13

Seufzend klappte die Frau Doktor Kohlross ihren Laptop auf und nahm mit spitzen Fingern dem Gasperlmaier die Speicherkarte ab, die er ihr hinhielt. „Was glauben Sie, was mir meine Vorgesetzten erzählt haben, als ich den Marcel wieder ins Auto setzen und heimfahren lassen musste. Jetzt heißt es natürlich, ich sei mit der Ermittlung überfordert. Morgen will man mir einen weiteren, erfahrenen Ermittler beistellen. Wissen Sie, was das heißt, Gasperlmaier?“ Der wusste nicht recht, welche Reaktion von ihm erwartet wurde, und wackelte ein wenig unbestimmt mit dem Kopf, ohne sich auf ein Ja oder ein Nein festzulegen. „Das heißt, dass ich einen Chef vor die Nase gesetzt bekomme, einen Besserwisser, und dass ich nicht mehr selbstständig ermitteln kann.“ „So wie ich jetzt?“ Kaum war es heraußen, bereute Gasperlmaier, es gesagt zu haben. Aber was es hieß, ständig jemandem nachzudackeln und keine eigenen Entscheidungen treffen zu können, das wusste er selbst am besten. Die Frau Doktor warf ihm einen resignierten Blick zu. Sie hatte bereits den Ordner mit den Bildern von Christoph geöffnet und suchte nach dem richtigen Bild. Natürlich stolperte sie dabei auch über die Fotos, die Christoph von der Andrea und vor allem von der Eva gemacht hatte. Mehr als ein „Aha!“ ließ sie sich allerdings nicht entlocken. Bald war das Bild der Naglreiter’schen Plätte formatfüllend auf dem Bildschirm zu sehen. Die Frau Doktor vergrößerte, genau so, wie die Christine das getan hatte, die Ansicht, nickte, schüttelte den Kopf und gab verschiedene Laute von sich, die Gasperlmaier einmal als Verwunderung, ein andermal als Geringschätzung zu deuten vermochte.

„Zweifellos!“ Die Frau Doktor lehnte sich zurück, verschränkte ihre Finger ineinander und ließ die Fingerknöchel knacken. „Zwanzig Uhr vierzehn. Herr Doktor Naglreiter und Gemahlin. Hier kann man’s zwar nicht hundertprozentig sagen, aber die Experten bekommen das so hin, dass eine eindeutige Identifizierung möglich sein wird. Einmal über die Kleidung, bei ihm sogar über Haarschnitt und Gesicht. Er ist’s.“ Nach einer Pause fuhr sie fort: „Und wie ist Ihr famoser Herr Sohn an dieses Foto gekommen? Schon geklärt?“ Gasperlmaier wand sich. Die Christine hatte zwar dem Christoph eine halbwegs glaubwürdige Erklärung für das Foto herauslocken können, Gasperlmaier aber war es peinlich, vor dem Kahlß Friedrich und der Frau Doktor erklären zu müssen, was die Andrea und den Christoph ans Seeufer getrieben hatte. Wie sollte er es anstellen, dass wenigstens der Friedrich nicht zuhörte. „Äh, ich weiß, aber …“ Gasperlmaier fuhrwerkte umständlich mit den Händen in der Luft herum und blickte dabei zwischen dem Friedrich und der Frau Doktor hin und her. Die kannte Gasperlmaier inzwischen schon gut genug, um seine Art der Kommunikation eindeutig zu verstehen. „Sie wollen mit mir unter vier Augen darüber reden?“ Unter Erröten nickte Gasperlmaier, und die Frau Doktor bat den Friedrich, für einen Kaffee und ein Glas Mineralwasser zu sorgen. Der erhob sich brummend.

„Also?“ „Also, mein Sohn, der Christoph, und seine Freundin, die Andrea, die haben sozusagen an diesem Abend …“ Gasperlmaier hatte sich in einem nicht zu Ende zu bringenden Satz verfangen und musste neu ansetzen. „Sie kennen sich schon lange, aber nicht so.“ In die entstehende Pause stieß die Frau Doktor hinein. „Sie meinen, an diesem Abend hat es zwischen den beiden gefunkt.“ Gasperlmaier nickte erleichtert. „Und weil sie, ebenso wie wir, Dinge unter vier Augen zu besprechen hatten, sind sie ans Seeufer gegangen?“ Unter neuerlichem Er-röten nickte Gasperlmaier eifrig weiter. „Wieso jetzt, wie wir? Wir sind doch nicht, haben doch nicht …“ Abwehrend streckte Gasperlmaier der Frau Doktor die Handflächen entgegen. Sie musste lächeln. „Nein, Gasperlmaier, so habe ich das nicht gemeint. Obwohl – finden Sie mich so unattraktiv?“ Die Frau Doktor warf ihr Haar zurück und lächelte den Gasperlmaier schamlos an, der völlig verwirrt dämlich zurückgrinste und bei sich dachte, dass er noch ein paar Minuten brauchen würde, um zu entscheiden, wie die Frau Doktor das jetzt gemeint hatte. Gleichzeitig war ihm klar, dass er während dieser Bedenkzeit nicht wortlos und blöde grinsend dasitzen konnte. Die Frau Doktor erlöste ihn aus seiner üblen Lage. „Nur eines verstehe ich nicht: Wie kommt Ihr Sohn dazu, dass er Fotos macht, während er mit seiner Freundin herumknutscht?“ Gasperlmaier bewegte sich nun auf sicherem Grund und merkte, wie seine heißen Ohren langsam abzukühlen begannen. „Er sagt, die Andrea hat die Plätte zuerst gesehen. Und sie hat die Kamera genommen und ein Foto gemacht, weil sie gemeint hat, das sei romantisch, in der Abenddämmerung zu zweit auf dem See herumzufahren, und der Christoph sollte mit ihr so was auch machen. Und damit er nicht darauf vergisst, hat sie gesagt, hält sie das gleich fest. Zu unserem Glück.“

