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„Herrgottsakrament!“, entfuhr es dem Kahlß Friedrich, nachdem er seinen massigen Leib durch die Eingangsöffnung des Pissoirs gezwängt hatte. Gasperlmaier empfand Erleichterung darüber, dass er nun nicht mehr mit der Leiche allein war. Auch bereute er bereits jetzt sein voreiliges Handeln – der deutliche Druck, der leichte Schmerz, das Ziehen im Magen – all das Zeichen, die ihm klar sagten: Du hast etwas falsch gemacht, Gasperlmaier. Das wird dir noch Ärger bereiten.

Kahlß stand zunächst ebenso untätig wie unschlüssig neben seinem Untergebenen, nahm sein Kapperl ab und kratzte sich an dem spärlichen, ihm noch verbliebenen Haarkranz. „Dass das ausgerechnet jetzt passieren muss!“ Kahlß hatte, wie Gasperlmaier wusste, noch drei Jahre bis zur Pension, dennoch hatte er sich schon im Vorjahr angewöhnt, jeden außergewöhnlichen Vorfall, der dazu geeignet war, seine Arbeitsbelastung wie seinen ohnehin schon überhöhten Blutdruck aus der Balance zu bringen, lauthals zu bejammern – warum denn das ausgerechnet so kurz vor der Pension passieren habe müssen. Dennoch, Kahlß war sonst die Ruhe in Person. So wie sein Bauch war sein phlegmatisches Verhalten im Laufe der Dienstjahre langsam, aber ebenso stetig angewachsen.

Nachdem sich Kahlß ausgiebig gekratzt hatte, beugte er sich zu der Leiche hinunter, um ihr ins Gesicht zu sehen. „Der Doktor Naglreiter!“, entfuhr es ihm nun. „Was macht denn der hier?“ Gasperlmaier war sich sicher, dass Kahlß eine rein rhetorische Frage gestellt hatte, auf die er weder von ihm, Gasperlmaier, noch von der Leiche eine aufschlussreiche Antwort erwartete.

„Du kennst ihn?“, fragte Gasperlmaier den Friedrich ebenso rhetorisch wie unnötig. „Freilich! Meine Schwägerin, die Evi, putzt bei ihm. Hat geputzt“, besserte sich Kahlß aus. „Hast du ihn nicht gekannt?“ Gasperlmaier musste verneinend den Kopf schütteln. Oft hatte er schon feststellen müssen, dass er viel weniger Leute kannte als seine Kameraden bei Feuerwehr und Polizei. Er interessierte sich nicht so für die Migranten aus Wien und den Landeshauptstädten, ihm waren die Altausseer und die Ausseer genug. Vielmehr blickte er mit ein wenig Verachtung auf jene herab, die im Wirtshaus immer wieder versuchten, sich mit den Halbprominenten aus Wien, wie er sie bei sich nannte, wichtig zu machen, besonders mit dem ehemaligen, nun über siebzigjährigen Minister, der hier herinnen gern den Salzbaron gab und wie einst der Kaiser jedes denkbare Klischee zu bedienen versuchte. So war er zum Beispiel schon häufig dabei zu beobachten gewesen, wie er mit Lederhose und Gamsjackerl angetan mit der Plätte über den See zum Kahlseneck hinüberfuhr.

„Der Doktor Naglreiter!“, wiederholte Kahlß, sich am Kinn kraulend. „Die Lederhose ist mir gleich so bekannt vorgekommen.“ Auf den fragenden Blick Gasperlmaiers hin erklärte Kahlß, der Doktor Naglreiter habe seine Schwägerin, die Evi, vor ein paar Monaten gefragt, wo er denn eine gute Altausseer Lederhose, wenn möglich maßgeschneidert, herbekomme, ohne ein oder zwei Jahre warten zu müssen. „Weil vielleicht bin ich dann schon tot!“, habe er zur Evi gesagt, so Kahlß, „und jetzt, schau ihn dir an, jetzt hat er die Lederhose, die neue, und ist trotzdem tot. Und die Lederhose ist auch hin.“

Die Evi habe also, fuhr der Kahlß Friedrich fort, dem Doktor Naglreiter geraten, sich an den Traninger draußen in Aussee zu wenden, und dort habe man zwar gejammert, die Näherin sei im Krankenstand, die kriege eine neue Hüfte, und man könne eigentlich keine Aufträge mehr annehmen, und dann habe man dem Doktor Naglreiter nach längerem Hin und Her doch eine neue Altausseer Lederhose angemessen, weil er natürlich die teuerste aller offerierten Möglichkeiten gewählt hatte, und sie war doch noch rechtzeitig zum Kirtag fertig geworden.

