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Als die Frau Doktor Kohlross mit Gasperlmaier und dem Kahlß Friedrich im Schlepptau am Bootshaus eintraf, standen dort bereits zwei Fahrzeuge mit flackernden Blaulichtern, hinter denen sich eine kleine Menschenmenge angesammelt hatte, die von zwei Uniformierten in Schach gehalten wurde. Der Zugang zum Bootshaus war mit Kunststoffbändern abgesperrt. Gasperlmaier trat als Erster auf den Steg, der wie eine Terrasse an das Bootshaus angebaut war. Von dort führte eine hölzerne Tür in den Innenraum, der für drei Plätten Platz bot. Ein Liegeplatz war frei, und an dem Platz gegenüber der Eingangstür machten sich die Weißgekleideten der Spurensicherung zu schaffen. Gasperlmaier konnte zwei auf dem Bauch liegende Männer sehen, die den Bug und das Heck des Bootes festhielten, um es zu stabilisieren. Zwei weitere Gestalten krochen im Boot herum, um mit verschiedensten Gerätschaften zu sichern, was die letzten Benutzer darin zurückgelassen hatten.

„Schon was gefunden?“, fragte die Frau Doktor einen ebenfalls in einen weißen Overall gekleideten Mann, der vor dem Bug des Bootes stand und den beiden aufmerksam bei ihrer Arbeit zusah. „Nichts, was wir ohne nähere Analyse jemandem zuordnen könnten. Geringfügige Faserspuren, etliche kleine Blutflecken, wahrscheinlich älteren Datums, Fischreste, Reste von Papiertaschen-tüchern, ein gebrauchtes Pflaster. Was man halt so findet in einem Boot, das von den verschiedensten Personen zu den verschiedensten Gelegenheiten genutzt wird.“

Gasperlmaier hörte draußen ein Poltern, jemand rief aufgebracht: „So geht das aber nicht!“ Als er sich umwandte, drängte sich ein beleibter Mann durch die Tür des Bootshauses, während sich eine an seinem Arm hängende Polizistin mit blondem Pferdeschwanz vergeblich bemühte, ihn davon abzuhalten. Gasperlmaier erkannte den Niedergrottenthaler Wilhelm, dessen Gesicht ziemlich rot angelaufen war. Seine feisten Beine steckten in einer enormen, recht speckigen und abgewetzten Lederhose. Gasperlmaier fragte sich, ob der Wilhelm auch so voluminöse Vorfahren gehabt hatte, denn neu war die Lederne sicherlich nicht, und ein solches Exemplar war auch nicht alltäglich. Er überlegte, wie viele Hirsche für diese Lederhose wohl ihr Leben hatten lassen müssen.

„Jetzt lassen S’ mich halt aus!“, brüllte er, immer noch verzweifelt bemüht, die an ihm hängende Polizistin loszuwerden. „Das wär ja noch schöner, wenn ich die Polizei um Erlaubnis fragen muss, wenn ich in mein eigenes Bootshaus hineinwill!“ Die Frau Doktor Kohlross trat rasch an Niedergrottenthaler heran, noch bevor Gasperlmaier Gelegenheit fand, den Mund aufzutun. „Doktor Kohlross, Bezirkspolizeikommando!“ Sie hielt ihm ihre Dienstmarke unter die Nase. „Sie können den Mann loslassen“, fuhr sie, zur Polizistin gewandt, fort. Der Wilhelm, fand Gasperlmaier, beruhigte sich ein wenig, nachdem ihn die Polizistin losgelassen hatte. „Wir untersuchen hier einen Mord, eigentlich mehrere Tötungsdelikte. Sie sind der Besitzer dieses Bootshauses?“ Der Wilhelm nickte. „Natürlich. Und man kann doch nicht einfach so, ohne dass man den Besitzer, in ein Haus eindringen, und da drin …“ Die Frau Doktor Kohlross unterbrach ihn: „Oh doch, glauben Sie mir, man kann! Herr …“ Sie ließ den Satz ausklingen, um den Wilhelm dazu zu bewegen, seinen Namen zu nennen. „Niedergrottenthaler, Wilhelm!“, antwortete der folgsam. „Herr Niedergrottenthaler, wem gehören die zwei Boote, die hier liegen?“ „Die Plätten, meinen S’?“, gab sich der Wilhelm umständlich. „Herr Niedergrottenthaler, wenn Sie bitte meine Fragen beantworten wollen.“ Noch, fand Gasperlmaier, gab sich die Frau Doktor geduldig. „Die eine, die alte da herüben, die gehört mir, und die neue da drüben, wo Ihre Leute drinstehen, die gehört dem Doktor Naglreiter, den sie umgebracht haben.“ „Wer hat ihn umgebracht? Haben Sie da Informationen darüber?“, fragte die Frau Doktor überrascht zurück. „Das weiß doch eh jeder, dass den die Russenmafia umgebracht hat, und seine Frau gleich dazu. Da können S’ jeden fragen hier im Ort. Mich wundert nur, dass ihr das noch nicht wisst.“ Die Frau Doktor Kohlross lächelte amüsiert, ohne die Behauptung des Wilhelm zu kommentieren. „Herr Niedergrottenthaler, gibt es ein Boot, das zu dem dritten Liegeplatz hier in der Mitte gehört?“ „Sicher“, antwortete der, „das hat sich heute aber einer ausgeliehen. Der wollte mit ein paar Freunden baden fahren. Kann noch nicht lang her sein, weil er hat sich den Schlüssel erst vor einer Stunde geholt.“ „Wenn Sie mir vielleicht sagen würden, wer sich das Boot ausgeliehen hat?“ „Die Plätte?“, fragte der Wilhelm unverschämt zurück. Die Frau Doktor, Gasperlmaier konnte es sehen, hatte Mühe, ihre Ruhe zu bewahren. Dennoch wiederholte sie konzentriert: „Die Plätte, ja.“ „Der Gaisrucker Marcel, der mit den Gleitschirmen, der immer vom Loser herunterfliegt.“ Bei der Nennung dieses Namens wanderten die Augenbrauen der Frau Doktor nach oben, was nur allzu verständlich war, wie Gasperlmaier fand.

„Kennen Sie den Gaisrucker näher?“, fragte die Frau Doktor nach. „Was heißt näher?“ Der Wilhelm ließ einen Arm durch die Luft fahren, wohl um zu unterstreichen, wie unnötig er die Frage fand. „Ich kenn fast jeden in Altaussee. Und den Marcel kenn ich, seit er ein Kind war. Aber ich borg ihm die Plätte nur gegen Vorauszahlung, der ist ein bissl ein Hallodri, der ist mir oft schon Geld schuldig geblieben. Heute hat er gezahlt.“ „Wer hat einen Schlüssel zum Bootshaus?“, wollte die Frau Doktor wissen. „Na, wir haben zwei, die hängen immer daheim am Brettl, und wer einen braucht, der nimmt ihn. Und der Doktor Naglreiter hat einen, und einen … Kommen S’ mit!“ Der Wilhelm trat durch die Tür nach draußen und lupfte ein ausgebleichtes Holzbrett, auf dem in Brandmalerei der Schriftzug „Haus Marianne“ nur mehr schwach auszunehmen war. Darunter kam ein Haken zum Vorschein, an dem kein Schlüssel hing. „Da müsst’ auch noch einer sein“, sagte er, „aber es ist keiner da.“ „Das sehen wir“, antwortete die Frau Doktor, „wann haben Sie denn diesen Schlüssel zum letzten Mal gesehen?“ Der Wilhelm zuckte mit den Schultern. „Glauben Sie, darüber führ ich Buch? Es ist ja nicht so, dass jeder immer zusperrt. Und außerdem ist das Wasser da so seicht, da kannst du im Sommer auch vom Wasser her in das Bootshaus waten. Hier in Altaussee muss nicht alles zugesperrt werden, hier wird nicht alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest ist, wir sind ja nicht in Wien oder in Graz, wo euch die Rumänen und die Georgier sogar die Lederhosen unter dem Arsch wegstehlen.“ Die Frau Doktor, so meinte Gasperlmaier zu bemerken, schluckte die ausländerfeindliche Bemerkung des Wilhelm mühsam hinunter, blieb ihm aber einen Kommentar darauf schuldig.