Die Frau Doktor nickte und drückte einen kleinen Knopf an der Vorderseite des Computers, sodass die Speicherkarte heraussprang. „Die werden wir behalten müssen, zumindest vorläufig. Ich hab mir zwar eine Kopie des Fotos gespeichert, aber sicher ist sicher. Sagen Sie das Ihrem Sohn?“ Gasperlmaier hatte ihr gar nicht richtig zugehört, denn als er die fingernagelgroße blaue Karte in den Händen der Frau Doktor sah, erinnerte er sich an etwas: „Sagen Sie, Frau Doktor, was war denn eigentlich auf der Karte drauf, die wir im Schlafzimmer vom Doktor Naglreiter gefunden haben? Die hat genau so ausgeschaut!“

Die Frau Doktor saß da wie vom Donner gerührt. „Vergessen!“, hauchte sie dem Gasperlmaier zu, während der Kahlß Friedrich gerade wieder hereinpolterte und das Wasser und den Kaffee vor sie hinstellte, der dabei natürlich überschwappte, weil der Friedrich kein sehr geschickter Kellner war, was bei der Größe seiner Gliedmaßen selbst bei hinreichender Übung unmöglich gewesen wäre. „Andererseits, wann eigentlich hätte ich Zeit gehabt, mir die Fotos anzuschauen?“ Die Frau Doktor schnappte sich einen Aktenordner, der am Rand ihres Schreibtisches lag. „Da müsste ich sie hineingetan haben.“ Nach kurzem Blättern schob sie erneut eine Speicherkarte in den Schlitz an ihrem Computer.

Als die Frau Doktor die Miniaturansicht der Fotos auf der Naglreiter’schen Speicherkarte geöffnet hatte, bekam der Gasperlmaier große Augen. Erstens, weil er seine Lesebrille vergessen hatte und auf den Fotos außer offenbar viel nackter Haut nichts erkennen konnte, zweitens, weil die Frau Doktor kräftig durch die Zähne pfiff. „Schau, schau!“, sagte sie. „Der Herr Rechtsanwalt. Da hat er allerdings gute Gründe gehabt, die Speicherkarte gut zu verstecken!“ Gasperlmaiers Augen tränten, trotz aller Anstrengung konnte er nur verschwommene Umrisse auf den Fotos wahrnehmen – bis die Frau Doktor das erste Foto anklickte und es bildschirmfüllend auf dem Display ihres Laptops erschien. Gasperlmaier trat einen Schritt zurück und erkannte eine blonde Frau in schwarzroter Unterwäsche, die auf einem Bett kniete, aber mehr auch nicht. So, dachte Gasperlmaier, hatte das ermittlungstechnisch absolut keinen Sinn. Er ging zu seinem Schreibtisch, kramte in den Laden, durchsuchte seine speckige Aktentasche, die er seit Jahren schon nirgendwohin mehr mitnahm, und fand darin eine goldgefasste Lesebrille, die er einst in einem Fotogeschäft erstanden hatte. Leider fehlte der Brille ein Glas, aber mehr war momentan offenbar nicht zu haben. Gasperlmaier setzte sich neben die Frau Doktor, froh um die Gegenwart des Kahlß Friedrich, der ihnen stoisch und schwer atmend gegenübersaß und sich offenbar nicht einmal peripher für die von Doktor Naglreiter so sorgsam verborgenen Fotos interessierte. So ganz allein mit der Frau Doktor, dachte Gasperlmaier, wäre ihm beim Betrachten offensichtlich erotischer Fotos nicht ganz wohl gewesen.

Die Frau Doktor hatte inzwischen, ohne Rücksicht auf das Interesse Gasperlmaiers, ein wenig weitergeklickt. Nicht viel Neues gab es zu sehen, außer, dass sich die Frau einmal von der einen Seite, einmal von der anderen hatte fotografieren lassen. „Die Frau Naglreiter“, bemerkte die Frau Doktor ausdruckslos. „In Reizwäsche. Dabei sind wir ja davon ausgegangen, dass die beiden ihre erotischen Interessen nur mehr außerehelich verfolgt hatten.“ Gasperlmaier versuchte es einmal mit beiden Augen, ein andermal, indem er das Auge ohne Brillenglas mit der Handfläche zuhielt, konnte sich aber nicht entscheiden, was die besseren Ergebnisse brachte, was die Schärfe der Bilder anlangte. Scharf, dachte Gasperlmaier bei sich, waren die Bilder auf jeden Fall. Die Frau Doktor klickte weiter, und Gasperlmaier konnte nicht umhin wahrzunehmen, dass die Frau Naglreiter sich nach und nach selbst der wenigen Kleidungsstücke entledigte, die sie auf den ersten Fotos noch getragen hatte. „Gasperlmaier, Sie wissen schon, dass das hier streng vertraulich ist, keinesfalls an irgendjemanden außerhalb dieses Büros weitergegeben oder weitererzählt werden darf?“ Gasperlmaier fragte sich, warum die Frau Doktor diese Erklärung für notwendig hielt. Ob sie am Ende Zweifel an seiner professionellen Einstellung zum Beruf des Polizisten hegte? Gasperlmaier beeilte sich, eilfertig zu nicken. Die Frau Doktor klickte weiter. Die Frau Naglreiter war nun vollständig unbekleidet und wand sich in Posen, die weit mehr enthüllten, als Gasperlmaier für nötig hielt. Er ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, derartige Fotos von seiner Christine anzufertigen und anschließend gemeinsam zu betrachten. Ein kurzer Seitenblick verriet ihm, dass die Frau Doktor, die nun immer schneller von einem Foto zum nächsten klickte, sodass die nackte Frau Naglreiter nur mehr schemenhaft an ihnen vorbeizuckte, auch nicht gänzlich unberührt davon geblieben war, was der Doktor Naglreiter da auf digitalen Speicher gepackt hatte, und sanft errötet war. Wieder dem Bildschirm zugewandt, musste Gasperlmaier erkennen, dass das Bildmaterial die Grenze zwischen Erotik und Pornografie überschritten hatte, und er zwang sich zu einem neutralen, völlig distanzierten Beobachten.

