10

Was für ein wunderschöner Morgen, dachte Gasperlmaier, als er am Ufer des Altausseer Sees stand und über den See hinweg zum Dachstein blickte, der aus seinem rasch schwindenden Gletscher den Gipfel in den blitzblauen Himmel emporreckte. Die Seewiese breitete sich vor ihm aus, mit den verstreuten Felsblöcken, die vor Jahrtausenden vom Loser oder der Trisselwand heruntergepoltert sein mochten und diesen Platz zu einem der schönsten machten, die Gasperlmaier kannte. Wie schön, dachte Gasperlmaier, könnte so ein Morgenspaziergang an so einem Tag sein, wenn man sich aus dem Haus machte, solange alle noch schliefen, auf den Weg um den See einböge, während noch kein Geräusch außer dem Zwitschern der Vögel zu hören wäre, vielleicht auf dem Weg um den See dem einen oder anderen Fischer begegnete, der bis zu den Oberschenkeln im Wasser stünde und in weit ausholendem Schwung seine Angel auswürfe und zappelnde Saiblinge und Forellen an Land zöge, die schon zu Mittag gebraten und gegessen wären. Wenn man am Ende gar seine Kleider von sich würfe, da einen ja niemand sähe, und eine Runde im eiskalten, frischen Wasser des Sees schwämme, dann wäre so ein Morgen göttlich. Freilich, dachte Gasperlmaier, freiwillig würde er das kaum jemals erleben, denn ohne Zwang gelang es ihm nur äußerst selten, aus dem Bett zu finden, bevor die Welt um ihn herum Atem geholt hatte und in Tritt gekommen war. Und erheblich getrübt wurde der Morgen von der Leiche, die unter einer Plane unweit des Jagdhauses Seewiese ihren hoffentlich ewigen Frieden gefunden hatte.

Vor einer Stunde, um fünf Uhr in der Früh, war er von seinem Handy aus dem Schlaf geschreckt worden. „Auf, Gasperlmaier, in fünf Minuten sind Sie vor der Tür, wir holen Sie ab!“, hatte die Frau Doktor Kohlross ihm ins Ohr gebrüllt, und schlaftrunken war er in seine Uniform gefahren, hatte missmutig seine in alle Richtungen stehenden Haare zu bändigen versucht, beim Schuheanziehen ein Schuhband abgerissen, geflucht, ein Glas Wasser getrunken, und schon war er im Streifenwagen gesessen, den der Kahlß Friedrich lenkte, während die Frau Doktor Kohlross auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. „Geben S’ Gas, Herr Kahlß!“, stachelte die Frau Doktor den Friedrich an, und der trieb den Opel mit heulender Sirene durch den Ort, dass dem Gasperlmaier Hören und Sehen verging und er sich beeilte, sich anzuschnallen. „Wir haben schon wieder einen Toten!“, informierte ihn die Frau Doktor Kohlross mit ganz flacher, kraftloser Stimme, so, als hätte sie alle Hoffnung fahren lassen, der Ausrottung der Altausseer Bevölkerung Einhalt gebieten zu können. Das Anschnallen hätte sich Gasperlmaier allerdings sparen können, denn kaum hatte er den Gurt ins Schloss gebracht, war die Fahrt auch schon zu Ende. „Am schnellsten geht’s mit dem Boot!“ Etwas zu hastig lenkte der Friedrich das Fahrzeug die steile Zufahrt zur Bootsanlegestelle beim Seehotel hinunter, und Gasperlmaier fürchtete schon, die Fahrt würde nicht am, sondern im See enden. Die Frau Doktor kreischte auf, doch der Friedrich brachte den Wagen gerade noch zum Stehen, während die Feuerwehrleute, die an der Plätte warteten, bereits zur Seite spritzten, um nicht überfahren zu werden.

Auf der Bootsfahrt fror der Gasperlmaier erbärmlich, denn es war zu dieser frühen Stunde noch bitterkalt, und er hatte lediglich ein Hemd an, das schon ein wenig roch, und die Uniformjacke. Woher die Frau Doktor Zeit genommen hatte, eine Wanderjacke aufzutreiben und überzuziehen, war dem Gasperlmaier schleierhaft. Interessiert betrachtete er ihre gegenüber gestern auch sonst veränderte Erscheinung. Außer der roten Wanderjacke, die sie bis oben zugezippt hatte, sodass Gasperlmaier ein Blick auf darunter liegende Kleidungsstücke verwehrt blieb, trug sie Jeans und halbhohe Sportschuhe. „Beim Jagdhaus Seewiese ist eine männliche Leiche gefunden worden. Kopfverletzung. Mehr wissen wir noch nicht. Ob es ein Unfall war oder …“ Offenbar, dachte Gasperlmaier, mochte sie das Wort, das ihr auf der Zunge lag, gar nicht aussprechen. Keine Spuren, keine Verdächtigen, aber ein dritter Mord? Furchtbar wäre das für ihre Ermittlungen.

Der Bootsführer ließ die Plätte sanft auf die Uferböschung gleiten. Gasperlmaier erinnerte sich daran, dass er der Frau Doktor keinesfalls beim Aussteigen behilflich sein durfte und dass er darauf zu achten hatte, nicht selbst ins Wasser zu steigen. Heute, bei dieser morgendlichen Kälte, wäre ein wassergefüllter Schuh bedeutend unangenehmer gewesen als gestern in der nachmittäglichen Hitze. Außerdem hatte die Frau Doktor heute ohnehin passendes Schuhwerk an. Fast konnte er ihr nicht folgen, als sie im Laufschritt auf die Gruppe in weißen Overalls zueilte. Mittlerweile war Gasperlmaier der Anblick der Tatortspezialisten vertraut, die am Auffindungsort einer Leiche, wenn sie nicht gerade die eines friedlich im Krankenhaus Verschiedenen war, jedes Dreckwuzerl einsammelten, um es zu untersuchen und den Täter dingfest zu machen. Bei der Leiche der Frau Naglreiter, natürlich, hatten sie das nicht gekonnt. Da wären ja auch, schwimmend, kaum irgendwelche Spuren des Täters zu sichern gewesen.

Als sie die Gruppe erreichten, nahm Gasperlmaier eine silbrig glänzende Plane wahr, die offenbar die Leiche zudeckte. Um sie herum kratzte einer der Weißgekleideten mit einem löffelartigen Instrument auf dem Boden herum, während ein anderer damit beschäftigt war, eine weiße Masse auf dem Boden zu verstreichen. „Ein Schuhabdruck?“, fragte die Frau Doktor. Der Spachtler nickte. „Machen Sie sich aber nicht allzu viele Hoffnungen. Das ist ein Wanderweg. Es gibt viel zu viele Abdrücke von viel zu vielen Schuhen. Wir nehmen nur die in unmittelbarer Nähe des Fundorts und die, bei denen wir annehmen, dass der Träger der Schuhe den Abdruck im Stehen hinterlassen hat.“ Gasperlmaier fragte sich, warum dieses Kriterium eine Rolle spielen sollte. Schließlich konnte man jemanden genauso gut im Vorbeigehen erschlagen. Oder viel wahrscheinlicher blieb man in der Regel doch stehen, wenn man vorhatte, jemanden aus dem Diesseits zu entfernen, korrigierte er sich selbst.

Die Frau Doktor Kohlross schritt auf die Plane zu und hob sie an. Zunächst kamen nur Haferlschuhe und grüne Stutzen zum Vorschein, denn die Frau Doktor hatte das Fußende der Leiche erwischt. Sehr hilfreich, dachte Gasperlmaier, war das für die Identifizierung des Toten nicht, denn die zur Lederhose getragenen Schuhe und Stutzen waren vor allem in diesen Tagen mehr eine Uniform als ein Merkmal, das einen unter vielen hervortreten ließ. Die Frau Doktor ließ das angehobene Ende wieder sinken, ging auf die andere Seite und lupfte die Plane dort. Gasperlmaier merkte, wie sie förmlich erstarrte. Sekundenlang sah sie unter die Plane auf etwas, das Gasperlmaier selbst nicht sehen konnte, da er in der Nähe des Fußendes stehen geblieben war. Auf nüchternen Magen hatte er keine besondere Lust zur Leichenbesichtigung, wie ihm überhaupt der Umgang mit kürzlich Verstorbenen bereits zum Hals herauszuhängen begann.

Die Frau Doktor ließ die Plane sinken und starrte Gasperlmaier und dem Kahlß Friedrich, der jetzt erst, seiner Atemnot wegen, bei ihnen angelangt war, ins Gesicht. Sehr blass war sie geworden, die Frau Doktor, aber das, dachte Gasperlmaier, machte sie auf keinen Fall weniger attraktiv.

„Der Stefan Naglreiter!“, hauchte die Frau Doktor mehr, als dass sie es sagte. Nun war es an Gasperlmaier zu erstarren. Immerhin hatte er gestern noch mit ihm gesprochen. Und es war das erste Mal in seinem Leben, dass da einer tot vor ihm lag, der ihm am Vortag noch quicklebendig gegenübergestanden war.

