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„So, Gasperlmaier“, brummte der Friedrich, „jetzt ist es fast vier, und wir zwei sind seit fünf Uhr in der Früh auf den Beinen, mindestens. Und was hast du seither gegessen? Nichts! Weil uns die Frau Doktor in der Gegend herumtreibt und bei ihrer Mörderjagd darauf vergisst, dass ein Polizist, der denken will, auch etwas im Magen braucht. Und wir zwei holen uns jetzt was zu essen.“

Gasperlmaier konnte dem nur beipflichten, erinnerte sich allerdings nur allzu gut an die Folgen, die die gestrige Einkehr beim Bierzelt in den Medien gezeitigt hatte, und war fest entschlossen, der Versuchung heute zu widerstehen. Als er neben dem Friedrich im Geländewagen Platz nahm, dachte er sich, er würde zuerst einmal daheim anrufen und nachfragen, ob und wann mit etwas zu essen zu rechnen sei. Und allenfalls, dachte sich Gasperlmaier, gehe ich ins Geschäft und kaufe mir ein paar Leberkäsesemmeln, und die esse ich dann daheim, wo kein Reporter der Welt mir eine Kamera ins Gesicht halten und mich vor der Öffentlichkeit lächerlich machen kann.

Der Kahlß Friedrich war offensichtlich nicht so sensibel wie Gasperlmaier und hatte den Vorfall von gestern schon erfolgreich verdrängt, wenn nicht gar vergessen, denn er hielt den Geländewagen gerade vor dem Schneiderwirt an. „Ich geh heute nicht mit!“, informierte Gasperlmaier seinen Postenkommandanten unter Aufbietung seiner gesamten Willenskraft, „ich bring noch das Auto heim.“ „Wie du meinst“, meinte der Friedrich ein wenig wortkarg. Seine Sache war es nicht, sich in der Aussicht auf eine kühle Halbe und eine gute Jause mit unnötigen Diskussionen aufzuhalten. Schweren Herzens rückte Gasperlmaier auf den Fahrersitz, während der Friedrich seine Dienstmütze auf die Rückbank warf und zügig auf den Gastgarten zuschritt.

Beim Polizeiposten angekommen, stellte Gasperlmaier den Wagen ab und holte sein Handy heraus. Zu Hause am Festnetz antwortete niemand und auch am Handy meldete sich die Christine nicht. Auch beim Christoph probierte es Gasperlmaier noch, denn den sollte er sowieso noch ausführlich interviewen, so hatte zumindest die Frau Doktor gemeint. Aber auch da tutete es vergeblich in der Leitung. Missmutig machte sich Gasperlmaier auf den Heimweg und versuchte sich für die ihn erwartenden Leberkäsesemmeln in Stimmung zu bringen. Sein Zorn darüber, dass sich offenbar niemand um ihn kümmern wollte, wuchs jedoch so schnell und heftig an, dass er das Lebensmittelgeschäft rechts liegen ließ und die paar Meter zum Gastgarten des Schneiderwirts weiterging. „Der Teufel soll die Reporter holen!“, murmelte er, trat in den Gastgarten, hielt Ausschau nach dem Friedrich, der es sich im Schatten unter einem Vordach bequem gemacht hatte, und setzte sich zu ihm. „Bist vernünftig worden?“, fragte der Friedrich nur und blieb dann stumm, denn ein Mann vieler Worte war er nicht, vor allem, wenn es seiner Meinung nach nichts zu reden gab. Gasperlmaier zog seine Jacke aus und bestellte sich bei der Jasmin ein Bier und eine Essigwurst. „Kömmt söfört!“, sächselte sie. Zunächst war es schon gewöhnungsbedürftig gewesen, als die Zilli, die das Wirtshaus vom Besitzer, der Freiwilligen Feuerwehr Altaussee, gepachtet hatte, eine ostdeutsche Kellnerin eingestellt hatte, aber bald hatten die Stammgäste ihre Freundlichkeit und ihren professionellen Service schätzen gelernt. Obwohl sie dünn wie ein Strich in der Landschaft war und im Dirndl nicht viel hermachte, sagten sich die Leute, lieber eine schnelle und freundliche Bedienung, die mit ihren Adleraugen kein angehobenes leeres Bierglas übersah – was hier allgemein als Nachbestellung angesehen wurde –, als eine grantige einheimische. Denn an grantigen Kellnerinnen war im Salzkammergut, weder auf der oberösterreichischen noch auf der steirischen und schon gar nicht auf der Salzburger Seite, wahrlich kein Mangel.

Als Gasperlmaiers Bier kam, lupfte der Friedrich sein fast leeres Bierkrügel nur um Millimeter, worauf die Jasmin mit ihrem üblichen „Kömmt söfört!“ prompt reagierte. „Kernöl zur Essigwurst, Gasperlmaier?“, fragte sie noch, und ein kurzes zustimmendes Nicken seinerseits genügte.

„Glaubst du wirklich, Friedrich, dass der Marcel drei Leute umgebracht hat? So wie der heute wie ein Häufchen Elend in der Plätte gesessen ist? Kannst du dir das vorstellen?“ Die Jasmin stellte dem Friedrich eine neue Halbe hin, und sofort genehmigte sich der einen kräftigen Zug, bevor er antwortete. „Ich kann’s nicht sagen. Ich glaub, jeder kann wen umbringen. Und weißt eh: Wenn dann einmal eine Grenze überschritten ist, dann geht’s munter weiter, da fallen dann die Hemmungen!“ Gasperlmaier gab nicht auf: „Aber wie wir gestern bei ihm waren, der kann sich doch nicht einfach nach zwei Morden mit der Ines ins Bett legen und so tun, als wäre nichts geschehen!“ „Deiner Meinung nach“, der Friedrich strich sich mit dem Handrücken über die Oberlippe, um den Bierschaum zu entfernen, der sich dort abgesetzt hatte, „ist es also ein Alibi, wenn einer mit einer Frau nach dem Kirtag ins Bett hüpft. Da kann er vorher kein Verbrechen begangen haben.“ Das, musste Gasperlmaier gelten lassen, war ein Argument. Letztlich, dachte er, kannst du in einen Menschen nicht hineinschauen. Dennoch nagte der Zweifel weiter in ihm, denn ein solch platter Gemeinplatz genügte ihm als Erklärung lang noch nicht.

Als Gasperlmaiers Essigwurst kam und er das erste Wurstradl mit der dazugehörigen Zwiebel und einem Bissen Brot abrundete, ließ sich plötzlich der Pfarrer Ainhirn neben den Friedrich auf die Bank plumpsen. „Na, ihr zwei Helden, immer noch nichts gelernt? Immer noch Bier saufen statt Mörder jagen? Hat euch die heutige Zeitung nicht genügt?“ Dem Gasperlmaier blieb fast der Bissen im Hals stecken. Gerade noch konnte er ihn hinunterschlucken, die Gewalt, die er dabei seiner Speiseröhre und seinem Magen antat, entlud sich aber in einem heftigen Hustenanfall, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Meinte der Pfarrer jetzt dafür Rache nehmen zu müssen, dass Gasperlmaier nur bei offiziellen Anlässen in der Kirche zu sehen war und sein Sohn, wie der Pfarrer leider erfahren hatte, sich vom Religionsunterricht abgemeldet hatte?