Das hätte er sich sparen können, denn plötzlich war die Serie zu Ende und nun waren zwei Frauen zu sehen, die, aus größerer Entfernung aufgenommen, in Badeanzügen an einem Pool lagen. Einige Fotos weiter und einige Ausschnittvergrößerungen später, fand die Frau Doktor wieder zu Worten. „Die im orangen Bikini, das ist seine Tochter, die Judith. Die im weißen Bikini kenne ich nicht. Sie vielleicht, Gasperlmaier?“ Auf einigen Fotos konnte man einen Fensterrahmen sehen, und der Pool war eindeutig der im Garten der Naglreiters. Offenbar waren die Aufnahmen aus einem Zimmer im ersten Stock des Hauses gemacht worden. Warum der Doktor Naglreiter seine eigene Tochter beim Sonnenbaden hätte fotografieren sollen, das war dem Gasperlmaier schleierhaft. Doch die Bilder, das wurde ihm schnell klar, konzentrierten sich immer mehr auf das Mädchen im weißen Bikini, das kleiner und dünner als die Judith war. Als die Frau Doktor ein Foto fand, auf dem die Mädchen auf dem Rücken am Rand des Pools lagen, zoomte sie das Gesicht der Kleineren näher heran. Sie hatte dunkles Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war. „Das ist doch!“, entfuhr es Gasperlmaier, doch bevor er seiner Vermutung Ausdruck verleihen konnte, dass das die Natalie, die Nichte des Kahlß Friedrich, war, hielt er sich gerade noch zurück. Ob es klug war, die Natalie da hineinzuziehen? Mit den Morden konnte sie ja wohl kaum etwas zu tun haben. „Was jetzt, Gasperlmaier?“, fuhr ihn die Frau Doktor an, dass er zusammenzuckte. „Kennen Sie die? Oder haben Sie einen Verdacht, wer es sein könnte?“ Gasperlmaier war klar, dass ein Zurückhalten seines Wissens nur unnötige Verzögerungen und am Ende neue Peinlichkeiten bedeuten konnte. „Die Natalie ist das, die Tochter von der Evi.“ Wie von der Tarantel gestochen sprang der Kahlß Friedrich auf, umrundete den Schreibtisch und drängte sich, so gut das bei seiner Leibesfülle eben ging, zwischen die Frau Doktor und Gasperlmaier. „Was hat der Sauhund mit der Natalie gemacht? Ich bring den um!“ „Herr Kahlß, Sie vergessen – er ist schon tot!“, konnte sich die Frau Doktor nicht verkneifen.

Immer mehr Fotos förderte die Frau Doktor zutage, und es wurde schnell klar, dass der Doktor Naglreiter versucht hatte, die Natalie möglichst oft und möglichst im Detail aufzunehmen. Dass es einen Fotoapparat gab, dachte Gasperlmaier bei sich, mit dem man aus solcher Entfernung und so scharf Großaufnahmen machen konnte! Gasperlmaier sah das Gesicht der Natalie bildschirmfüllend, mit einer großen, dunklen Sonnenbrille über den Augen. Der Doktor hatte akribisch genau ihren Hintern, ihren Busen, der, wie Gasperlmaier aufatmend feststellte, vom Bikini bedeckt blieb, ihren Bauch und ihre Beine abgelichtet. Der Kahlß Friedrich schnaubte vor Wut und murmelte Verwünschungen vor sich hin.

„Herr Kahlß, wenn Sie’s nicht vertragen, dann setzen Sie sich wieder hin!“ Die Frau Doktor schien ein wenig genervt vom heißen Atem und der enormen Präsenz des Kahlß’schen Körpers hinter ihrem Bürostuhl. Sie ließ die Fotos vom Bildschirm verschwinden und sah den Friedrich herausfordernd über ihre Schulter an. Zu Gasperlmaiers Überraschung gehorchte er brummend und setzte sich wieder auf den Stuhl, den er zuvor ausgefüllt hatte.

Um den Friedrich nicht noch mehr aufzuregen, verzichtete die Frau Doktor darauf, die weiteren Fotos zu kommentieren. Als allerdings überraschend der Stefan Naglreiter auf der Bildfläche erschien, konnte sich Gasperlmaier ein erstauntes Ächzen nicht verkneifen, worauf der Friedrich sofort wieder hinter ihnen stand. Die Frau Doktor ließ den Bildschirm schwarz werden. „Also so geht das nicht, meine Herren! Ich kann ja Ihre persönliche Betroffenheit verstehen, aber …“ Diesmal ließ sie einen Satz unvollendet.

Beide, Gasperlmeier und der Kahlß Friedrich, wurden auf die andere Seite des Schreitischs verbannt und mussten ebenso schweigend wie gebannt dabei zusehen, wie die Frau Doktor, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen, durch die restlichen Fotos klickte. Dann klappte sie den Laptop zu.

