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Kaum hatte sie die Haustür hinter sich ins Schloss gezogen, begann sie Gasperlmaier ins Vertrauen zu ziehen. „Wenn wir Glück haben, dann ist der Fall schon gelöst, bevor er noch richtig begonnen hat. Könnte doch sein, dass der Gaisrucker und der Doktor Naglreiter in Streit geraten sind, ein Messer hat eh jeder in der Lederhose, und schon ist es geschehen. Hat er halt Pech gehabt, der Doktor, dass er in dieser Nacht der Letzte am Pissoir war und ihn niemand gefunden hat, bevor er verblutet ist.

Gasperlmaier kraulte sich nachdenklich am Kinn. „Ja, schon. Aber der Marcel …“ Gasperlmaier konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Windhund, so viel er auch ausgefressen haben mochte, jemanden aus Eifersucht im Streit abstach. Der war doch einer, der am Montag schon die Nächste im Bett hatte, wenn die vom Sonntag ihre Sachen zusammengepackt hatte. Eifersucht, so dachte Gasperlmaier, war dem fremd. Und das erklärte er auch der Frau Doktor.

„Sehen Sie, Gasperlmaier, darum habe ich Sie mitgenommen. Kaum taucht ein neuer Verdächtiger auf – Sie kennen ihn und können mir Hintergrundinformation geben.“ Völlig überraschend klopfte sie ihm auf die Schulter, was in Gasperlmaier ein angenehmes Rauschen der Hormone, welcher auch immer, auslöste. Das hätte er sich nicht gedacht, dass eine völlig unbedeutende Handbewegung dieser Frau ihn so berühren könnte. „Was glauben Sie denn, was auf der Speicherkarte drauf ist?“, wollte Gasperlmaier jetzt wissen.

Vorsichtig in die Hauptstraße einbiegend, gleichzeitig die Achseln zuckend, antwortete die Frau Doktor: „Jedenfalls etwas, das er vor seiner Familie, vielleicht auch vor Mitarbeitern oder Konkurrenten, geheim halten wollte. Können ja auch Daten drauf sein, Dokumente, Verträge. Vielleicht hat er auch Pornovideos darauf gespeichert, was weiß ich. Jedenfalls etwas, das uns interessieren muss.“

Gasperlmaier war nicht wohl bei dem Gedanken, mit der Frau Doktor zusammen auf dem Polizeiposten eventuell Pornovideos anschauen zu müssen.

Inzwischen waren sie gegenüber dem Hotel „Villa Salis“ angekommen, das für Gasperlmaier wie für jeden anderen Altausseer immer noch das „Hotel Kitzer“ war, wo die Mutter des Gasperlmaier als junge Frau die Kuchen gebacken und die Torten dekoriert hatte. Hier war Endstation – die Straße war gesperrt, denn die Kirtagsstände waren ja vom Tatort Bierzelt nicht betroffen und durchaus gut besucht – auch hier konnte man notfalls das eine oder andere Bier und vorzügliche Schnäpse genießen. Gasperlmaier hatte erst gestern den Stand eines Schnapsbrenners aus dem Oberösterreichischen entdeckt, ein pensionierter Lehrer mit einem klapprigen VW-Bus, der nicht nur hervorragenden Schnaps brannte, sondern auch viele Geschichten um den Schnaps herum zu erzählen wusste, sodass Gasperlmaier eine um die andere Kostprobe hatte zu sich nehmen müssen, um den Lehrer nicht beim Reden zu unterbrechen.

