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Eine beeindruckend aufregende Erscheinung war sie schon, die Frau Naglreiter, dachte Gasperlmaier bei sich. Warum sich der Doktor Naglreiter, wenn man dem Pfarrer Glauben schenken durfte, von einer Affäre zur nächsten weitergehantelt haben sollte, das war Gasperlmaiers Verständnis nicht zugänglich. Auch sie war, natürlich, im Ausseer Dirndl, das ihr fast bis zu den Knöcheln reichte, und auch sie hatte, Gasperlmaier übersah es nicht, Schuhe mit sehr hohen Absätzen dazu an, solche, wie die Ines sie getragen hatte. Die hier waren aber sicher wesentlich teurer gewesen, das konnte sogar ein Mann wie Gasperlmaier erkennen, der an sich einen weiten Bogen um Auslagen mit darin zur Schau gestellten Schuhen zu schlagen pflegte. Gasperlmaier blieb aber dennoch bei seiner Meinung: Stöckelschuhe hatten unterhalb eines Dirndls nichts verloren. Auch das Dirndl schien eines von einer der bekannten Nobelmarken zu sein, nicht selbst geschneidert, wie es viele Frauen im Ausseerland noch konnten, nicht zuletzt seine Christine. Wie ein Strahlenkranz lagen die langen, blond gefärbten Haare der Frau Naglreiter jetzt im Wasser, und mit den Schuhen würde auch nicht mehr viel anzufangen sein, wo sie womöglich stundenlang im See getrieben hatten.

Gasperlmaier saß zusammen mit der Frau Doktor Kohlross, dem Kahlß Friedrich und dem Gruber Kajetan von der Freiwilligen Feuerwehr Altaussee in einer Motorzille, die sie zu der Stelle hinausgefahren hatte, an der eine völlig aufgelöste Familie in einem Elektroboot die Leiche der Frau Naglreiter im Altausseer See treibend aufgefunden hatte.

„Sollte sie nicht eigentlich untergegangen sein?“, wandte sich Gasperlmaier ein wenig ratlos an die Frau Doktor Kohlross, während der Kajetan die Zille näher an die Frau Naglreiter heransteuerte, deren linker Schuh sich gerade, wohl durch den Wellengang, der vom Boot ausgelöst wurde, von ihrer Ferse zu lösen begann.

„Verdammt noch einmal!“ Die Frau Doktor war dem nahe, was der Gasperlmaier gern als fuchsteufelswild bezeichnete. „Was weiß denn ich, warum sie nicht untergegangen ist? Wollen Sie sie fragen? Oder ihr vielleicht einen Strafzettel schreiben, weil sie sich nicht wie eine vorschriftsmäßige Wasserleiche aufführt? Ich hab jetzt schon die zweite Leiche, keinerlei klare Spur, und der zweite Mord passiert auch noch quasi vor meinen Augen! Was glauben Sie denn, was mir meine Vorgesetzten erzählen werden!“

Gasperlmaier konnte nicht umhin, die Frau Doktor fast andächtig anzustarren, denn im Zorn war ihr Gesicht am Ende noch ausdrucksstärker, das Funkeln in ihren Augen noch leuchtender als sonst. Gasperlmaier schrak zwar ein wenig zurück – aber eigentlich sollte er sich von der Tirade der Frau Doktor nicht wirklich betroffen fühlen, dachte er bei sich, denn er war ja bloß so etwas wie ein ortskundiger Begleiter und Fremdenführer, die Ermittlungen waren, näher betrachtet, seine Sache nicht.

Der Kajetan drehte kurz den Motor hoch, um nicht mit der Leiche zusammenzustoßen. Langsam umrundete das Boot die Frau Naglreiter. Gasperlmaier war jetzt ihrem Kopf ganz nahe, fast schien das fächerartig sich ausbreitende Haar vom Rand des Bootes verweht zu werden. „Stopp!“, schrie die Frau Doktor und streckte dem Kajetan ihre Handfläche entgegen, „so bleiben Sie doch stehen!“ Der Kajetan brummte bloß, dass man eine Zille nicht wie ein Moped auf den Meter zum Stillstand bringen könne, manövrierte aber dennoch geschickt, sodass sich die Bootsseite, über die sich die Frau Doktor Kohlross nun beugte, um den Leichnam genauer zu besehen, nicht allzu weit davon entfernte.