„So, meine Herren. Was haben wir hier? Erotische Fotos aus dem Naglreiter’schen Schlafzimmer, aufgenommen vor ein paar Wochen. Nicht direkt relevant für unsere Ermittlungen. Dennoch beweisen sie eines: Der Doktor Naglreiter könnte durchaus so eifersüchtig gewesen sein, dass er über die außerehelichen Eskapaden seiner Gemahlin in Rage geraten ist, dass er sie erschlagen hat. Darüber hinaus – wie Sie vielleicht wissen – ist bei vielen Männern ein Besitzdenken ihren Frauen gegenüber derart ausgeprägt, dass sie sich selbst dann wie Steinzeitmenschen aufführen, wenn ihnen jemand die Frau wegschnappt, die sie ohnehin schon seit Jahren zum Teufel wünschen.“ Gasperlmaier wechselte einen kurzen Blick mit dem Friedrich, der jedoch völlig teilnahmslos schien. „Was genau in dem Boot vorgefallen ist, werden wir nie erfahren – beide Beteiligten sind tot. Ich denke, die Ermittlungen sollten sich auf den dritten Mord konzentrieren. Und da spielen mehrere Personen eine wesentliche Rolle – Stefan Naglreiter, der, wie wir auf den Fotos sehen, eine Beziehung, welcher Art auch immer, zur Natalie …“ Der Kahlß Friedrich fuhr auf, die Frau Doktor streckte ihm beschwichtigend ihre Hände entgegen. „Nein, nein, Kahlß, auf den Fotos sieht man nur, wie er sie umarmt und küsst und wie sie beim Schwimmen ein wenig miteinander herumblödeln. Alles ganz harmlos. Außer, dass der Stefan Naglreiter jetzt auch tot ist. Am Leben sind in diesem ganzen Beziehungsgeflecht nur mehr die Natalie, die Judith und der Marcel Gaisrucker. Sofern wir nicht jemanden übersehen haben, zu dem eines der Mordopfer zusätzlich eine Beziehung, welcher Art auch immer, unterhalten hat.“ Die Frau Doktor stützte den Kopf in die Hände und starrte die Schreibtischplatte an. Wohl, um sich besser konzentrieren zu können, wie Gasperlmaier bei sich dachte. Der Kahlß Friedrich allerdings störte sie dabei. „Und der Herr Podlucki, der angeblich den Stefan Naglreiter gefunden hat? Genauso gut hätte er ihn und seinen Vater umbringen können, der ist eine Zeitbombe, sage ich Ihnen. Und dann die Ines, die Freundin von dem Gaisrucker. Vielleicht war sie eifersüchtig? Und wer weiß, mit wie vielen Männern die Naglreiter sonst noch im Bett war? Und er? Wie viele Weiber hat der angebraten? Vielleicht waren sie ja sogar in einem Swingerclub! Oder die Russen?“

Gasperlmaier beschlich der Verdacht, dass sich der Kahlß Friedrich so in Eifer redete, weil er die Frau Doktor davon ablenken wollte, sich allzu sehr mit der Natalie zu beschäftigen. Aber auch Gasperlmaier machte der Gedanke Magenschmerzen, dass die Natalie und die Evi, die Schwägerin des Kahlß, irgendwie in die Affäre verwickelt sein könnten. Wenn doch, dachte Gasperlmaier, die Pubertierenden an der kurzen Leine gehalten würden, wenn man sie einfach zu Hause behielte und überhaupt nicht fortlassen würde, bis sie Vernunft angenommen hatten, dann wäre das alles viel einfacher, und sie müssten sich jetzt keine Gedanken um das Schicksal der Natalie machen.

Inzwischen war es Abend geworden, was Gasperlmaier nicht nur daran merkte, dass die bereits tief stehende Sonne zum Fenster hereinschien, sondern auch daran, dass sein Magen, wenn auch nicht hörbar, so doch deutlich spürbar Knurrgeräusche von sich gab. „Vielleicht“, wagte Gasperlmaier vorzuschlagen, „besorgen wir uns jetzt etwas zu essen.“ Der Kahlß Friedrich erhob sich, trotz seiner Sorge um die Natalie und seine Schwägerin, sogleich und nickte zustimmend. „Keine Chance, meine Herren.“ Die Frau Doktor schob ihren Laptop in eine schwarze Tasche und zog deren Reißverschluss zu. „Wir besuchen jetzt die Judith Naglreiter. Ich hoffe, sie kann uns zu den Fotos einiges erklären. Wir müssen unbedingt mehr über die Persönlichkeit des Naglreiter, über seinen Hintergrund herausfinden, dazu war bis jetzt ja keine Zeit.“

Gasperlmaier warf dem Kahlß Friedrich einen gequälten Blick zu, der jedoch zuckte nur mit den Schultern. Wie Gasperlmaier wusste, konnte der Friedrich zwar Unmengen von Essen in kurzer Zeit in sich hineinstopfen, jedoch ebenso gelassen die eine oder andere Mahlzeit ausfallen lassen, um bei der darauffolgenden umso kräftiger zuzulangen. Gasperlmaier jedoch wusste, dass ihm ein einmal nagendes Hungergefühl gründlich das Wohlbefinden verdarb. Dennoch trottete er gehorsam hinter der Frau Doktor her, ohne dass ihm eine zündende Idee gekommen wäre, wo er auf dem Weg zum Haus der Naglreiters ohne Zeit- oder Gesichtsverlust Nahrungsmittel würde auftreiben können. Mit sehnsüchtigen Blicken, jedoch ohne sich zu äußern, ließ er ein Wirtshaus um das andere am Autofenster vorbeigleiten, ebenso den Lebensmittelmarkt.

Vor dem Haus der Naglreiters parkte ein Auto des Roten Kreuzes, und auf das Klingeln der Frau Doktor öffnete eine Frau mittleren Alters in Rotkreuz-Kleidung, die der Frau Doktor und den beiden Polizisten die Hände schüttelte und sich als Birgit Schwarz vorstellte. „Ich bin von der Krisenintervention. Wie es ausschaut, bleibe ich noch länger hier.“ „Wie geht es der Judith?“, fragte die Frau Doktor, noch bevor sie das Haus betraten. „Den Umständen entsprechend“, antwortete die Frau Schwarz. Gasperlmaier hasste diese Formel. Was sollte das eigentlich heißen? Dass man sich selber überlegen sollte, welcher Zustand nach den Ereignissen, die der Judith widerfahren waren, für diese angemessen und normal war? Gasperlmaier war die Frau Schwarz sofort unsympathisch, auch weil sie so ein sauertöpfisches Gesicht mit von den Mundwinkeln nach unten verlaufenden Furchen hatte, das ihm verriet, dass sie eine schwere Raucherin sein musste, die wenig lachte. Das Gesicht, dachte Gasperlmaier bei sich, das ist auch den Umständen entsprechend. Und das sind keine angenehmen. Gasperlmaier hoffte nur, dass seine Familie niemals von einer Katastrophe heimgesucht werden würde, allein schon, um sich den Besuch der Frau Schwarz bei ihm zu Hause zu ersparen.