Der Friedrich blieb äußerlich ruhig und antwortete dem Pfarrer gelassen. „Weißt was, Pfarrer, wir sind heute bald zwölf Stunden auf den Beinen. Und wie und wann wir Mörder jagen, das kannst ruhig unsere Sache sein lassen. Wir kriegen den Mörder schon, früher oder später. Und essen und trinken dürfen wir auch, meinst nicht? Sogar ein Pfarrer darf das, auch wenn er viel besser daran täte, sich mehr um seine Schäflein zu kümmern. Und an deiner Stelle tät’ ich die Goschen nicht zu weit aufreißen, wenn ich meine schmutzigen Griffel ständig unterm Rock der Pfarrassistentin hab.“ Nicht einmal die Stimme hatte der Friedrich während seiner Rede gehoben. Jetzt nahm er bedächtig einen weiteren, großen Schluck, der unmittelbar zum kurzen Anheben des Glases, verbunden mit einem Blickkontakt zur Kellnerin, führte. Der Pfarrer war indessen rot angelaufen. Anstatt dem Friedrich aber mit einer Beleidigung zu antworten und die Situation eskalieren zu lassen, atmete er ein paarmal kräftig und tief durch, worauf sein Gesicht zu-nächst rosarot wurde und bald danach seine natürliche Färbung zurückgewann. Gott sei Dank, dachte Gasperlmaier, das hätt’s jetzt noch gebraucht, dass sich die Polizei hier ein Schreiduell oder gar eine Prügelei mit dem Pfarrer anfing. Allerdings, so fand Gasperlmaier schnell heraus, war es nicht Einsicht, sondern Neugier, die den Ainhirn zum Einlenken bewogen hatte.

„Ihr habt’s am Ende den Mörder schon? Den Gaisrucker Marcel habt’s verhaftet, hört man?“ Gasperlmaier überließ seinem Vorgesetzten die Antwort. „Verhaftet, Ainhirn, haben wir gar keinen, weil dazu braucht’s einen Haftbefehl. Wir haben höchstens wen vorläufig festgenommen. Sonst kann ich dir nichts sagen.“ „Trotzdem!“, bohrte der Pfarrer weiter, „da werden drei Leute ermordet, da lädt sich jemand Todsünden auf, und man sieht nur euch drei herumspazieren und auf dem See herumfahren. Wäre da nicht ein Sonderaufgebot, ein Einsatzkommando nötig, sollten nicht ganze Scharen von Einsatzkräften ausschwärmen, damit man des Verbrechers habhaft wird?“

Der Friedrich ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Gerade war sein Schweinsbraten serviert worden. Leider hatte sich die Jasmin noch nicht abgewöhnen können, ihn als Schweinebraten zu bezeichnen, so wie sie hartnäckig die Salzstangerl als Stangen bezeichnete. Aber das wurde ihr aufgrund ihrer sonstigen Qualitäten gern nachgesehen. Das werde sich geben, hoffte man allgemein, wenn die Jasmin nur lang genug hierblieb.

„Wir werden den Mörder schon kriegen, Ainhirn!“, blieb der Friedrich gelassen, als er das erste Stück Schweinsbraten gemächlich gekaut und geschluckt hatte. Gleich spülte er mit einem Schluck Bier nach. Ein kurzes Hochhalten des wiederum nahezu leeren Glases genügte, um der Jasmin, die drei Tische weiter gerade abräumte, ein fröhliches „Kömmt schön!“ zu entlocken.

Gasperlmaier sah zu, dass er seine Essigwurst hinunterbrachte, auf ein weiteres Bier hatte er keine Lust mehr, als er feststellte, dass die Gäste an den anderen Tischen bereits hellhörig geworden waren und zu ihrem Tisch herüberglotzten, an dem der Pfarrer immer noch stichelte und ihnen bei ihrer Mahlzeit einfach keine Ruhe lassen wollte. Fehlt nur noch, dachte Gasperlmaier, dass jetzt wieder die Reporter auftauchen, die uns schon bei der Seewiese hinten genervt haben. Irgendwo und irgendwann mussten die ja auch einkehren. Den letzten Schluck Bier hinuntergießend, sprang Gasperlmaier auf, von Ängsten und schlechtem Gewissen getrieben, verabschiedete sich mit einem unverständlichen Gemurmel vom Kahlß Friedrich und rief der Jasmin zu, dass sie seine Zeche aufschreiben solle.

Von durchaus unangenehmen Gefühlen duchdrungen fand sich Gasperlmaier auf der Straße wieder. Heiß war ihm, und müde war er, und vor der abendlichen Fernsehsendung hatte er Angst, und überhaupt. Dass er immer noch nicht dazugekommen war, in den Hotels der Umgebung nach eventuell dort abgestiegenen Russen zu fragen, machte seine Lage auch nicht gerade angenehmer. Allerdings, mutmaßte Gasperlmaier, dass die Frau Doktor jetzt auf diese Information überhaupt noch Wert legte, wo doch der Marcel festgenommen war, das durfte als ungewiss gelten. Er nahm sich vor, diesbezüglich auf einen neuerlichen Befehl zu warten.

Zu Hause zog sich Gasperlmaier seine durchschwitzte Polizeiuniform aus, suchte sich eine Badehose aus dem Schrank heraus und machte sich auf den Weg ins Bad. Zuerst, dachte er sich, dusche ich einmal, und dann setze ich mich auf die Terrasse und trinke mein zweites, wohlverdientes Bier, und dann denke ich bis morgen nicht mehr an die ganze Mordgeschichte.