„Wenigstens hat er sie noch einmal tragen können“, meinte Gasperlmaier, ein wenig erleichtert, „und ganz hin ist sie auch wieder nicht, wegen dem bisschen Blut. Hat er denn einen Sohn, der Doktor Naglreiter, der die Hose kriegen kann?“, wollte Gasperlmaier noch wissen, denn er teilte die Sorge des Kahlß Friedrich um das wirklich sehenswerte Stück, das da jetzt am toten Hintern des Doktor Naglreiter hängend im Dreck der Wiese lag, in der das Klosett aufgestellt worden war.

„Freilich“, entgegnete der Friedrich, „zwei Kinder hat er, der Doktor, die sind beide schon erwachsen, der Sohn, meine ich, ist Student, und die Tochter!“, Kahlß pfiff durch die Zähne, „mein Lieber, da tut sich was, wenn die ihren Balkon im Dirndl spazieren trägt. Aber der Sohn, das ist eine rechte Krätzn, der spielt gern den großen Herrn, schmeißt mit dem Geld um sich, obwohl er selber gar keins verdient.“

„Du, Kahlß“, erkundigte sich Gasperlmaier, „was für ein Doktor ist denn eigentlich der Doktor Naglreiter?“

„Das weißt du auch nicht?“ Kahlß zog verwundert die Augenbrauen hoch.

Gasperlmaier ließ es bleiben, dem Kahlß zu erklären, dass er wohl sehr schlecht wissen konnte, was für ein Doktor der Naglreiter gewesen sei, wenn er ihn gar nicht gekannt hatte. Weil ja das Wissen, wer einer ist, zunächst einmal davon abhängt, dass man weiß, dass es ihn überhaupt gibt.

Aber schon sprach der Friedrich weiter: „Ein Rechtsanwalt ist – war – der. Mit einem Haufen Geld. Ein neues Haus hat er gebaut, oben, in Lichtersberg, aber so, dass es ausschaut, als ob es ein ganz altes, überliefertes Altausseer Haus wäre.“

Nachdem nun alles Wesentliche besprochen schien, kehrte Schweigen zwischen den beiden langjährigen Kollegen ein, das aber bald von Kahlß mit einem heftigen „Himmiherrgottsakrament noch einmal!“ beendet wurde. „Jetzt müssen wir wen anrufen. Bleib du da und ich ruf in Liezen an, die müssen uns wen herschicken, die Spurensicherung, und ein Ermittlerteam, da können wir nicht einfach selber herumfuhrwerken, da braucht’s ein paar Studierte, in so einem Mordfall.“

„Vielleicht war’s gar kein Mord“, versuchte Gasperlmaier den Friedrich zu beruhigen. Da aber bewies der Kahlß Friedrich, dass er als Vorgesetzter doch den besseren Durchblick hatte: „Ja, glaubst du vielleicht, der Doktor Naglreiter hat sich selber ein Messer in den Bauch gebohrt, es dann gut versteckt oder in den See geworfen und sich dann zum Verbluten ins Pissoir gelegt?“ Gasperlmaier musste sich im Stillen eingestehen, dass Kahlß natürlich – aus seiner Sicht gesehen – recht hatte. Wohingegen Gasperlmaier verlässlich wusste, dass sich der Doktor Naglreiter zum Verbluten einen weit besseren Platz ausgesucht hatte als das Pissoir.