„Herr Niedergrottenthaler, wissen Sie, wann die Familie Naglreiter ihr Boot …“, der Wilhelm begann schon einen Finger zu heben, während sich die Frau Doktor, eine beruhigende Handbewegung gegen den Wilhelm ausführend, sogleich korrigierte „ … ihre Plätte zum letzten Mal benutzt hat? Wissen Sie, wer, ich meine, welche Familienmitglieder?“

Der Wilhelm zuckte mit den Schultern. „Am Samstag in der Früh war ich fischen draußen, da waren natürlich die anderen zwei Plätten noch da, ich meine, wer steht denn schon so früh auf, an einem Wochenende? Aber wie ich zurück bin, so um zehn herum, da sind der Stefan Naglreiter, der Sohn, und seine Schwester gerade dahergekommen. Die Natalie war auch dabei. Ich hab mich schon gewundert, was die bei denen will, die ist ja kaum sechzehn Jahre alt, und mit den zwei Wienern? Aber mir war’s egal. ‚Fahrt’s baden?‘, hab ich sie gefragt, und der Stefan hat mir eine blöde Antwort gegeben, der ist ein arroganter Pinsel. ‚Nein, Schlittschuh laufen!‘, hat er gegrinst, und die zwei Mädels haben blöd gelacht. Ich hab mich dann nicht mehr länger aufgehalten. Ich hab ihnen nur noch gesagt, dass sie aber nur ihr Boot nehmen dürfen, das zweite hab ich für das ganze Wochenende an einen Wiener Schauspieler vermietet, Sie wissen schon, so ein ganz dünner mit einem langen Gesicht und einer tiefen Stimme. Vielleicht hat der ja den Schlüssel von draußen genommen. Wie er heißt, fällt mir jetzt ums Verrecken nicht ein!“

„Das ist ja jetzt schon drei Tage her. Wissen Sie, ob später jemand noch ein Boot benutzt hat?“ Der Wilhelm zuckte mit den Schultern. „Ich wohn ja schließlich nicht da. Wir haben daheim die paar Fische gegrillt, die ich gefangen hab, und später war ich dann auch beim Bierzelt, mit meiner Frau. Und am Sonntag und am Montag auch, wie ihr die Leut’ wieder hineingelassen habt.“

„Danke, Herr Grottenthaler. Wenn Sie uns dann bitte hier weiterarbeiten lassen würden.“ Gasperlmaier zuckte zusammen. Der Wilhelm konnte es nämlich um die Burg nicht leiden, wenn sich jemand an seinem – zugegeben, etwas langen und umständlichen – Namen vergriff und ihn abkürzte. Schon holte er tief Atem, doch noch bevor er zu Wort kam, besserte sich die Frau Doktor aus. „Niedergrottenthaler, selbstverständlich.“ Dem Wilhelm ging die Luft wieder aus. Fast widerstandslos folgte er der Polizistin, die die ganze Zeit hinter ihm gewartet hatte. Nur kurz drehte er sich noch einmal in der Tür um. „Und ihr macht’s mir hier eh nichts kaputt? Und ihr sagt’s mir’s, wenn ihr fertig seid?“ Die Frau Doktor Kohlross nickte eifrig, wohl, wie Gasperlmaier bei sich dachte, um den Wilhelm schnell loszuwerden.

Ein Weißgekleideter stieg aus der Plätte und kam zu ihnen. „Wir haben was gefunden!“ Stolz hielt er zwei kleine flache Plastiksäckchen in die Höhe. Erst jetzt bemerkte Gasperlmaier, dass es eine Frau war. Eine sehr junge und überaus hübsche noch dazu, wie er feststellte. Die Frau Doktor nahm ihr beide Säckchen ab und hielt sie gegen das durch die Türöffnung fallende Licht, um den Inhalt besser sehen zu können. „Straßsteine und ein Knopf?“, fragte sie mehr sich selbst als jemand anderen. „Das sind solche zum Aufkleben. Bekommen Sie fast in jedem Modegeschäft. Die Mädchen kleben Sie auf Taschen oder Handys oder so. Definitiv etwas, was auf ein jüngeres Mädchen deutet.“ „Und der Knopf?“ Im Säckchen befand sich ein schwarzer, runder, nicht allzu großer Knopf mit gewölbter, glänzender Oberfläche. Gasperlmaier war sofort klar, um was für einen Knopf es sich handelte. „Ein Kuhhornknopf. Findet sich bei jeder Lederhose an der Seitennaht, außen, bei den Oberschenkeln.“ Endlich, dachte Gasperlmaier, hatte er auch einmal einen wesentlichen Beitrag zum Fortgang der Ermittlungen geleistet. „Aber sind da nicht Hirschhornknöpfe dran?“ Gasperlmaier lächelte überlegen. „Wenn Sie sich nicht auskennen, dann können Sie sich schon Hirschhornknöpfe dranmachen lassen. Daran erkennt man dann den Wiener. Wenn Sie aber ein Altausseer sind, dann wissen Sie, dass solche Knöpfe drangehören.“

„Na ja“, meinte die Frau Doktor, „hier trägt ja fast jeder eine Lederhose. Wesentlich weiter wird uns das nicht helfen, dass wir jetzt wissen, dass ein Altausseer in der Plätte einen Knopf verloren hat.“ Gasperlmaier registrierte mit Genugtuung, dass die richtige Bezeichnung für das Boot der Frau Doktor jetzt schon wie selbstverständlich über die Lippen kam. „Außerdem wissen wir ja schon, dass die Naglreiter Judith und die Natalie gestern das Boot benutzt haben. So gesehen keine besondere Überraschung. Warum eine von ihnen allerdings die Steine verloren haben könnte, frage ich mich schon.“ Sie blickte sich nach Gasperlmaier um, der ratlos die Schultern zuckte, dann aber doch fündig wurde: „Ein Kampf vielleicht? Eine Streiterei?“ Die Frau Doktor antwortete nicht und gab der Frau das Säckchen zurück. „Zu den anderen Beweisstücken halt dann.“ Sichtlich enttäuscht war sie von den mageren Funden, fand Gasperlmaier.

„Wir müssen jetzt den Gaisrucker ausfindig machen. Kommen Sie mit! Ein Boot brauchen wir! Sofort!“ Gasperlmaier deutete auf die Plätte des Niedergrottenthaler Wilhelm. „Wir könnten vielleicht …“ „Ausgezeichnete Idee!“ Die Frau Doktor hüpfte hinein und bedeutete dem Gasperlmaier und dem Kahlß Friedrich, ihr zu folgen. Gasperlmaier stieg, etwas weniger behände als die Frau Doktor, die hohe Stufe hinunter, die ihn vom Wasserspiegel trennte, und dann vorsichtig ins Boot, das ein wenig zu schwanken begann, sodass sich die Frau Doktor gleich auf die Bank in der Mitte setzte, um nicht aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Gasperlmaier drehte sich kurz um und sah die gewaltige Masse des Kahlß Friedrich auf sich zukommen, der sich soeben anschickte, ein Bein ins Boot zu setzen. Vor lauter Angst, dass der Friedrich die Plätte zum Kentern bringen könnte, beeilte sich Gasperlmaier, sich neben die Frau Doktor auf die Bank zu setzen, stolperte dabei über ein auf dem Boden liegendes Ruder und fiel der Frau Doktor Kohlross mehr oder weniger in den Schoß. Der Kahlß Friedrich hatte sich jedoch nicht davon abhalten lassen, den Vorgang des Einsteigens fortzusetzen, sodass sich die Plätte plötzlich gefährlich zur Seite neigte, weil sein Fuß die Mitte des Bootsbodens nicht genau getroffen hatte. Instinktiv klammerte sich Gasperlmaier an die Frau Doktor, und als sich das Schwanken etwas beruhigt hatte, fand er sich mit seinem Oberkörper zwischen den Beinen der Frau Doktor, während er seine Nase zwischen ihren Brüsten begraben hatte. Gasperlmaiers rechtes Ohr konnte die weiche Fülle der Brust, gegen die es gedrückt war, überdeutlich fühlen. Peinlich berührt versuchte er sich hochzurappeln und bemerkte dabei erst, dass er seine Arme um die Frau Doktor geschlungen hatte, die sich gerade ebenso sanft wie nachdrücklich von Gasperlmaier zu befreien suchte.