„Ich brauch jetzt eine Zigarette!“, sagte die Frau Doktor Kohlross, ging zum Jagdhaus hinüber und rutschte kraftlos mit dem Rücken an der Wand hinunter. Ihre verschränkten Arme ließ sie auf die angezogenen Beine sinken, darauf fiel der Kopf. Gasperlmaier war sich unsicher, ob er zuerst der sichtlich fassungslosen Frau Doktor beistehen oder sich die Leiche ansehen sollte. Das Pflichtgefühl siegte nach kurzem innerlichem Geplänkel, schließlich musste er sich auch selbst davon überzeugen, dass unter der Plane der Leichnam des Stefan Naglreiter lag. Entschlossen schritt Gasperlmaier zu jenem Zipfel der Plane, den die Frau Doktor angehoben hatte, viel weniger entschlossen fasste er nach ihm, und noch viel weniger entschlossen lupfte er die Folie nur zentimeterweise. „Was tust denn so herum!“ Der Kahlß Friedrich war neben ihn getreten, riss ihm den Folienzipfel aus der Hand und schlug die Plane zurück, sodass der Kopf, die rechte Schulter und ein Teil der Brust des Toten zu sehen waren. Ohne Zweifel war es der Stefan Naglreiter. Leere Augen starrten den Gasperlmaier direkt an, der zunächst die seinen schloss und dann eine Hand vor das Gesicht hielt, weil er dem Blick des Toten nicht standzuhalten vermochte. Kurz überkam ihn Übelkeit, doch dann siegte die Neugier. Schlimm sah der Stefan aus. Aus den Nasenlöchern war Blut gedrungen, und vertrocknete Rinnsale von Blut zogen sich von der Oberlippe über die rechte Wange hinunter. Auch aus dem Mund hatte der Tote geblutet, vor allem sein rechter Mundwinkel war blutverschmiert, ein Klumpen offenbar geronnenen Blutes klebte dort. Wo das rechte Ohr des Toten gewesen war, konnte Gasperlmaier lediglich eine blutige Masse gequetschten Fleisches wahrnehmen. Nun wurde ihm regelrecht übel, rasch drehte er sich um, entfernte sich von der Leiche zum Waldrand hin und versuchte mit aller Macht einen Würgreflex zu unterdrücken, der ihn mit einem Mal im Griff hatte. Nach ein paar keuchenden Atemzügen gelang es ihm, an einen Baum gelehnt, sich ein wenig zu fangen und tief durchzuatmen. Gasperlmaier drehte sich um und sah den Kahlß Friedrich immer noch ungerührt neben dem Toten stehen, während die Frau Doktor den Kopf wieder gehoben hatte und eine brennende Zigarette zwischen den Fingern hielt. Gasperlmaier machte sich auf den Weg zu ihr hinüber, und als er neben der Frau Doktor im Schatten der Hütte angekommen war, hockte er sich ebenfalls hin, weil es ihm unangenehm war, so über der Frau Doktor zu stehen und auf sie hinabzustarren.

Die Frau Doktor nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und ließ den Rauch langsam durch die Nasenlöcher entweichen. „Ich hab gar nicht gewusst, dass Sie rauchen“, sagte Gasperlmaier in seine Hilflosigkeit hinein und schalt sich gleichzeitig einen Esel, dass ihm nichts Vernünftigeres eingefallen war. „Kommen Sie, Gasperlmaier.“ Die Frau Doktor sprang auf und machte sich auf den Weg zum See hinunter, blieb dann aber mitten auf der Wiese stehen. Bevor sie zu sprechen begann – das war der Moment, in dem ihm seine Gedanken darüber durch den Kopf gingen, wie schön so ein Morgen am See eigentlich hätte sein können.

„Ich denk jetzt an die Judith Naglreiter“, begann die Frau Doktor. „Und daran, dass sie innerhalb so kurzer Zeit ihre Eltern und ihren Bruder verloren hat. Und dass, wie es ausschaut, alle drei Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind. Wer will die Naglreiters ausrotten? Gasperlmaier?“ Gasperlmaier konnte nur mit den Schultern zucken und ratlos auf die spiegelglatte Fläche des Sees hinausstarren, in der sich malerisch die Gipfel des Dachsteins spiegelten. „Unvorstellbar“, sagte die Frau Doktor, zog noch einmal an ihrer Zigarette und warf sie dann zu Boden, wo der Rest vor sich hin glomm und ein wenig Rauch nach Osten zu über die Wiese zog. Gasperlmaier starrte gedankenverloren auf den Zigarettenrest und dachte nur, dass es nicht nett von der Frau Doktor war, ihren unverrottbaren Stummel auf der Seewiese zurückzulassen.

„Und vor allem denke ich daran, dass ich es jetzt mit der dritten Leiche innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu tun bekommen habe, dass ich keine klaren Spuren, keine Hinweise, keine irgendwie sinnvollen Zeugenaussagen habe, dass ich gar nichts habe, und dass ich mich überfordert fühle.“ Gasperlmaier hätte sich nicht gedacht, dass die Frau Doktor Kohlross ihm gegenüber so etwas zugeben würde. Er war sich eigentlich sicher gewesen, dass sie genau wusste, was zu tun war, es anpackte und erledigte. Gasperlmaier hielt den Mund, denn er wusste aus Erfahrung, dass es keine gute Idee war, Frauen, die gerade ihre Selbstzweifel an die Oberfläche hatten kommen lassen, mit sachlich logischen und infolgedessen klugen Ratschlägen zu kommen. Vor allem, dachte Gasperlmaier bei sich, bin ich ja praktisch nur der abkommandierte Fremdenführer, das Denken, dafür war die Frau Doktor schon selber zuständig. Obwohl es ihm durchaus gefallen hätte, jetzt in dieser Situation ein wenig weiter als sie denken zu können und ihr aus dem Schlamassel, den sie offenbar vor sich sah, heraushelfen zu können. Gasperlmaier erinnerte sich an den gestrigen Abend, als er das Gefühl gehabt hatte, ein einstürzendes Haus sei quasi auf ihn heruntergedonnert, und dass er hilflos in den Trümmern gefangen sei, ohne sich rühren zu können. So ähnlich mochte es der Frau Doktor jetzt gehen. „So ähnlich ist es mir gestern Abend auch gegangen“, sagte Gasperlmaier, ohne dass er es geplant hatte. Er war selbst gänzlich überrascht, dass der Satz seinem Mund entkommen war. Die Frau Doktor wandte sich ihm zu und lächelte ein leises, fast verschwindend kleines Lächeln. „Danke“, sagte sie. Und Gasperlmaier hatte plötzlich das Gefühl, dass es ihm gelungen war, eine Frau einmal ein wenig zu verstehen.

„Wer, Gasperlmaier, glauben Sie, könnte dem Stefan Naglreiter hier hinten einen Stein über den Schädel gezogen und ihn dann liegen gelassen haben?“ Die Frau Doktor sprach zwar Gasperlmaier an, ihre Blicke blieben aber irgendwo im Spiegelbild des Dachsteins gefangen. Gasperlmaier versuchte seine Gedanken zu ordnen, im Bemühen, eine einigermaßen sinnvolle Antwort zustande zu bringen, als ein Uniformierter, den Gasperlmaier nicht kannte, von hinten an sie herantrat. „Entschuldigung, Frau Doktor.“ Die Angesprochene und Gasperlmaier drehten sich erschreckt um, fast wie ein Pärchen, dachte Gasperlmaier, das bei einem intimen Stelldichein von einem Fremden überrascht wurde. Wie kam er bloß auf solche Gedanken? Von Intimität konnte doch beim Gespräch über serienweise anfallende Leichen wirklich nicht die Rede sein. „Da ist noch der Jogger, der die Leiche gefunden hat. Wollen Sie nicht mit ihm reden? Er wartet schon so lang.“ Die Frau Doktor Kohlross nickte und der Uniformierte führte sie auf die Veranda des Jagdhauses, wo ein dürrer, graubärtiger Mann saß, eine Decke um die Schultern geschlagen.

„Kohlross, Bezirkspolizeikommando.“ Die Frau Doktor streckte dem Läufer die Hand hin, der die seine erst um-ständlich aus der Decke befreien musste. „Eine Stunde haben Sie mich warten lassen!“, fuhr er die Frau Doktor griesgrämig an. Gasperlmaier kannte solche Typen. Morgens Training, abends Training, nichts als den nächsten Marathon hatten sie im Kopf, und wenn irgendein unvorhergesehener Vorfall einen Trainingslauf unterbrach, dachten sie zu allererst daran, die Daten des bisher gelaufenen Programms zu sichern und zu überlegen, wie die verlorene Trainingszeit wieder eingebracht werden konnte. Gasperlmaier meinte den Mann schon gesehen zu haben. Wunder wäre es keines gewesen, Menschen seines Schlages waren ja fast zu jeder Zeit und überall auf Güterwegen, Forststraßen und Radwegen unterwegs. Jedenfalls sprach er leicht lokal gefärbten Dialekt, wie Gasperlmaier bereits anhand des ersten Satzes feststellen konnte.

„Sie waren joggen, als Sie den Toten gefunden haben?“ Da war die Frau Doktor leider in ein Fettnäpfchen getreten. „Joggen!“, schnaubte der Eingehüllte. „Liebe Frau, ich jogge nicht. Ich laufe. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Ich laufe viertausend Kilometer im Jahr. Marathon-Bestzeit unter drei Stunden. Joggen!“, höhnte er noch einmal, schüttelte den Kopf, von dem unter einem hellblauen Stirnband verschwitzte Haare in alle Richtungen abstanden wie die Dornen der Krone des Jesus aus der Kirche, an den sich Gasperlmaier so gut erinnerte, weil er als Kind beim Kreuzwegbeten so oft daran vorbeigegangen war. Streng getrennt nach Geschlechtern waren die Buben und Mädchen während der Karwoche durch den Kreuzweg getrieben worden, ohne dass sich Gasperlmaier im Detail daran erinnern konnte, ob man ihn dazu gezwungen hatte oder ob er in Anfällen religiöser Raserei freiwillig an dieser Prozedur teilgenommen hatte.