Da der Gaisrucker Marcel zu Hause bei seiner Mutter wohnte, die ein Haus mitten im Ortszentrum besaß, mussten sie den Rest des Weges zwischen den Kirtagsständen zu Fuß zurücklegen. Da und dort schnappte Gasperlmaier auf, dass der Mord im Pissoir das Gespräch des Tages zu sein schien, manch einer warf Gasperlmaier und seiner Begleitung vielsagende Blicke zu, der eine oder andere grüßte oder zog sogar seinen Ausseerhut vor der Frau Doktor. Gasperlmaier war die viele Aufmerksamkeit zuwider, er versuchte sich mit ein wenig Abstand im Windschatten der Frau Doktor zu halten, doch sie drehte sich zu ihm um: „Gasperlmaier, wo bleiben S’ denn?“ Er beeilte sich, wieder an die Seite der Frau Doktor zu schlüpfen, als er einen Stand erblickte, in dem ein Riesenlaib warmer Leberkäse hinter einer Glasvitrine vor sich hin dampfte. Sofort lief ihm das Wasser im Mund zusammen, er hatte ja seit dem Frühstück keine Gelegenheit gehabt, etwas zu sich zu nehmen, und es ging schon auf Mittag zu. Zwar schenkte die Frau an dem Stand offenbar nur Dosenbier – Dosenbier! – aus, aber in der Not fraß bekanntlich sogar der Teufel Fliegen.

„Frau Doktor, wenn Sie vielleicht einen Hunger hätten?“, lenkte Gasperlmaier vorsichtig die Aufmerksamkeit der Frau Doktor auf den Leberkäsestand.

„Gasperlmaier, Sie haben Hunger und Sie wollen eine Leberkäsesemmel. Kaufen Sie sich eine. Ich kann noch ohne auskommen.“ Es war schrecklich und zermürbend, wie schnell und gründlich die Frau Doktor einen durchschaute, wahrscheinlich war sie für den Beruf der Kriminalbeamtin wirklich geboren. Missmutig, denn der Appetit war ihm vergangen, bestellte sich Gasperlmaier eine Leberkäsesemmel mit Senf und Pfefferoni. Eigentlich hätte er große Lust darauf gehabt, sie wenigstens mit einem Dosenbier hinunterzuspülen, doch der bohrenden Blicke wegen, die er in seinem Nacken fühlte, unterließ er es. Stattdessen kaufte er für die Frau Doktor ein Mineralwasser, das war er ihr schuldig, wie er glaubte. Die Frau Doktor bedankte sich lächelnd, als er ihr die Wasserflasche reichte, und Gasperlmaier fühlte sich sofort um vieles besser. Warum bloß war er in so kurzer Zeit so abhängig von den Launen dieser Frau geworden, fragte er sich.

An seiner Semmel kauend legte Gasperlmaier, den Weg zeigend und die Frau Doktor führend, die wenigen Schritte zum Haus der Gaisruckers zurück, in dessen Erdgeschoß als Zeuge eines schiefgegangenen Unternehmens des Marcel Gaisrucker eine leere Auslagenscheibe vor sich hin verstaubte, auf der verschiedene Aufkleber von Firmen, die Zubehör für Gleitschirmflieger anboten, zerbröselten. Der Marcel hatte sich vor ein, zwei Jahren eingebildet, mit dem Verkauf von Gleitschirmen und deren Zubehör das große Geschäft machen zu können und seine Mutter überredet, das Erdgeschoß des Hauses zu einem Geschäft umbauen zu dürfen. Jetzt, nachdem er damit pleite gegangen war, logierte der Marcel halt privat in seinem Ladenlokal.

„Nicht an der Haustür läuten, der Marcel wohnt im Geschäft“, beeilte sich Gasperlmaier, der Frau Doktor den richtigen Weg zu weisen. Tatsächlich fand sich neben der Ladentür eine mit Klebeband festgemachte Klingel, von der ein loses Kabel durch einen Spalt in der offenbar nicht sehr dicht schließenden Tür führte. Nach dem Drücken des Klingelknopfs erklang nicht etwa durchdringendes Geschepper wie bei Gasperlmaier zu Hause, sondern eine Melodie, die er zu erkennen glaubte – womöglich aus einer Fernsehserie. Wie schon bei den Naglreiters rührte sich auch diesmal nichts hinter der Tür – stattdessen ging ein Fenster auf, aus dem sich der Kopf einer Frau schob. Gasperlmaier nickte nach oben. „Grüß dich, Gerti. Wir wollen zum Marcel, ist er daheim?“ Etwas dünn und verhärmt sah sie aus, die Gaisrucker Gerti, fand Gasperlmaier, aber immer noch fesch, eigentlich. Damals, in der Hauptschule, hatte sie ihm gut gefallen, er glaubte sich zu erinnern, dass sie einander bei einer Tanzveranstaltung der katholischen Jugend sogar ein wenig näher gekommen waren, aber das war wohl schon dreißig Jahre her.