Als dieser endlich wieder dort war, wo er hingehörte – aufrecht auf der Bank neben der Frau Doktor –, stellte er fest, dass seine Aktion zum Zentrum aller Aufmerksamkeit geworden war – die gesamte weißgekleidete Mannschaft hatte aufgehört, ihrer Beschäftigung nachzugehen, und beobachtete, was in der Plätte des Niedergrottenthaler Wilhelm vor sich ging. Gasperlmaiers Ohren glühten und er hatte kein dringenderes Bedürfnis, als von diesem Ort zu verschwinden. Deshalb herrschte er den Kahlß Friedrich grob und unvermittelt an: „So fahr doch endlich!“ Der Friedrich indessen brauchte noch ein paar Sekunden, um herauszufinden, wo denn der Schalter für den Elektromotor der Plätte war und wie man überhaupt ins Fahren kam. Wenig später aber glitten sie, zur Erleichterung Gasperlmaiers, auf den See hinaus.

Erst jetzt fand Gasperlmaier Atem genug, sich zu entschuldigen. „Es tut mir leid, ich wollte nicht, ich bin gestolpert, und dann …“ Die Frau Doktor winkte ab, ganz so, dachte Gasperlmaier, als habe sie sich mit der Ungeschicklichkeit ihres Assistenten in dieser Ermittlung schon abgefunden.

„Baden sollen die gefahren sein. Wo badet man denn hier?“, fragte die Frau Doktor, zum Friedrich gewandt. Der hob seine Pranke und deutete auf einen weißen Schotterstreifen, den man am gegenüberliegenden Ufer erkennen konnte. „Das ganze Ufer hinauf, bis zur Seewiese, das sind so die Strände, wo die Leut’ gern baden. Man kommt da nur mit dem Boot hin, oder zu Fuß halt. Und mit dem Radl, obwohl eigentlich Fahrverbot ist.“ Der Friedrich grinste. „Und weißt eh, Gasperlmaier, nackt baden tun sie da auch. Vielleicht haben wir heut’ ein Glück!“ „Herr Kahlß!“ Die Frau Doktor strafte ihn mit einem tadelnden Blick. Gasperlmaier erinnerte sich plötzlich an einen Film mit Louis de Funes, in dem er samt seinen Gendarmen ein Häufchen Nudisten verfolgt hatte. Die Gendarmen, erinnerte sich Gasperlmaier, waren in diesem Film immer die Trottel gewesen. Er hatte keine Lust, womöglich in Uniform Nacktbadern hinterherzujagen.

„Geht’s nicht schneller?“, trieb die Frau Doktor den Friedrich zur Eile an. Der zuckte mit den Schultern. „Ist ja kein Rennboot, Frau Doktor. Nur ein leiser Elektromotor, wie es halt erlaubt ist. Aber am Traunsee draußen, da hat es vor ein paar Jahren ein Rennen gegeben, mit Motorbooten, die über zweihundert Sachen machen. Und einen von denen hat es gleich …“ Die Frau Doktor winkte ab. „Ja, ja. Das will ich gar nicht wissen. Und, Kahlß, dass Sie mir jetzt nicht jede Bikinischönheit genau unter die Lupe nehmen. Der Gaisrucker hat eine Plätte gemietet, wir suchen nur nach einer Plätte, die irgendwo am Ufer liegt.“

Lang brauchten sie nicht zu suchen, da deutete Gasperlmaier schon nach vorne, wo eine Plätte halb ans Ufer gezogen im Wasser lag. Der Friedrich hielt darauf zu. Bald konnte Gasperlmaier einige Leute wahrnehmen, die es sich auf dem Schotter mit Decken und Luftmatratzen bequem gemacht hatten. Den Gaisrucker Marcel erkannte er als Ersten, denn er stand aufrecht da und war offenbar gerade damit beschäftigt, ein Feuer anzumachen. Das klapperdürre Gestell, dachte Gasperlmaier, halb neidisch und halb verächtlich, erkennt man ja auf hundert Meter. Der Marcel sah von seiner Beschäftigung auf, als der Friedrich die Plätte knapp neben der seinen knirschend auf den Schotter gleiten ließ. Gasperlmaier konnte nicht umhin festzustellen, dass neben zwei weiteren Burschen in langen, weiten Badehosen auch drei junge Frauen am Strand lagen. Da war zunächst die Ines, die Gasperlmaier schon kannte. Komisch, dachte er, da rennt sie am einen Tag wütend davon und erzählt noch herum, dass der Marcel gar keinen, dass er also nicht in der Lage war. Und am nächsten Tag geht sie mit ihm baden und legt sich halbnackt an den Strand mit ihm. Aber die Gefühle, die das Handeln der Frauen antreiben, die würde er sowieso nie verstehen. Da konnte ihm die Christine erklären, so lang sie wollte.

Die Ines hatte kein Oberteil an und ließ ihre kleinen Brüste vorwitzig die Brustwarzen in die Höhe strecken. Vielleicht, dachte Gasperlmaier, war sie ja schon im Wasser, und da ist ihr kalt geworden. Neben der Ines richtete sich gerade ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren in einem roten Bikinihöschen auf, und Gasperlmaier verschlug es fast den Atem. Die war mit so runden, üppigen Brüsten ausgestattet, dass dem Gasperlmaier nicht nur sprichwörtlich, sondern auch tatsächlich der Mund offen stehen blieb. Wie manche Menschen, dachte er bei sich, von der Natur gesegnet und bevorzugt wurden, das war fast schon eine Ungerechtigkeit. „Und jetzt fangen Sie gleich zu sabbern an, oder wie?“ Gasperlmaier hatte völlig auf die Gegenwart der Frau Doktor vergessen und klappte seinen Mund so schnell zu, dass er sich fast auf die Zunge biss, die wohl nicht mehr ganz dort gewesen war, wo sie hingehörte.

Der Marcel hatte seine Versuche, das Feuer durch Anblasen zu entfachen, aufgegeben und sich aufgerichtet. Er trug wieder seine speckige Lederhose, die Gasperlmaier schon kannte, und sont, wie gestern, offenbar nichts. Außer vielleicht eine Unterhose, dachte Gasperlmaier, aber selbst das war bei einem wie dem Marcel so eine Frage, die man sich ruhig stellen durfte. Immerhin brauchte er dann gar nichts zu waschen, wenn er die Lederhose pur trug. Wie die Schotten ihre Kilts, da sagt man ja auch, dass die nichts unter ihrem Kilt tragen, und so viel wärmer als in Altaussee, mutmaßte Gasperlmaier, war es ja da oben auch nicht.

„Herr Gaisrucker, wir haben ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie uns bitte zu unserer Plätte begleiten wollen?“ Der Marcel, dachte Gasperlmaier, machte einen recht verunsicherten, fast schon verdächtigen Eindruck, wie er da so sprachlos den drei Polizisten ins Gesicht starrte. Dann fand er doch seine Sprache wieder. „Was wollen S’ denn von mir? Ich hab ihnen ja schon alles gesagt! Und die Ines …“ Der Marcel deutete auf die Decke, auf der die Ines und das Mädchen im roten Bikinihöschen saßen. Gasperlmaier stellte fest, dass die Ines gerade damit beschäftigt war, ein offenbar widerspenstiges Bikinioberteil auf ihrem Rücken zuzuhaken, während die Körbchen vorne ein wenig verrutscht waren und ihre Brüste nur halb verdeckten. Das Mädchen im roten Höschen tat nichts dergleichen. Sie hatte sich zurückgelehnt und auf ihre Ellenbogen gestützt und lächelte, wie Gasperlmaier fand, frech zu ihnen herüber, ihre Brüste mehr oder weniger präsentierend. Gasperlmaier begann unter seiner Uniform zu schwitzen.

