Handbewegungen. „Natürlich war ich auch im Bierzelt. Bis um drei, ungefähr. Dann bin ich mit dem …“ Unsicher unterbrach er sich und ließ einen kurzen Blick zwischen Gasperlmaier und der Frau Doktor hin und her gehen. „… heimgegangen“, fügte er wenig überzeugend hinzu.

„Ja natürlich. Aber in Wirklichkeit sind Sie mit jemandem ins Auto gestiegen – ob als Fahrer oder Beifahrer, lassen wir für den Augenblick dahingestellt – und haben einen Unfall verursacht und Fahrerflucht begangen. Darf ich davon ausgehen, dass ich im Recht bin?“

Die Frau Doktor schien von dem Burschen ebenso genervt wie gelangweilt zu sein. Der nickte nur ergeben und legte seine Hände übereinander auf die Tischplatte. „Wenn Sie eh schon alles wissen …“

Frau Doktor Kohlross setzte gleich nach: „Wissen Sie irgendetwas darüber, wo sich Ihr Vater gestern Abend aufgehalten hat, ob er mit Ihrer Mutter zusammen war, wo sich Ihre Mutter derzeit aufhält? Wo sich Ihre Schwester aufhält?“

Bevor die Frau Doktor Naglreiters Schwester erwähnt hatte, war dessen Reaktion lediglich auf ein Kopfschütteln beschränkt gewesen, während sein Augenkontakt wieder eher der Tischplatte als seinen Gesprächspartnern galt. Als von seiner Schwester die Rede war, hob er den Kopf und wollte antworten, wurde aber einer Antwort entbunden, da Schritte auf der Treppe hörbar wurden und gleich darauf die Tür aufging. Ein sehr hübsches, sehr junges und sehr blondes Mädchen trat ins Zimmer und blickte überrascht auf die Gruppe, die vor ihr saß. „Was ist denn hier los? Bist du schon wieder besoffen gefahren? Ist das Auto hin? Deines? Das vom Papa? Ist wer verletzt? Du bist so ein Idiot!“

Der Wortschwall, fand Gasperlmaier, ließ auf mehreres gleichzeitig schließen. Einmal war da die Reihenfolge: Nach Sachschaden wurde vor Personenschaden gefragt, ein Indiz dafür, wo die Prioritäten in dieser Familie lagen. Zum anderen war für Naglreiters schöne Schwester die Kombination Bruder-Kirtag-Polizei offenbar logisch einwandfrei mit alkoholisiertem Fahren und nachfolgendem Unfall mit Fahrerflucht verbunden, was wiederum recht weitreichende Schlüsse über einerseits die menschlichen Qualitäten des Bruders, andererseits aber auch über das Verhältnis der beiden zueinander zuließ.

Gasperlmaier konnte nicht umhin, sich nicht nur über die menschlichen Qualitäten des Naglreiter junior, sondern auch über die beeindruckend hervortretenden physischen Qualitäten seiner Schwester ein Urteil zu bilden. Der Kahlß Friedrich hatte nicht übertrieben: Das Dekolleté der jungen Naglreiter musste im Dirndl mehr als spektakulär ausfallen. So viel verriet auch der Umstand, dass sie jetzt nur Jeans und ein weißes T-shirt trug, ohne einen BH darunter, wie Gasperlmaier mit Befriedigung feststellte. Sie hatte um diese Tageszeit wohl nicht mit Besuch gerechnet.

Gasperlmaier dachte an seine Christine und was sie ihm über Würde und Entwürdigung der Frau und über das Starren auf Brüste ganz allgemein beigebracht hatte, bemühte sich um Reue und einen neutralen, desinteressierten Blick, während die Frau Doktor die junge Nagl-reiter bat, sich zu setzen.

„Sie sind die Tochter des Herrn Doktor Naglreiter?“, fragte sie, mit einer Stimme, so sanft, dass selbst ein einigermaßen sensibler Haushund gemerkt hätte, was passiert war.