„Hat er wieder was ang’stellt, der Marcel?“ Misstrauisch musterte die Gaisrucker Gerti den Gasperlmaier mit der eleganten Dame neben sich, worauf sich Gasperlmaier verpflichtet fühlte, diese vorzustellen: „Das ist die Frau Doktor Kohlross vom Bezirkspolizeikommando. Wir möchten den Marcel nur was fragen – ob er vielleicht was gesehen hat, du weißt eh, wegen dem Mord im Bierzelt heute Nacht.“

„Daheim ist er. Aber ob ihr ihn was fragen könnt’s, das möchte ich bezweifeln, so besoffen, wie der gestern war.“ Ohne weiteren Kommentar schloss sie das Fenster mit einem lauten Knall, so, als ob sie versuchte, dadurch die Eskapaden ihres Sohnes aus ihrem Leben hinauszuhalten.

Hinter der Tür rührte sich noch immer nichts, obwohl die Frau Doktor die Melodie der Gaisrucker’schen Klingel noch mehrmals vorgespielt hatte. „Sagen S’, Gasperlmaier, was erzählen Sie denn da der Frau Gaisrucker von einem Mord im Bierzelt? Ich hab mir gedacht, Sie haben den Herrn Doktor Naglreiter im Klo gefunden?“

Gasperlmaier schoss ein Hormonstoß prickelnd durch den ganzen Körper bis in Finger- und Zehenspitzen, und zum zweiten Mal an diesem Tag wünschte er sich inständig, dass die Tür, vor der sie warteten, aufgehen möge, sodass er einer Antwort enthoben wäre. Gerade begann er sich stotternd und mit den Armen rudernd eine Ausrede zurechtzuzimmern, als hinter der Auslagenscheibe ein Gepolter einsetzte, jemand hustete und dann ganz erbärmlich fluchte. „Wer stört?“, meldete sich eine Reibeisenstimme durch die geschlossene Geschäftstür. Der Frau Doktor Kohlross schien jetzt die Geduld mit verkaterten Kirtagsbesuchern endgültig auszugehen. „Kriminalpolizei! Öffnen Sie!“, rief sie nun ebenso barsch durch die Tür zurück, wie es dahinter hervorgeklungen hatte.

Ein Schlüssel bewegte sich scheppernd im Schloss, und als sich die Tür öffnete, stand der Gaisrucker Marcel vor ihnen, nur mit seiner Lederhose bekleidet. Er war zwar ein Hallodri, dachte Gasperlmaier bei sich, aber man konnte schon sehen, was die Frauen an ihm fanden. Schlank und durchtrainiert war er, ganz ohne Haare auf der Brust, wie das heute modern war, sein Haupthaar trug er schulterlang, und so ein kantiges, unrasiertes Gesicht zeigte er den beiden, wie man es heutzutage auch häufig in Modeschauen sehen konnte. Die Frau Doktor, so schien es Gasperlmaier, war offenbar ebenso überrascht wie beeindruckt, denn alle Barschheit schien verschwunden, als sie dem Marcel ihre Marke zeigte und höflich fragte: „Herr Gaisrucker? Können wir kurz zu Ihnen hineinkommen?“ Der Marcel lächelte und vollführte mit der rechten Hand einen Schwung, wie man ihn von Kammerdienern aus alten Filmen kannte, die Besuch bei ihrer Herrschaft vorließen. Dazu verbeugte er sich galant. Gasperlmaier fragte sich, ob das zu der täglichen Routine gehörte, mit der er sich seine Bettgenossinnen besorgte, oder ob ihm die Frau Doktor wirklich Respekt abnötigte.