Komisch, dachte er, als er sich der Badezimmertür näherte, da rauscht doch das Wasser? Hatte am Ende jemand vergessen, den Duschhahn zuzudrehen? Zuzutrauen war es seinen Kindern ja, es gab kein Licht, das sie nicht brennen ließen, und kein Gerät, das man auszuschalten vergaß. Einen Sinn fürs Strom- und Geldsparen schienen die Jungen heutzutage nicht zu haben. Von Interesse an der Umwelt keine Spur, dachte Gasperlmaier. Als er die Badezimmertür öffnete, sah er, dass inmitten von heftigen Dampfschwaden jemand in der Dusche stand. „Christine?“, fragte Gasperlmaier nach, und eine kleine Hoffnung auf eine gemeinsame Dusche mit seiner Frau begann sich in ihm zu regen. Das gehörte für ihn zu den schönsten und innigsten Gelegenheiten für Zärtlichkeiten, wenn man sich in Seifenschaum gehüllt aneinanderdrückte und manchmal auch voneinander abrutschte. Heute allerdings hörte er nur ein ärgerliches „Papa!“ von Christoph und ein aufgeregtes Kreischen einer weiblichen Stimme. Sehen konnte er hinter all dem Dampf und der beschlagenen Tür der Brausekabine nur schemenhafte Silhouetten. Außer einem ebenso wohlgeformtem wie bleichen Hintern, der kurz an der Tür der Duschkabine plattgedrückt wurde. So schnell er konnte, zog sich Gasperlmaier aus dem Bad zurück. So also stand es um das Verhältnis zwischen seinem Sohn und der Andrea. Kaum war die Katze aus dem Haus, stand man schon gemeinsam unter der Dusche. Sosehr sich Gasperlmaier bisher über die vermeintliche Unschuld in der Beziehung zwischen dem Christoph und der Andrea gewundert hatte, so sehr ärgerte er sich jetzt und wusste gar nicht recht, worüber eigentlich. Dass man sich nicht einmal in seiner eigenen Dusche, wenn man heimkam, duschen konnte! Weil der Herr Sohn seine Freundin auf ein Brausebad einladen musste! Und die Nerven hatte, nicht einmal die Tür abzusperren! Da redete er immer von „nur eine Freundin“ und warf ihm, dem Gasperlmaier, vor, er denke immer nur an Sex, und dann vergnügte man sich im Seifenschaum! Gasperlmaier fiel ein, dass der Schlüssel der Badezimmertür seit Jahren verschollen war und man den Kindern, als sie in die Pubertät kamen, jahrelang zu erklären versucht hatte, dass keine Notwendigkeit bestünde, sich im Bad einzusperren. Man kenne einander schließlich seit Jahren, und niemand müsse sich für seinen Körper schämen.

Justament, dachte Gasperlmaier, gehe ich jetzt ins Bad unten und dusch mich ganz heiß. Denn er wusste, dass aus Gründen, die noch nicht gänzlich erforscht waren, aus der Dusche im ersten Stock eiskaltes Wasser schoss, wenn man im Erdgeschoß den Regler auf „heiß“ drehte. Euch erwisch ich noch, dachte sich Gasperlmaier, hastete ins Bad im Erdgeschoß und drehte auf, noch bevor er seine Unterhose hinuntergelassen hatte. Schon ertönte aus dem Bad oben ein Juchzer der Andrea und ein lautes „Hee!“ in einer viel tieferen Stimmlage. Gasperlmaier entspannte sich, drehte die Brause auf eine ihm angenehme Temperatur und ließ das Wasser über seinen verschwitzten Körper laufen. Nach wenigen Minuten war ihm wohler, und wieder wenige Minuten später saß er mit einer Flasche Bier auf der Bank auf der Terrasse und genoss den Blick in den grünen Dschungel vor seinen Augen, den die Christine da hatte wachsen lassen, sodass man von den Ausseer Bergen nicht einmal mehr die Gipfelkreuze sah. Dem Gasperlmaier war das heute ausnahmsweise einmal egal, sosehr er sich sonst darüber aufregen konnte, dass die Pflanzen der Christine Räume und Garten in einer Weise überwucherten, dass er sich manchmal regelrecht von dem grünen Geschlinge bedroht fühlte. Er nahm einen tüchtigen Schluck, brüllte noch einmal „Kommt’s runter! Ich muss mit euch reden!“ zur geöffneten Tür hinein und legte die Beine auf den Sessel, den er vorsorglich der Bank gegenüber hingestellt hatte.

Es dauerte nicht lang, und die Andrea erschien auf der Terrasse, mit hängendem Kopf. Sehr hübsch war sie, dachte Gasperlmaier bei sich, und war einerseits stolz auf den Christoph, dass er dieses Geschöpf hatte erobern können, andererseits aber auch fast ein wenig neidisch. Schnell verdrängte Gasperlmaier die Anwandlung von Neid. „Entschuldigung“, schniefte die Andrea und traute sich den Kopf kaum heben. Die nassen schwarzen Harre hingen ihr vors Gesicht und hatten auf dem knallgelben T-Shirt, das sie jetzt trug, Flecken hinterlassen, die ihre Haut und den BH durchscheinen ließen. Gasperlmaier wandte seine Blicke ab. Bei der Freundin seines Sohnes, dachte er, war äußerste Beherrschung Ehrensache. „Setz dich hin!“, sagte Gasperlmaier, nahm seine Füße vom Sessel und schob ihn der Andrea hin. „Ist ja nichts passiert. Ich hab ja nichts gesehen.“ Ohne es zu wollen, dachte er dennoch an das Hinterteil, das er sehr wohl genau gesehen hatte. „Und es ist ja schließlich kein Verbrechen. Und ungesund auch nicht.“ Was er genau meinte, das ließ Gasperlmaier im Unklaren. Ob er meinte, dass Duschen an sich nichts Ungesundes sei, oder ob er die von ihm vermutete Beschäftigung miteinander während des Duschens meinte, diese Entscheidung, dachte er sich, konnte er schon der Andrea selber überlassen. Als sie sich hinsetzte, konnte er nicht umhin festzustellen, dass die Beine, die da aus dem ebenso gelben Minirock herausragten, weder zu dünn noch zu dick, sondern gerade gewachsen und wohlgeformt waren, wie das sein sollte. Und seinen Blick etwas höher gleiten lassend stellte Gasperlmaier fest, dass die Andrea durchaus auch Attribute besaß, mit denen eine Dirndlbluse sich ansprechend füllen ließ. Er rief sich zur Ordnung und fragte: „Wo ist denn der Christoph?“ Der Andrea wurde eine Antwort erspart, denn in dem Moment tauchte der Christoph, der gerade dabei war, sich ein schwarzes T-Shirt über seinen durchaus muskulösen Oberkörper zu ziehen, auf. Gut, dachte sich Gasperlmaier, dass der Bub so viel Sport betreibt. Er hatte in dem Alter schon ein beträchtliches Bäuchlein und dazu einen festen Schwimmreifen um die Hüften herumzuschleppen gehabt, weil seine Mutter ja viel mehr auf nahrhafte Kost als auf ausreichende Bewegung geachtet hatte. Vieles war der Gasperlmaier-Mutter zu gefährlich gewesen: das Fußballspielen sowieso, das Herumklettern in den Felsen erst recht, und sogar gegen das Skifahren hatte sie schwere Vorbehalte geäußert, die nicht gerade weniger geworden waren, als sie den Gasperlmaier einmal mit blutverschmiertem Gesicht und einem gebrochenen Wadenbein von der Piste hatte aufklauben müssen.