„Was wir miteinander zu besprechen haben, Herr Gaisrucker, möchte ich gern außerhalb der Hörweite Ihrer Freundinnen erledigen.“ Gasperlmaier fand wieder ins Hier und Jetzt zurück. Nur mit Mühe gelang es ihm aber, seine Blicke von der Schwarzhaarigen loszureißen. Marcel folgte der Frau Doktor, die zu ihrem Boot voranging. „Herr Gaisrucker, wir haben Grund zur Vermutung, dass Sie gestern – bevor Sie mit der Ines zusammen waren – die Frau Naglreiter getroffen haben. Wie Sie ja sicher wissen, ist auch sie vermutlich ermordet worden, jedenfalls gewaltsam zu Tode gekommen. Jetzt erfahren wir heute, dass Sie im Bootshaus des Niedergrottenthaler ein und aus gehen, dass dort auch die Plätte der Naglreiters liegt und – das möchte ich Ihnen nicht vorenthalten – dass wir im Körper der Frau Naglreiter Spuren gefunden haben, die uns verraten werden, mit wem sie zuletzt Geschlechtsverkehr gehabt hat. Und das war vorgestern, also an ihrem Todestag. Herr Gaisrucker, wo haben Sie den Abend verbracht, bevor Sie mit der Ines zusammen waren?“

Der Marcel sank auf der Bank im Boot zusammen, während die Frau Doktor vor ihm stehen blieb. Gasperlmaiers Blick wanderte zurück zu den jungen Leuten, die offenbar kein besonderes Interesse an der Vernehmung des Marcel hatten. Nur die Ines hatte sich aufgesetzt und schaute herüber. Die Schwarzhaarige lag wieder auf dem Bauch, und wie Gasperlmaier ohne besondere Überraschung feststellte, trug sie so ein Höschen, das die wesentlichen Partien ihres Hinterns freiließ und in Form eines Schnürls zwischen ihren Hinterbacken verschwand. Der Hintern, dachte Gasperlmaier, war in Form und Ausführung durchaus mit ihrem Busen zu vergleichen, mit der Ausnahme, dass auf ihrer rechten Hinterbacke, die dem Gasperlmaier zugewandt war, eine tätowierte Rose prangte. Etwas weiter oben, unter den Bäumen, hockte der zweite Bursch, der sich ausdauernd und intensiv damit beschäftigte, mithilfe eines größeren Steins und unter großer Anstrengung und beträchtlicher Lärmentwicklung kleinere auseinanderzuschlagen. Gerade flogen einige Splitter in Richtung der beiden Mädchen. Die Schwarzhaarige stützte sich auf ihre Arme: „Hör endlich auf, du Idiot!“ Seltsam, dachte Gasperlmaier, dass es junge Männer gab, die beim Anblick einer solchen Schönheit nichts Besseres zu tun hatten, als auf Steine einzuschlagen. Oder aber, dachte Gasperlmaier, vielleicht hatte die Schwarzhaarige den Burschen derartig durcheinandergebracht, dass er Steine zertrümmern musste, um seiner Gefühle Herr zu werden.

Gasperlmaiers Blick wandte sich den beiden jungen Leuten zu, die ein wenig abseits von den anderen auf einer Strohmatte lagen. Beide kehrten ihm den Rücken zu, und das Mädchen trug einen einfachen schwarzen Badeanzug, der zwar recht knapp geschnitten war, aber, wie Gasperlmaier fand, das bedeckte, was zu bedecken war. Als er seine Blicke über den Hintern des jungen Mannes neben ihr gleiten ließ, erstarrte er. Die Badehose kannte er. Wo nur hatte er sie zuletzt gesehen? Das Muster kam ihm äußerst bekannt vor. Zu Hause, im Schmutzwäschekorb! Der Bursch dort war sein Sohn Christoph, das war ihm in diesem Moment klar. Und das scheinbare Desinteresse der beiden, das konnte nur daher kommen, dass sie die Stimmen des Gasperlmaier und des Kahlß Friedrich erkannt hatten und sich ruhig hielten, um unerkannt zu bleiben. Und das neben dem Christoph, das musste die Andrea sein, zu der Christoph eine durchaus unklare Beziehung pflegte. Gasperlmaier erkannte sie an dem langen schwarzen Zopf, der über ihre linke Schulter bis auf die Strohmatte hing. Die beiden trafen sich zwar fast täglich, um miteinander zu lernen oder fortzugehen, dennoch sträubte sich der Christoph dagegen, sie als seine Freundin zu bezeichnen, und warf seinen Eltern vor, bei Beziehungen immer nur an Sex zu denken. Früher, dachte Gasperlmaier, hatten das die Eltern den Kindern vorgeworfen. So war es zumindest bei ihnen zu Hause gewesen, schon zu einer Zeit, als bei Gasperlmaier an Sex mangels interessierter Partnerinnen noch nicht einmal annähernd zu denken gewesen war.

Gasperlmaier wandte sich wieder der Frau Doktor zu, unsicher, ob er ihr Auskunft darüber geben musste, dass sein Sohn hier in Gesellschaft des verdächtigen Marcel Gaisrucker anzutreffen war. Das Gespräch war bereits bei Einzelheiten zum Verbleib des Marcel am fraglichen Nachmittag angelangt.

„Und Sie waren an diesem Nachmittag nicht im Bootshaus?“ „Vielleicht war ich dort. Ich weiß es nicht mehr.“ Aus den Fernsehkrimis wusste Gasperlmaier, dass der Marcel damit praktisch zugegeben hatte, dort gewesen zu sein. Wenn einer so herumredete, mit „vielleicht“, und sich an nichts erinnern konnte, dann war er’s natürlich gewesen.

„Also noch einmal, Herr Gaisrucker. Wir gehen einen Schritt zurück. Sie haben die Ines gegen zwanzig Uhr getroffen, und zwar auf dem Kirtag, direkt bei dem Fahrgeschäft, das Sie als Tagada bezeichnen. Woher sind Sie da gekommen? Was war genau Ihr Weg dorthin, und wo hat er begonnen?“

Der Marcel stützte den Kopf in die Hände und schwieg. Die Frau Doktor drehte sich zu Gasperlmaier um. „Gasperlmaier, können Sie mir noch die Personalien der jungen Leute aufnehmen? Und vielleicht auch gleich fragen, ob sie in der fraglichen Zeit den Marcel Gaisrucker gesehen haben? So zwischen sechs und acht Uhr am Abend, am Sonntag?“

Die Personalien erheben sollte er? Er sollte sich zu den Mädchen dort hinsetzen und Namen und Adressen aufschreiben, während ihm der Busen der Schwarzhaarigen förmlich ins Gesicht sprang? Das konnte die Frau Doktor nicht ernst meinen. Dennoch zögerte er zu widersprechen. „Noch was?“, fragte die Frau Doktor, wie es Gasperlmaier schien, ein wenig ungeduldig. Gasperlmaier nickte ergeben. Das Schwitzen wurde stärker. Er fühlte bereits seine Ohren glühen, als er sich sicherheitshalber zuerst dem jungen Mann näherte, der am Waldrand mittlerweile dazu übergegangen war, Steine über die beiden Mädchen hinweg ins Wasser zu werfen. Die Ines saß immer noch und versuchte offenbar, irgendetwas von dem Gespräch aufzuschnappen, das in der Plätte geführt wurde. Die Schwarzhaarige lag auf dem Bauch und hatte ihr Gesicht in ihrem Arm vergraben. Gasperlmaier hockte sich neben den jungen Mann und zückte sein Notizbuch. „Ich brauch eure Personalien.“ „Was brauchst du?“ Der junge Mann ließ sich nicht einmal in seiner Tätigkeit unterbrechen und warf weiter konzentriert Steine ins Wasser, ohne Gasperlmaier auch nur mit einem Blick zu streifen. „Wie du heißt, wo du wohnst und so weiter.“ „Zu was braucht’s ihr das?“ Der Bursch wandte sich nun doch Gasperlmaier zu. In seiner Unterlippe steckte ein metallener Knopf. Gasperlmaier fragte sich, wie sich das wohl innen drinnen anfühlte, wenn da so ein Metallknopf zwischen Kiefer und Lippe herumwetzte.