„Sie haben also die Leiche gefunden?“, versuchte die Frau Doktor einen neuen Anfang. Der Mann nickte. Seine Antwort ließ wiederum auf sich warten, weil der Wirt des Jagdhauses ihm einen Tee hinstellte. „Geht aufs Haus!“

„Servus Paul“, sagte Gasperlmaier zum Wirt, den er seit langem kannte. Der Paul betrieb nicht nur das Jagdhaus auf der Seewiese, er hatte auch eine Hütte im Skigebiet auf dem Sandling und konnte daher Sommer- wie Wintersaison nutzen. Was er auch nie zu betonen vergaß. „Warum bist du denn heute schon so bald heraußen?“, wollte Gasperlmaier wissen. „Ja, Gasperlmaier!“ Der Paul ließ krachend seine Hand auf dessen Schulter niedersausen. „Du bist kein Geschäftsmann, gell? Schau dich um!“ Und mit weit ausladender Geste wies der Paul auf die vielen Leute, die sich im Blickfeld der Veranda geschäftig machten, um herauszufinden, wie und durch wessen Hand der Stefan Naglreiter gestorben war. „Mir ist es egal, warum die Leute kommen. Getrunken und gegessen wird immer!“ Der Paul lachte, als sei der Mord für ihn ein besonderer Glücksfall. „Darf’s für Sie auch was sein, Frau Doktor?“ Charmant kniff der Paul ein Auge zu, als er sich der Frau Doktor Kohlross zuwandte. „Wenn S’ für mich auch einen Tee haben?“ Ein wenig schien sie irritiert wegen der Unterbrechung durch das Auftauchen des Paul, das das Gespräch mit dem Marathonläufer verzögerte.

Im dritten Anlauf fragte die Frau Doktor nun den Tee schlürfenden Sportler: „Beschreiben Sie bitte genau, was Sie gesehen haben.“ Der Angesprochene war allerdings schlecht gelaunt und dementsprechend unwirsch, wie Leute, die eine Stunde warten müssen und dann der Polizei Auskunft zu erteilen haben, es häufig sind, dachte Gasperlmaier bei sich. „Deswegen haben Sie mich eine Stunde warten lassen? Er ist genau so dagelegen, wie er jetzt noch daliegt. Und ich hab ihm den Puls gefühlt und überprüft, ob er atmet. Doch da war keine Reaktion.“

„Kennen Sie den Toten?“ Offenbar war dem Läufer jetzt warm geworden, denn er warf die Decke von sich und reckte beide dürren Arme, die in einem teils blitzblauen, teils neongelben Trikot steckten, gegen den Himmel. „Natürlich! Deswegen hab ich mich ja so erschrocken! Ich bin der Nachbar!“ Gasperlmaier war überrascht. Er hatte gedacht, er kannte alle Altausseer, und demzufolge angenommen, der Mann sei wohl aus Bad Aussee. Dass er ein Altausseer war, damit hatte er keinesfalls gerechnet. Wahrscheinlich war er doch ein Zugezogener.

„Was haben Sie denn danach gemacht?“ Die Frau Doktor Kohlross hatte ihr Notizbuch gezückt und den im Buchrücken verborgenen Stift herausgezogen. Sie schlug die Beine übereinander und legte das Buch auf ihren Oberschenkel. „Ich bin ein Stückerl weitergelaufen, so lang, bis ich Empfang auf meinem Handy gehabt hab. Man soll’s ja nicht glauben, aber hier hinten kannst ja nicht einmal telefonieren!“

Gasperlmaier hörte Motorengeräusch und wandte sich zum See um. Das Linienschiff war – ganz außerhalb der üblichen Fahrzeiten – gerade angekommen, und einige Leute hasteten über den Landungssteg auf das Jagdhaus zu. Auch die Frau Doktor wandte sich um und stöhnte: „Presse! Die haben uns jetzt gefehlt!“ Gasperlmaier konnte einen Mann mit einer Kamera ausmachen, zwei Frauen, eine blonde und eine dunkelhaarige, rahmten ihn sozusagen ein. Der Paul kam mit dem Tee für die Frau Doktor. „Magst ein Bier, Gasperlmaier?“, fragte er, und Gasperlmaier war schon im Begriff, gewohnheitsmäßig wortlos zu nicken, als die Frau Doktor leise „Gasperlmaier!“ zischte, und als er sich ihr zuwandte, deutete sie mit dem Finger verstohlen auf die herannahenden Presseleute. Gasperlmaier sprang wie von der Pistole geschossen von der Bank auf, eingedenk der gestrigen Katastrophe vor dem Bierzelt, die er abends im Fernsehen hatte noch einmal miterleben müssen. „Schauen S’, dass uns die da unten in Ruhe lassen!“, wies ihn die Frau Doktor an. Gasperlmaier stieg die wenigen Stufen von der Veranda hinunter auf die Wiese.

Als er sah, dass die beiden Frauen und der Kameramann geradewegs auf die Absperrbänder zuhielten, die den Fundort der Leiche absperrten, versuchte er ihnen den Weg abzuschneiden. Beide Arme weit ausgebreitet, hastete er den dreien entgegen. Der Mann hatte schon die Kamera auf die Schulter und das Okular ans Auge gesetzt. Die Aussicht, sich womöglich ein weiteres Mal, diesmal mit wedelnden Armen, im Fernsehen blamieren zu dürfen, hemmte den Tatendrang Gasperlmaiers und er ließ die Arme sinken. „Bitte bleiben Sie hinter den Absperrbändern. Filmen und fotografieren verboten. Zu sehen gibt es eh nicht viel!“ Die drei blieben stehen, der Kameramann filmte weiter. Die blonde Frau hielt ein plüschiges Mikrofon in der Hand. „Können Sie uns etwas zu dem Vorfall von heute früh sagen? Ist jemand ermordet worden?“ Schon hatte Gasperlmaier das Mikro vor seiner Nase tanzen. Heftig gestikulierend wehrte er ab. „Ich … wir … es gibt gar nichts zu sagen … wir … ich gebe keinen Kommentar ab!“ Die Blonde zeigte sich unbeeindruckt. „Was sagt die Polizei dazu, dass innerhalb von vierundzwanzig Stunden drei Menschen in Altaussee ermordet worden sind?“ Gasperlmaier wurde schlagartig klar, dass er auf dem besten Weg in ein weiteres Schlamassel war. Sagte er nichts oder redete er Unsinn, würde er heute Abend wieder im Fernsehen als Idiot vorgeführt werden. Gab er Informationen weiter, bekam er es mit seinen Vorgesetzten zu tun. Für langes Überlegen, andererseits, ließ ihm die Blonde keine Zeit. „Heißt das, dass Sie gar nichts wissen, wenn Sie nichts sagen?“ Ein leicht hämisches Lächeln und ein kurzer Blick zum Kameramann ließen Gasperlmaier Fürchterliches ahnen. „Ich sag Ihnen jetzt einmal was.“ Gasperlmaier holte Atem, und allein die kleine Pause genügte der Blonden, um dazwischenzufunken. „Da sind wir aber gespannt.“ Gasperlmaier atmete aus. „Ich bin nicht befugt, Ihnen irgendwelche Informationen zu geben. Das ist nicht meine Aufgabe. Und ich möchte nicht ins Fernsehen.“ Gasperlmaier fand, dass er seine Sache gut gemacht hatte. Der Kameramann schwenkte hinüber zu der Plane, unter der sich die Leiche des Stefan Naglreiter befand. Viel, dachte Gasperlmaier, würde das Fernsehen über das Verbrechen nicht zeigen können. Eine Plane neben einer Hüttenwand.

„Du, Iris!“, sprach die Dunkelhaarige jetzt die Blonde an und fing in ihrer weitläufigen Handtasche zu kramen an. Sehr auffällig geschminkt war sie, fiel dem Gasperlmaier auf, blutrote Lippen, sehr viel lila Lidschatten und schwarze Ringe um die Augen. Und ein bisschen auffällig angezogen war sie auch, alles schwarz, aber mit vielen Krägelchen, Schleifchen, Pelzchen und so allerhand Krimskrams an der Kleidung dran. Aber trotzdem sehr attraktiv, dachte Gasperlmaier. „Wir haben doch … der ist doch … genau!“ Gasperlmaier verstand nur Bahnhof. Plötzlich hielt die Dunkelhaarige eine Ausgabe der Schillingzeitung in der Hand. „Gestatten, Maggy Schab-linger vom Schilling!“, grinste sie, faltete die Zeitung auseinander und hielt Gasperlmaier das Titelblatt vor die Nase. Der erblasste und meinte jetzt begriffen zu haben, was es bedeutete, wenn es hieß, ein Schlagl habe jemanden gestreift. Gasperlmaier sah ein großes Farbfoto von sich auf dem Titelbild, wie er gerade herzhaft in ein Hühnerhaxl biss, während er mit der anderen Hand seinen Bierkrug umklammerte. Über dem Bild prangte eine groß und fett gedruckte Schlagzeile: „Doppelmord am Kirtag – Polizei feiert weiter“. Die Dunkelhaarige kicherte. „Haben Sie heute auch noch Lust auf ein Bier, Herr Inspektor?“ Gasperlmaier wusste nicht, wie ihm geschah. Sein Kopf war erfüllt von einem heftigen Brummen und grellem Licht. Er meinte, er müsse jeden Moment kollabieren. Der Kameramann hielt sein Gerät jetzt auf die Titelseite des „Schilling“ gerichtet, mit dem die Dunkelhaarige kokett posierte. Die beiden Frauen konnten sich vor Lachen kaum halten. Der Mann setzte seine Kamera ab: „Mädels, wenn ihr mich zum Lachen bringt, kann ich nicht filmen!“

Gasperlmaier vermochte der Situation nicht standzuhalten und setzte sich kommentarlos in Richtung Jagdhaus in Bewegung. „Bleiben Sie doch stehen!“, rief ihm die Blonde nach. Als Gasperlmaier die Veranda fast erreicht hatte, sprang die Frau Doktor auf, kam auf die Wiese herunter und trat den dreien entgegen. „Sie wünschen?“ Die Blonde hielt ihr sofort das Mikrofon unter die Nase, während Gasperlmaier die Gelegenheit wahrnahm, auf die Veranda zu retirieren.

„Können Sie sich kurz vorstellen?“, fragte die Blonde.