Der Christoph wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, doch Gasperlmaier schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Setz dich hin. Mir ist wurscht, was ihr da oben gemacht habt. Ich meine“, fuhr er, sich sogleich korrigierend, fort, „nicht wurscht ist es mir, ich interessiere mich sogar dafür!“ Das war jetzt wieder vollkommen verdreht herausgekommen. Die Andrea und der Christoph starrten ihn einigermaßen entsetzt an. Gasperlmaier fühlte schon Glut an seinen Ohrenspitzen. Nicht, dass die Kinder jetzt glaubten, er hätte ihnen gern beim miteinander Duschen oder was auch immer zugesehen! Gasperlmaier riss sich zusammen, um die richtigen Worte zu finden. „Nein“, sagte er, „ich interessiere mich natürlich nicht dafür, was ihr zwei in eurem Zimmer oder unter der Dusche treibt, ich hab nur gemeint, dass ich es nicht ungern sehe, wenn ein junger Mann eine Freundin, eine Beziehung hat, dass er nicht herumlumpt, und in die richtigen Hände gerät.“ Gasperlmaier fühlte, dass er zwar das Missverständnis hatte aufklären können, dabei aber übers Ziel hinausgeschossen war. Die beiden begannen schon, einander ratlose Blicke zuzuwerfen. Er entschloss sich, zur Sache zu kommen.

„Ich muss mit euch eigentlich über etwas ganz anderes reden, nicht über eure Privatsachen.“ Der Christoph setzte sich auf die Bank neben seinen Vater, der jedoch konnte ihm nicht in die Augen schauen, denn der Christoph hatte den Kopf gesenkt, seine langen Haare nach vorne geworfen und schrubbte sie mit einem Frottiertuch. Das machte Gasperlmaier nervös. Augenkontakt durfte schon sein, wenn man mit wem etwas Ernstes besprechen musste.

„Sind die Haare jetzt endlich trocken?“, fuhr Gasperlmaier den Christoph ein wenig plötzlich und ungehalten an, sodass der erschrocken innehielt, sich seinem Vater zuwandte und ärgerlich fragte: „Was hast denn schon wieder?“ Schlechter Start, dachte Gasperlmaier bei sich, er musste den Christoph beruhigen und die Atomsphäre bereinigen. „Magst vielleicht auch ein Bier?“, fragte Gasperlmaier. Etwas überrascht antwortete der: „Vielleicht?“ Gasperlmaier stand auf, um noch eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Als er dem Christoph die Flasche hinstellte und ihm zuprostete, reagierte der allerdings wieder muffig. „Und die Andrea kriegt nichts? Bei deinen Gästen bist du doch auch nicht so?“ Gasperlmaier wurde ungeduldig. Wie lang, dachte er, würde es dauern, bis die jungen Herrschaften so zufriedengestellt waren, dass ein vernünftiges Gespräch möglich war? Er wandte sich an Andrea: „Ein Cola? Einen Saft?“ „Geh Papa!“ Wieder war Christoph mit ihm unzufrieden. „Das war vielleicht früher so, dass die Frauen Saft und die Männer Bier bekommen haben. Heute gibt’s da keine Unterschiede mehr. Wann wirst du das endlich begreifen?“ „Ich trink schon ein Cola auch!“, sagte Andrea, der die ganze Debatte sichtlich peinlich war, kleinlaut zu Gasperlmaier, und der begab sich wieder auf den Weg in die Küche. Hinter sich hörte er den Christoph schimpfen: „Sag’s ihm doch ruhig, dass du auch ein Bier willst! Sei doch nicht so feig!“ „Vielleicht will ich aber gar kein Bier, sondern verdammt noch mal ein Cola!“ Die Andrea war jetzt auch laut geworden, sodass Gasperlmeier sie in der Küche noch gut hören konnte. Wirklich toll war das gelaufen. Er hatte sich vorgestellt, großzügig zu verzeihen, hatte ein Getränk nicht nur angeboten, sondern auch serviert, und das Resultat waren Bissigkeit und Streitereien von allen Seiten. Gasperlmaier schnappte sich eine Flasche Cola light – gezuckerte Getränke gab es im Hause Gasperlmaier nicht –, eine Mineralwasserflasche und eine Flasche Bier, die er zwischen Unterarm und Brust einklemmte. Dann angelte er noch ein Glas aus dem Küchenschrank und stellte alles vor die Andrea hin. „Nimmst dir einfach, was du gerne hast.“ Gasperlmaier hoffte, den richtigen Ton getroffen zu haben. Recht schwierig war das mit dem Christoph in der letzten Zeit geworden. Er redete mit Gasperlmaier in einer Art, als wisse er alles besser, könne alles schneller und Gasperlmaier selber sei schon ein wenig vertrottelt und nicht mehr ganz Herr seiner Sinne. Das konnte einen schon einmal auf die Palme treiben.

Jetzt allerdings hielt der Christoph den Mund. Die Andrea schaute ihn mit einem Blick an, den Gasperlmaier von der Christine kannte und der bedeutete: „Wenn du jetzt noch etwas falsch machst, dann kostet es dich stundenlange Mühe und Plage, dass ich wieder freundlich zu dir bin.“ Anscheinend hatte der Christoph den Blick auch schon verstanden. Die Andrea schenkte sich ein Cola light ein, nahm ihr Glas in die Hand und lehnte sich zurück. Gasperlmaier fand, der Moment war günstig.

„Ich muss mit euch über heute Nachmittag reden. Ihr seid gerade verschwunden, als ich eure Aussage aufnehmen wollte.“

Christoph setzte seine Bierflasche ab. „Was heißt verschwunden? Wir haben einfach keine Lust mehr gehabt, es war uns fad, dass wir nicht mehr grillen können, das war eh klar, als ihr den Marcel mitgenommen habt.“

Gasperlmaier versuchte ruhig zu bleiben. „Christoph, das ist eine Mordermittlung. Drei Leute sind gestorben. Der Marcel ist in höchstem Grade als Täter verdächtig, wenn wir auch noch nicht genau wissen, für welche Fälle. Und ich habe den ganz offiziellen Auftrag, eure Aussagen zu protokollieren. Du musst jetzt einfach einmal vergessen, dass ich dein Vater bin, sondern mich als Polizisten sehen. Und wenn dir das nicht passt, dann gebe ich der Frau Doktor Kohlross Bescheid, die hast du heute gesehen, die leitet die Ermittlungen, und die wird euch dann ganz offiziell auf den Posten zur Vernehmung und zum Protokoll vorladen.“

Eine so lange Rede hatte Gasperlmaier in den letzten Monaten zu Hause selten gehalten, und anscheinend war die Botschaft angekommen, denn der Christoph hielt sich ruhig, wenn er auch vor sich hin schmollte.