Gasperlmaier beschloss, etwas offizieller zu werden. „Das hier ist eine Mordermittlung, und hier handelt es sich um Zeugen oder auch Beteiligte. Wir brauchen eure Personalien.“ „Und wenn ich dir meine Personalien nicht sag? Was machst du dann?“ Gasperlmaier fühlte, wie ihm die Situation entglitt. Ob er es bei dem Burschen auch mit der Drohung mit Polizeiauto, Handschellen und Polizeiposten versuchen sollte? Gasperlmaier probierte es noch einmal im Guten. „Wir haben gar nichts gegen euch, gar kein Problem, eigentlich ist nur der Marcel verdächtig, aber wir könnten eure Daten als Zeugen benötigen.“ Weiter warf der Bursch Steine ins Wasser. „Florian Schwaiger“, murmelte er schließlich, was Gasperlmaier unglaublich erleichterte. „Aus Bad Ischl. Ich kenn den Christoph“, er deutete mit dem Kinn kaum wahrnehmbar auf den Sohn Gasperlmaiers, „vom Skifahren. Wir sind bei ein paar Skiclubrennen gegeneinander gefahren. Er hat immer gewonnen.“ Gasperlmaier setzte nach: „Genaue Adresse?“ „Leschetizkygasse zwölf.“ Gasperlmaier notierte und wandte sich den beiden Mädchen zu, ein wenig beruhigter. Schließlich war die Ines bekleidet, und ihre Daten waren schon bekannt. Die Schwarzhaarige lag auf dem Bauch und stellte so keine allzu große Bedrohung dar.

Gasperlmaier hockte sich neben sie. „Darf ich Sie auch um Ihre Personalien bitten?“ Plötzlich richtete sich die Schwarzhaarige auf und setzte sich im Schneidersitz dem Gasperlmaier gegenüber. Wie Magneten sogen ihre sanft schaukelnden Brüste die Blicke Gasperlmaiers an. „Da schau, der Herr Kommissar gibt uns auch die Ehre. So eine Freude!“ Gasperlmaier beschlich das Gefühl, dass sich das Mädchen über ihn lustig machte. „Wir müssten, wegen einer Ermittlung, Ihren wissen, Ihren Namen, und wie Sie heißen.“ Das war gründlich missglückt. Gasperlmaiers Grammatik geriet einfach immer durcheinander, wenn der Stress besonders groß war. Die Schwarzhaarige schmunzelte. Die lacht mich aus, dachte Gasperlmaier, weil ich stottere wie ein Idiot und ständig auf ihren Busen starre.

Er zwang sich, den Blick zu heben und besann sich seines eigentlichen Anliegens. „Ich bin nicht wegen Ihrer … Ihrer“, Gasperlmaier zeigte mit dem Finger auf die Quelle ihres Stolzes, gleichzeitig begreifend, dass man auf jeden Fall weder die Brüste Badender anstarrt, noch mit dem Finger auf sie deutet. Gasperlmaier wandte seinen Blick dem See zu. Über ihn hinweg zischten die Wurfgeschosse des Florian Schwaiger. Nur nicht die Nerven wegschmeißen, dachte Gasperlmaier. „Ihren Namen bitte, und ihre Adresse.“ „Ich bin die Eva Schwaiger. Und dem da“, sie wies auf den Florian, „seine Schwester. Und ich wohne dort, wo er wohnt, aber nicht mehr lang. Weil ich hab jetzt in der Modeschule in Ebensee die Matura gemacht, und ich werd’ jetzt Model.“

Gasperlmaier notierte. Und bei sich dachte er, dass die Eva zwar ein Prachtexemplar ihrer Gattung und ihres Geschlechts war, dass aber in den Modeschauen, die seine Christine gelegentlich im Fernsehen verfolgte, eine ganz andere Art von Frauen als Kleiderständer diente. Eher solche wie die Ines, nur zwanzig Zentimeter länger. Wo man Models, die so aussahen wie die Eva, ansehen konnte, daran mochte Gasperlmaier jetzt gar nicht denken. Die Welt der Mode war es jedenfalls nicht.

Gasperlmaier erhob sich und wünschte ihr viel Glück. Doch da fiel ihm ein, dass er die jungen Leute ja auch nach ihrem Aufenthalt zur vermutlichen Tatzeit befragen sollte. Er ließ sich wieder nieder und wandte sich zunächst an die Ines.

„Wollen Sie auch Model werden?“, fragte er, weil ihm keine bessere Gesprächseröffnung einfiel. Die Ines schnaubte nur verächtlich. „Das interessiert mich wirklich nicht! Ich brauch nämlich meinen Busen nicht in der Gegend herumzeigen, damit mich irgendwer wahrnimmt.“ Aha, dachte Gasperlmaier, das hört sich jetzt nach einer kleinen Eifersüchtelei zwischen den beiden Damen an. „Ich studier technische Chemie. Da würdest du dich sowieso nicht drübertrauen!“, fügte sie, an Eva gewandt, schnippisch hinzu. Die hatte sich wieder hingelegt und zischte nur verächtlich. Gasperlmaier sah seine Chance gekommen. „Ich muss euch beide noch fragen, wo ihr am frühen Abend wart. Wegen einer Zeugenaussage, möglicherweise. Wenn jemand von euch den Marcel gesehen hat …?“ Die Ines schüttelte den Kopf. „Hab ich das nicht schon gesagt? Gegen acht hab ich ihn getroffen, beim Tagada. Nicht ausgemacht, sondern mehr zufällig. Ich war mit ihr da“, sie zeigte auf die Eva, „und ihrem Bruder unterwegs. Die hab ich schon früher getroffen, wir waren vorher noch baden. Beim Kahlseneck drüben.“ Das Kahlseneck war ein öffentlicher Badeplatz, genau gegenüber der Stelle, an der sie sich gerade befanden. Wenn es stimmte, was die Ines behauptete, würden sich auch Zeugen finden, die das bestätigen konnten. „Und den Marcel habt ihr früher nicht gesehen?“ Die Ines schüttelte den Kopf. Plötzlich setzte sich die Eva wieder auf, und erneut schwindelte dem Gasperlmaier ein wenig bei ihrem Anblick, obwohl er doch schon geglaubt hatte, seine fatale Faszination überwunden zu haben. Hoffentlich, dachte Gasperlmaier, träume ich nicht auch noch von diesen Dingern, obwohl, andererseits, so schlimm wie die Albträume, die ihn von Zeit zu Zeit plagten, wäre das auch wieder nicht. Schon wieder, dachte er, schweifst du ab, bleibst nicht bei der Sache, und es verrinnen die Sekunden, und du schweigst und glotzt, und was werden sich die Mädchen dabei denken?

„Ich aber schon!“, sagte die Eva fröhlich. Gasperlmaier war verwirrt. „Ich aber schon?“ Was schon? „Ich hab den Marcel früher schon gesehen. Ich hab nämlich von meinen Eltern zur Matura eine Kamera gekriegt, wollen Sie sie sehen?“ Ohne Gasperlmaiers Antwort abzuwarten, drehte sie sich um, kramte in einer silbernen, mit Pailletten besetzten Tasche herum und zog ein ziemlich schweres, schwarzes Trumm von einer Kamera heraus. „Schauen Sie, Herr Inspektor, die hat einen Zehnfach-Zoom.“ Gasperlmaier schaute und bemühte sich krampfhaft, seine Blicke auf die Kamera zu fokussieren. „Und nach dem Baden sind wir drei noch auf ein Bier gegangen, beim Buffet beim Kahlseneck, und ich spiel da so mit meiner Kamera herum und schau durch den Sucher, und da seh ich eine Plätte auf dem See, und ich hol sie näher heran, und was glauben Sie, wer da drinnen gestanden ist und gerudert hat? Natürlich unser Marcel! Mit einer blonden Tussi im Dirndlg’wand!“ Sie hielt dem Gasperlmaier die Kamera hin. „Wollen Sie’s einmal ausprobieren? Sie können ein Foto von mir machen. Ich kann’s Ihnen dann per Mail schicken.“

Das hätte gerade noch gefehlt, dachte Gasperlmaier, der zum Öffnen seiner Mails regelmäßig die Hilfe seiner Frau in Anspruch nehmen musste, doch plötzlich stand die Eva auf, ihr rotes Dreieck tanzte kurz vor seiner Nase, und schon war sie zum Ufer gelaufen. Sie watete ein paar Schritte ins Wasser hinein und rief: „Kommen Sie, Herr Inspektor, seien Sie kein Spielverderber. Schauen Sie halt einmal durch und drücken Sie ab!“

Gasperlmaier dachte, wenn jetzt gerade die Frau Doktor herüberschaut und sieht, wie das praktisch nackte Mädchen da posiert, und ich hab eine Kamera in der Hand, dann gibt es eine Katastrophe. „Das geht nicht!“, rief Gasperlmaier zur Eva hinüber, und erst jetzt fiel ihm ein, dass er ganz als Erstes verlangen hätte müssen, dass sie sich anzieht, bevor er mit ihr spricht. Das war schon wieder ein unverzeihlicher Fehler gewesen.