„Bitte entschuldigen Sie, dass nicht aufgeräumt ist, gnädige Frau.“

Gasperlmaier fand das ein wenig dick aufgetragen, denn aufzuräumen hätte es in dem Raum nicht viel gegeben: Direkt hinter der mit schwarzer Folie verklebten Auslagenscheibe stand ein Doppelbett mit einem Messinggestell, in dem eine etwas zerraufte Blondine den Zipfel der Bettdecke vor ihren, wie Gasperlmaier sofort erkannte, unbeträchtlichen Busen hielt, an der Wand gegenüber stand ein Fernseher auf einer wackeligen Kommode, daneben und darunter auf dem Boden verstreut ein Haufen DVDs, hauptsächlich mit Actionfilmen, wie Gasperlmaier mit Kennerblick feststellte. Dahinter hing ein großes Transparent, das für Gleitschirme der Firma „Alpine Extreme Sky“ warb.

„Stören wir?“, fragte die Frau Doktor, augenbrauenhebend, mit Blick auf die Dame im Bett.

„Wir waren in der Tat gerade … beschäftigt“, meinte der Marcel, sich am Kopf kratzend. Die Blonde im Bett schien verwirrt. „Marcel, was ist denn? Wer sind die? Hast was angestellt?“

Gasperlmaier konnte nicht umhin, festzustellen, dass die Blonde tatsächlich ein wenig desorientiert war. Hatte sie an Gasperlmaiers Uniform doch offenbar erkannt, wer er war, was ihre dritte Frage verriet, so führte sich doch damit ihre zweite Frage ad absurdum.

„Leider kann ich Ihnen nichts zum Hinsetzen anbieten“, flötete Marcel, „außer vielleicht das Bett?“

„Herr Gaisrucker, das erscheint mir nun doch ein wenig unpassend. Wir müssen uns mit Ihnen unterhalten, und dazu würde ich es vorziehen, wenn Sie ein Hemd anziehen würden und der … Dame“ – Gasperlmaier entging nicht, dass sie das Wort „Dame“ mit einem leicht verächtlichen Unterton anfügte – „Gelegenheit geben würden, sich anzuziehen. Auch an sie hätten wir nämlich ein paar Fragen. Aber zuerst unter vier“ – sie wandte ihren Blick Gasperlmaier zu und korrigierte sich – „sechs Augen.“

Gasperlmaier war nicht entgangen, dass die Frau Doktor, die beim Anblick des Marcel ein wenig eingeknickt zu sein schien, zu ihrer gewohnten Schärfe zurückgefunden hatte. Sehr lang wirkte der Schmäh des Gaisrucker Marcel bei einer Frau wie ihr wohl nicht. „Wir könnten vielleicht oben …?“, begann die Frau Doktor fragend, aber der Marcel winkte gleich ab: „Nicht bei meiner Mutter, nein, ich habe da noch …“ Ohne den Satz zu vollenden, bedeutete er den beiden, ihm durch die einzige Tür im Ladenlokal zu folgen, die nach hinten führte. In einem schmalen, finsteren Gang öffnete er eine Tür zu seiner Linken. „… ein Büro!“ Stolz deutete er durch die Türöffnung. Als Gasperlmaier hinter der Frau Doktor eintrat, fand er sich in einem Chaos aus Aktenordnern, halb eingestürzten Regalen, Altpapier und mehreren Stühlen wieder, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Auf einem wackeligen Tisch aus Metallbeinen unter einer Hartfaserplatte stand ein PC, daneben ein altertümlicher Röhrenbildschirm nebst einem überquellenden Aschenbecher. Gasperlmaier wunderte es nicht, dass die geschäftlichen Aktivitäten des Gaisrucker Marcel zu einem ebenso schnellen wie gründ-lichen Ende gelangt waren.