„Also!“, begann Gasperlmaier von neuem. „Wir müssen wissen, ob ihr vorgestern, so circa zwischen sechzehn und zwanzig Uhr, den Marcel gesehen oder gesprochen habt, oder ob ihr mit ihm zusammen wart. Das ist zunächst einmal die wesentliche Frage.“

„Papa, du täuschst dich da!“ Ganz sanft und nachgiebig antwortete der Christoph jetzt. „Wir waren eigentlich nicht mit dem Marcel zusammen. Wir waren am, wann war das jetzt?“ Gasperlmaier half nach: „Am Sonntag. Am Abend.“ „Wir waren baden. Dann sind wir nach hinten zur Seewiese spaziert. Dort haben wir was gegessen und getrunken. Dafür gibt’s Zeugen. Erstens kennt uns die Simone, die dort serviert, und zweitens hat uns auch der Paul gesehen. Dann sind wir zurück in Richtung Ort, und kurz nach dem Kahlseneck haben wir den Florian Schwaiger und seine Schwester getroffen. Die kennst du ja.“ Der Christoph fing an zu grinsen. „Du hast sie dir sicher genau angeschaut.“

Gasperlmaier spürte, wie ihm Hitze ins Gesicht stieg. Vor der Andrea brauchte ihn der Christoph aber wirklich nicht zu blamieren. Ein Blick zur Andrea zeigte ihm allerdings, dass sie den Christoph mit durchdringenden Blicken maß, die keineswegs freundlich gesinnt schienen. „Du brauchst nicht blöd daherreden!“, fuhr sie ihn an, „du hast dich ja auch kaum sattsehen können an ihr, bevor die da gekommen sind!“ Dabei wies sie mit dem Finger auf Gasperlmaier. „Ist ja schon gut!“, gab sich der Christoph versöhnlich, „du weißt ja, wie sie ist. Exhibitionistisch. Ich mag sie ja gar nicht. Die spinnt ja“, versuchte er Andrea zu beruhigen. „Ja, ja. Nur dass du mich die ganze Zeit genervt hast, dass ich auch meinen Badeanzug hinunterrollen soll!“ Zorn spritzte aus den Augen der Andrea, was sie nur umso attraktiver machte, wie Gasperlmaier fand. Leider, dachte er bei sich, war nun das Gespräch wieder in ein Fahrwasser geraten, in dem die Emotionen die Oberhand bekamen und die Fakten unterzugehen drohten. Was so ein schöner Busen alles für Probleme heraufbeschwören konnte. Hätte die Eva ihr Oberteil anbehalten, hätten sie sich heute alle zusammen viel Ärger erspart. Obwohl, dachte Gasperlmaier, die Frage war wohl, ob sie überhaupt eines besaß.

„Ihr habt also den Florian und die Eva getroffen. War die Ines auch dabei?“, versuchte Gasperlmaier das Gespräch zum Thema zurückzuführen. „Ja. Aber wir haben die zwei erst gestern kennengelernt. Die Ines und die Eva. Und dann sind wir zum Kirtag, und wir sind ein paarmal Tagada gefahren.“ „Und die Eva hat dich die ganze Zeit angebraten, dass es nur so geknistert hat!“, pfauchte die Andrea. Warum, dachte Gasperlmaier, ist sie dann mit ihm heute unter die Dusche, und warum sind sie überhaupt erst mit den anderen zum Strand hinübergefahren, wenn sie ihm doch so böse ist, wegen der Eva, und sie beide doch die Eva anscheinend überhaupt nicht ausstehen können? Gasperlmaier dachte, er werde die Frauen nie verstehen. „Und dann“, fuhr der Christoph fort, „haben wir den Marcel getroffen. Wie der die Eva gesehen hat, war er natürlich gleich hin und weg. Kannst du dir ja vorstellen.“ „Kannst du dir ja vorstellen!“, äffte die Andrea den Christoph nach. Schön langsam begann das Mädchen den Gasperlmaier ein wenig anzustrengen. Warum ging sie denn mit dem Christoph fort, wenn ihr nichts an ihm passte? Gasperlmaier fragte sich nun viel eher, wie es denn hatte kommen können, dass sich der Marcel und die Ines sozusagen gefunden hatten und am Morgen danach von ihm und der Frau Doktor im Bett aufgefunden worden waren, wo der Marcel doch anscheinend hinter der Eva her gewesen war.

„Wart, Papa, ich hol einmal den Fotoapparat.“ Gasperlmaier sah dem Christoph ratlos nach. „Wozu braucht der jetzt einen Fotoapparat? Will er uns vielleicht fotografieren? Und wozu?“ Mehr zu sich selbst als zur Andrea hatte Gasperlmaier gesprochen, doch während er einen tiefen Zug aus der Bierflasche nahm, in der das Bier inzwischen wärmer geworden war, als es dem Gasperlmaier lieb war, antwortete ihm die Andrea: „Er fotografiert die ganze Zeit. Und die Fotos stellt er dann ins Internet. Obwohl ich das deppert find.“ Offenbar sah Gasperlmaier immer noch recht ratlos drein, weshalb die Andrea fortfuhr: „Na ja, auf den Fotos ist ja auch die Uhrzeit drauf. Nicht auf dem Foto natürlich, sondern mit der Bilddatei gespeichert.“ Jetzt war der Groschen bei Gasperlmaier gefallen. Diese Listen mit den Namen und Nummern und mit Uhrzeit und Datum und allem, die hatte er ja selbst schon auf dem Computer gesehen, wenn ihm die Christine Fotos gezeigt hatte. Er selber hatte es nicht so mit dem Fotografieren, vor allem, seit es keine Filme mehr gab und Kameras, bei denen man durch ein Loch blinzelte und das fotografierte, was man da durch sah.

Christoph kam zurück und quetschte sich neben Gasperlmaier auf die schmale Holzbank. „Schau, Papa. Da sind wir auf der Seewiese, die Andrea und ich.“ Gasperlmaier blinzelte, bis seine Augen tränten. Er konnte zwar ein dunkelhaariges Mädchen vor einem Felsklotz im Gras sitzen sehen, aber die Zahlen in der rechten unteren Ecke, auf die der Christoph deutete, verschwammen vor seinen Augen. „Wart schnell, ich muss mir eine Lesebrille holen.“ Nachdem Gasperlmaier auf dem Wohnzimmertisch und am Telefonkästchen vergeblich nach einer Lesebrille gesucht hatte, fand er endlich eine neben dem Computer der Christine liegen. Hoffentlich, dachte Gasperlmaier, vergesse ich nicht, die Brille wieder zurückzulegen, denn wenn die Christine ihre Computerbrille nicht an Ort und Stelle vorfindet, wenn sie einschaltet, wird sie fuchtsteufelswild.