Die Tochter sprang wieder auf. „Was ist mit ihm?“ Ein hysterischer Nebenton schwang in ihrer Stimme mit, ein Ton, wie Gasperlmaier ihn fürchtete, denn er wusste nicht mit Frauen umzugehen, die von ihren Gefühlen überwältigt zu werden drohten.

Auch die Frau Doktor stand jetzt auf, legte einen Arm um die Schultern der Tochter, die deutlich größer war als sie, strich ihr beruhigend über den Oberarm, während das Fräulein Naglreiter das Gesicht in den Händen verbarg und zu schluchzen begann. Gasperlmaier war Zeuge einer unglaublichen Leistung an präzisester nonverbaler Kommunikation geworden: Die Tochter wusste, dass ihr Vater tot war, und die Frau Doktor wusste, dass sie keine Worte mehr darüber verlieren musste, weil die Tochter es ohnehin wusste. Für Gasperlmaier ein weiterer Beweis dafür, dass Frauen über kommunikative Fähigkeiten verfügten, die wesentlich weiter reichten, als Männer sich das vorzustellen vermochten, und die so mysteriös waren wie der Gesang der Buckelwale.

Der Frau Doktor gelang es, die schluchzende Tochter wieder auf die Bank zu drücken, wo sie die Ellbogen auf den Tisch stützte und keine Anstalten machte, mit dem Schluchzen in ihre vors Gesicht gehaltenen Händen aufzuhören.

„Papa ist tot, Judith“, versuchte sich Naglreiter junior in männlicher Kommunikationstechnik, was jetzt wieder Gasperlmaier an dessen Verstand zweifeln ließ, während er sich selbst zugute halten durfte, Frauen besser zu verstehen als ein Angehöriger einer jüngeren, bereits im Zeitalter der Emanzipation sozialisierten Generation – wenn er schon nicht verstand, was sie einander mitteilten.

Dennoch heulte Judith laut auf, was Gasperlmaier wieder in Zweifel stürzte: Hatte sie vorhin doch nicht mitbekommen, dass ihr Vater verstorben war? Oder hatte die Tatsache, in hörbare und verständliche Worte gekleidet, eine neue, höhere Woge des Schmerzes ausgelöst? Gasperlmaier war ratlos.

Recht plötzlich hörte Judith auf zu heulen, nahm die Hände vom Gesicht und wandte sich der Frau Doktor zu: „Erzählen Sie mir alles.“

Danach, fiel Gasperlmaier auf, hatte Stefan nicht gefragt. Die wenigen Einzelheiten, die die Frau Doktor preisgegeben hatte, schienen ihm genügt zu haben. Frau Doktor Kohlross nickte, sparte aber mit Details. Aus ermittlungstechnischen Gründen, wie Gasperlmaier vermutete. So zumindest begründete die Polizei dürftige Informationen an die Öffentlichkeit, wenn im Fernsehen berichtet wurde.

„Ihr Vater wurde heute Morgen in der Nähe des Bierzelts tot aufgefunden. Wahrscheinlich ist er einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Wir sind erst am Anfang der Ermittlungen, ich bin vom Fundort direkt hierhergekommen.“ Sorgsam vermied die Frau Doktor Wörter wie „Tod“, „erstechen“, „Leiche“ und dergleichen, wohl, um die angegriffene Psyche der geschockten Tochter nicht weiter zu belasten. „Wissen Sie vielleicht, wo Ihre Mutter ist?“, fügte sie hinzu.

„Wie?“ Judith wandte ihr von vergossenen Tränen glänzendes Gesicht erneut ihrer Gesprächspartnerin zu. „Ist die nicht zu Hause?“ Fast gleichzeitig schüttelten Stefan, die Frau Doktor und Gasperlmaier ihre Köpfe. Gasperlmaier hatte sich fast verpflichtet gefühlt, wenigstens in körpersprachlicher Form endlich einen Beitrag zur Konversation zu leisten. „Das darf ja wohl nicht sein, dass sie jetzt schon bei diesem Affen übernachtet!“ Judiths Trauer war in Wut umgeschlagen, doch nur Sekunden später begann sie wiederum zu weinen, stützte ihr Gesicht in die Arme, diese auf den Tisch und schien unansprechbar. Gasperlmaier wurde es unwohl. Ob sie die beiden überhaupt allein lassen konnten? Den verkaterten Sohn und seine sichtlich gebrochene Schwester? Erstmals suchte die Frau Doktor Blickkontakt mit ihm, und das Heben ihrer Augenbrauen konnte nun zahlreiche verschiedene Bedeutungen haben. Gasperlmaier begann sie im Geiste zu sortieren.