Grinsend bot Marcel den beiden Sitzgelegenheiten an, denen man sich, wie Gasperlmaier vermutete, nur mit allergrößter Umsicht anvertrauen durfte. Die Frau Doktor Kohlross hingegen stürzte, den Atem anhaltend, zum Fenster und öffnete es weit. Erst dann holte sie wieder tief Luft. Gasperlmaier bewunderte erneut, was mit ihrem Ausschnitt und ihren Brüsten dabei geschah. Der Marcel, bemerkte er aus einem Augenwinkel, übrigens auch.

Vorsichtig ließ sich Frau Doktor Kohlross auf dem Stuhl nieder, den Gasperlmaier für den hielt, der noch am meisten Vertrauen verdiente. Gasperlmaier blieb stehen, der Marcel aber schnappte eilig nach einem Sessel und setzte sich der Frau Doktor gegenüber hin, allzu sicher schien er nicht auf den Beinen zu sein.

Die Frau Doktor deutete auf Marcels Brust: „Hemd!“

„Ach so, ja.“ Der Angesprochene schnellte wieder in die Höhe, verschwand in seinem Ladenlokal und kehrte mit einem grauen T-Shirt über der Brust zurück, das nicht gut roch. Die Frau Doktor begann: „Herr Gaisrucker, heute Morgen ist der Herr Doktor Naglreiter tot aufgefunden worden.“ Der Marcel schoss wieder aus seinem Sessel, dass das Altpapier dahinter nur so aufstob. „Was? Ich hab damit nichts zu tun! Ich hab geschlafen, die ganze Nacht, und bevor Sie gekommen sind, haben wir …“ Die Frau Doktor winkte ab, um ihm zu bedeuten, dass keine genaue Auskunft darüber vonnöten sei, was er mit der mageren Blondine getrieben hatte. Die ganze Nacht, dachte Gasperlmaier bei sich, war wohl ein wenig übertrieben, so wie der Marcel aussah. Der sank nun wieder auf den Sessel. „Ich, ich …“ Weiter kam er nicht. „Was, ich?“, fragte die Frau Doktor, ein wenig weiter in Richtung Stuhlkante nach vor rutschend. Der Marcel zog es vor, zu schweigen und die Hände vor seinem schmierigen Lederhosentürl zu falten. „Ja?“, setzte die Frau Doktor nach, und Gasperlmaier beobachtete den Marcel und meinte ihn dabei zu ertappen, wie er der Frau Doktor unverschämt in den Ausschnitt starrte. Stumm blieb er aber weiterhin. „Ich war’s?“, setzte die Frau Doktor nach. „Gasperlmaier, die Handschellen!“

Die Frau Doktor hatte offenbar nicht vor, mit dem Bürschchen viel Federlesens zu machen. Gasperlmaier, überrascht vom Ansinnen der Frau Doktor, erschrak. Handschellen führte er gewöhnlich nicht mit sich, begann aber pflichtschuldigst in seinen Uniformtaschen zu wühlen. Das hätte er nicht tun zu brauchen, denn der Marcel begann sofort zu reden wie ein Buch. „Ich natürlich nicht, ich hab den nicht umgebracht, ich hab den gestern nicht einmal gesehen, ich war die ganze Zeit im Bierzelt, da können Sie fragen, wen Sie wollen, ich bring doch keinen um!“

Mit einer Geste versuchte die Frau Doktor den Marcel zu beschwichtigen. „Ist es richtig, dass die Frau Doktor Naglreiter bei Ihnen bereits mehrere Kurse im Gleitschirmfliegen absolviert hat?“ „Ah!“, sagte der nur – Gasperlmaier dachte sich, der Marcel meint wohl, jetzt gehe es nur mehr um seine Beziehung zu der Frau Doktor Naglreiter, nicht mehr um seine mögliche Verstrickung in einen Mordfall – und setzte wieder sein arrogant-zynisches Grinsen auf, das Gasperlmaier schon von mehreren Begegnungen kannte, auch bei ihm zu Hause, wenn sich der Marcel vor ihm verbeugt und „Schönen guten Tag, Herr Oberinspektor!“ gewünscht hatte. Gasperlmaier hatte darauf nie geantwortet. Über sich lustig machen konnte er sich selber, da brauchte er den Gaisrucker nicht dazu. Der Marcel nickte nun eifrig, und die Frau Doktor setzte nach: „Und Sie sind eine Affäre, eine sexuelle Beziehung zu ihr eingegangen?“ Der Marcel hob ratlos die Hände: „Beziehung würde ich das nicht nennen, ich hab sie halt ein paarmal ge…“ Er unterbrach sich gerade noch rechtzeitig, weil er wohl gemerkt hatte, wie sich die Miene der Frau Doktor Kohlross verfinsterte. „Ich meine, wir hatten ein paarmal Sex miteinander. Ihr Alter, der Doktor Naglreiter, der hat ja die Sophie nicht mehr …“ Breiter wurde das Grinsen des Marcel. „Und die war ganz schön, die hat ganz ordentlich …“ Der Blickkontakt mit Frau Doktor Kohlross unterbrach ihn jäh.