Ausgerüstet mit einer rostroten Billiglesebrille aus dem Schuhgeschäft trat Gasperlmaier wieder auf die Terrasse und konnte nun, als ihm der Christoph die Kamera hinhielt, genau lesen, was unter dem Foto stand. Das Datum stimmte, das Foto war vorgestern aufgenommen worden, um achtzehn Uhr neununddreißig. Die Sonne war schon verschwunden gewesen, nur im Hintergrund konnte man auf den Hängen am Südostufer des Sees noch die Bäume im Sonnenlicht leuchten sehen. Die Andrea hatte sich die Arme eng um den Körper geschlungen, so, als ob ihr schon ein wenig kalt gewesen wäre. Wieder dachte sich Gasperlmaier, dass die Andrea ein recht ansehnliches Fotomotiv abgab, und er konnte sie sich gut auf einem Fremdenverkehrsprospekt vorstellen. Wenn sie denn ein Dirndl angezogen hätte. In einem solchen aber hatte Gasperlmaier die Andrea noch nie gesehen. Der Christoph klickte weiter. Man sah die beiden auf dem Weg unterhalb des Losers, am Nordufer des Sees, wo dem Christoph ein paar malerische Aufnahmen im Gegenlicht gelungen waren. Dann gab es einige Fotos, auf denen vier der jungen Leute zu sehen waren, die Gasperlmaier heute auch am Seeufer angetroffen hatte: die drei Mädchen, die Ines, die Andrea und die Eva, und der Florian. So weit stimmte alles genau mit dem überein, was Gasperlmaier an Aussagen bekommen hatte. Plötzlich erschien eine Großaufnahme von der Eva. Der Christoph versuchte schnell, sie wegzudrücken, doch Gasperlmaier nahm ihm den Apparat aus der Hand, um sich das Bild genauer anzusehen. Auf dem Foto war nur der Kopf der Eva zu sehen, und wenn man so ihre Augen und ihr Lächeln genauer unter die Lupe nahm, dachte Gasperlmaier, da konnte einem schon warm ums Herz werden, und dass die Eva dem Christoph im wahrsten Sinne des Wortes schöne Augen gemacht hatte, das war wohl mehr als deutlich.

Irgendwie schien die Andrea einen siebten Sinn dafür zu besitzen, dass die beiden jetzt etwas bestaunten, was auch für sie von Interesse war. Sie stand auf, ging um den Tisch herum, während der Christoph dem Gasperlmaier blitzschnell den Fotoapparat aus der Hand riss und ein paar Knöpfe drückte. „Gib her!“ Die Andrea stürzte sich auf den Christoph, kam mehr oder weniger über ihm zu liegen und versuchte ihm den Apparat zu entreißen. Unter beiderseitigem Geschrei und Gezappel kamen sie auch dem Gasperlmaier in die Quere, so breit war die Bank ja nicht. Nachdem ein Ellbogen des Christoph mit seinem Gesicht und ein Knie der Andrea mit seinen Weichteilen recht unsanft in Kontakt geraten waren, schrie Gasperlmaier auf, sprang von der Bank und hielt sich die schmerzende Stelle zwischen den Beinen. Sein Gebrüll ließ die beiden Streithähne auf der Bank verstummen. Die Andrea schnappte sich die Kamera aus den Händen des verdutzten Christoph und setzte sich wieder auf ihren Sessel. Der Christoph sah schuldbewusst zu Gasperlmaier, der vor Schmerz und Wut schnaubte.

„Die Kamera!“ Von Gasperlmaiers Zorn eingeschüchtert, legte die Andrea ihm das Gerät auf die ausgestreckte Hand. Gasperlmaier schnappte zu und ging ins Wohnzimmer, um sich einen Zwetschgernen gegen den Schmerz und die Wut einzuschenken. Es war einfach entsetzlich. Anstatt zügig und konzentriert Tatsachen aus den Kindern herauszuholen und sie dann wegzuschicken, geriet er von einer kleinlichen Streiterei in die andere, bis es sogar zu Handgreiflichkeiten kam. Den Schnaps in der Hand, trat er wieder auf die Terrasse, setzte sich hin, schaltete die Kamera wieder ein und sah das letzte Bild, das der Christoph aufgenommen hatte. Darauf war in Großaufnahme der Hintern von Eva mit dem Tattoo zu sehen. Gasperlmaier verkniff sich jede Bemerkung und drückte so lang auf den Pfeil nach links, bis wieder Bilder mit dem Datum vom Sonntag auf dem Display sichtbar wurden. Weder Christoph noch Andrea rührten sich, als er einen kräftigen Schluck aus seinem Stamperl nahm und sie mit strafenden Blicken maß. Langsam ließ der Schmerz nach und Gasperlmaier atmete tief durch.

Die Fotos bestätigten im Großen und Ganzen, was der Christoph erzählt hatte: Man sah zunächst Aufnahmen aus dem Bierzelt. Natürlich waren die meisten Fotos von dem Tisch, an dem der Christoph gesessen war. Gasperlmaier versuchte, Personen im Hintergrund zu erkennen, dazu aber waren die Aufnahmen zu unscharf und das Display zu klein. Die drei Mädchen waren zu sehen, wobei dem Gasperlmaier auffiel, dass die Andrea recht häufig ziemlich zuwider dreinschaute, während sich die Eva immer wieder um neckische Posen bemühte. Auf einem Foto hatte sie dem Christoph offenbar mehr oder weniger ihren Ausschnitt direkt vor die Linse gehalten, außer ihrem Busen und dem ihn einrahmenden Stoff der Dirndlbluse war nicht viel zu sehen. Gasperlmaier warf dem Christoph einen verzweifelten Blick zu und seufzte. Warum hatte der Depp die Fotos gemacht? Die mussten ja zum Krieg mit der Andrea führen. War ihm eine so hübsche Freundin nicht genug? Musste er anderen Weibern in den Ausschnitt hineinfotografieren?

Schön langsam schien dem Christoph zu dämmern, dass es nicht das Allergescheiteste gewesen war, die Kamera an den Tisch zu bringen. „Da sind auch ein paar blöde Fotos drauf, Papa.“ Gasperlmaiers Grimm hatte ihn offenbar mehr verunsichert, als Gasperlmaier erwartet hatte. Er hielt dem Christoph das Dekolleté-Foto von der Eva hin und schüttelte den Kopf. „Das hat die Eva selber von sich gemacht, sie hat mir die Kamera weggenommen.“ „Und du hast es natürlich noch nicht gelöscht, du Vollkoffer!“ Der Andrea schien es jetzt endgültig zu bunt geworden zu sein. Sie schoss von ihrem Sessel auf und war auch schon ums Hauseck verschwunden. Der Christoph starrte ihr mit offenem Mund nach. Nach einer Schrecksekunde, die beim Christoph offenbar viel länger dauerte als beim Gasperlmaier, meinte dieser versöhnlich: „Na komm, lauf ihr nach! Du weißt schon, was du machen musst!“ Christoph sah ihn kurz an, und Gasperlmaier meinte, in seinen Augen ein wenig Feuchtigkeit glänzen zu sehen. Dann war auch er weg, und Gasperlmaier saß da, mit der Kamera in der einen Hand und einer Flasche mit einem schal gewordenen Bierrest in der anderen. Endlich konnte er sich den Fotos in Ruhe widmen, sie ersetzten ja quasi eine mündliche Aussage, weil der Christoph, so unsinnig das auch scheinen mochte, den ganzen Abend fein säuberlich dokumentiert hatte. Vorerst jedoch widmete sich Gasperlmaier dem Foto, auf dem der Ausschnitt der Eva zu sehen war. Er fand auch den Knopf, mit dem man den Bildausschnitt vergrößern konnte, und zoomte sich so in die Spalte zwischen den glatten, jungen Brüsten der Eva hinein.