„Sehen Sie das?“, fragte sie, „sehen Sie das?“ Sie deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Kopf der Frau Naglreiter. Im gleichen Moment schien es Gasperlmaier, als würde sie das Gleichgewicht verlieren und ins Wasser stürzen, und er warf sich, einem plötzlichen Impuls folgend, über die Frau Doktor und hielt sie an den Schultern fest, um sie daran zu hindern, der im See treibenden Leiche Gesellschaft leisten zu müssen. Das Boot neigte sich gefährlich auf die Seite, während Gasperlmaiers Brust nun mehr oder weniger auf dem Hintern der Frau Doktor zu liegen kam. Sein Knie war zwischen ihren Oberschenkeln gelandet, sodass ihr Rock ungehörig weit hochgerutscht war. „Gasperlmaier!“, kreischte die Frau Doktor. Der Angesprochene begann sich vorsichtig zurückzuziehen, wobei er weniger aus Lüsternheit als aus Ungeschick die Frau Doktor an weit intimeren Stellen berührte, als ihm eigentlich lieb war. Der Kahlß Friedrich schüttelte resigniert seinen mächtigen Schädel und schnaufte wie ein Dampfross, während sich der Kajetan bemühte, mit Steuerruder und Motor das Boot halbwegs stabil zu halten.

Nur wenige Sekunden hatte der Vorfall gedauert, und schon saßen die Frau Doktor Kohlross wie auch Gasperlmaier wieder auf den Plätzen, die sie zuvor eingenommen hatten. Gasperlmaier rückte seine Uniformjacke zurecht. „Sagen Sie einmal!“, stieß die Frau Doktor hervor und strich sich ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren zurück. „Was ist Ihnen denn eingefallen?“

Gasperlmaier erklärte ihr umständlich und unter Hervorbringung einiger hilfloser Gesten, dass er der Meinung gewesen sei, sie sei kurz davor gewesen, ins Wasser zu fallen. „Gar kein dran Denken!“, fiel ihm die Frau Doktor ins Wort. „Schau ich so dämlich aus, dass ich mich nicht in einem Boot halten kann? Oder meinen Sie vielleicht, Frauen sind generell so ungeschickt, dass man sich zu ihrem Schutz gleich am besten auf sie draufwirft?“ Immer noch atmete sie heftig. Gasperlmaier zuckte mit verschiedenen Körperteilen herum, ohne dass ihm eine schlagfertige Antwort einfallen wollte. Endlich besann er sich, dass eine Entschuldigung der Angelegenheit vielleicht die Spitze und Dramatik nehmen könnte.

„Entschuldigung, Frau Doktor, ich …“ Unter wiederum hilflosem Achselzucken ließ Gasperlmaier den Satz versickern. Er tappte heute von einer Peinlichkeit in die nächste, und die allergrößte seiner Dummheiten, die Verbringung der Naglreiter’schen Leiche in das Pissoir, die hatte er noch nicht einmal eingestanden. Nun war die Möglichkeit zu einem Geständnis durch die neuerliche Peinlichkeit in weite Ferne gerückt, er hatte der Frau Doktor erst einmal seine Qualitäten unter Beweis zu stellen. Wenigstens, so sagte sich Gasperlmaier, hatte nicht er selbst die Leiche der Frau Naglreiter aufgefunden, berührt oder verräumt, womöglich hätte er auch da alles falsch gemacht. Gasperlmaier dachte daran, was er seiner Christine heute Abend alles beichten würde müssen. Es würde ein längeres Gespräch werden, fürchtete er, mit Erklärungsbedarf ebenso wie Erklärungsnotstand.