Die Frau Schwarz führte sie ins Wohnzimmer, wo die Judith auf einem Ledersofa lag, den ganzen Körper, obwohl es warm im Raum war, in eine Decke gewickelt. Lediglich Kopf, Schultern und Arme ragten daraus hervor. In der rechten Hand hielt sie eine Fernbedienung, und sie war gerade dabei, sich durch die Kanäle zu zappen, wie Gasperlmaier mit einem raschen Blick auf den Fernseher feststellte, ließ sich dabei von den Eintretenden aber in keiner Weise stören. Sie machte einen geistesabwesenden Eindruck und sah verheult aus, fand Gasperlmaier. Der Fernseher, das war ihm sofort aufgefallen, war ein wahres Prachtstück. Ein so riesiger Bildschirm hätte in Gasperlmaiers Stube zu Hause gar nicht Platz gehabt, ganz abgesehen davon, dass man sich gar nicht weit genug entfernt hätte hinsetzen können, um mit einem Blick den gesamten Bildschirm zu erfassen.

„Guten Abend“, eröffnete die Frau Doktor das Gespräch. Niemand machte Anstalten, ihnen einen Platz anzubieten, worauf die Frau Doktor sich einfach auf das zweite Sofa setzte und Gasperlmaier und dem Friedrich bedeutete, es ihr gleichzutun. Die Frau Schwarz setzte sich auf einen Designerstuhl neben dem Sofa, der, wie Gasperlmaier bei sich dachte, unglaublich hässlich war und ebenso ungemütlich sein musste. Ein wenig sah er aus wie ein Pokal, nur dass der obere Teil eher flach und halbkugelig ausgefallen war und eine weiße Polsterung besaß. Probleme mit dem Rücken konnte die Frau Schwarz nicht haben, wenn sie mit diesem Sitzmöbel zurechtkam. Die Judith Naglreiter kümmerte sich nicht im mindesten um den Besuch, sondern widmete ihre Aufmerksamkeit nunmehr einer amerikanischen Krankenhausserie, die Gasperlmaier nur deswegen wiedererkannte, weil er sich zu Hause schon oft darüber hatte ärgern müssen, dass seine Kinder mit diesem Schwachsinn den Fernseher im Wohnzimmer blockierten, wenn er gerade Lust darauf hatte, die Füße nach der Arbeit ein bisschen hochzulagern.

Mit einer Sanftheit in der Stimme, die Gasperlmaier der Kettenraucherin niemals zugetraut hätte, sprach Frau Schwarz die Judith an. „Judith“, wisperte sie, und als keine Reaktion erfolgte, nochmals: „Judith!“ Ein kurzes Aufflackern der Augen der Angesprochenen zeigte, dass sie hörte, dass man mit ihr sprach, dennoch warf die Frau Schwarz der Frau Doktor einen vielsagenden Blick zu. Das konnte ja heiter werden, dachte Gasperlmaier, dessen Magen sich nun bereits für alle hörbar zu Wort gemeldet hatte, zumindest mutmaßte Gasperlmaier das aufgrund der Heftigkeit des Grollens.

„Frau Naglreiter, ich muss mit Ihnen sprechen. Würden Sie bitte den Fernseher abschalten?“ Gasperlmaier merkte, dass die Judith trotz ihrer scheinbaren Geistesabwesenheit auf die Aufforderung der Frau Doktor reagierte: Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich von Teilnahmslosigkeit zu Trotz. Für Gasperlmaier völlig überraschend ergriff die Frau Doktor nun die Initiative, beugte sich über die Judith, die gar nicht schnell genug reagieren konnte, nahm ihr die Fernbedienung aus der Hand und ließ den Riesenbildschirm erlöschen. In der eintretenden Stille war nur mehr das zornige Schnauben der Judith Naglreiter zu hören.

„Frau Naglreiter, ich bedauere zutiefst, was Ihnen wiederfahren ist, und, glauben Sie mir, ich kann mir denken, wie Sie sich jetzt fühlen, wo Ihre ganze Welt in Trümmern liegt, wo Sie ihre ganze Familie verloren haben, innerhalb weniger Tage. Aber um all das aufklären zu können, um auch Ihnen darüber Klarheit zu verschaffen, was da passiert ist und wer die Verantwortung trägt, dazu müssen Sie jetzt mit mir reden!“

Die Judith hatte die Frau Doktor zunächst nur entsetzt angestarrt, war aber dann wieder auf ihr Sofa zurückgesunken und in die bereits bekannte Teilnahmslosigkeit verfallen.

„Fragen Sie halt!“, sagte sie plötzlich, mehr zum Fernseher hin als zur Frau Doktor.

„Frau Naglreiter, wir sind leider ziemlich sicher, dass Ihr Vater für den Tod Ihrer Mutter die Verantwortung trägt.“ So neutral, ohne dass irgendein hartes, verschreckendes Wort fiel, dachte Gasperlmaier bei sich, hätte ich ihr niemals beibringen können, dass der Papa die Mama erschlagen hat. Gespannt beobachtete Gasperlmaier die Reaktion der Judith, die jedoch nach wie vor ausdruckslos auf den schwarzen Bildschirm starrte, als verlange das, was darauf zu sehen war, ihre ganze Aufmerksamkeit. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, fragte die Frau Doktor: „Frau Naglreiter, können Sie sich vorstellen, dass Ihr Vater in Stresssituationen Gewalt angewendet hat? Haben Sie jemals beobachtet, dass er gewalttätig geworden ist?“ Die Judith kicherte hysterisch, ohne dass sie den Blick vom Bildschirm abwandte. „Gewalttätig?“, brachte sie zwischen ihren krampfartigen Lachanfällen hervor, „gewalttätig?“ Gasperlmaier begann um die seelische Gesundheit der Judith zu bangen. War das Mädchen am Ende knapp davor durchzudrehen? Ein Wunder wäre es nicht, dachte Gasperlmaier. Einen Moment lang versuchte er sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn innerhalb weniger Tage seine gesamte Familie ausgerottet würde. Schnell schob er den undenkbaren Gedanken wieder zur Seite.