So versunken war Gasperlmaier in seine Betrachtung, dass ihn ein lautes, fröhliches „Hallo!“ aus dem Wohnzimmer so zusammenfahren ließ, dass ihm die Kamera aus den Händen glitt und in seinem Schoß landete. Schon trat die Christine auf die Terrasse, und Gasperlmaier bemühte sich fieberhaft, an allen möglichen Knöpfen hantierend und an Rädchen drehend, das Bild vom Busen der Eva vom Display verschwinden zu lassen. Natürlich erregte sein hysterisches Gefingere den Argwohn der Christine. „Was hast du denn da? Was machst du denn da?“ Schon hatte sie zugegriffen und hielt Christophs Kamera in der Hand. Gasperlmaier atmete auf. Das Display war schwarz. „Christophs Kamera?“ Gasperlmaier wusste, dass er jetzt zu einer längeren Erklärung ausholen musste und der Christine keinesfalls etwas verschweigen durfte. Auch an diplomatische Abänderungen der Wahrheit war nicht zu denken, die Christine durchschaute ihn ohnehin immer sofort.

Nachdem er die Christine ins Bild gesetzt und ihr erklärt hatte, er hoffe, die Aussagen von Christoph und Andrea mithilfe der Fotos bestätigen zu können, nickte die Christine verständnisvoll. „Und wenn der Bub schon so fasziniert von dieser Eva ist, dann hat sich der Vater die Fotos von diesem Wunder der Natur natürlich auch genau angesehen.“ Gasperlmaier nickte ergeben.

„Lass mich die Fotos auch einmal anschauen!“ Die Christine hatte sich wieder hingesetzt und streckte die Hand über den Tisch. Während sie sich durch die Fotos klickte, gelegentlich den Kopf schüttelte, durch die Zähne zischte oder kicherte und so das Gesehene kommentierte, überlegte Gasperlmaier, ob er der Christine von der gemeinsamen Dusche des Christoph mit der Andrea erzählen sollte. Er entschloss sich zu einer Version, bei der die Christine sozusagen selber entscheiden konnte, wie es weiterging. „Die Andrea und der Christoph sind anscheinend doch näher befreundet, als wir das bisher geglaubt haben“, eröffnete Gasperlmaier. „Das darfst du glauben!“, antwortete die Christine, „wenn ich mir anschau, wie sauer sie dreinschaut, wenn ihr der Christoph nicht seine gesamte Aufmerksamkeit widmet, sondern sich auch für andere Mädchen interessiert.“ Gasperlmaier sah sie fragend an. „Na ja, man merkt halt, dass sie ihn für sich haben will. Das ist ja wohl eindeutig.“ Gasperlmaier hätte aus den kleinlichen Streitereien der beiden um die Fotos eher die Schlussfolgerung gezogen, dass sich der Christoph alle Optionen offenhalten wollte, aber die Christine, das gestand er sich selbst gern ein, war bei der Beurteilung von Beziehungsfragen wesentlich scharfsinniger als er selbst. Gasperlmaier entschloss sich zu einer Enthüllung. „Ich hab sie heute miteinander im Badezimmer erwischt. Unter der Dusche.“ Die Christine lachte laut auf. „Da haben sie wohl nicht damit gerechnet, dass du schon heimkommst. Hast dich eh nicht peinlich benommen?“ Warum sollte sich er peinlich benommen haben, wenn sich die beiden doch in seinem eigenen Badezimmer vergnügt hatten, ohne dass sie sich darüber Gedanken machten, ob da jemand kommen könnte? „Also, peinlich, finde ich, sollte das eher dem Christoph sein!“, wehrte sich Gasperlmaier entrüstet. „Und gesehen hab ich vor lauter Dampf eh nichts.“ „Hättest aber gerne, was?“ Gasperlmaier fühlte sich falsch verstanden. Er hatte nur klarstellen wollen, dass es zu keiner peinlichen Entblößung der Andrea vor seinen Augen gekommen war, und schon unterstellte ihm die Christine mehr oder weniger voyeuristische Absichten.

„Wer sind denn die da auf dem Foto?“, fragte die Christine jetzt zur Erleichterung Gasperlmaiers, der sich nicht imstande fühlte, die Badezimmerszene weiter zu analysieren. Die Christine hielt ihm ein Foto hin, das zwei Personen auf einer Plätte zeigte, ein Mann stand am Ruder, eine Frau saß ihm auf der Bank gegenüber. Man konnte erkennen, dass sie Tracht trugen, mehr aber schon nicht, dazu waren die beiden viel zu klein abgebildet. Gasperlmaier nahm die Kamera und zuckte mit den Schultern. Recht dürftiges Licht hatte schon geherrscht, als der Christoph die Aufnahme gemacht hatte, überall war Schatten. Ein Ufer konnte man nirgends ausmachen. Gasperlmaier erinnerte sich an das Foto von der Frau Naglreiter und dem Gaisrucker Marcel in der Plätte und fragte sich, ob die Frau Doktor Kohlross es wohl schon gesehen und den Marcel damit zu einem Geständnis gebracht hatte.