Die Frau Doktor wies den Kajetan an, neuerlich näher an die Leiche heranzusteuern. „Sehen Sie das, Kahlß?“ Wieso sprach sie jetzt den Friedrich an? War der für die Ermittlungen plötzlich bedeutender geworden als er, Gasperlmaier, selbst? „Da, am Kopf, da ist ein Büschel Haare angeklebt, da klebt auch Blut. Ich wette, die ist erschlagen worden, bevor man sie ins Wasser geschmissen hat.“

Gasperlmaier begann sich zu fragen, wer es wohl darauf abgesehen haben könnte, die Naglreiter’sche Familie auszurotten. Er dachte an die beiden Kinder und setzte gerade an, die Frau Doktor zu fragen, ob es nicht vernünftig wäre, die beiden unter Polizeischutz zu stellen, als ihr Handy läutete. Gerade als sie es aus ihrer Handtasche gefischt und aufgeklappt hatte, sah Gasperlmaier, dass sich eine weitere Zille der Feuerwehr der Stelle näherte, an der sie neben der – malerisch schönen – Wasserleiche der Frau Naglreiter dahintrieben. Es mussten jene Feuerwehrleute sein, die den Auftrag hatten, die Leiche zu bergen. Die Frau Doktor lauschte währenddessen aufmerksam einer Stimme aus ihrem Handy, und Gasperlmaiers Interesse begann zu erwachen und sich zu räkeln, als er „Ja? Wirklich?“, „Geh, gibt’s doch nicht!“, „Darf ja nicht wahr sein!“ und ähnliche Formen des Ausdrucks von Überraschung hörte.

Als die Zille so nahe gekommen war, dass deren Führer den Motor auf Standgas drosselte, klappte die Frau Doktor ihr Handy zusammen. „Der Herr Doktor Naglreiter hat, wie ich soeben erfahren habe, seine Finger tief im Ostgeschäft drinnen gehabt, er war für mehrere Firmen aus Russland, Moldawien und der Ukraine tätig. Was er genau für diese Firmen gemacht hat, wird recherchiert.“ Sie sah Gasperlmaier an. „Möglicherweise werden sie uns den Fall wegnehmen, wenn da mehr dahintersteckt.“

Gasperlmaiers Kinnlade klappte hinunter. Erstens, weil ihn die Frau Doktor mit ihrem „uns“ als elementaren Bestandteil in ihre Ermittlungen aufgenommen hatte, zweitens wegen der Erwähnung einiger osteuropäischer Staaten, in denen der gewöhnliche Mitteleuropäer häufig und gern die Heimat des leibhaftigen Gottseibeiuns in Form vorbildlich organisierten Verbrechens ausmacht. „Die Russenmafia? In Altaussee?“ Die Frau Doktor zuckte die Schultern und hob die Augenbrauen. „Was weiß ich? Aber warum sollte die Russenmafia den Naglreiters ins Wochenende nachfahren? Und warum sollten sie die Frau Naglreiter, die ja wohl nichts mit den Geschäften ihres Ehemanns zu tun hatte, umbringen? Kommt mir komisch vor.“

Gasperlmaier sah seine Chance gekommen. „Noch dazu, wo wir ja noch gar nicht wissen, ob die Frau Naglreiter nicht schon vor ihrem Mann umgebracht worden ist, ich meine, wenn es eine Warnung an ihn hätte sein sollen, dann hätten sie ihn ja nicht auch gleich …“

Die Frau Doktor Kohlross wies mit dem Finger auf Gasperlmaiers Brust und sagte: „Bingo! Das habe ich mir gerade auch gedacht. Trotzdem, Gasperlmaier: Sie müssen mir herausfinden, ob hier in der Gegend – und damit meine ich alles bis Gmunden hinaus – irgendwo Russen abgestiegen sind oder Moldawier oder Ukrainer. Wir suchen natürlich nur nach Männern, Auftragskiller machen keine Familienurlaube.“

Von der anderen Zille schrie ein Mann in Feuerwehruniform herüber: „Sollen wir sie jetzt einladen?“

„Ja!“, rief die Frau Doktor zurück. „Aber möglichst wenig berühren, im Boot liegen lassen, bis der Gerichtsmediziner da ist.“ Gasperlmaier fragte sich, wie sich die Frau Doktor vorstellte, dass man eine Leiche aus dem Wasser ziehen sollte, indem man sie „wenig berührte“.