„Doktor Kohlross, Bezirkspolizeikommando. Ich leite die Ermittlungen.“

„Was sagen Sie zu den drei Morden? Gibt es schon eine Spur?“

Die Frau Doktor musste keinen Moment überlegen. „Sobald Ergebnisse vorliegen, gibt es eine Pressekon-ferenz. Momentan gibt es keinerlei Informationen. Ich kann Sie nicht daran hindern, Fotos zu machen oder zu filmen, wenn Sie allerdings Beamte oder Zeugen belästigen, gibt es Ärger für Sie.“

Die Dunkelhaarige hielt neuerlich das Titelblatt in die Höhe. Gasperlmaier konnte erkennen, dass die Frau Doktor kurz zuckte, als sie den Aufmacher sah. Doch die Schrecksekunde war schnell vorbei. „Wenn Ihr Blatt glaubt, Beamte, die in einer kurzen Mittagspause essen und trinken, denunzieren zu müssen, wird auch das Folgen haben. Von Ihrer Zeitung bin ich aber nichts anderes gewohnt. Unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit wird sich deshalb, wie Sie sich sicher vorstellen können, auch in Grenzen halten.“

Scharfer Blick und Augenbrauen hoch. Gasperlmaier bewunderte die Frau Doktor für ihre Gelassenheit und mehr noch für ihre Redegewandtheit. Die Dunkelhaarige ließ sich aber nicht einschüchtern. „Was glauben Sie denn, mit wem Sie es zu tun haben? Ich verkörpere die freie Presse! Wir haben ein Recht, sogar die Pflicht, über alles zu berichten! Ich lasse mir doch von Ihnen nicht vorschreiben …“ Die Frau Doktor Kohlross unterbrach sie mit so lauter Stimme, dass Gasperlmaier zusammenzuckte. „Ich schreibe Ihnen gar nichts vor! Ich habe lediglich den Tatort zu sichern, zu ermitteln und zu gegebener Zeit Informationen weiterzugeben. An die gesamte freie Presse dieses Landes. Wie die Gesetze das regeln. Auf Wiedersehen!“ Sie drehte sich um und stieg die Stufen wieder hinauf. Gasperlmaier konnte es kaum glauben, aber sie hatte die Dunkelhaarige zum Schweigen gebracht.

Der Kameramann schien der Vernünftigste von den dreien zu sein. Er nahm die Reporterin des „Schilling“ am Arm und hielt sie zurück, als sie Anstalten machte, der Frau Doktor zu folgen. „Maggy, reiß dich zusammen. Es bringt uns nichts, wenn die Situation eskaliert. Wir brauchen sie, und sie brauchen uns.“

Die drei drehten ab. Die Frau Doktor bedeutete einem der Uniformierten, die auf der Veranda herumstanden, ihnen zu folgen. Gasperlmaier war ihr dafür unendlich dankbar.

„Was für Handlungen, Herr Podlucki, haben Sie denn im Rahmen der Streitigkeiten mit der Familie Naglreiter gesetzt?“ Die Frau Doktor hatte sich wieder gesetzt und das Gespräch mit dem Läufer, der den Stefan Naglreiter gefunden hatte, wieder aufgenommen. Gasperlmaier spitzte die Ohren. Offenbar hatte er während seiner Auseinandersetzung mit den Pressefritzen Wesentliches versäumt. „Na, was glauben Sie!“ Wieder warf Herr Podlucki seine dürren Arme in die Luft. Der Decke hatte er sich gänzlich entledigt, denn die ersten Sonnenstrahlen hatten die Veranda mittlerweile angenehm aufgewärmt. „Ich hab natürlich Anzeige erstattet. Mehrmals.“ Dabei sah er Gasperlmaier auf eine Art und Weise an, dass dieser annehmen musste, er habe in Zusammenhang mit den Anzeigen dieses Mannes schon wieder einen kapitalen Fehler gemacht. „Wissen Sie was davon, Gasperlmaier?“, wandte sich die Frau Doktor diesem zu. Gasperlmaier begann fieberhaft nachzudenken, doch immer dann, wenn er das Gefühl hatte, sofort und vernünftig antworten zu müssen, stellte sich dieses lähmende Gefühl einer völligen Sprach- und Gedankenlosigkeit ein. Sein Hirn schien leer. Wenigstens fiel ihm ein, wo er den Mann schon einmal gesehen hatte: auf dem Polizeiposten. Allerdings hatte er nicht mit ihm gesprochen. Seine Anzeigen hatte wahrscheinlich der Kahlß Friedrich aufgenommen. Bevor Gasperlmaier noch zu einer Antwort ansetzen konnte, fiel ihm Herr Podlucki ins Wort: „Den da“, er streckte einen seiner dürren Finger nach Gasperlmaier aus, „den kenn ich. Ich hab ihn auf dem Posten gesehen, aber die Anzeigen hab ich bei dem Dicken dort drüben erstattet.“ Er wies mit seiner Klaue auf den Kahlß Friedrich, der an der Absperrung stand und die Weißkittel beobachtete, die immer noch die Wiese nach verwertbaren Spuren absuchten. „Den wird übrigens bald der Schlag treffen, wenn er weiter so frisst.“ Die Frau Doktor hob die Augenbrauen, schwieg aber. Ein äußerst widerlicher und ungehobelter Zeitgenosse war der Herr Podlucki, dachte Gasperlmaier bei sich.

„Irgendwelche Ergebnisse, Ihre Anzeigen betreffend?“, fragte die Frau Doktor und hatte damit dem Dürren ein Stichwort gegeben, das er sich nicht entgehen lassen konnte. „Die Polizei tut doch nichts! Da können Sie anrufen, bis Sie schwarz werden, da können Sie Anzeigen erstatten, so viele Sie wollen! Es werden immer die Täter geschützt! Als Opfer bist du völlig hilflos! Wenn du dir selber nicht hilfst, bleibst du auf der Strecke!“

Gasperlmaier hatte nicht zum ersten Mal mit Leuten zu tun, die völlig ungehemmt und im Brustton fest verankerter Überzeugung ihre Vorurteile der Exekutive gegenüber zum Besten gaben, und das laut und lang anhaltend. „Herr Podlucki!“ Die Frau Doktor schaffte es nicht ohne Heben der Stimme und der Augenbrauen, seinen Redeschwall zu unterbrechen. „Anschreien brauchen Sie mich nicht!“, entgegnete dieser nach einer Schrecksekunde. „Behandelt man so Leute, die der Polizei helfen wollen?“ Die Frau Doktor stieß in die akustische Lücke: „Keinesfalls wollen wir Zeugen schlecht behandeln. Nur, verstehen Sie bitte, Herr Podlucki …“ Neuerlich unterbrach sie der Mann. „Man spricht ‚Podlutzki‘ und nicht ‚Podlutschki‘!“, fuhr er auf. „Entschuldigung. Also, verstehen Sie bitte, dass Ihre allgemeine Meinung über die Polizei hier keinen Platz hat und uns nicht weiterhilft. Was wir brauchen, sind Fakten. Ich entnehme Ihrer Aussage, dass trotz der Anzeigen keine Behörde tätig geworden ist. Ist das richtig?“ Sehr diplomatisch, die Frau Doktor, dachte sich Gasperlmaier, ich hätte wahrscheinlich wieder eine halbe Minute nach Worten gesucht, wenn der so auf mich losgeht, und dann hätte ich aufgebracht herumgeschrien und kein vernünftiges Wort mehr aus dem herausgebracht.

Podlucki begnügte sich überraschenderweise mit einem Nicken. „Haben Sie sonst in irgendeiner Weise mit den Naglreiters Kontakt gehabt wegen dieser Sache?“ Gasperlmaier wurde langsam neugierig, um welche Sache es sich handelte. „Natürlich, ich habe angerufen, wenn sie wieder einmal Krach gemacht haben.“

„Hat es dabei auch Beleidigungen gegeben, von Ihrer Seite oder von der der Naglreiters?“ Podlucki rutschte unruhig auf der Bank hin und her. „Da kommt es schon vor, dass böse Worte fallen!“, stieß er schließlich hervor.

„Nur von Ihnen oder auch vonseiten der Naglreiters?“

Podlucki bäumte sich auf und schoss seine Kralle in Richtung der Frau Doktor ab. „Wissen Sie, was der zu mir gesagt hat, der Naglreiter? Einen Querulanten hat er mich genannt, einen einfältigen Provinztrottel, einen Kerzerlschlucker und was weiß ich noch! Und dass ich dringend in Behandlung gehöre! Dass vielleicht noch was zu machen ist, wenn ich mich gleich auf die Psychiatrie lege!“ Schwer atmend zog Podlucki seinen Finger zurück.

Die Frau Doktor packte ihren Stift und das Notizbuch ein und streckte dem Herrn Podlucki ihre Hand hin. „Herzlichen Dank für Ihre Hilfe, Herr Podlutzki.“ Sie achtete sorgfältig auf die richtige Aussprache des Namens. Fast meinte Gasperlmaier, sie mache sich durch die übertriebene Betonung des Namens ein wenig lustig über den Marathonmann. Der hatte offensichtlich mit einem so plötzlichen und versöhnlichen Ende der Befragung nicht gerechnet, murmelte Unverständliches und reichte der Frau Doktor die Hand, die sie kräftig schüttelte. „Bitte hinterlassen Sie dem Herrn Inspektor Gasperlmaier hier Ihre Personalien und rechnen Sie damit, dass wir Sie noch einmal befragen müssen. Wegen des Protokolls, reine Formalität.“

„Noch einmal befragen? Ich hab doch meine Zeit nicht gestohlen!“ Die Frau Doktor stand auf und verließ die Veranda, nachdem sie noch einmal auf Gasperlmaier verwiesen hatte.