Gasperlmaier nahm die Plätte genauer unter die Lupe. Es konnte die Naglreiter’sche sein, aber auch jede beliebige andere neue Plätte. „Kann man das größer, genauer anschauen?“, fragte er die Christine. „Ich frag mich nämlich gerade, ob die beiden da auf dem Foto nicht etwas mit unserer Mordermittlung zu tun haben könnten.“ „Sicher!“ Die Christine schnappte sich den Apparat und verschwand im Wohnzimmer. Kurze Zeit später kam sie mit ihrem aufgeklappten Laptop wieder zurück auf die Terrasse und stellte das Gerät vor Gasperlmaier hin. Bildschirmfüllend konnte man nun im späten Abendlicht die Plätte erkennen, und nachdem Gasperlmaier die Lesebrille wieder aufgesetzt hatte, war er sich sicher, dass es die Plätte der Naglreiters war. Die Anordnung der Bänke, die Farbe des Holzes, das war ja doch nicht bei jedem Boot gleich, und Gasperlmaier hatte schließlich heute ausgiebig Gelegenheit gehabt, die Naglreiter’sche Plätte in Augenschein zu nehmen. „Hast schon wieder meine Brille!“ Schon war der Sehbehelf von der Nase des Gasperlmaier verschwunden, und die Plätte auf dem Bildschirm samt ihren Insassen verschwamm vor seinen Augen. „Jetzt gib halt schnell noch einmal her! Das ist wichtig!“ Die Christine zeigte wenig Verständnis für Gasperlmaiers detektivisches Interesse und hielt die Brille unter kindischem Gekicher einmal dahin, einmal dorthin, immer aber außerhalb der Reichweite der Finger Gasperlmaiers. „Bitte!“, ergab er sich schließlich, und die Brille wurde wieder auf seine Nase gesteckt. „Kann man das auch noch weiter vergrößern?“ „Sicher!“ Die Christine rutschte mit ihrem rechten Zeigefinger auf dem Rechteck unterhalb der Tastatur herum und klickte mehrmals mit dem linken Zeigefinger auf die Tasten darunter. Gasperlmaier sah nur noch die Mitte des Bootsrumpfs. „Mit den Pfeiltasten kannst du das Bild verschieben!“, klärte ihn die Christine auf. Gasperlmaier tat es folgsam, und langsam rückte die Frau links im Heck der Plätte ins Bild. Gasperlmaier fühlte einen Stich in der Herzgegend. Die Frau hatte lange blonde Haare und trug ein Dirndl, das dem der Leiche, die sie aus dem See geborgen hatten, aufs Haar glich. Ihr Gesicht konnte Gasperlmaier nicht sehen, es war vom Fotografen abgewandt und vom Haar verdeckt, aber wenn das nicht die Naglreiter war, dann wollte Gasperlmaier gern den sprichwörtlichen Besen fressen. „Die Frau Naglreiter!“, stöhnte er und bemühte sich gleichzeitig, auf die rechte Seite des Bildes zu gelangen, um den Mann ins Bild zu bringen. Der Gaisrucker Marcel war es sicher nicht, denn der Mann hatte viel kürzeres Haar, war vollständig in Tracht gekleidet, mit Lederhose, Stutzen, kariertem Hemd und Gilet, und er trug sogar einen Ausseerhut. Mit Sicherheit vermochte es Gasperlmaier nicht zu sagen, aber der Teufel sollte ihn holen, wenn das nicht der Doktor Naglreiter selber war. Schlagartig wurde ihm die Tragweite seiner Entdeckung klar: Das Foto war, wie die eingeblendete Uhrzeit zeigte, zu einem Zeitpunkt aufgenommen worden, als der Gaisrucker Marcel längst mit den anderen jungen Leuten zusammen gewesen war. Und die Frau Naglreiter war zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen. Jedenfalls war der Marcel auf keinen Fall ihr letzter Chauffeur gewesen, was den Einsatz der Plätte betraf. Was Gasperlmaier allerdings verwirrte: Wie hatte Christoph das Foto aufnehmen können? Nach seiner Aussage war er ja zu dieser Zeit gar nicht am Seeufer, sondern zusammen mit der Andrea und auch dem Marcel auf dem Kirtag gewesen. Völlig klar war ihm nur eines: Er musste sofort die Frau Doktor Kohlross anrufen, die womöglich gerade versuchte, aus dem Marcel ein Geständnis herauszupressen. Über das Foto musste sie unverzüglich informiert werden. „Die Frau Doktor Kohlross“, erklärte er der Christine, „die verhört jetzt gerade den Marcel Gaisrucker, weil wir geglaubt haben, er war der Letzte, der mit der Frau Naglreiter zusammen war! Und jetzt haben wir hier ein Foto, das beweist, dass sie danach noch mit jemand anderem im Boot war! Dass es der Naglreiter selber war!“ Die Christine begriff sofort. „Ja, aber – wenn er um diese Zeit, wo es schon fast dunkel ist, mit ihr im Boot war, dann …“ Sie ließ den Satz unvollendet, dennoch war dem Gasperlmaier klar, was sie nicht aussprechen wollte: Wenn es so war, wie das Foto vermuten ließ, dann hatte höchstwahrscheinlich der Doktor Naglreiter selber seine Frau ins Jenseits befördert. Er hatte sie, wohl ihrer Untreue wegen, über Bord geworfen und mit dem Ruder erschlagen.

Gasperlmaier griff zu seinem Handy und wählte die Nummer der Frau Doktor Kohlross. Leider bekam er nur die Botschaft einer Mailbox. Der Teilnehmer sei im Moment nicht erreichbar. Bevor er noch Zeit hatte, zu überlegen, was er nun tun sollte, hielt ihm die Christine schon ihr Handy ans Ohr. „Ich hab den Kahlß Friedrich dran“, flüsterte sie ihm zu. Gasperlmaier, gerade im Begriff, unseliger Hektik zu verfallen, die ihn wie üblich nahezu vergeblich um Worte ringen ließ, schnaufte in den Apparat: „Der Naglreiter selber war’s! Und jetzt musst du mir die Frau Doktor wieder zurückbringen! Mit dem Marcel! Der war’s nämlich nicht! Weil der Christoph nämlich ein Foto von ihm gemacht hat! Nein! Kein Foto vom Marcel! Sondern vom Naglreiter, dem alten!“ Gasperlmaier hatte sich in Saft geredet, schwitzte und gestikulierte wild, als wolle er sich von einem zu engen Hemdkragen befreien, obwohl er doch noch immer in der Badehose mitten im Wohnzimmer stand. Kopfschüttelnd nahm ihm die Christine das Handy wieder aus der Hand, erklärte in wenigen Sätzen ruhig dem Kahlß Friedrich die Sachlage und legte auf. Den Gasperlmaier packte sie am Arm, führte ihn auf die Terrasse und drückte ihn wieder auf die Bank. „Jetzt beruhig dich erst einmal“, sagte sie mit ihrer sanftesten Stimme, „haben wir das nicht schon trainiert? Ruhig durchatmen, langsam atmen, nicht während dem Reden hecheln, dann geht das ganz von selber.“ Vom Beruhigen konnte bei Gasperlmaier aber keine Rede sein. Gleich sprang er wieder auf. „Erstens, ich muss mich wieder anziehen. Und zweitens, der Christoph hat mich angelogen! Er war gar nicht immer mit den anderen zusammen! Sonst hätte er das Foto gar nicht machen können! Vom Tagada und vom Bierzelt aus sieht man nämlich keinen See nicht!“ Und während die Christine beruhigend auf den freien Platz neben sich klopfte, um ihn zum Hinsetzen zu bewegen, rannte Gasperlmaier auf der Suche nach seiner Uniform ins Haus.