Offenbar wollte die Frau Doktor nicht unbedingt mit ansehen, wie die Leiche der Frau Naglreiter in die Zille gewuchtet wurde, denn sie gab dem Kajetan Anweisung, zum Seehotel zurückzufahren, wo ihre kleine Bootstour ihren Ausgang genommen hatte. Während der Fahrt dachte sie, Gasperlmaier zugewandt, laut nach: „Überlegen wir einmal. Wenn es jemanden gibt, der beide umgebracht hat, wer kommt dafür in Frage? Von denen, die wir schon kennen. Doch nur die beiden Kinder und der Marcel Gaisrucker! Die Tochter scheidet aus. Bleiben der Stefan und der Marcel. Der Stefan hat ein Motiv: Geld. Andererseits – er wird nicht seine sprudelnde Geldquelle – seinen Vater – umbringen. Der Marcel könnte mit beiden in Streit geraten sein. Aber sein Alibi scheint dicht zu sein, ich bin mir sicher, wenn wir ihn genauer überprüfen, wird es noch dichter. Andererseits – wir wissen ja noch gar nicht, wann die Frau erschlagen worden ist. Da kann man auch den Marcel nicht von vornherein ausschließen.“ Die Frau Doktor, so schien es Gasperlmaier, war nun ganz in ihrem Element, sie war voller Enthusiasmus und Engagement, die Verzweiflung, die ihr vor wenigen Minuten wegen der zweiten Leiche noch anzusehen gewesen war, war Tatkraft und Entschlossenheit gewichen – und das machte sie, fand Gasperlmaier, unwiderstehlich anziehend. Vor allem, weil der Ausschnitt ihrer Kostümjacke weit auseinandergeklafft war, als sie sich während ihrer Ansprache weit zu Gasperlmaier vorgebeugt hatte.

„Was meinen Sie denn, Gasperlmaier, Sie müssen doch mehr darüber wissen, wer hier in Altaussee mit wem ins Bett steigt, das scheint ja in diesem Fall eine Rolle zu spielen. Zum Beispiel haben wir nicht die geringste Ahnung, mit wem der Doktor Naglreiter Beziehungen unterhalten haben könnte!“

„Wie?“ Gasperlmaier fühlte sich ertappt und schrak auf. Gerade hatte er, als sie vom Bett sprach, darüber zu sinnieren begonnen, wie es wohl wäre, mit der Frau Doktor, und hatte sich in dem Moment, als er direkt angesprochen wurde, selbst zur Ordnung gerufen und seine Nase in den Fahrtwind gerichtet gehabt, um durch die Kühlung drohenden Anfechtungen zu entgehen.

„Ich, ich …“ Sein eigenes Gestammel machte Gasperlmaier noch unsicherer, und blitzartig listete er sich selbst innerlich seine Fehlleistungen vom heutigen Tag auf, seine Leichenverbringung, dann die Szene im Bierzelt, wo er so unbeherrscht reagiert hatte, weiters den völlig unnötigen Überfall auf die Frau Doktor im Boot, und auch das trug nicht dazu bei, ihm rasche und sinnvolle verbale Reaktionen auf die Zunge zu legen, im Gegenteil, er beließ es bei einem hilflosen Achselzucken. Der Kahlß Friedrich, ebenso ein Adressat der Vermutungen und Überlegungen der Frau Doktor, schnaufte nur weiterhin laut hörbar vor sich hin, begleitet von einem Rudern mit den Pranken, das auch nicht viel mehr aussagte als Gasperlmaiers von unschlüssigem Zucken begleitetes Gemurmel.

Die Zille glitt langsam auf den Steg unterhalb des Seehotels zu, der Kajetan drosselte den Motor und ließ das Boot sanft auf den schmalen Kiesstrand gleiten. Gasperlmaier beeilte sich, der Frau Doktor beim Aussteigen die Hand zu reichen, um seine Ungeschicklichkeit von vorhin vergessen zu machen, achtete dabei zu wenig darauf, wo er hintrat, und stand schon mit einem Bein knöcheltief im Wasser. Augenbrauenhebend sah die Frau Doktor an ihm hinunter, bis zu seinem im Wasser stehenden Schuh. „Gasperlmaier, ich glaube, ich habe Ihnen schon mehrmals eindeutig klargemacht, dass ich viele Dinge allein kann, die ein Altausseer Polizist einer Frau offenbar nicht zutraut.“

Gasperlmaiers Fluch verließ seine Lippen nicht, kehrte um, landete in seinem Magen und löste dort krampfartige Zustände aus, als gerade die zweite Zille mit der Leiche der Frau Naglreiter neben jene glitt, die Gasperlmaier soeben verlassen hatte. Der Körper war mit einer Plane zugedeckt, aus der, wie Gasperlmaier nicht übersehen konnte, der linke Schuh hervorragte, der sich schon im Wasser zu verabschieden gedroht hatte. Womöglich hatten die Feuerwehrleute der Toten den Schuh wieder anziehen müssen.