„Haben Sie gestern irgendwann die Frau Doktor oder den Herrn Doktor Naglreiter gesehen, haben Sie mit einem von beiden oder beiden gesprochen, haben Sie telefoniert, gab es irgendeinen Kontakt zwischen Ihnen und einem der Naglreiters?“ Gasperlmaier meinte, bei Marcel ein kurzes Zögern zu bemerken, ein leichtes Flackern in den Augen, ein Ausweichen. Dieser hob abwehrend die Hände: „Ich hab’s Ihnen ja schon gesagt, ich war die ganze Zeit im Bierzelt, und die Ines“ – er wies mit dem Finger nach draußen, in die Richtung, wo seine Bekanntschaft womöglich immer noch im Bett auf die Fortsetzung der von Frau Doktor Kohlross und Gasperlmaier so unsanft unterbrochenen Beschäftigung wartete – „die war bei mir, die ganze Nacht, die können Sie fragen.“

Plötzlich waren vor dem Raum Schritte zu hören, und die eben Angesprochene stand im Türrahmen. Immer noch ein wenig zerrauft, wie Gasperlmaier fand, aber angesichts der zur Verfügung stehenden Infrastruktur hatte sie sich ganz ordentlich hergerichtet. Gasperlmaier fiel auf, dass sie ein originales Ausseer Dirndl trug, mit rosa Rock, blauer Schürze, grünem Leib und weißer Bluse, und dass er mit der Vermutung, dass es mit ihrem Busen nicht weit her war, schon richtig gelegen war. Dazu trug sie Schuhe mit sehr hohen Absätzen, die nach Gasperlmaiers Meinung nicht recht zum Dirndl und schon gar nicht zum tiefen Boden im Bierzelt passen wollten. Entsprechend waren die Absätze auch schlammverkrustet. „Frau Kommissar!“, begann sie ein wenig schrill und atemlos, „ich bin zwar die ganze Nacht mit ihm beisammen gewesen. Aber nur deswegen, weil er sofort eingeschlafen ist in seinem Rausch, kaum dass wir hier waren, und ich mir sogar Sorgen gemacht habe, dass er nicht mehr aufwacht, so besoffen, wie er war. Und ich hab auch gehört, was er Ihnen da über eine gewisse Sophie erzählt hat. Und ich möchte Ihnen auch sagen, dass er heute Morgen eh keinen hochgekriegt hat, weil es ihm noch viel zu schlecht gegangen ist. Wo ist das Klo?“ Ansatzlos und ohne ihre Tirade zu unterbrechen, hatte sie sich Marcel zugewandt. Der deutete nur auf eine Tür gegenüber jener, in der die Ines gerade stand.

Die verschwand hinter der Tür, kurz darauf hörte man es dahinter plätschern, was Gasperlmaier gar nicht hören wollte, und er hoffte, entweder die Frau Doktor oder der Marcel würden jetzt was sagen und nicht der Erleichterung der Ines hinter der Klotür aufmerksam lauschen. Doch schon erklang die Spülung, die Ines kam wieder heraus, fragte „Waschbecken?“, worauf der Marcel nur den Kopf schütteln konnte. Schon wollte die Ines weg, sagte „Dann tschüss!“ und verschwand wieder im Ladenlokal, als die Frau Doktor aufsprang. „Warten Sie einen Moment! Gasperlmaier, passen Sie auf den hier auf!“ Und schon war sie der Ines hinterher und Gasperlmaier saß allein mit dem Marcel in dieser Ruine von einem Büro.