Der Frau Schwarz waren, soweit das überhaupt möglich war, noch tiefere Furchen ins Gesicht gewachsen als vorher. Zu Gasperlmaiers Überraschung griff sie jedoch nicht ein, zog eine Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug hervor, stand auf und ging auf den Balkon. Offenbar, dachte Gasperlmaier, musste sie jetzt in einer ganz persönlichen Krise mittels Nikotin intervenieren. Inzwischen hatte sich die Judith einigermaßen beruhigt und fing mit dem Fernseher zu reden an. „Mein Vater war das größte Arschloch, dem ich in meinem Leben begegnet bin. Und ich bin froh, dass er tot ist. Das Einzige, was ich bedauere, ist, dass ich ihn nicht eigenhändig erwürgt habe.“ Judiths Kopf zuckte während des Redens hektisch in alle Richtungen, sodass Gasperlmaier den Eindruck gewann, dass ihre Worte nur mühsam und unter großen Widerständen den Weg aus ihrem Inneren zu Stimmbändern, Rachen und Lippen fanden. Ein wenig seltsam kam ihm das schon vor, denn er erinnerte sich noch gut daran, was die Judith für ein Theater gemacht hatte, als sie gestern früh mit der ersten Todesnachricht zu ihr und Stefan ins Haus gekommen waren.

„Frau Naglreiter“, hob die Frau Doktor jetzt noch einmal behutsam an, „gab es konkrete Vorfälle? In letzter Zeit? Haben Sie einmal mitbekommen, dass Ihr Vater gegen Ihre Mutter gewalttätig geworden ist?“ Die Judith begann zu schluchzen. „Ja, was glauben Sie denn?“ Endlich sah sie der Frau Doktor einmal direkt ins Gesicht. „Wenn die gestritten haben, da sind die Fetzen geflogen! Ohrfeigen waren da das Mindeste! Der feine Herr Anwalt, der ist sofort ausgerastet, wenn das Geringste gegen seinen Willen gegangen ist! Glauben Sie, der hat mich und den Stefan verschont? Das ist nicht so, dass nur die arbeitslosen Unterschichtler ihre Kinder verprügeln! Da brauchen Sie als Kind nur einmal auf das Designersofa kotzen, und schon fliegen die Fäuste! So einer war mein Vater!“ Judith stützte ihren Kopf in die Hände und begann hemmungslos zu schluchzen. Die Frau Doktor suchte den Blick Gasperlmaiers, der sich aber außerstande sah, mehr als ein Schulterzucken zur Problemlösung beizutragen. Gasperlmaiers Augen irrten ab und fingen die Frau Schwarz ein, die auf dem Balkon gerade einen Zigarettenstummel im Blumenkasten der Naglreiters ausdrückte, in dem die Blüten noch üppig wucherten, wie Gasperlmaier feststellte, während man an manchen Stellen bereits Anzeichen beginnender Trockenheit wahrnehmen konnte. Der Zigarettenstummel, dachte Gasperlmaier, würde auch nicht gerade zum Wohlbefinden der Blumen beitragen. Vielleicht, dachte er, wäre es auch angebracht, dass die Frau Schwarz hinsichtlich der Krise im Blumenkasten intervenieren würde. Um die Judith schien sie sich ja keine großen Sorgen zu machen.

„Frau Naglreiter“, fuhr die Frau Doktor fort, „haben Sie vorgestern irgendetwas bemerkt, was Ihren Vater in Wut hätte bringen können, irgendeine Kleinigkeit, die einen so schweren Konflikt zwischen Ihren Eltern hätte auslösen können, dass Ihr Vater schließlich zu …“, die Frau Doktor stockte und suchte wiederum Gasperlmaiers Blick, „ … dass er zu heftigerer Gewalt als sonst üblich Zuflucht gesucht haben könnte?“ Gasperlmaier bewunderte die Formulierungskunst der Frau Doktor. Dass man zu Gewalt Zuflucht suchen konnte, war dem Gasperlmaier bisher nicht bewusst gewesen. Das klang ja gerade so, als sei der Herr Doktor Naglreiter von irgendwelchen Umständen so sehr in die Enge getrieben worden, dass ihm gar nichts anderes übriggeblieben war, als seiner Ehefrau das Ruder über den Schädel zu ziehen, als sie hilflos im Wasser des Altausseer Sees getrieben war.

Das Schluchzen hatte ein wenig nachgelassen, und die Judith antwortete: „Natürlich haben sie sich gestritten. Wie jeden Tag. Und immer um das Gleiche. Der Papa hat ja keinen Rockzipfel ausgelassen, den er auch nur aus der Ferne gesehen hat. Er ist ja sogar bei mir, natürlich zufällig, immer ins Badezimmer gekommen, sobald ich einen Busen gehabt hab.“ Die Judith warf der Frau Doktor einen Blick zu. „Nein, nicht dass Sie glauben, dass er mich missbraucht hat oder so, er hat einfach immer nur geschaut. Und er war bei diesen Gelegenheiten sogar ausnahmsweise nett zu mir, mir hat es damals gefallen, dass er mich als Frau wahrgenommen hat. Glauben Sie das oder nicht.“

Die Frau Doktor hatte die Augenbrauen ziemlich weit hochgezogen. Das, was die Judith erzählte, galt, wie Gasperlmaier wusste, schon als Grenzfall zur sexuellen Belästigung – beobachten, Türen öffnen und so tun, als habe man sich geirrt, wenn man genau wusste, dass die Tochter dahinter duschte. Gasperlmaier fielen die Fotos ein, die der Doktor Naglreiter von der Judith und der Natalie gemacht hatte. „Und dann ist es natürlich vor allem darum gegangen, dass der Papa ständig der Natalie hinterhergeschnüffelt hat, wenn sie da war, und um die Affären der Mama, die mit jedem Trainer, der sich um sie gekümmert hat, gevögelt hat, wenn er nur halbwegs brauchbar ausgesehen hat. Das Gleiche halt wie jeden Tag.“

Kein Wunder, dachte Gasperlmaier, dass solche Menschen wie die Naglreiters ein gewaltsames Ende finden mussten. Wenn man sich so wenig unter Kontrolle hatte, was sein Sexualleben betraf, dann war es ja geradezu zwangsläufig, dass sich die Konflikte aufeinandertürmten, bis es irgendwann einmal einen Ausbruch geben musste. Dennoch, fragte sich Gasperlmaier, wie war es danach weitergegangen, nachdem der Doktor Naglreiter seine Ehegattin ins kühle Grab geschickt hatte? Es war ja wohl kaum anzunehmen, dass sie ihm vorher den Hirschfänger aus der Lederhose gezogen und ihn damit in den Bauch gestochen hatte, worauf der Doktor Naglreiter seelenruhig ans Ufer gerudert war, sich im Bierzelt niedergelassen hatte und verstorben war. Da mussten ja noch andere hasserfüllte Zeitgenossen herumlaufen, die den Doktor Naglreiter und seinen Sohn auf dem Gewissen hatten.