Ein Mann mit Glatze und Kugelbauch, der kaum größer als die Frau Doktor war, trat auf Gasperlmaier zu, der gerade seinen nassen Schuh aus dem Wasser gezogen hatte und missmutig betrachtete. „Sie, Herr Inspektor, wer leitet denn hier die Ermittlungen?“ Gasperlmaier wies auf die Frau Doktor Kohlross, die soeben in die Zille gestiegen war, in der die Frau Naglreiter lag. Der Mann folgte Gasperlmaiers Fingerzeig. Während Gasperlmaier, der es für seine Pflicht hielt, Unbefugte vom Leichnam fernzuhalten, hinter dem Mann einherschritt, quietschte und quatschte sein linker Schuh. Ein grauenhaftes Gefühl war es, mit nassen Socken in nassen Schuhen zu stecken, dachte Gasperlmaier bei sich, selbst im Sommer, wo es warm war und wenigstens keine gesundheitlichen Folgen zu befürchten waren.

Ohne sich darum zu kümmern, dass sich die Frau Doktor Kohlross über die Leiche gebeugt und die Plane angehoben hatte, ihm also den Rücken zuwandte, streckte ihr der kleine Mann die Hand hin: „Doktor Kapaun, Gerichtsmedizin, aus Salzburg.“ Aus Gasperlmaiers Perspektive sah es so aus, als habe er vor, ihrem Hintern die Hand zu reichen. Die Frau Doktor richtete sich auf und wandte sich um. „Ist aber schnell gegangen. Warum aus Salzburg? Haben wir in der Steiermark niemanden?“ „Niemanden, der so nahe und rasch verfügbar war. Ich war gerade in Bad Ischl, man hat mich aus Graz angerufen.“ Doktor Kapaun hatte eine seltsam hohe Stimme, fand Gasperlmaier. Außerdem sah er mit seiner Figur überaus eigenartig aus, obwohl man dieselbe in einen durchaus gut geschnittenen dunklen Anzug gefüllt hatte. Ein kleiner Kopf thronte auf kurzem Hals über einem nahezu kugelförmigen Torso, der wiederum auf dünnen Beinen ruhte.

Doktor Kapaun stieg nun ebenfalls über die Bordwand der Zille, um sich den schmalen Platz neben der Leiche mit der Frau Doktor zu teilen. Sie hob die Plane an. „Interessant“, meinte Doktor Kapaun. „Wissen Sie übrigens, was ein Kapaun ist?“ Die Frau Doktor sah den Arzt völlig verständnislos an, so, als ob er sie gerade gefragt hätte, ob sie an Außerirdische glaube. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter: „Ein Kapaun ist ein kastrierter Hahn. Ist übrigens in Österreich nicht erlaubt. Delikatesse. Bitte nicht vom Namen auf die Eigenschaften schließen.“ Der Doktor lachte laut und meckernd auf. Die Stimme des Doktors, dachte Gasperlmaier, ließ wohl eher den Schluss zu, dass er außer dem Namen noch etliches mehr mit dem Vogel gemein hatte. Die Frau Doktor starrte weiter, die Augenbrauen wanderten in Höhen, wo Gasperlmaier sie noch nie gesehen hatte. Sie sah aus, als überlege sie, den Doktor Kapaun sofort in die Psychiatrie überstellen zu lassen. „Sehen Sie sich bitte die Leiche an, und sagen Sie mir dazu, was Sie können.“ Gasperlmaier spürte das Eis in ihrer Stimme.

Immer noch kichernd streifte Doktor Kapaun zwei Latexhandschuhe über, beugte sich über die Leiche, schlug die Plane zur Seite und drehte vorsichtig den Kopf der Frau Naglreiter zur Seite. Auch Gasperlmaier, der auf dem Kies des Ufers stehen geblieben war und gerade überlegte, ob die Situation es erlaubte, den Schuh und den Socken auszuziehen und den Socken wenigstens durch Auswinden wieder etwas tragbarer zu machen, konnte sehen, dass sich über dem rechten Ohr eine blutige Stelle befand, an der die Haare verklebt waren. „Sie hat hier wohl einen Schlag abbekommen, ob der Schädel gebrochen ist, kann man so kaum sagen. Ebenso, ob sie ertrunken oder tot ins Wasser geworfen worden ist. Natürlich kann sie auch besoffen ins Wasser gestürzt sein und sich den Schädel angeschlagen haben. Vielleicht hat sie auch Drogen genommen, wer weiß? Oder vielleicht ist sie im Liebesrausch von einem Felsen …“