Gerade rechtzeitig fiel dem Gasperlmaier noch ein, dass er die Eva darum bitten musste, die Speicherkarte herauszurücken. Ihre Aussage allein würde der Frau Doktor nicht genügen, die würde auch das Foto haben wollen. Gasperlmaier blickte bewusst an der Eva vorbei auf den See hinaus. „Ich muss Sie um die Speicherkarte bitten. Wir brauchen das Foto als Beweis.“ „Kein Problem. Wenn ich’s wieder kriege!“ Sie drehte sich um, streckte die Arme über den Kopf und tauchte unter. Kurz darauf sah Gasperlmaier sie wieder auftauchen und auf den See hinausschwimmen. Ratlos drehte er die Kamera hin und her. „Wissen Sie vielleicht, wie man an die Speicherkarte kommt?“, frage er die Ines. „Geben S’ einmal her.“ Sie steckte ihren Fingernagel in eine kleine Öffnung, worauf eine Klappe aufsprang. Dann hielt sie dem Gasperlmaier ein fingernagelgroßes Stück schwarzes Plastik hin. „Voilà!“ Der nahm es vorsichtig entgegen und steckte es in die Brusttasche seiner Uniform. Hoffentlich, dachte Gasperlmaier, verliere ich das Ding nicht und es funktioniert noch, wenn sich die Frau Doktor das Foto ansehen will.

Gasperlmaier hörte ein Geräusch, das, wie ihm schien, von oben, vom Weg, der um den See führte, kam. Er wandte sich um und sah, wie ein paar Steine den Abhang herunterkollerten. Was er noch sah, waren der Christoph und die Andrea, die gerade unter den Bäumen verschwanden und anscheinend zu Fuß nach Hause wollten. Verdammt, dachte Gasperlmaier, wie erkläre ich das der Frau Doktor, dass sich mein Sohn hier mit dem Marcel herumtreibt und mir dann samt seiner Freundin durch die Lappen geht, bevor ich noch eine gescheite Aussage bekommen habe.

Gasperlmaier wurde das alles jetzt zu viel, ohnehin hatte er hier nichts mehr zu schaffen, er erhob sich und stapfte durch den losen Schotter zu der Plätte hinüber, in der die Frau Doktor immer noch mit dem Marcel in ein Gespräch vertieft schien, während der Friedrich am Steuer wartete. „Wiedersehen, Herr Inspektor!“ Die Eva stieg gerade aus dem Wasser und winkte ihm zu. Gasperlmaier wandte sich ab.

„Na, haben Sie sich mit der jungen Dame ausgiebig unterhalten?“ Gasperlmaier entging der ironische Unterton der Frau Doktor keineswegs. Gerade wollte er zu einer Erklärung ausholen, als die Frau Doktor nachschob: „Lange genug gebraucht haben Sie ja.“ Doch da platzte dem Gasperlmaier der Kragen. „Das hätten Sie selber sehen sollen, Frau Doktor. Das Mädel ist ja vollkommen verrückt, die hält sich für ein Model, der wären auch Sie nicht entkommen! Die hätte auch Ihnen angeboten, dass sie Ihnen ein Foto zuschickt, das Sie von ihr aufgenommen haben! Herrgottsakrament, noch einmal!“ Die Frau Doktor zuckte fast ein wenig zurück vor seinem Ausbruch, denn so hatte sie ihn natürlich noch nicht kennengelernt, aber wenn das Fass einmal überlief, dann konnte Gasperlmaier schon auch einmal laut werden.

Die Frau Doktor bemühte sich, zur Sache zurückzukehren. „Haben Sie die Personalien und die Aussagen über gestern am frühen Abend?“ „Nein!“ brummte Gasperlmaier zurück, dem Marcel, der immer noch auf der Bank in der Plätte saß, schaute er dabei direkt ins Gesicht. „Damit Sie es gleich wissen: Zwei haben sich davongemacht. Sie sehen es ja selber. Und die zwei waren mein Sohn Christoph und seine Freundin. Und fragen Sie mich bitte nicht, warum ich mich so blöd angestellt habe, dass die zwei wegkonnten. Die finden wir schon noch. Und bitte“, Gasperlmaier wurde leiser, nahm die Frau Doktor bei der Schulter und wandte sich von der Plätte ab, „trampeln Sie nicht darauf herum, dass mir die zwei entwischt sind, weil ich dreimal zu oft auf den Busen von der da drüben geschaut habe. Das weiß ich selber“, fügte er hinzu, während die Wut schon fast gänzlich aus ihm herausgelaufen war. Die Frau Doktor schaute erstaunt, blieb aber stumm. Gasperlmaier versuchte in ihren Blicken zu lesen und konnte keinen Zorn und keine Verachtung entdecken, vielleicht sogar etwas wie Respekt. Beide ließen es bleiben, die Angelegenheit noch weiter zu kommentieren, und wandten sich wieder der Plätte zu. Sie stiegen vorsichtig ein und teilten sich die Bank gegenüber von Marcel. Keiner von ihnen hatte Lust, sich neben den Burschen zu setzen.

Plötzlich fiel Gasperlmaier ein, dass er der Frau Doktor eine wichtige Aussage der Eva bisher unterschlagen hatte. „Der da“, er deutete auf den Marcel, „ist vorgestern, so um halb acht, auf dem See gewesen. Mit einer Plätte. Und einer blonden Frau.“ Gasperlmaier zog die Speicherkarte aus der Brusttasche. „Auf der Karte da ist ein Foto drauf, das die Aussage beweist. Die Eva hat ihn fotografiert!“ Zufrieden mit sich reichte er die Karte der Frau Doktor, die sie mit spitzen Fingern entgegennahm und aufmerksam begutachtete. Der Marcel blickte verständnislos zu Gasperlmaier, dann hinüber zu den beiden Mädchen, die jetzt, das sah auch Gasperlmaier, ihre Sachen zusammenpackten. Wobei es die Eva offenbar für wesentlich hielt, alles andere zuerst zusammenzusuchen, bevor sie sich etwas anzog.

„Stimmt das, Herr Gaisrucker?“, fragte die Frau Doktor. Der spielte auf Zeit: „Wann soll das gewesen sein? Ich fahr ja oft mit einer Plätte herum, der Niedergrottenthaler …“ Die Frau Doktor ließ ihn gar nicht erst ausreden. „Herr Gaisrucker, Sie haben in Bezug auf die fragliche Zeit bisher nur Blödsinn geredet und gelogen, dass sich die Balken nur so gebogen haben. Jetzt hat Sie zur fraglichen Zeit jemand auf dem See gesehen. Verdammt noch einmal, waren Sie zu diesem Zeitpunkt Bootfahren oder nicht? Begreifen Sie denn nicht, dass das Ausweichen und Herumreden jetzt nichts mehr hilft?“ Der Marcel ließ den Kopf sinken und stützte ihn in die Hände. Ganz langsam und Wort für Wort sagte er in seine schmutzigen Finger hinein: „Ich hab sie aber nicht umgebracht!“

Die Frau Doktor wies den Friedrich mit einer Handbewegung an, den Motor zu starten. Gasperlmaier stieg noch einmal aus und schob die Plätte vom Kies.

„Hallo!“, schrie plötzlich die Ines zu ihnen herüber, „und wer fährt jetzt das Boot zurück? Wir können das nicht!“ Während die Plätte mit dem Friedrich, der Frau Doktor und dem Marcel langsam ins Wasser glitt, sah die Frau Doktor dem Gasperlmaier fragend ins Gesicht. Der schüttelte energisch den Kopf: Er würde die Eva und die Ines sicherlich nicht zurück zum Bootshaus chauffieren! Indes begann der Friedrich schon die Plätte zu wenden, worauf die Frau Doktor dem Gasperlmaier bedauernd zuwinkte und mit den Schultern zuckte. Gasperlmaier war mit den beiden Mädchen allein und stieg in die Plätte, die noch am Ufer lag. „Schmeißt’s halt euer Zeug herein! Und tummelt’s euch!“

Die Ines kam mit ihrer Badetasche und einer zusammengerollten Strohmatte gerannt, während die Eva, so schien es Gasperlmaier, grinsend und provokant langsam ihre Sachen vom Boden aufhob. Wenigstens, dachte Gasperlmaier, hatte sie jetzt ein rotes Leibchen an, dessen Ausschnitt ihren Busen aber fast noch mehr betonte als die gänzliche Nacktheit. Betont lässig schwang sie sich an Bord. „Einen Elektromotor hättet ihr aber schon selber bedienen können!“, murmelte Gasperlmaier vor sich hin, schaltete ein und stellte fest, dass die Plätte auf dem Uferschotter aufsaß. „Eine muss raus und anschieben!“, befahl er. Die Eva stieg seufzend noch einmal aus und schob an. Dabei trat sie offenbar auf einen glitschigen Stein und rutschte aus. Gasperlmaier sprang auf, um zu helfen, doch sie erwischte gerade noch den Bootsrand und schwang sich geschickt über die Bordwand ins Bootsinnere. „Sakra!“, grinste sie, „jetzt hätt’ ich Ihnen bald noch eine Extrashow geliefert, mit Wet-T-Shirt und so.“ Gasperlmaier schwieg, wendete und steuerte auf das andere Ufer zu.