Einmal mochte die Bedeutung des Augenbrauenhebens sein, dass sich die Frau Doktor darüber wunderte, dass die Frau Naglreiter offenbar ein Liebesverhältnis unterhalten hatte, das ihren Kindern kein Geheimnis gewesen zu sein schien. Zum anderen machte sie sich wohl Gedanken darüber, was dahinterstecken mochte, dass Judith den Liebhaber als „Affen“ bezeichnete, was zumindest auf grundlegende Auffassungsdifferenzen zwischen Mutter und Tochter schließen ließ. Zum Dritten stellten sich natürlich Gasperlmaier wie offenbar auch der Frau Doktor einige weitere Fragen: Wer war der „Affe“? Wo war die Frau des Mordopfers wirklich? Hatte der Doktor Naglreiter vom Vorhandensein des Liebhabers ebenso gewusst?

Sogleich schoss auch die Frau Doktor Kohlross klar und messerscharf einige Fragen ab, wohl eher an Stefan als an Judith gerichtet, die es weiterhin vorzog, hinter dem Vorhang ihrer langen Haare zu wimmern, während die Frau Doktor nicht aufhörte, ihr über den Oberarm zu streichen. „Kennen Sie den Herrn, von dem Judith gerade gesprochen hat? Hat Ihr Vater von dem Verhältnis gewusst?“

Stefan nickte die Tischplatte an, ja, er bequemte sich sogar zu einer Antwort: „Der Herr, wie Sie ihn nennen, heißt Marcel Gaisrucker und ist der Paragleitlehrer meiner Mutter. Wir haben alle von dem Verhältnis gewusst. Meine Eltern haben in den letzten Jahren …“ Er brach ab, nicht ohne die resignierende Geste mit der Hand, die Gasperlmaier schon von ihm kannte, wiederholt zu haben.

Gasperlmaier riss es bei der Nennung des Namens Marcel Gaisrucker. Den Marcel, den kannte er, der war schon öfters mit seinem Sohn Christoph zu ihnen nach Hause gekommen. Nicht, dass Gasperlmaier diese Besuche besonders begrüßt hätte – seiner Ansicht nach war der Marcel ein Hallodri, der die Schulausbildung geschmissen hatte, häufig besoffen und manchmal eingeraucht war, wie der Christoph es nannte, und im Übrigen ständig hinter den Touristinnen her war, also alles in allem ein übler Einfluss auf seinen Sohn zu werden drohte. Seines Wissens war der Marcel wenig über zwanzig Jahre alt, etwa im Alter des Stefan Naglreiter. Gasperlmaier fand es an der Zeit, sich einzumischen: „Den Gaisrucker, den kenne ich. Ein wenig sympathischer Mensch.“

Stefan Naglreiter schnaubte. „Kann man sagen!“

Gasperlmaier setzte nach: „Er ist, ich meine, sehr jung, gegenüber …“

Nun schniefte Judith wieder laut auf: „Ja, glauben Sie denn, wir sind begeistert darüber, dass sich unsere Mutter von einem vögeln lässt, der ihr Sohn sein könnte? Würde Ihnen das gefallen, wenn Ihre Mutter einen fünfundzwanzig Jahre jüngeren Liebhaber hätte?“

Gasperlmaier war ein wenig unklar, ob er oder die Frau Doktor Kohlross angesprochen worden waren, fühlte aber wenig Motivation zu antworten, denn der Gedanke an seine Mutter ließ eine Nähe zum Begriff „Liebhaber“ in seinem Gehirn gar nicht aufkommen, sosehr er sich auch bemühte, durch verzweifeltes Verzwirbeln seiner Finger eine Verbindung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte herzustellen. Seine Mutter kannte er nur im Dirndl, mit einem um den Kopf gerollten Zopf, niemals hatte sie irgendetwas getan, gesagt oder getragen, das Gasperlmaier mit dem Begriff „Erotik“ auch nur im Entferntesten in Zusammenhang bringen konnte.