„Danke, es reicht!“ Gasperlmaier sah der Frau Doktor an, wie viel Mühe es sie kostete, sich zu beherrschen. „Mich interessieren nur die Tatsachen!“, fauchte sie den Doktor Kapaun an. Ächzend richtete der sich auf und zuckte mit den Schultern. „Humor ist wohl nicht gerade Ihre starke Seite, Frau Kollegin?“, meinte er grinsend, während sich die Angesprochene kopfschüttelnd von ihm abwandte.

Plötzlich hörte Gasperlmaier hinter sich einen Schrei. „Jesses Marant Josef! Die Frau Doktor!“ Gasperlmaier, der eben seinen Schuh ausgezogen hatte, drehte sich, den Schuh in der Hand, um und sah die Evi, die Schwägerin vom Kahlß Friedrich, vor sich stehen und vor Entsetzen die Hand vor den Mund halten. Schon liefen ihr die Tränen über die Backen und Gasperlmaier hörte, wie mehrere Neugierige, die sich hinter der Absperrung angesammelt hatten, noch im Davonrennen die Neuigkeit lauthals unter die Leute brachten: „Die Frau Doktor Naglreiter haben’s auch umbracht!“

Der kurze Aufruhr war natürlich nicht unbemerkt an der Frau Doktor und dem Gerichtsmediziner vorbeigegangen, die jetzt beide aufrecht in der Zille standen, nachdem der Mediziner die Plane wieder über die Leiche gebreitet hatte, um weiterer Aufregung vorzubeugen. Sie stiegen aus dem Boot und Gasperlmaier musste sich jetzt schnell entscheiden: Schuh gleich wieder an oder Socken aus und auswinden. Als ihn der Blick der Frau Doktor Kohlross traf, fühlte er sich gleich wieder eingeschüchtert und peinlich berührt, sodass er schnell seinen Schuh wieder über den nassen Socken zog und eine Masche band.

Mittlerweile hatte sich der Kahlß Friedrich neben seine Schwägerin gestellt und den Arm um ihre Schultern gelegt. Die Frau Doktor trat zu Gasperlmaier, während der Doktor Kapaun auf sie einredete: „Kennen Sie den, Frau Doktor? Treffen sich zwei Pathologen. Sagt der eine, du, gestern hab ich eine Frau seziert …“ Ein Blick von einer solchen Schärfe traf den Unglücklichen, wie ihn Gasperlmaier selbst bei der Frau Doktor noch nicht gesehen hatte. „Bevor Sie eine Peinlichkeit begehen, Herr Doktor“, unterbrach sie ihn, „sagen Sie mir lieber, ob Sie noch irgendwelche Informationen für mich haben und wann ich mit einem ersten Bericht rechnen kann.“ Doktor Kapaun aber schien ihr nicht zugehört zu haben und fuhr ungerührt und mit beiden Händen seine Ausführungen unterstreichend fort: „… die hatte solche Brüste …“

Gasperlmaier sah das Gewitter kommen, so gut kannte er die Frau Doktor schon, und zog instinktiv den Kopf ein. Dem Doktor Kapaun blieb das nächste Wort im Hals stecken, als ihn die Frau Doktor anfauchte: „Halten Sie jetzt endlich ihr Schandmaul, Sie Sexist!“

Gasperlmaier schwankte zwischen mehreren Gefühlsebenen. Wie ihm die Frau Doktor gefiel, wenn sie wütend war! Und wie unangemessen es doch war, dass er sich ständig und unverschämt genau für ihr Gesicht, ihre Launen und nicht zuletzt ihre Beine und ihren Ausschnitt interessierte. Auf keinen Fall wollte er, dass sie so über ihn dachte wie über den unglücklichen Doktor Kapaun, der jetzt ein Rückzugsgefecht lieferte. Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zu seinem Auto. „Sie werden’s auch noch billiger geben, Frau Doktor! Fremdeinwirkung ist jedenfalls wahrscheinlich. Sie wird sich nicht selber ein Ruder über den Schädel gezogen haben! Bericht morgen!“ Und schon war er weg.