Gasperlmaier zog sein Notizbuch heraus. „Name?“ Herr Podlucki gab sich störrisch. „Den kennen Sie doch!“ Gasperlmaier versuchte ruhig zu bleiben. „Vornamen und Nachnamen, bitte!“ „Herrschaftszeiten!“, fluchte Podlucki. „Johann Podlucki.“ Gasperlmaier schrieb sorgfältig auf und stutzte. Wie sollte er Podlucki schreiben? Mit oder ohne „tz“? Er entschloss sich, nachzufragen: „Wie schreiben Sie sich denn?“ Podlucki begann zu keifen. „Muss ich’s jetzt buchstabieren auch noch?“ Gasperlmaier seufzte. „Bitte!“ Podlucki buchstabierte, Gasperlmaier schrieb. Fast schien es ihm, als werfe der Podlucki jeden Buchstaben nach ihm. „Ingenieur dürfen S’ noch dazuschreiben“, fügte er schließlich hinzu. Gasperlmaier seufzte neuerlich und kritzelte vor dem Vornamen des Ingenieurs ein „Ing.“ hin. Er hätte sich brennend dafür interessiert, welcher Art die Streitigkeit zwischen Podlucki und den Naglreiters gewesen war, aber er wagte sein zunehmend mürrisches Gegenüber nicht noch einmal danach zu fragen. Er würde sich gedulden müssen, bis ihn die Frau Doktor informierte.

Gasperlmaier verabschiedete sich von Podlucki, der sofort sein Stirnband zurechtrückte und auf seine voluminöse Armbanduhr sah. Seufzend drückte er einige Knöpfe, sah kurz zum Himmel auf und trabte los. Gasperlmaier blickte dem blitzblauen und neongelben Zucken des im Wald verschwindenden Lauftrikots versonnen nach. Was hatte der Podlucki schnell noch einmal gesagt, als ihn die Frau Doktor wegen seiner Anzeigen gegen die Naglreiters befragt hatte? Wenn man sich nicht selber hilft, bleibt man auf der Strecke? Hatte sich, dachte Gasperlmaier, etwa der Podlucki selber geholfen, indem er nach der Reihe die Naglreiters ins Jenseits befördert hatte? Aber andererseits: Wegen einer simplen Nachbarschaftsstreitigkeit brachte man doch niemanden um!

Gasperlmaier musste an einen Fall denken, der sogar das Bezirksgericht drüben in Aussee beschäftigt hatte: Da waren die Hühner eines Kleinhäuslers immer wieder durch ein Loch im Zaun zum Nachbarn geschlüpft, und das hatte den so erbost, dass er nicht nur Klage erhoben, sondern auch mit seinem Flobertgewehr auf die Hühner geschossen und ein paar von ihnen erlegt hatte. Der Hühnerbesitzer wiederum war vor lauter Zorn mit seiner Schrotflinte aus dem Haus gestürmt und hatte auf den Hühnermörder angelegt. Den Ehefrauen der beiden war es zu verdanken gewesen, dass es zu keinen weiteren wildwestreifen Szenen gekommen war. So weit, dachte Gasperlmaier, waren Nachbarschaftsstreitereien offenbar doch nicht von Mord und Totschlag entfernt. Und dieser Podlucki war schon ein seltsamer Kauz. Wundern würde es mich nicht, dachte Gasperlmaier, wundern würde es mich nicht.

Gasperlmaier machte sich auf den Weg zur Frau Doktor hinüber, die innerhalb des abgesperrten Auffindungsorts der Leiche stand, als er das Geräusch eines sich nähernden Fahrzeugs vernahm. Wer konnte um diese Zeit mit dem Auto hierherkommen? Auch die Frau Doktor hatte das Motorengeräusch gehört und antwortete Gasperlmaiers fragenden Blicken. „Wir warten noch auf den Leichenwagen. Und die Gerichtsmedizin, zuerst. Die werden wohl mit dem Auto kommen.“ Die Fahrt mit dem Auto hierher war ein wenig umständlich, wusste Gasperlmaier. Man musste über Puchen ziemlich hinten herum und weit oberhalb der Südostseite des Sees über eine Forststraße. Gasperlmaier war selber schon gelegentlich mit dem Streifenwagen zur Seewiese gefahren, Vergnügen war es keines ohne ein wirklich geländegängiges Fahrzeug.

Kaum waren die Motorengeräusche verstummt, tauchte der Doktor Kapaun aus dem Wald heraus auf und hielt auf sie zu. „Oh nein!“, stöhnte die Frau Doktor, „nicht schon wieder der!“ Doktor Kapaun schien bestens gelaunt. „Einen wunderschönen guten Morgen, meine Gnädigste!“ Galant schüttelte er der Frau Doktor die Hand und machte sogar die Andeutung einer Verbeugung. Wohl aus Sorge, er könnte ihre Hand küssen wollen, zog die Frau Doktor die ihre rasch zurück. Gasperlmaier beobachtete, wie sie beide ihre Augenbrauen hochzogen. Schon schien die Stimmung wieder gefährdet, aber der Doktor Kapaun ließ sich offenbar nicht so rasch aus der Ruhe bringen.

Im Schlepptau des Gerichtsmediziners hatte sich auch das Pressetrio wieder genähert, der Kameramann mit seinem Gerät im Anschlag. Das rote Licht, fiel Gasperlmaier auf, blinkte. Wahrscheinlich hatte er also ein Band laufen. Gasperlmaier zupfte die Frau Doktor sacht an der Schulter, worauf sich diese erstaunt zu ihm umdrehte. Vorsichtig wies Gasperlmaier auf die Kamera. „Ich glaub, er filmt!“, flüsterte er der Frau Doktor ins Ohr. Gleich darauf erfasste ihn ein heftiger Niesreiz. So nah hatte er sich dem Ohr der Frau Doktor genähert, dass ein paar ihrer losen Haare, die hinter dem Ohr hervorgerutscht waren, seine Nase gekitzelt hatten. Gerade noch konnte er seinen Kopf ein wenig zurückziehen, doch dass er der Frau Doktor kräftig den Rücken hinunternieste, war nicht mehr zu vermeiden gewesen. Da die Frau Doktor nur mit einem „Gesundheit!“ reagierte, hoffte er, dass die neuerliche Peinlichkeit nicht allzu sehr aufgefallen war. Doch, dachte Gasperlmaier bei sich, der Kameramann hatte sicherlich mitgefilmt. Würde er neuerlich in Fernsehen und Presse als Idiot vorgeführt werden? Gasperlmaier trat einen Schritt zurück, während die Frau Doktor sich an die Presseleute wandte. „Bitte verlassen Sie das abgesperrte Gelände. Ich muss Sie dringend bitten, nicht mehr zu filmen. Sie müssen doch nicht unbedingt eine Leiche ins Fernsehen bringen, oder?“ Der Mann setzte seine Kamera ab, nickte und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Die Maggy, so schien es Gasperlmaier, wollte am Absperrband stehen bleiben, doch der Kameramann nahm sie am Oberarm und zog sie mit sich zurück.

„Wir haben hier also schon wieder eine Leiche. Schauen wir doch mal.“ Doktor Kapaun trat an die Plane heran, riss an einem Zipfel und schlug sie in einer ausladenden Bewegung zurück, sodass der Stefan Naglreiter nun völlig ohne Bedeckung vor ihnen lag. Peinlich berührt musste Gasperlmaier wahrnehmen, dass es plötzlich kräftig nach Urin und Kot roch. Gasperlmaier verzichtete darauf sich auszumalen, wie es dem Stefan Naglreiter in den letzten Minuten seines Lebens ergangen sein mochte. Auch er trug, wie sein Vater, eine sehr teure, maßgeschneiderte Lederhose, wie Gasperlmaier mit Kennerblick sofort feststellte. „Ang’schissen und ang’macht hat er sich, der fesche junge Mann!“ Fröhlich und unbeeindruckt lachte der Mediziner den um ihn versammelten Polizisten zu. Die Frau Doktor hatte offenbar nicht vor, der gesamten Prozedur zuzusehen. „Bitte tun Sie, was zu tun ist. Wir erwarten Ihre Informationen, sobald Sie so weit sind.“ Sie wandte sich ab und bedeutete Gasperlmaier und dem Friedrich, ihr zu folgen.

Inzwischen war es warm geworden, und die drei setzten sich an einen Tisch vor dem Jagdhaus, an dem ein Sonnenschirm Schatten spendete. „Rekapitulieren wir einmal!“, begann die Frau Doktor, weder direkt an Gasperlmaier noch an den Friedrich gewandt. Fast schein es Gasperlmaier, als spräche sie mehr zu sich selbst als zu einem von ihnen beiden. „Der Doktor Naglreiter wird in der Nähe des Bierzelts erstochen. Mit einem Hirschfänger wahrscheinlich, so einem kurzen Messer, wie man es in der Lederhose trägt. Er muss sich selbst noch dort hingesetzt haben, denn im Sitzen ist nicht auf ihn eingestochen worden. Eher von einer Person, die kleiner war als er. Vielleicht von einer Frau. Er hat stark geblutet, war aber so stark alkoholisiert, dass er offenbar die Schwere der Verletzung nicht wahrgenommen hat. Er setzt sich also an einen Biertisch und verblutet dort. Niemand ist mehr im Bierzelt. Frühmorgens wird er“, die Frau Doktor bedachte den Gasperlmaier mit einem schneidenden Blick, „von einer bislang unbekannten Person in das Pissoir verbracht. Er ist zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Stunden tot. Noch sind keine Zeugen aufgefunden worden, die ihn um die Zeit seines Todes gesehen haben. Fast alle, die wir befragt haben, können sich entweder nicht an den Doktor Naglreiter erinnern, oder sie haben überhaupt alles vergessen, was in der besagten Nacht passiert ist. Die letzte verlässliche Aussage von einem Zeugen stammt von kurz vor Mitternacht. Da hat ihn jemand gesehen, wie er auf dem Klo war. Der Zeuge hat zwar selber schon erheblich getrunken gehabt, schwört aber Stein und Bein, dass der Doktor Naglreiter neben ihm am Pissoir gestanden ist.“ Und da hat er noch nicht gewusst, dachte Gasperlmaier bei sich, dass er das Pissoir das nächste Mal als Toter wiedersehen wird, dass er quasi zum letzten Mal in seinem Leben das Wasser abgeschlagen hat. Ein trauriger Gedanke, so schien es Gasperlmaier.