„Frau Naglreiter“, fragte die Frau Doktor jetzt, nachdem die Judith sich ein wenig beruhigt hatte, aber immer noch das nicht existierende Programm auf dem Fernseher gebannt zu verfolgen schien, „können Sie sich vorstellen, dass Ihr Bruder oder sonst jemand noch vor uns mitbekommen hat, dass Ihr Vater Ihre Mutter getötet hat, und dass er aus Zorn darüber oder aus Rachegefühlen heraus Ihren Vater erstochen hat?“ Erschrocken blickte die Judith auf. Gasperlmaier schrak ebenfalls auf. Hatte die Frau Doktor da eben angedeutet, dass womöglich die Judith oder der Stefan mitbekommen hatten, dass der Vater die Mutter umgebracht hatte, und dass er oder sie daraufhin entsprechend reagiert und den Täter gleich selbst gerichtet hatten?

„Ich hab doch keine Ahnung gehabt!“, flennte die Judith. Die Frau Doktor reichte ihr ein Taschentuch, in das sie sich lautstark schnäuzte. „Sie sind doch selber da gewesen! Gestern in der Früh! Als Sie uns erzählt haben, dass der Papa tot ist! Da haben wir doch noch keine Ahnung gehabt, dass die Mama auch …“ Die Judith wurde von einem neuerlichen Weinkrampf geschüttelt. Polternd öffnete sich die Balkontür und mit der Frau Schwarz breitete sich ein Schwall tabakgeschwängerter Luft im Wohnzimmer aus. „Jetzt lassen S’ doch das arme Mädel in Ruhe!“, krächzte sie. Wenn sie sich aufregte, dachte Gasperlmaier, dann brach doch die zum Gesicht passende Raucherstimme durch. „Sehen Sie denn nicht, dass sie völlig fertig ist? Sie hat bestimmt niemandem etwas getan!“

Die Frau Doktor Kohlross, bemerkte Gasperlmaier, begab sich in Kampfposition, der Kopf und die Arme wanderten nach vor, der ganze Körper war angespannt. „Ich kann sehr wohl beurteilen, ob jemand in der Lage ist, eine Aussage zu machen!“, fauchte sie die Frau Schwarz an, die vorsichtshalber in der Nähe der Balkontür angehalten hatte. „Ich tue nur, was notwendig ist. Ich bin mir durchaus bewusst, dass die Frau Naglreiter hier an der Grenze ihrer Belastungsfähigkeit ist. Aber schließlich geht es gerade darum – herauszufinden, wer für ihren Zustand verantwortlich zu machen ist!“

Die Frau Doktor Kohlross war sicherlich ein wesentlich tröstlicherer Beistand für jemanden in einer schwierigen Situation als die Frau Schwarz, dachte Gasperlmaier, er selbst jedenfalls hätte Trost aus der Hand und dem Mund der Frau Doktor dem der Frau Schwarz bei weitem, bei sehr weitem vorgezogen.

„Frau Naglreiter, ein letzte Frage“, probierte es die Frau Doktor noch einmal. „Gibt es Ihrer Meinung nach die Möglichkeit, dass der Stefan von der Tat Ihres Vaters erfahren hat, und dass er daraufhin die Nerven verloren hat und Ihren Vater …“ Sie ließ den Satz auslaufen. Die Judith blieb ruhig, was Gasperlmaier erstaunte, und zuckte mit den Schultern. „Was weiß denn ich, was der Stefan an dem Abend gemacht hat. Gesoffen hat er, wie der Papa auch, und ich hab ihn ja kaum einmal gesehen. Was weiß denn ich, was Männern so einfällt!“

„Judith, haben Sie selbst einen Freund?“, fragte die Frau Doktor, obwohl sie, wie Gasperlmaier nicht entgangen war, versprochen hatte, sie werde keine weitere Frage mehr stellen. Die Judith nickte. „Daniel heißt er. Studiert in Innsbruck. Ist aber nicht da gewesen, dieses Wochenende. Arbeitet im Landesmuseum, in Innsbruck.“

Ein lauter Donnerschlag ließ den Gasperlmaier aus seinem Sofa auffahren, ebenso den Friedrich, bei dem es ein wenig länger dauerte, bis er aus den Polstern fand. Die Frau Doktor hatte schon ihre Waffe gezogen und war zum Treppenabsatz gelaufen, die Judith unter ihrer Decke verschwunden. Wie wenn jemand heftig gegen eine große Glasscheibe schlägt, ohne sie zu zerbrechen, hatte es geklungen. Die Frau Schwarz zog eine weitere Zigarette aus ihrer Packung und zündete sie an, als ein lautes Krachen und danach ein Klirren ertönten. Nun glaubte Gasperlmaier eindeutig zu erkennen, dass eine Glasscheibe eingeschlagen worden war. Vielleicht war es auch ein Schuss gewesen, der ein Fenster getroffen hatte. Die Frau Doktor bedeutete dem Kahlß Friedrich und ihm, ihre Waffen zu ziehen und ihr zu folgen. Gasperlmaier fingerte nach seiner Dienstpistole. Noch nie hatte er sie benutzt, außer beim Schießtraining. Mit der Waffe in der Hand und einem Finger vor dem Mund wandte er sich zu Frau Schwarz um, um ihr zu bedeuten, keinen Laut von sich zu geben. Dabei richtete er versehentlich den Lauf der Waffe auf die Frau Schwarz, die einen markerschütternden Schrei von sich gab. Auf die aufgeregten Handbewegungen des Gasperlmaier, die er mit der Waffe in der Hand vollführte, und sein energisches „Pscht“ reagierte sie mit einem kurzen Atemholen und weiteren spitzen Schreien. Gasperlmaier wandte sich verzweifelt ab.