„Was für ein unmöglicher Mensch. Nicht zu fassen, mit wem man sich alles abgeben muss. Und so etwas will Mediziner sein!“ Immer noch entrüstet, hatte die Frau Doktor Kohlross die Arme in die Seiten gestemmt.

„Da drüben steht die Evi“, versuchte Gasperlmaier abzulenken, „die Schwägerin vom Kahlß. Sie hat beim Doktor Naglreiter geputzt.“ Gasperlmaier nahm die Frau Doktor am Oberarm, um sie zur Evi zu führen, die weiterhin vor sich hin rotzte und heulte. Im selben Moment durchfuhr ihn der Gedanke, dass er schon wieder einen Fehler gemacht hatte: Die Frau Doktor konnte ungeleitet und selbstständig zur Evi hinfinden. Vor lauter Schreck wagte Gasperlmaier nicht mehr loszulassen und packte ein wenig fester zu. Ganz gegen seine Erwartungen ließ sich die Frau Doktor willig zur Evi führen, der der Friedrich gerade umständlich ein neues Taschentuch aus einer Packung zog. Seine Finger waren für eine feinmotorisch so anspruchsvolle Tätigkeit einfach nicht geeignet.

„Sie können jetzt loslassen“, sagte die Frau Doktor mit einem amüsierten Zwinkern, als Gasperlmaier keine Anstalten dazu machte, obwohl sie der Evi und dem Kahlß Friedrich gegenüberstanden. Gasperlmaier, wie elektrisiert, gehorchte. Fast schien es ihm, als könne er in Gegenwart dieser Frau gar nichts mehr richtig machen. Gedanken an Hexen, die er sich sofort und vollständig selbst verbat, geisterten durch seinen Kopf. Obwohl, dachte er bei sich, die Haare und die Augen und die Gesamtausstrahlung? Jedenfalls, dachte Gasperlmaier, musste er höllisch aufpassen, dass sie nicht zumindest ihn verhexte.

„Das ist die Evi“, schnaufte der Kahlß Friedrich und wies mit seinem dicken Zeigefinger auf die verheulte Gestalt – natürlich im Ausseer Dirndl.

„Guten Tag.“ Die Frau Doktor streckte ihr die Hand hin. „Frau …?“

„Kitzer heiß ich, Eva Kitzer. Entschuldigen S’ …“ Und schon flossen wieder die Tränen. Gasperlmaier fragte sich, ob das Verhältnis zwischen den Naglreiters und der Evi wirklich so innig gewesen sein konnte, dass sie jetzt ein solches Theater machen musste, aber dann erinnerte er sich daran, dass die Evi auch bei jeder Hochzeit, bei jeder Taufe und schon gar bei jeder Beerdigung gleich nach dem Beginn der Zeremonie zu schniefen begann und darin eine nahezu unschlagbare Ausdauer bewies.

„Frau Kitzer“, begann die Frau Doktor vorsichtig, „in welchem Verhältnis sind Sie denn zur Frau Naglreiter gestanden?“

Die Evi blickte verständnislos auf: „Wie meinen S’ denn das? Ich hab doch mit der kein Verhältnis … Es ist halt nur, dass die gnädige Frau … so eine arme Frau!“ Gasperlmaier merkte, dass die Evi weitersprechen wollte, aber die Worte gingen in einem Singen und Rotzaufziehen unter, sodass keiner der Anwesenden etwas verstand.

„Ich meine, sind Sie mit ihr gut ausgekommen?“, versuchte es die Frau Doktor von neuem. Jetzt zuckte die Evi die Schultern und ließ die Hand mit dem verrotzten Taschentuch sinken. „Ja, mei!“, sagte sie, „wie man halt mit den Wienern so auskommt. Schikaniert hat’s mich nicht, aber recht kleinlich war sie schon, und ein bissl geizig. Wegen jeder Viertelstunde, die ich einmal früher gegangen bin, hat sie gleich zu rechnen angefangen. Obwohl, für die Stunde hat sie …“ Die Evi blickte zu ihrem Schwager hinüber. „Friedrich, ist das jetzt für mich recht blöd, du weißt es ja eh, so wirklich angemeldet …“ Sie beließ ihre Aussage, wie man das nicht nur in Altaussee in schwierigen Situationen macht, unvollständig.