Die Plätte, die der Kahlß Friedrich steuerte, war schon weit entfernt. Gasperlmaier drehte auf Vollgas. Die Eva hatte ihre Kamera herausgeholt und hielt sie auf Gasperlmaier gerichtet. „So ein Mann in Uniform …“, grinste sie, während die Ines düster vor sich hin stierte. Gasperlmaiers Blicke blieben, ohne dass er es wirklich wollte, wieder an der Eva hängen Er seufzte und bemühte sich, an ihr vorbei zu seinem Ziel zu starren.

Als er in den Schatten des Bootshauses eintauchte, waren die Frau Doktor und der Marcel bereits ausgestiegen und saßen auf einer Bank oberhalb der Boote. Der Friedrich war mit dem Vertäuen der Plätte beschäftigt. Die Ines verschwand wortlos, während die Eva unter Gekicher aus der Plätte stieg, am Marcel vorbeischarwenzelte und sich übertrieben aufgeräumt von den Anwesenden verabschiedete. „Ich besuch dich im Gefängnis!“, rief sie von der Tür zum Marcel zurück. Die Frau Doktor blickte ihr nur missbilligend nach.

Während Gasperlmaier seine Plätte vertäute, begann der Marcel zu reden. „Sie wissen es ja eh schon, dass ich mit der Naglreiter“, er zögerte, „dass wir etwas miteinander hatten. Natürlich können Sie sich jetzt fragen, ob mir die nicht viel zu alt war, aber …“ Wieder unterbrach er sich, Gasperlmaier schien, er überlegte, wie alt die Frau Doktor sein mochte. „Zum Thema: vorgestern Abend!“, ermahnte ihn die Frau Doktor. „Sie hat mir ein SMS geschrieben, ob wir uns im Bootshaus treffen können. Natürlich bin ich hin, und wenn’s nach mir gegangen wäre, hätten wir auch gleich im Bootshaus … aber das wollte sie nicht, da könnte ja jemand kommen, hat sie gemeint, also sind wir hinausgefahren und haben dann irgendwo in der Mitte vom See …“ Die Frau Doktor fuhr ihm dazwischen. „Jetzt entschuldigen Sie aber, Herr Gaisrucker, das glaubt Ihnen doch kein Mensch. So groß ist der See ja nicht. Und rundherum ist der Weg, von dem aus Sie praktisch in der Auslage gewesen wären. Jeder mit einem Fernglas oder einem guten Teleobjektiv hätte Sie sehen können!“ Dem Marcel kam ein Grinsen aus. „Die wollte das so. Auf das ist sie besonders gestanden.“ „Aber im Bootshaus wollte sie nicht? Da, sagen Sie, hat sie sich geweigert, weil jemand kommen hätte können?“ Der Marcel wand sich wie ein Fisch am Angelhaken. „Also, Sie müssen das verstehen. Es hat ihr gefallen, wenn sie das Gefühl gehabt hat, dass uns vielleicht wer beobachtet. Direkt von ihrem Mann oder ihren Kindern beim F…“ Gerade noch rechtzeitig stockte der Marcel und warf einen prüfenden Blick auf die Frau Doktor, deren Augenbrauen, wie Gasperlmaier wahrnahm, schon auf dem Weg nach oben waren. „ … beim Liebemachen erwischt zu werden“, setzte der Marcel aufatmend fort. Da war ihm im letzten Moment doch noch ein einigermaßen entschärfter Begriff eingefallen, dachte Gasperlmaier, so viel sprachlichen Feinsinn hätte er dem Marcel gar nicht zugetraut.

„Und wir haben uns, ich meine, sie hat ein Dirndl angehabt, und Sie kennen das sicher, das ist so ein Spielchen …“ Die Frau Doktor unterbrach den Marcel scharf. „Herr Gaisrucker, was ich kenne oder nicht, ist hier nicht das Thema, und schon gar nicht, ob ich Spielchen kenne. Beenden Sie Ihres!“, fuhr sie ihn an, den Kopf fast schlangengleich nach vor schnellend, wie Gasperlmaier fand. Der Marcel schluckte und klammerte sich mit den Händen an der Bank fest, bevor er fortfuhr. „Sie hat kein Höschen angehabt, und ich nur meine Lederhose, und da muss man sich nicht ganz aus…“ Flehentlich blickte der Marcel die Frau Doktor an, in der Hoffnung, dass sie ihm ersparen möge weiterzureden.

„Und dann, bevor Sie ins Bootshaus zurückgekehrt sind, oder auch im Bootshaus, ist es zu einem Streit gekommen. Vielleicht hat sie Sie ausgelacht, weil Sie keinen hochgekriegt haben. Da haben wir ja schon Informationen, diesbezüglich. Wäre nicht das erste Mal, dass da ein Mann gewalttätig wird.“ Der Marcel lief rot an. „Oder Sie sind zu früh gekommen und deswegen ausgelacht worden. Machen wir uns doch nichts vor, ihr Männer seid doch wegen dem geringsten Anlass bereit, einer Frau eins über den Schädel zu ziehen!“ Die Frau Doktor rutschte nach vor und stieß dem Marcel ihre Worte fast ins Gesicht. Der wich auf der Bank zurück, dass Gasperlmaier meinte, er müsse jeden Moment auf den Boden plumpsen und dem Friedrich, der neben der Bank stand, vor die Füße fallen. „Oder es ist zu einem Streit gekommen, weil sie nichts mehr von Ihnen wissen wollte? Oder alles zusammen, was weiß ich!“ Gasperlmaier fand, dass die Frau Doktor jetzt ein wenig über das Ziel hinausschoss. Wenn der Marcel keinen hochgekriegt hatte, dann konnte das zweite von der Frau Doktor genannte Motiv nicht zutreffen. Da hatte sie sich verrannt, fand Gasperlmaier. „Und der Streit eskaliert, sie lacht noch mehr, verspottet Sie, und da sehen Sie rot, packen einfach das Ruder und …“ „Nein!“, schrie der Marcel und sprang auf, wild um sich blickend. Wohl in der Annahme, der Marcel denke an Flucht, streckte der Kahlß Friedrich seine Pranke aus, fasste den Marcel am Lederhosenbund und drückte ihn mit einer ebenso sanften wie bestimmten Bewegung wieder auf seinen Platz zurück. „Nein!“, schrie der Marcel noch einmal. „Wir haben überhaupt nicht gestritten, und es hat auch gar keinen Grund für einen Streit gegeben, ich hab’s ihr wunderbar …“ Wieder stockte der Marcel. „Also, wir haben es genossen. Kein Streit. Ich bin zuerst aus dem Bootshaus gegangen, sie hat gesagt, wir sollen nicht zusammen gesehen werden. Das haben wir eigentlich immer so gemacht, dass wir nicht zusammen gesehen werden.“ „Ja, und wie Sie aus dem Bootshaus hinaus sind, da ist sie tot in der Plätte gelegen, weil Sie ihr mit dem Ruder eins über den Schädel gezogen haben!“, schrie die Frau Doktor. Der Marcel sank in sich zusammen. Jetzt, dachte Gasperlmaier, jetzt hat sie ihn, und gleich gesteht er.