Auch die Frau Doktor Kohlross verzichtete auf eine Antwort und erhob sich stattdessen. „Dürfte ich mich, bevor wir gehen, noch schnell ein wenig umsehen? Ich kann das nur, wenn Sie einverstanden sind. Aber es könnte uns helfen.“

Judith reagierte nur, indem sie ausdruckslos den Kopf hob, Stefan schwang seinen rechten Arm weit aus und sagte: „Bitte!“

Die Frau Doktor Kohlross zog aus ihrer Handtasche einen kleinen Karton, der ganz dünne Gummihandschuhe enthielt, wie Gasperlmaier sie sonst nur bei den Wurstverkäuferinnen im Supermarkt sah. Ihm war allerdings nicht klar, wozu die den Wurstverkäuferinnen dienen sollten – schließlich griffen sie ja alles mit diesen Handschuhen an, und so würden da dran genauso viele Keime haften wie sonst an ihren nackten Fingern. Schließlich hatten ja die Fernsehköche in den Kochshows auch überall ihre Finger dran und drin, bis auf einen, den Gasperlmaier mit schwarzen Handschuhen werken gesehen hatte, und das hatte mehr als unappetitlich ausgesehen. Bei der Frau Doktor war ihm allerdings schon klar, warum sie die Handschuhe überzog: Weder wollte sie Spuren hinterlassen noch eventuell vorhandene zerstören.

„Wo hat denn Ihr Vater persönliche Sachen aufbewahrt?“

Zunächst zuckte Stefan nur mit den Schultern, bequemte sich aber schließlich doch zu einer Antwort. „So groß ist das Haus ja nicht. Im Schlafzimmer, denke ich, da steht ja auch sein Schreibtisch.“

„Begleiten Sie mich hinauf.“ Gasperlmaier war sich unsicher, ob sie beide, den Stefan und ihn, gemeint hatte. Als die Frau Doktor und Stefan sich in Bewegung setzten, Gasperlmaier aber nachdenkend verharrte, schuf sie Klarheit: „Sie auch, Gasperlmaier.“

Im Schlafzimmer warf die Frau Doktor zunächst einen Blick auf die sehr lange Kleiderschrankwand, öffnete eine Tür nach der anderen und fand nur Unmengen von Frauenkleidern vor. Die vorletzte und letzte Tür gaben den Blick auf Herrensachen frei, Gasperlmaier konnte einen Stapel Polohemden, Kartons mit Socken und Unterwäsche, Sakkos und Trachtenanzüge ausnehmen. Alles war dermaßen penibel geordnet, dass Gasperlmaier sich vornahm, die Evi zu fragen, ob sich die Naglreiters etwa auch die Wäsche von ihr waschen und einräumen ließen, denn den Hausbesitzern traute er so einen Aufwand bei häuslichen Tätigkeiten gar nicht zu.

„Hatte hier außer der Familie jemand Zutritt?“, fragte die Frau Doktor Stefan, der im Türrahmen stehen geblieben war und sich nun daran lehnte.

„Nein“, antwortete dieser.

„Und die Wäsche räumen Ihre Eltern selbst ein?“ Die Frau Doktor hatte wohl an Ähnliches wie Gasperlmaier gedacht.

„Ja, ja“, versicherte Stefan, „Sie lassen alles waschen und bügeln, aber an ihre Schränke lassen sie niemanden.“

Womit die Frage an die Evi sich wohl erübrigt, dachte Gasperlmaier. Die Frau Doktor Kohlross ließ ihre behandschuhte rechte Hand unter einen Stapel Hemden gleiten, sodass sie den Boden des Fachs bis in die Ecken und nach hinten erfühlen konnte. Im ersten Fach fand sie nichts, im zweiten wurde ein Rascheln hörbar und sie zog ein Playboy-Heft unter dem Stapel hervor, begutachtete es kurz und hob die Augenbrauen.