„Frau Kitzer, wir interessieren uns hier nicht für Schwarzarbeit, wenn Sie das meinen.“

„Ja, ist das gleich Schwarzarbeit, wenn man, nicht ganz angemeldet, wem ein bissl hilft?“, fragte die Evi zögerlich. Gasperlmaier wünschte sich, die Debatte um Nebensächlichkeiten würde ein Ende nehmen.

„Frau Kitzer, und wie sind Sie denn mit dem Herrn Doktor Naglreiter ausgekommen?“

Der Blick der Evi wurde finster, so finster, wie Gasperlmaier ihn noch nie gesehen hatte. „Der war eine Drecksau, war der!“ Die Frau Doktor Kohlross wartete ein wenig, ob die Evi nicht weiterreden würde, aber sie sagte nichts mehr. Der Friedrich gab ihr ein neues Taschentuch, mit dem sie sich die leuchtend rote Nase putzte.

„Warum war er denn eine Drecksau?“, hakte die Frau Doktor sanft und geduldig nach. Die Evi blieb zunächst stumm, dann aber sah ihr Gasperlmaier an, dass sich etwas in ihr aufzustauen begann, das bald würde herausmüssen. Fast wollte der Evi schon der Kopf platzen, schien es Gasperlmaier, als sie losschrie: „Der hat sogar mir unter den Rock gegriffen, der alte Saubartl! Der hat ja vor nichts zurückgeschreckt! Und das hätten Sie einmal sehen sollen, wie der die Natalie angeschaut hat, als sie mir einmal geholfen hat, die Vorhänge nach dem Waschen wieder aufhängen! Dauernd ist er da herumscharwenzelt und hat ihr auf den Hintern geglotzt! Und blöd gefragt! Ob sie einen Freund hat? Und sie ist doch so hübsch, das gibt’s ja gar nicht, dass sie keinen hat! Und so weiter! Ich bin ja froh, dass der hin ist!“

Jetzt war der Luftballon leer, die Evi verstummte, der Kahlß Friedrich schlug vor Schreck seine Riesenpratze vor den Mund, und auch dem Gasperlmaier hatte es die Sprache verschlagen.

„Frau Kitzer, ich muss Sie jetzt noch einmal ganz sachlich fragen, wir können das auch ohne die beiden Herren machen.“ Die Evi winkte ab. „Die können das ruhig hören. Ist ja wahr.“ Die Energie war aus ihrer Stimme gewichen, sie war jetzt ganz flach und kleinlaut. „Hat der Herr Doktor Naglreiter Sie und Ihre Tochter sexuell belästigt?“ Die Evi wiederholte ratlos: „Sexuell belästigt?“ Die Frau Doktor schaltete schnell, der Begriff schien der Evi nicht geläufig. „Haben Sie das Gefühl gehabt, dass er von Ihnen und Ihrer Tochter was wollte, und war das gegen Ihren Willen?“ Leider hatte sich die Frau Doktor wieder etwas im Ton vergriffen. Die Evi hatte sie zwar verstanden, aber falsch: „Ja, glauben Sie denn, ich hätte den an mich hingelassen, den schiachen alten Rammler? Und glauben Sie, meine Tochter hat es Not, dass sie sich von dem anbraten lasst?“, heulte sie die Frau Doktor an, die nun ihre Ratlosigkeit – durch Anheben ihrer Augenbrauen – deutlich machte.

„Frau Kitzer, das habe ich natürlich nicht gemeint!“, versuchte sie zu beruhigen. Gasperlmaier zog sie vorsichtig am Ärmel. Gemeinsam traten sie ein paar Schritte von der Evi und dem Kahlß Friedrich weg. „Ich glaub, das mit der Evi, das machen besser der Friedrich und ich. Ich hab das Gefühl, ihr zwei versteht’s euch nicht richtig.“

„Da könnten Sie recht haben, Gasperlmaier“, gestand die Frau Doktor resigniert ein. „Ich wollte Sie eigentlich nicht unmittelbar in die Ermittlungen einbinden, aber so …“ Auch sie zog es vor, diesmal ihren Satz unvollendet zu lassen.