Die Frau Doktor und der Kahlß Friedrich waren schon treppab verschwunden. Als Gasperlmaier gerade die oberste Treppenstufe erreichte, hörte er unten einen Schrei, dann ein Poltern und ein Krachen, der Kahlß Friedrich brüllte los, und plötzlich stand auch Gasperlmaier mitten im Geschehen und seinen Augen bot sich ein fürchterlicher Anblick. Die Frau Doktor Kohlross lag hingestreckt, ohne irgendein Lebenszeichen von sich zu geben, mitten in einem Meer von Glasscherben. Ihr Gesicht war Gasperlmaier zugewandt, und zu seinem Schrecken machten sich gerade feine Fäden hellroten Blutes auf ihren Weg vom Haaransatz über die Stirn und die Wangen. Viel Zeit blieb Gasperlmaier allerdings nicht, sich über die Frau Doktor Gedanken zu machen, denn nur ein paar Schritte neben der auf dem Boden Liegenden rang der Kahlß Friedrich mit einer langen, dürren Gestalt und brüllte dabei immer wieder: „Georg! Georg!“ Der Dürre, so erfasste Gasperlmaier, war wendig und schnell, der Kahlß Friedrich dafür stärker. Sekunden vergingen, in denen Gasperlmaier zögerte, ob er dem Kahlß Friedrich beispringen oder sich um die Frau Doktor kümmern sollte. Enthoben wurde er dieser Entscheidung dadurch, dass die beiden Kampfhähne in seine Richtung gerieten und ihn von den Beinen rissen. Außer dass der Gasperlmaier den Friedrich brüllen hörte, hörte er noch, wie sein Kontrahent immer wieder schrie: „Die haben sie zugrunde gerichtet! Die Schweine aus Wien, die ganze Bagage!“ Gasperlmaier geriet in einen Strudel aus Glasscherben, Armen, Beinen, Knien, die ihm ins Gesicht gestoßen wurden, Schreien und Schmerzen. Schließlich saß vor ihm der Georg auf dem Boden, der Bruder des Kahlß Friedrich, der dem Georg in einer gewaltigen Kraftanstrengung die Arme auf den Rücken gedreht haben musste. Während der Friedrich immer noch „Georg! Georg!“ schnaufte, lamentierte der nunmehr Gebändigte immer weiter: „Und jetzt liegt sie nur mehr im Bett und heult! Und die sind schuld! Die Brut, die elende!“ Gasperlmaier kroch auf den Knien zur Frau Doktor hinüber und versuchte gleichzeitig seine Wahrnehmung auf seinen eigenen Körper zu konzentrieren: Konnte er alle Gliedmaßen bewegen? Lief irgendwo das Blut aus ihm heraus? Fühlte er Schmerzen? Seine eigene Schnelldiagnose ergab, dass er über seinen Körper verfügen konnte, wenn auch unter Schmerzen.

„Frau Doktor? Frau Doktor?“ Gasperlmaier spürte ein Würgen im Hals, gleich würden ihm die Tränen kommen. Was war denn hier geschehen? Hatte der Georg auf die Frau Doktor geschossen? Warum nur? Gasperlmaier suchte nach dem Hals der Frau Doktor, strich dabei fast zärtlich ihr Haar zur Seite und war nahezu glücklich, als er deutlich ihren Pulsschlag fühlen konnte, erschrak allerdings, als er klebriges Blut in einem dünnen Rinnsal über seine Finger rinnen sah. Er näherte seinen Handrücken dem Mund der Frau Doktor, um festzustellen, ob sie atmete. Gasperlmaier stellte fest, dass seine Hand nicht nur vom Blut der Frau Doktor rot gefärbt war, auch er selbst blutete: Auf dem Handrücken konnte er zwei Glassplitter ausnehmen, die in seiner Haut steckten. Zwar meinte Gasperlmaier, Atemhauch vor dem geöffneten Mund der Frau Doktor zu spüren, doch lenkte ihn das Geschrei des Georg viel zu sehr ab, als dass er genau hätte beurteilen können, ob er sich nicht täuschte. Wenn auf sie geschossen worden war, dann war Eile geboten. Der Friedrich rührte sich noch immer nicht, hielt den Georg von hinten umkrampft und wimmerte weiter „Georg! Georg!“ in dessen Ohren hinein.

Gasperlmaier brachte die Frau Doktor in stabile Seitenlage, wie er es gelernt hatte, wobei er einen heftigen Stich in seinem rechten Knie verspürte. Er zog sein Handy heraus, stellte aber fest, dass das Display eingedrückt war, und warf es in plötzlich aufflammendem Zorn durch das zerschlagene Fenster in den Garten. Die Frau Schwarz kam soeben, eine brennende Zigarette in der Hand, die Stiege herunter und begann, anstatt zu helfen, hysterisch zu kreischen. Gasperlmaier humpelte auf sie zu, fiel nach einem neuerlichen Stich in seinem rechten Knie wieder hin, streckte der Frau Schwarz die Hand entgegen und keuchte: „Handy!“ Die Frau Schwarz aber wimmerte nur. Hinter ihr kam die Judith, in die Decke gewickelt, die Stiege herunter und hielt ihr Handy ans Ohr. „Ja, einen Notarzt, und die Rettung. Es gibt mehrere Verletzte. Eine Schießerei. Nein, mehr kann ich nicht sagen.“ Gasperlmaier kroch zurück zur Frau Doktor. Da fragt sich doch, dachte er, wer hier in einer Krise die Nerven wegwarf und wer sie behielt. Die Frau Schwarz würde man wohl nach Hause schicken müssen.