Stefan kicherte. „Wissen Sie, warum er das versteckt hat? Weil die Mama sich immer furchtbar darüber aufregt, dass er sich solche Hefte anschaut. Er hat behauptet, das wäre wegen der interessanten Artikel und um seine Englischkenntnisse zu verbessern.“

Tatsächlich konnte Gasperlmaier erkennen, dass es sich um eine englische Ausgabe handelte – und dass eine verführerische Dunkelhaarige in Unterwäsche dem Betrachter ihren Hintern zeigte, während sie kokett über die Schulter blinzelte. Allzu schnell ließ die Frau Doktor das Heft wieder unter dem Hemdenstapel verschwinden. Zumindest wollte sie das, allerdings stieß sie beim Hineinschieben auf Widerstand, obwohl sie den Hemdenstapel vorsichtig hochgehoben hatte. Zu Gasperlmaier gewandt, hob sie wiederum ihre Augenbrauen und reichte Gasperlmaier das Heft, der nun nicht umhin konnte, den Hintern der Brünetten etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Ihre rechte Brust war auch zu sehen, allerdings bedeckt von einem Spitzen-BH in einer Farbe, die Gasperlmaier an eine österreichische Qualitätszeitung erinnerte. Die Frau Doktor fuhr nun noch einmal mit der Hand unter den Hemdenstapel, aber sie reichte – obwohl Gasperlmaier mit Wohlgefallen betrachtete, wie sie sich streckte – nicht so weit nach hinten, dass sie zu fassen bekam, wonach sie suchte.

„Gasperlmaier!“ Aus seinen Betrachtungen geschreckt wurde er nicht nur durch die scharfe Anrede seitens der Frau Doktor, sondern auch durch den Latexhandschuh, den sie ihm vors Gesicht und genau auf den Hintern der Brünetten klatschte. „Ich bin zu klein. Könnten Sie … anstatt?“

Gasperlmaier beeilte sich, ihr das Heft zurückzureichen, nicht ohne einen Hintergedanken daran zu verschwenden, wie wohl der Hintern der Frau Doktor in solch einem String-Tanga aussehen würde. Er rief sich zur Ordnung, weil er, wie gewöhnlich in solchen Situationen, das Bild seiner Christine mit drohend erhobenem Zeigefinger vor seinem inneren Auge sah. Vorsichtig zog er den Handschuh über, langte unter die Hemden und fühlte, dass hier offenbar etwas sehr Kleines mit Klebstreifen festgemacht war. „Da ist was angeklebt – darf ich?“ Gasperlmaier suchte Zustimmung in den Gesichtern sowohl der Frau Doktor als auch des Stefan Naglreiter. Beide nickten – die Frau Doktor in gespannter Erwartung, Stefan gleichgültig. Gasperlmaier bekam das Ende des Klebebands zu fassen, gleichzeitig aber kippte der Hemdenstapel um und die gefalteten Hemden flatterten zu Boden. Ein fliederfarbenes blieb am Kopf der Frau Doktor Kohlross hängen, während Gasperlmaier das Band vollends vom Boden des Schrankfachs zog. Was zum Vorschein kam, war eine kleine blaue Speicherkarte, wie sie in Kameras und Handys verwendet wurde. Inzwischen hatte sich die Frau Doktor Kohlross von dem Hemd befreit und es achtlos zu Boden gleiten lassen. Gasperlmaier stand inmitten eines Bergs ehemals gefalteter und frisch gebügelter Herrenhem-den.