„Eine Tatwaffe haben wir nicht“, fuhr die Frau Doktor fort, „danach wird noch gesucht – allerdings haben wir zu wenige Leute, ich erhoffe mir nicht viel. Ich würde das Messer in den See werfen, wenn ich jemanden erstochen hätte. Ich habe auch ein paar Taucher angefordert, aber auch da habe ich nicht viel Hoffnung.“ Die Frau Doktor blickte zur Leiche hinüber, wo der Arzt noch beschäftigt war. „Dann finden wir die erschlagene Leiche der Frau Naglreiter. Inzwischen wissen wir, dass sie vor ihrem Mann gestorben ist. Sagt zumindest die Gerichtsmedizin. Zwischen einundzwanzig Uhr und Mitternacht ist sie gestorben, ihr Mann zwischen zwei und vier Uhr. Wenn wir aber bedenken, dass sich um zwei noch zahlreiche Menschen in der Nähe des Bierzelts aufgehalten haben, denke ich da eher an das Ende dieser Zeitspanne. Sie ist wahrscheinlich nicht am Ufer erschlagen worden, es wäre sonst kaum erklärbar, wie sie in die Mitte des Sees gelangt ist. Also“, die Frau Doktor ließ ihren rechten Zeigefinger in der Luft kreisen, „ich korrigiere mich: Sie kann wo auch immer erschlagen worden sein, die Leiche jedenfalls ist vermutlich von einem Boot aus im See entsorgt worden. Sie war einigermaßen festlich gekleidet, keine Spuren sexueller Gewalt, sie hatte allerdings in dieser Nacht bereits Geschlechtsverkehr gehabt.“

„Wie …?“ Gasperlmaier ließ seine Frage in der Luft hängen. „Wie man das feststellen kann? Gasperlmaier, seien Sie doch nicht so naiv. Denken Sie daran, was in der Vagina häufig zurückbleibt, wenn man ungeschützt Sex hat!“ Gasperlmaier wurde es warm um die Ohren. Hoffentlich, dachte er bei sich, werde ich jetzt nicht rot. Allerdings wusste er aus leidvoller Erfahrung, dass die Angst vor dem Erröten bei ihm ebendieses Phänomen zuverlässig hervorrief. Schon glühten seine Ohren. Die Frau Doktor lächelte belustigt, aber weder hämisch noch verächtlich, sodass sich Gasperlmaier beruhigte. „Ich habe nicht gewusst, dass man“, Gasperlmaier suchte nach Worten, „dass man da, dort, bei einer Untersuchung …“ „Dass die Vagina auch untersucht wird?“ Der Frau Doktor, dachte Gasperlmaier, waren solche Wörter offenbar gar nicht peinlich. Seiner Christine, fiel ihm ein, auch nicht. Wie oft hatte sie ihn schon darüber aufzuklären versucht, dass man über sexuelle Angelegenheiten ganz sachlich sprechen konnte, wenn man die richtigen Wörter benutzte, oder aber auch ganz gefühlvoll und leidenschaftlich, wenn … Gasperlmaier rief sich zur Ordnung, fragte sich aber dennoch, welche Wörter wohl die Christine benutzte, wenn sie den Kindern in der Volksschule erklärte, wie die Babys in den Bauch hineinkamen.

„Sie ist zwar mit ihrem Mann an einem Tisch vor dem Bierzelt gesehen worden, aber das war schon vor Einbruch der Dunkelheit, eine genauere Aussage dazu haben wir nicht. Sie haben Grillhendl gegessen und Bier getrunken, das stimmt auch mit der Analyse des Mageninhalts der beiden überein.“

Gasperlmaier wurde übel, als er sich vorstellte, wie man den Mageninhalt von Mordopfern analysierte. Hoffentlich, dachte Gasperlmaier bei sich, wird keines meiner Kinder einmal Gerichtsmediziner, da lässt es sich bei Tisch kaum entspannt darüber plaudern, was es denn in der Arbeit Neues gegeben habe.

Gasperlmaier hatte eine Idee: „Vielleicht sind sie Boot gefahren, ich meine, der Doktor Naglreiter und seine Frau?“ Die Frau Doktor schüttelte skeptisch den Kopf. „Warum sollten die beiden miteinander Boot gefahren sein? Eine romantische Bootsfahrt kann ich mir bei denen überhaupt nicht …“ Die Frau Doktor hielt inne und legte den Zeigefinger an die Lippen: „Halt! Gasperlmaier, meinen Sie vielleicht, es könnte zum Streit gekommen sein, und er hat sie mit dem Ruder … aber dann müsste es ja zwei Mörder geben! Kommt mir, so betrachtet, recht unwahrscheinlich vor.“ Gasperlmaier zuckte die Schultern. „Jedenfalls haben sie ein Boot. In einem Bootshaus liegen. Das gehört nicht ihnen, das Bootshaus, meine ich. Sie haben es da eingestellt. Wie man zum Beispiel ein Pferd …“

Die Frau Doktor sprang auf, stemmte die Arme in die Hüften und beugte sich zu Gasperlmaier vor: „Sie wollen mir aber jetzt nicht erzählen, dass Sie gewusst haben, dass die Naglreiters ein Boot besessen haben? Und mich nicht darüber informiert haben? Mich dumm sterben lassen haben?“ Gasperlmaier setzte zu einer Verteidigung an: „Aber Sie sind doch gar nicht … äh … leben doch …“ Die Frau Doktor schoss mit ihrem Zeigefinger auf ihn: „Kommen Sie mir jetzt nicht mit Spitzfindigkeiten! Da plage ich mich, wir uns, mit Dutzenden Zeugen herum, kommen keinen Schritt weiter, und der, der die ganze Zeit neben mir herläuft, enthält mir eine wichtige, ja essentielle Information vor!“

Gasperlmaier fühlte, wie seine Ohren neuerlich zu glühen begannen. Er konnte machen, was er wollte, die Serie von Peinlichkeiten, in die er seit gestern Morgen hineingeschlittert war, mochte und mochte nicht abreißen. „Und woher eigentlich wissen Sie das?“ Die Frau Doktor setzte sich wieder. Der Paul war schon auf den Disput aufmerksam geworden und schaute interessiert von seiner Veranda aus zu. Hoffentlich, dachte Gasperlmaier, hat er jetzt nichts mitbekommen, davon, wie ich mich wieder einmal blamiert habe. Der Paul hatte den Gasperlmaier wieder abgelenkt, und so verzögerte sich seine Antwort so, dass die Frau Doktor in die Stille dazwischenfahren musste: „Jetzt reden S’ doch endlich, Gasperlmaier!“

„Die Natalie hat’s mir erzählt, die Tochter von der Evi. Die Frau, die gestern so geheult hat, als wir die Frau Naglreiter ans Ufer gebracht haben.“

„Gasperlmaier“, seufzte die Frau Doktor, „Sie werden mir langsam unheimlich. Was hat Ihnen diese Natalie über das Boot der Naglreiters erzählt, und was hat sie überhaupt mit der ganzen Sache zu tun?“ Der Kahlß Friedrich mischte sich ein. „Sehen Sie, Frau Doktor“, der Friedrich legte seine Hand auf den Unterarm der Frau Doktor Kohlross, der unter seiner Pranke beinahe zur Gänze verschwand, „wir haben doch heute noch gar keine Gelegenheit gehabt, darüber zu reden, was der Gasperlmaier und ich gestern herausgefunden haben. Wir waren doch noch bei der Evi, Sie erinnern sich, meine Schwägerin, die so geheult hat, und haben mit ihr über das Putzen bei den Naglreiters geredet.“ Und dann berichtete der Friedrich, was ihnen die Evi gestern über die Nachstellungen seitens des Doktor Naglreiter, ihre Person und die Natalie betreffend, erzählt hatte. Die Frau Doktor betrachtete aufmerksam ihren Unterarm, wohl besorgt, dachte Gasperlmaier, dass der Friedrich ihn ungewollt zerquetschen könnte. Der Friedrich, obwohl mitten im Redefluss, bemerkte das und zog seine Pratze zurück, um seine Ausführungen mit weit ausladenden Handbewegungen zu untermalen, derart, dass Gasperlmaier mehrmals einen kräftigen Luftzug zu verspüren meinte, ausgelöst durch die segelartigen Pranken des Kahlß Friedrich.