Gasperlmaier tat so, als interessiere er sich für die Reste von Gleitschirmplakaten und den Kalender vom vorvorigen Jahr, der über dem Computer an der Wand hing, um dem Marcel nicht ins Gesicht sehen oder mit ihm reden zu müssen. Der Marcel fing aber selber zu reden an. „Herr Oberinspektor, Sie glauben mir das aber schon, dass ich den Doktor Naglreiter nicht umgebracht habe? Wir kennen uns doch? Ich bin doch mit dem Christoph befreundet? Bitte glauben Sie mir doch!“

Gasperlmaier hatte das Gefühl, dass der Marcel gar nicht mehr zu reden aufhören würde, wenn er ihn nicht unterbrach. „Was ich glaube, Marcel, spielt gar keine Rolle. Und wenn die Frau Doktor Naglreiter wieder auftaucht …“

„Die ist gar kein Doktor“, unterbrach ihn der Marcel, „die hat bloß auf dem Standesamt promoviert, die war vorher seine Sekretärin.“

„Wenn die Frau Naglreiter also wieder auftaucht“, setzte Gasperlmaier noch einmal an, „dann …“ Er wusste nicht genau, was dann sein würde, und schon gar nicht, was dem Marcel dann passieren oder nicht passieren würde. „Man soll sich halt keine solchen Sachen anfangen!“, wich er ins Allgemeingültige aus und hob dabei resignierend beide Hände. Dass sich der Marcel hier praktisch als Freund der Familie aufführte, war dem Gasperlmaier eigentlich gar nicht recht.

Gott sei Dank kam die Frau Doktor nun zurück, ohne die Ines, und sie forderte Gasperlmaier gleich auf, mit ihr zu kommen. „Und Sie, Herr Gaisrucker, Sie kommen heute Nachmittag auf den Posten, gewaschen und ordentlich angezogen, damit wir Ihre Aussage zu Protokoll nehmen können. Und halten Sie sich zu unserer Verfügung, das heißt, teilen Sie uns mit, wann wir Sie wo finden, bis diese Untersuchung abgeschlossen ist.“ Man merkte ihr an, dass sie nicht mehr viel für den Marcel übrig hatte. Zumal er ja für die einfache Lösung, auf die die Frau Doktor vor dem Besuch bei ihm gehofft hatte, offenbar nicht zu gebrauchen war.

Als sie aus dem tristen Wohnbereich des Gaisrucker Marcel draußen waren, informierte die Frau Doktor Gasperlmaier: „Die Ines hat seine Aussagen im Großen und Ganzen bestätigt. Er war mit ihr zusammen, und sie hat uns ein paar weitere Zeugen genannt, die das bestätigen können. Sie hat auf mich einen vertrauenswürdigen Eindruck gemacht.“ Gasperlmaier nickte und die Frau Doktor fuhr fort: „Es ist allerdings nicht völlig auszuschließen, dass er irgendwann im Lauf der Nacht beim Gang auf das Klo dem Doktor Naglreiter begegnet ist und mit ihm gestritten hat. Sehr wahrscheinlich ist das allerdings nicht, wenn man den Todeszeitpunkt bedenkt und die Tatsache, dass der Naglreiter wohl der Letzte am Klo gewesen ist. Obwohl es andererseits natürlich auch möglich ist, dass der eine oder andere Besoffene einfach umgedreht und seine Notdurft anderswo verrichtet hat, als ihm die Leiche im Weg war. Solche Leute melden sich in der Regel nicht bei uns.“ Gasperlmaier nickte wiederum und schwieg, ohne den dringenden Wunsch zu verspüren, die Frau Doktor über ihren Irrtum aufzuklären.