„Schau, schau!“ Die Frau Doktor war begeistert, zog ein kleines Plastiksäckchen aus ihrer Handtasche und hielt es Gasperlmaier hin. „Da hinein damit. Was der Herr Doktor Naglreiter darauf wohl gespeichert hat? Familienfotos?“ Sie wedelte Stefan mit dem Säckchen vor der Nase herum und gab sich die Antwort selbst: „Sicher nicht. Wer klebt seine Familienfotos unter seine Hemden in den Schrank? Sie reichte Gasperlmaier das Säckchen. „Passen Sie gut darauf auf. Wir sehen uns das dann am Posten an.“ Gasperlmaier verstaute das Säckchen folgsam in der rechten Außentasche seiner Uniformjacke und achtete darauf, dass die Klappe wieder sauber über der Taschenöffnung zu liegen kam.

Die Frau Dokor deutete auf das Notebook, das zugeklappt auf dem Schreibtisch vor dem Fenster stand, von dem aus man bis zum See hinunterblicken konnte. „Haben Sie etwas dagegen, wenn wir den Computer für unsere Ermittlungen mitnehmen?“

Stefan Naglreiter zuckte nur gelangweilt die Schultern.

„Gasperlmaier.“ Mit einer Geste machte ihm die Frau Doktor klar, dass er das Gerät an sich nehmen sollte. Er zog verschiedene Stecker aus den Anschlüssen und nahm das Notebook an sich. „Das Netzgerät auch, bitte.“ Gasperlmaier setzte seine Last wieder ab und sah ratlos auf die verschiedenen Kabelenden, die nun auf dem Schreibtisch herumlagen. Netzgerät? Welches Kabel das wohl sein mochte? Gasperlmaier benützte immer nur Computer, die schon angesteckt waren. Frau Doktor Kohlross war zum Nachtkästchen auf der Seite des Bettes gegangen, die dem Schrank mit Doktor Naglreiters Kleidern am nächsten lag, und öffnete die Schubladen der Reihe nach. Gasperlmaier dämmerte, dass das gesuchte Kabel jenes sein musste, das zum Stromanschluss des Computers führte. Er bückte sich unter den Tisch und konnte es nun, erleichtert, identifizieren. Er nahm beides – Gerät und Kabel – an sich und sah sich um. Die Frau Doktor war mit ihrer Runde fertig und zog sich gerade die Handschuhe von den Fingern.

„Dann werden wir diesem Herrn Gaisrucker schnellstens einen Besuch abstatten, stelle ich mir vor. Ich möchte Sie ersuchen, mit niemandem über den Inhalt unseres Gesprächs zu reden, niemanden per Handy zu informieren, schon gar nicht den Herrn Gaisrucker.“

Hintereinander gingen sie die Stiegen hinunter, wo sie Judith, nach wie vor ausdruckslos vor sich hin starrend, auf dem Sofa vorfanden.

„Allerdings“ – die Frau Doktor schien eine Idee zu haben – „können Sie noch versuchen, Ihre Mutter am Handy zu erreichen?“ Judith schien plötzlich zu erwachen und stieg in den ersten Stock hinauf. Zurück kam sie mit einem dieser weißen, modischen Handys, die ganz flach waren und nach denen sich Gasperlmaiers Kinder bislang vergeblich vor Sehnsucht verzehrten. Judith lauschte dem Freizeichen, schüttelte aber bald den Kopf. „Sie meldet sich nicht.“ Schon beim letzten Wort begannen die Tränen wieder zu fließen.

„Versuchen Sie es noch ein paarmal, wir melden uns wieder.“

Gasperlmaier fand, man könne die heulende Schönheit nicht so einfach allein unter der Obhut ihres desinteressierten Bruders zurücklassen. „Sollen wir Ihnen vielleicht jemanden von der Krisenintervention vom Roten Kreuz schicken? Damit Sie jemanden zum Reden haben?“

Frau Doktor Kohlross war erstaunt über die Fürsorge und die lange Rede Gasperlmaiers und zog, wiederum fragend, die Augenbrauen hoch. Judith aber schüttelte den Kopf: „Geht schon.“

„Bitte bleiben Sie zu Hause und halten Sie sich zu unserer Verfügung. Auf Wiedersehen.“ Die Frau Doktor schien es nun wirklich sehr eilig damit zu haben, den Marcel zu erwischen.