„Und dann“, endete der Friedrich, „dann ist der Gasperlmaier der Natalie nachgerannt, und er hat mit ihr allein draußen vor der Haustür …“ Die Frau Doktor unterbrach den Friedrich und wandte sich neuerlich – unter Hochziehen ihrer Augenbrauen – dem Gasperlmaier zu. „Sie haben allein … mit einer Zeugin? Einer Minderjährigen? Gasperlmaier!“

Jetzt aber war sich Gasperlmaier keiner auch noch so geringfügigen Schuld bewusst. „Ich kenn doch die Natalie schon, seit sie ein kleines Kind war, ich hab doch schon im Sand gespielt mit ihr, wie sie noch ganz klein und nackert war, und sogar im Kinderskikurs war ich ihr Skilehrer! Das ist für mich doch keine minderjährige Zeugin!“ Fast in Eifer redete sich Gasperlmaier, sich selbst verteidigend, und die Worte flossen von seinen Lippen, wie es ihm nur selten gelang. „Und ich hab eine ganze Menge erfahren, unter anderem das mit dem Boot!“ Die Frau Doktor gab sich unbeeindruckt. „Ich höre, Gasperlmaier!“ „Ja, die Natalie, die ist ein ziemliches Problemkind, momentan.“ Er hielt es für notwendig, der Frau Doktor die gesamten näheren Umstände des Verhaltens der Natalie näherzubringen, sonst würde sie nicht verstehen. Trotzdem wusste er nicht so recht, wo ansetzen. „Die Natalie, die hat ein Nabelpiercing. Und jetzt will sie auch noch ein Tattoo, weil die Höller Sabrina, ihre Freundin, auch eins hat. Und gestern hat sie sogar eine solche Unterhose angehabt, nur mit einem Schnürl durch …“ Gasperlmaier unterbrach sich abrupt, als er der Frau Doktor in die Augen blickte. Als ob plötzlich düstere Gewitterwolken drohend über den Altausseer See zogen, so finster war ihr Blick. „Warum erzählen Sie mir nicht gleich von Ihrer ganzen Familie, wer welche Unterwäsche trägt? Und wer wie oft die Socken wechselt? Kommen Sie zum Wesentlichen!“ Gasperlmaier blickte direkt in den nunmehr wohlbekannten Zeigefinger der Frau Doktor, dahinter, schon etwas unscharf, weil er auf den Zeigefinger fokussierte, ihre hochgezogenen Augenbrauen. Gasperlmaier fiel auf, dass die Nägel der Frau Doktor sehr lang und sehr sorgfältig abgerundet waren. Sehr gepflegt, insgesamt. Die Frau Doktor aber war dem Gasperlmaier mit dem Zeigefinger so nahe gekommen, dass er in seiner beginnenden Alterssichtigkeit diesen nicht einmal mehr gänzlich scharf, sondern nur noch leicht verschwommen wahrnahm. Er fühlte sich plötzlich völlig unfähig, das Wesentliche am Gespräch mit der Natalie vom Unwesentlichen zu scheiden, und wusste nicht weiter. Zaghaft begann er: „Sie hat was mit den Naglreiters zu tun gehabt?“ Die Frau Doktor vollführte eine ungeduldige Handbewegung. „Weiter, weiter!“ Gasperlmaier fühlte sich ein wenig gestärkt, rückte wieder nach vor, da sich der Zeigefinger der Frau Doktor in ihre verschränkten Arme zurückgezogen hatte. Dennoch entging ihm nicht, dass sie ungeduldig mit dem rechten Fuß wippte, den sie über den linken geschlagen hatte. Schade, dachte Gasperlmaier, davon neuerlich abgelenkt. Der Rock und die Schuhe von gestern waren doch viel ansehnlicher gewesen als die plumpen Sporttreter und die ausgebleichten Jeans.

„Also“, begann er neuerlich, „die Natalie hat was mit dem Stefan gehabt. Die sind ein paarmal Boot gefahren, hat sie gesagt. Und der Stefan hat gesagt, dass er sie liebt und dass sie mit ihm nach Wien kommen kann. Weil hier in Altaussee doch alle so rückständig und ihre Eltern überhaupt das Letzte sind. Meint die Natalie. Und sie hat auch angedeutet, die Natalie, dass sie schon mit dem Stefan …“ Gasperlmaier konnte nicht so einfach in die frische, warme Luft des Gastgartens vom Jagdhaus hineinsagen, dass die Natalie mit dem Stefan geschlafen hatte. Die Frau Doktor hatte es aber auch so verstanden. Der Kahlß Friedrich bekam große Augen, fast schienen sie ihm aus den Höhlen herauszuquellen. Gasperlmaier und die Frau Doktor riss es förmlich von ihren Sesseln, als der Friedrich die Faust krachend auf den Tisch niederfahren ließ. „Ja, der Saubartl, der schlechte, die Sauzechn, die geile, der Bazi, der schlechte, der Wiener!“ Fast schien es Gasperlmaier, als habe der Friedrich hier eine Art Steigerung seiner Beschimpfung vorgenommen, mit dem „Wiener“ als Kulminationspunkt sozusagen, der weit über dem Saubartl, aber auch noch über der geilen Sauzechn stand. „Hat der meine Nichte verführt, die Drecksau, die räudige! Und ist doch erst sechzehn Jahre alt!“ Puterrot angelaufen war der Friedrich, sodass sich der Gasperlmaier sorgte, er möchte am Ende hier auf der Seewiese einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erleiden. Unmöglich schien das dem Gasperlmaier nicht, bei der Leibesfülle des Friedrich. Andererseits, dachte Gasperlmaier bei sich, gab es einen schöneren Ort, dem Leben Ade zu sagen, als die Seewiese am Altausseer See? Gab es eine schönere Aussicht für die letzte Aussicht, einen höheren Genuss als diesen für das brechende Auge?

Die Frau Doktor indessen versuchte das Schlimmste zu verhindern, indem sie den Friedrich beruhigte. „Herr Kahlß, bitte! Nehmen Sie’s nicht so schwer!“ Zu Gasperlmaier gewandt fuhr sie fort: „Sie hat Ihnen doch nicht etwa erzählt, dass er ihr Gewalt angetan hat?“ Gasperlmaier zuckte mit den Schultern. „Direkt eigentlich nicht, es war nur so, dass sie plötzlich gar nichts mehr gesagt hat, als ich auf das Thema gekommen bin, und da musste ich halt, da habe ich die Schlussfolgerung …“ Wiederum ließ Gasperlmaier das Ende eines seiner Sätze haltlos in der Luft hängen. Die Christine hatte ihn schon zahllose Male darauf aufmerksam gemacht, dass das eine unerträgliche Unart von ihm war, und mit ihm sogar schon trainiert, wie Sätze, die einmal begonnen waren, auch zu Ende geführt werden konnten. Sehr viel hatte Gasperlmaier bei den Trainings nicht dazugelernt, vor allem, wenn er in Stresssituationen geriet, gelang ihm das mit dem Zu-Ende-Sprechen seiner Sätze nur selten. „Und was, bitte, ist eine Sauzechn?“, flüsterte die Frau Doktor dem Gasperlmaier ins Ohr. Der war ratlos. Zwar wusste er, dass damit die Zehe einer Sau gemeint war, die nähere Bedeutung dieses auch hierzulande eher unüblichen Schimpfwortes war ihm aber unbekannt. Eingedenk der Vermutung, der Kahlß Friedrich habe die Beleidigungen langsam gesteigert, entschloss er sich zu einer Einschätzung. „Was Schlimmeres als ein Saubartl“, beschied er der Frau Doktor, die daraufhin auf weitere Nachfragen verzichtete.

„Harr Kahlß, die jungen Leute heute, die warten mit dem Sex nicht so lange wie wir …“, mit einem Blick auf die beiden Männer korrigierte sie sich, „wie ihr früher. Die probieren halt gern einmal etwas aus, ich glaube nicht, dass Ihrer Nichte – in dieser Beziehung – etwas besonders Schlimmes wiederfahren ist. Den Stefan Naglreiter, so wenig sympathisch er mir auch anlässlich unserer einzigen Begegnung gewesen ist, den sehe ich einfach nicht als Vergewaltiger, das kann ich mir nicht vorstellen.“ Gasperlmaier meinte zu bemerken, dass der Friedrich wieder etwas ruhiger atmete und seine Augen wieder auf dem Weg zurück in die ihnen angestammten Höhlen waren.

„Wenn ich kurz einmal stören darf?“ Der Doktor Kapaun war, ohne dass es einer von ihnen gemerkt hatte, von hinten an die Frau Doktor herangetreten und hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt. Die Frau Doktor stand auf, wohl um die Hand des Doktor Kapaun loszuwerden, dachte Gasperlmaier, denn ihre Augenbrauen waren schon wieder so hoch oben, dass der Gasperlmaier alle Schattierungen ihres Lidschattens, von goldbraun bis kupferfarben, überdeutlich wahrnehmen konnte. „Wenn ich mich kurz zu Ihnen setzen darf?“ Die Frau Doktor wies auf einen der freien Klappstühle, den der Doktor Kapaun etwas umständlich an den Tisch heranmanövrierte. Danach stellte er sich vor den Sessel und fasste mit der Hand zwischen seinen Beinen hindurch, um den Stuhl in die rechte Position für seine Hinterbacken zu bringen. Etwas ordinär wirkte diese Geste, fand Gasperlmaier, man musste sich ja nicht unbedingt an den Schritt fassen, um sich im Gastgarten hinzusetzen.

„Darf’s noch was sein?“ Der Paul war an den Tisch gekommen. Die Frau Doktor bestellte einen Kaffee, worauf er fragte: „Die Herren auch einen großen Braunen?“ Gasperlmaier und der Kahlß Friedrich nickten ergeben, der Doktor Kapaun aber bestellte sich ein Bier, was den Gasperlmaier kurz, aber heftig zusammenzucken ließ. Fast fürchtete Gasperlmaier, er würde nie mehr ein Bier bestellen können, ohne an seine Erniedrigung durch die Boulevardpresse denken zu können. Fürchterliche Aussichten waren das, die einem das ganze zukünftige Leben schal und freudlos erscheinen ließen.