Als der Kahlß Friedrich zum Auto stapfte und Gasperlmaier mit der Leiche allein ließ, war er sich gar nicht mehr sicher, ob seine Idee, den Leichnam aus dem Bierzelt zu entfernen, wirklich eine gute gewesen war. Der Knoten in seinem Magen zog sich nämlich immer mehr zusammen, und plötzlich wurde Gasperlmaier schmerzlich bewusst, dass man ja genauso gut beim Schneiderwirt drüben seine paar Bier hätte trinken können, und dass ein Kirtag gar niemals so wichtig war, wie er das vor einer halben Stunde noch gedacht hatte. Wo doch die Stube drüben beim Schneiderwirt wesentlich gemüt-licher war als die lehnenlosen Bierbänke im überfüllten, verrauchten Zelt, wo einem spätabends das Kondenswasser, das sich unter der Deckenplane gebildet hatte, ins Bier tropfte.

„Sie kommen.“ Kahlß zwängte sich wieder seitlich durch die Eingangsöffnung des Pissoirs. Obwohl, dachte Gasperlmaier bei sich, es bei der Leibesfülle des Kahlß Friedrich völlig nebensächlich sein dürfte, ob er seitlich oder geradeaus durch einen Spalt zu schlüpfen versuchte, weil der Durchmesser, der hier ja wohl das Entscheidende war, so oder so etwa der gleiche sein musste. Wahrscheinlich war das Sich-seitlich-Durchzwängen mehr psychologisch.

„Ich pass jetzt hier auf den Doktor Naglreiter, also die Leiche, auf, und du nimmst dir das Plastikband und die Stecken aus dem Auto und sperrst alles ab.“ Gasperlmaier war es recht, dass er aus dem Pissoir jetzt endlich hinauskam, dennoch hatte ihn Kahlß ein wenig verunsichert. „Alles?“ Der Kahlß wurde ein wenig präziser: „Na, was halt geht, alle Ein- und Zugänge, die in Liezen draußen sagen, alles wird abgesperrt, niemand kommt vor der Spurensicherung aufs Gelände. Ich hab schon am Posten in Aussee angerufen, die schicken wen, der gleich einmal die Zufahrten zu den Parkplätzen sperrt und ein paar Tafeln aufstellt.“

Wie Gasperlmaier befürchtet und verhindern hatte wollen, wurde aus dem Kirtag nun doch nichts mehr. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stand Gasperlmaier dem Kirtag aber mit zunehmender Gleichgültigkeit gegenüber, vielmehr fürchtete er sich immer heftiger davor, dass sein eigenmächtiges Eingreifen auffliegen und die unangenehmsten Konsequenzen nach sich ziehen könnte.

Auf dem Weg zum Auto kam Gasperlmaier am Lastwagen der Gösser-Brauerei vorbei, der schon aufgetaucht war, als er noch allein mit Naglreiters Leiche beschäftigt gewesen war. Ein wenig wunderte es ihn schon, dass weder Fahrer noch Beifahrer bei ihnen vor oder im Pissoir aufgetaucht waren, um herauszufinden, was die Polizei am frühen Morgen so ausgiebig beschäftigte. Doch eben in diesem Moment schlug der Fahrer des Wagens eine Zeltplane zurück und trat vor Gasperlmaier hin. „Was macht’s denn ihr schon so früh da heraußen?“, wollte der jetzt natürlich wissen, und Gasperlmaier sah weder einen Grund, ihm Auskunft über das Einschreiten der Polizei zu verweigern, noch fiel ihm auf die Schnelle eine plausible Lüge ein. „Eine Leiche haben wir, im Pissoir.“ Und als sich die Blicke des Fahrers instinktiv dem genannten Ort zuwandten, sodass Gasperlmaier glauben musste, er wolle jetzt stante pede den Tatort besichtigen, fand er zur nötigen Autorität seines Amtes: „Ihr könnt’s gleich zusammenpacken und abfahren, hier wird heute kein Bier ausgeschenkt, ist alles Tatort, wird alles sofort abgesperrt.“

Irgendwie war dem Gasperlmaier nun leichter, und ohne dem Bierfahrer noch weitere Aufmerksamkeit zu schenken, ging er zum Einsatzwagen des Kahlß Friedrich, holte eine große Rolle Absperrband heraus und wandte sich zunächst den Zugängen zum Bierzeltgelände zu, wo er begann, zwischen Bäumen und Zaunpfosten, Hecken und Verkehrstafeln die Plastikstreifen zu verankern, um die Altausser, die bald in Feststimmung auf das Gelände würden strömen wollen, nachdrücklich daran zu hindern.