„Was machen wir jetzt mit ihm, Frau Doktor?“, fragte der Friedrich nach einer Weile, ohne dass er sich von der Stelle gerührt hätte. „Der darf sich als vorläufig festgenommen betrachten, wir werden ihn ins Bezirkskommando nach Liezen befördern, dort wird er dann vernommen.“ Und wie um ihre Worte zu unterstreichen, holte die Frau Doktor ein Paar Handschellen aus der Jackentasche und ließ es beim Marcel klicken, der so erstaunt dreinschaute, dass er keinen Mucks herausbrachte. Hoffentlich, dachte Gasperlmaier, vergisst er nicht aufs Atmen. Eigentlich tat ihm der Bursch leid, was konnte er schon dafür, dass er in eine so unselige Beziehung mit der Frau Naglreiter hineingeschlittert war.

Als sie das Bootshaus verließen, der Friedrich den Marcel vor sich her schiebend, wartete schon ein Polizeiauto mit zwei Uniformierten. Eigentlich hatte Gasperlmaier angenommen, dass sie den Marcel selber nach Liezen bringen müssten, aber da hatte die Frau Doktor wohl schon vorgesorgt. Wie im Film, dachte Gasperlmaier, als die Beamtin dem Marcel beim Einsteigen vorsichtig den Kopf nach unten drückte, damit er ihn sich nicht anschlug. Aber der Marcel war so weggetreten, dass er weder an Widerstand dachte noch ihn zu leisten vermocht hätte. Als der Marcel sicher im Auto verstaut war, klingelte das Handy der Frau Doktor. Sie bedeutete den beiden Beamten, mit der Abfahrt noch zuzuwarten, wandte sich dem See zu, sagte mehrmals „Aha!“, „Sehr interessant!“ oder „Ausgezeichnet!“, sodass Gasperlmaier schon neugierig wurde, was es da am Telefon zu besprechen gab. Als die Frau Doktor auflegte, schien sie dem Gasperlmaier fast vergnügt.

„Also erstens: Im Boot und an der Umrandung, oder wie das heißt, wo die Ruder festgemacht werden, hat man Faserspuren vom Dirndl der Frau Naglreiter gefunden, sogar ganz eindeutige und ausgiebige. Kein Zweifel also, dass sie in der Plätte war. Sehr wahrscheinlich auch, dass sie über Bord gegangen ist, das ist die einfachste Erklärung dafür, dass gerade dort Fasern hängen geblieben sind. Zweitens: Im Boot hat es keine Blutspuren gegeben, allerdings auf einem Ruder, das im Boot gelegen ist. Erklärung: Die Frau Naglreiter ist zuerst über Bord gegangen und danach mit dem Ruder erschlagen worden, als sie schon im Wasser trieb oder schwamm. Im Bootshaus kann das nicht passiert sein, also wahrscheinlich draußen auf dem See.“ Gasperlmaier mochte es sich gar nicht vorstellen. Aus welchem Grund auch immer, der Marcel hatte die Frau Naglreiter aus der Plätte gestoßen und ihr dann, als sie womöglich nach Luft schnappend in ihrem teuren Dirndl im See trieb, ein Ruder auf den Kopf geschlagen. Doch wie er es auch drehte und wendete, eine solche Grausamkeit traute Gasperlmaier dem Marcel nicht zu.

„Ich werde den Marcel begleiten und ausquetschen wie eine Zitrone, ich bin mir sicher, dass da noch viel Saft drin ist, wenn er auch sehr sauer schmecken wird.“ Ganz aufgeräumt schien die Frau Doktor dem Gasperlmaier, fast meinte er zu sehen, wie eine schwere Last mit der Festnahme des Marcel von ihren Schultern gefallen war. Dennoch meldete er vorsichtig seine Zweifel an: „Frau Doktor, ob der Marcel wirklich alle drei ermordet haben kann? Ich kenn ihn ja schon lang, aber so etwas traue ich ihm nicht zu.“ Die Frau Doktor lehnte sich gegen die Kühlerhaube des Wagens, in dem der Marcel jetzt schon bei geschlossenen Fenstern schmorte, und lachte auf, ein wenig zu schrill, wie Gasperlmaier zu spüren meinte. „Sagen Sie mir jemanden, dem Sie es zutrauen, drei Menschen innerhalb von zwei Tagen umzubringen!“ Da, musste Gasperlmaier ihr zugestehen, hatte die Frau Doktor auch wieder recht. Ob es wirklich jemanden gab, dem so etwas zuzutrauen war? Gasperlmaier fiel da schon einer ein, ein gewisser Doktor Geier, der am hiesigen Bezirksgericht für ein paar Jahre als Jurist tätig gewesen war. Der hatte mit Gott und der Welt Rechtsstreitigkeiten angefangen und von der Kindergartentante bis zum Rauchfangkehrer so ziemlich alle verklagt, mit denen er zu tun hatte. Leider hatte auch Gasperlmaier ein- oder zweimal mit dem Doktor Geier zu tun gehabt, denn eine Kollegin seiner Christine war, wer weiß wie, an diesen Geier geraten und hatte ihn, keiner wusste warum, sogar geehelicht. Bei einem Ball war dieser Doktor Geier auch am Tisch der Gasperlmaiers gesessen, und Gasperlmaier hatte sich einigermaßen unwohl gefühlt, weil der Doktor so einen Ausdruck in seinen Augen hatte, dass der Gasperlmaier dachte, der bringt heute sicher noch einen um, so wie der dreinschaut. Dann hatte der Doktor Geier auch noch einige Frauen am Tisch beleidigt, sodass die Stimmung einigermaßen eingefroren gewesen war. Als dann später der Doktor Geier sich zum Gasperlmaier hinübergebeugt und ihm zugeraunt hatte, dass seine Christine eigentlich recht scharf aussehe, wenn sie sich einigermaßen zurechtmache, und dass er gar nicht gedacht habe, dass so eine Landpomeranze nach ein paar Gläsern Wein direkt zum Anschauen sei, da hatte Gasperlmaier wütend seinen Sessel umgeworfen, seine Christine am Arm genommen und war gegangen. Allerdings, dachte Gasperlmaier jetzt, hatte der Doktor Geier bis heute, soweit er wusste, keinen umgebracht, was Gasperlmaier fast leidtat, und damals war eher er es gewesen, in dem Mordlust aufgekeimt war.

„Es sind fast immer die, die nicht danach ausschauen“, fügte die Frau Doktor jetzt noch hinzu. „Sie würden sich wundern, Gasperlmaier, wenn ich Ihnen die Fotos unserer Beziehungstäter aus den letzten Jahren zeigte, da sind keine drei darunter, von denen Sie auf Anhieb sagen würden, dass sie jemanden umbringen könnten. Denken Sie an die Elfriede Blauensteiner, die hat ausgeschaut wie eine liebe Oma. Und umgebracht hat sie die Männer gleich reihenweise.“ Die Frau Doktor öffnete die Beifahrertür des Einsatzwagens und wies den zweiten Beamten an, sich hinten zum Marcel zu setzen. Ein wenig unschlüssig standen Gasperlmaier und der Kahlß Friedrich nun neben der offenen Tür. „Ach ja!“ Die Frau Doktor öffnete die beinahe geschlossene Tür noch einmal. „Sie beide brauche ich – heute zumindest – nicht mehr. Ihr habt eh schon genug Überstunden geschoben, wenn ich mir überlege, wann wir heute angefangen haben. Das kann sich der Staat gar nicht leisten, also geht zum Zeitausgleich heim, wenn ihr sonst nichts zu tun habt. Und, Gasperlmaier, schauen Sie zu, dass Sie heute noch mit Ihrem Sohn reden!“ Die Frau Doktor warf dem verdutzten Gasperlmaier noch ein, wie Gasperlmaier schien, hämisches Lächeln zu und schlug die Wagentür zu. Sekunden später standen die beiden allein vor dem Geländewagen der Altausseer Polizei. Da klingelte Gasperlmaiers Handy. „Dass ich’s nicht vergesse!“ Die Stimme gehörte der eben abgefahrenen Frau Doktor. „Ich lasse euch ehestmöglich wissen, ob wir mit dem Foto der Eva was anfangen können. Sie hätten sich wohl gern alle Fotos auf der Karte angeschaut, was, Gasperlmaier?“ Die Frau Doktor kicherte ein wenig pubertär, fand Gasperlmaier. Und bevor er noch ein etwas einsilbiges „Ja, ja!“ loswurde, hatte sie schon aufgelegt.