„Nach einer schönen Leich’ hab ich immer einen Gusto auf ein Bier!“, rief der Doktor Kapaun gut gelaunt. Die Frau Doktor blieb ebenso still wie die beiden Polizisten. Seltsam, dachte Gasperlmaier, wie kann ein Mensch nur so unsensibel sein wie dieser Doktor Kapaun, er musste doch merken, dass er und seine aufgesetzte gute Laune hier fehl am Platz waren, dennoch fuhr er anscheinend völlig ungestört fort zu grinsen, sich die Hände zu reiben und Belanglosigkeiten über das wunderbare Wetter in die Luft über der Seewiese abzusondern. „Herr Doktor Kapaun, wenn Sie mir bitte über Ihre Untersuchungen etwas mitteilen könnten?“ Die Stimme der Frau Doktor, fand Gasperlmaier, war schneidend, eisig. Der Doktor Kapaun schien es nicht zu merken, oder er ignorierte es bewusst. „Schädel eingeschlagen. Wahrscheinlich mehrfache Brüche. Os parietale, Os temporale. Mit Gehirnaustritt.“ Bei der Erwähnung des Gehirnaustritts sah Gasperlmaier Bilder vor seinem inneren Auge, die ihn denken ließen, es wäre besser gewesen, er hätte sich einen Schnaps bestellt. Vielleicht konnte er später, beim Paul in der Küche, noch schnell einen trinken. Keine Ahnung hatte Gasperlmaier natürlich, von welchen „Os“ der Doktor sprach, die Frau Doktor aber fragte nicht nach, und so ließ es auch Gasperlmaier bleiben. Offenbar musste man als Kriminalbeamtin wissen, was das für Körperteile waren. „Stumpfer Gegenstand, wahrscheinlich ein Stein, der hier herumgelegen ist. Habt’s ihn schon gefunden?“ Die Frau Doktor blieb einsilbig. „Wir haben mehrere Steinbrocken mit Blutspuren gefunden und gesichert, ja.“ „Na dann“, fügte Doktor Kapaun hinzu. „Ich stelle mir vor, dass ein Linkshänder von vorne zugeschlagen hat. Oder ein Rechtshänder von hinten. Auf jeden Fall jemand, den er nahe an sich herangelassen hat. Möglicherweise sogar im Liegen, der Täter muss dann auf ihm – oder unter ihm – gelegen haben. Vielleicht“, Doktor Kapaun kicherte und schlug sich auf den Oberschenkel, „hat ihm ja eine das Lichterl ausgeblasen, anstatt ihm einen zu blasen!“ Die Miene der Frau Doktor blieb steinern, während der Doktor Kapaun Gasperlmaier und dem Kahlß Friedrich verschwörerisch zuzwinkerte. Gasperlmaier reagierte nicht, er hatte mit Humor, der mit dem Holzhammer vorgetragen wurde, noch nie viel Freude gehabt. Der Friedrich entließ, wie aus lauter Freundlichkeit, ein paar Seufzer, die notfalls als Lacher durchgehen konnten. „Sonst noch was?“, fragte die Frau Doktor. Der Arzt zuckte mit den Schultern. „Übrigens, Frau Doktor, kennen Sie den? Ein Mann fährt bei Rot über die Kreuzung und wird von einer jungen, hübschen Politesse aufgehalten …“ Die Frau Doktor unterbrach ihn. „Herzlichen Dank für Ihre Mühe. Ich bin mir sicher, dass Sie dringend wieder an Ihren Arbeitsplatz zurückmüssen. Wir erwarten Ihren Bericht. Und, übrigens, es gibt keine Politessen. Nur Polizistinnen.“ Sie stand mit einem Ruck auf, sodass ihr Stuhl nach hinten kippte. „Auf Wiedersehen!“ Ohne ihm die Hand zum Gruß anzubieten, wandte sie sich ab und ging ein paar hastige Schritte in Richtung Seeufer. „Was hat sie denn? Überarbeitet? Stress in der Beziehung?“ Immer noch schaffte es der Doktor Kapaun, sein dämliches Grinsen stabil zu halten. Weder Gasperlmaier noch der Kahlß Friedrich mochten ihm antworten, doch ohne dass Gasperlmaier danach gesucht hätte, fand er schlagartig die richtigen Worte: „Darf ich Sie zu Ihrem Wagen begleiten, Herr Doktor, oder finden Sie selber hin?“ Der Kahlß Friedrich hielt sich die Hand vor den Mund und begann zu prusten. „Frechheit!“, ließ sich der Herr Doktor vernehmen, dem jetzt doch das Gesicht eingefallen war. Er nahm seinen Koffer und entfernte sich.

Gasperlmaier, überrascht von seiner eigenen Schlagfertigkeit, trat zu Frau Doktor Kohlross. „Er ist schon weg!“, versuchte er sie zu beruhigen. „So ein Aff, ein blöder! Ich werd’ mich über ihn beschweren. Und dafür sorgen, dass ich nie mehr mit ihm zu tun habe!“ Die Frau Doktor hatte sich, wie schon einmal in einem besonders belastenden Moment, eine Zigarette angezündet. „Nehmen Sie’s nicht so schwer!“, nahm Gasperlmaier zu einer Floskel Zuflucht. Die Frau Doktor lächelte und Gasperlmaier schien es, als begänne er schön langsam den richtigen Ton im Umgang mit ihr zu finden. Jedenfalls, so dachte er bei sich, war jetzt eindeutig der Mediziner der gewesen, der sich danebenbenommen hatte. Und Gasperlmaier hatte ihm sogar etwas voraus: Während er sich sicher war, dass der Doktor Kapaun seine eigene Peinlichkeit nicht einmal wahrnahm, war sich Gasperlmaier der seinen immer öfter schmerzhaft bewusst.

Die Frau Doktor warf ihre Zigarette weg, ohne sie auszudämpfen, und setzte sich wieder an den Tisch. Gasperlmaier bohrte den rauchenden Rest mit dem Absatz in die sumpfige Erde. Erst dann folgte er ihr.

Sie legte beide Hände auf die Tischplatte, als der Paul mit dem Bier für den Doktor Kapaun über die Stufen herunterkam. „Wo ist er denn?“, fragte er Gasperlmaier, der ihm gestikulierend darlegte, dass der Doktor Kapaun bereits gegangen war. „Und wer zahlt jetzt?“ „Gib’s halt her.“ Der Wiederstand des Kahlß Friedrich war gebrochen. Er nahm dem Paul das Bierglas aus der Hand, wandte sich um, um zu sehen, wo die Presseleute sich aufhielten, sah sie in sicherem Abstand, setzte die Halbe an und trank sie in einem langen, tiefen Zug aus. Stöhnend reichte er dem Paul das leere Glas, während ihn die Frau Doktor mit großen Augen fast ein wenig bewundernd ansah. „So!“, sagte der Friedrich, „Weiter!“

„Also!“, konzentrierte sich die Frau Doktor. „Frau Naglreiter tot. Aus dem Boot gekippt. Doktor Naglreiter auf dem Kirtag, betrunken, allein im Dunkeln, jemand kommt ihm sehr nahe, stößt ihm ein Messer in den Bauch. Vielleicht sogar sein Messer, muss also nicht sein, dass der Täter – oder die Täterin – ein eigenes mitgebracht hat. Er hält ihn fest, will sich wehren, spürt das Messer an seinem Oberschenkel, zieht es raus – und zack!“

„Dem Stefan ist anscheinend sein Mörder auch sehr nahe gekommen“, merkte Gasperlmaier an. „Stimmt“, sagte die Frau Doktor. „Und was sagt uns das? Dass es sich um Beziehungstaten handelt. Mafiamörder oder Auftragskiller morden immer aus möglichst großer Distanz, der Spuren wegen, die am Tatort zwangsläufig zurückbleiben. Beide Männer sind also wahrscheinlich einer Beziehungstat zum Opfer gefallen. Bleiben eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Frauen, mit denen sie eine Beziehung gehabt haben, oder deren eifersüchtige Partner, in einem Handgemenge, einer Rauferei oder so. Auch wenn man sich prügelt, kommt man sich näher. An die Frau als Täterin glaube ich nicht: Frauen morden nicht, indem sie jemanden abstechen oder den Schädel einschlagen. Das sieht nach typisch männlicher Gewalt aus.“

„Was uns bisher fehlt, sind die Beziehungen, die zu diesen Taten geführt haben könnten“, fuhr die Frau Doktor fort. „Wenn wir jetzt einmal die Frau Naglreiter ausklammern: Vom Senior wissen wir nur, dass er der Evi, Ihrer Schwägerin, und deren Tochter nachgestiegen ist. Mit den beiden müssen wir noch einmal reden. Und beim Junior – wieder die Natalie! Bei ihr, der Frau Naglreiter, da wissen wir vom Gaisrucker Marcel. Ob der aber auch für gestern in Frage kommt, ob er mit der Frau Naglreiter Boot fahren war oder ob es da noch jemanden gibt, das wissen wir nicht. Wir wissen verdammt wenig! Gasperlmaier, Kahlß, was wissen wir noch?“

Nicht gefasst darauf, den Ball zugespielt zu bekommen, blieben die beiden Angesprochenen zunächst stumm.

„Dass wir einen verdächtigen Nachbarn haben, einen Querulanten, der sich mit dem Doktor Naglreiter wegen der Mauer zwischen seinem Grundstück und dem Pool der Naglreiters in die Haare gekriegt hat, das wissen wir“, eröffnete der Kahlß Friedrich. „Und wie der Arzt gekommen ist, habe ich einen Anruf gekriegt. Der Podlucki, der ist kein unbeschriebenes Blatt. Der arbeitet auf dem Finanzamt und er hat schon einmal ein Disziplinarverfahren aufgebrummt bekommen, weil er eine Waffe in seinem Schreibtisch gehabt hat und Parteien, die zu ihm ins Amt gekommen sind, bedroht hat. Eine Reihe von Prozessen hat er laufen, gegen mehrere Nachbarn, dort, wo er früher gewohnt hat, hat er eine Nachbarin mit der Waffe bedroht, weil sie ein Gangfenster aufgemacht hat und ihn der Luftzug gestört hat. Der ist einer, von dem man sagen könnte, da wartet man nur darauf, dass einmal etwas passiert.“

Die Frau Doktor zog die Mundwinkel nach oben. „Schon. Aber bestellt der dann seinen Nachbarn, mit dem er Streit hat, zur Seewiese, rauft dort mit ihm und schlägt ihm den Schädel ein? Kommt mir unwahrscheinlich vor. Ich weiß nicht.“

„Und“, sagte Gasperlmaier, „wir wissen, dass wir das Boot der Naglreiters nach Spuren durchsuchen müssen. „Gasperlmaier!“, erschrak die Frau Doktor, „das habe ich ja ganz vergessen! Sagen Sie mir, wo das ist, ich schick gleich die Tatortmenschen hin!“