EPILOG

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Freitag, 8. März 1839

Strahlend schön dämmerte der Morgen empor … trotzdem würden sie heute die Insel verlassen und nach Richmond und später weiter nach New York segeln. Charmaine hatte große Mühe, sich gegen ihre sentimentalen Gefühle zu wehren. Als sie die letzten Kleidungsstücke aus ihrer Kommode nahm, schlang John die Arme um sie, weil er ihre Gedanken ahnte. »Sei nicht traurig, my charm. Wir gehen ja nicht für immer fort.« Sie drehte sich in seinen Armen zu ihm um und küsste ihn, und nachdem er gegangen war, packte sie die letzten Sachen ein.

Colettes Brief war nicht mehr dort, wo sie ihn wieder hingelegt hatte, obwohl seine Hemden noch unberührt in der Schublade lagen. Ob er ihn bei sich trug? Hatte er gemerkt, dass er nicht mehr genau auf der richtigen Stelle lag, und befürchtet, dass sie ihn womöglich sogar gelesen hatte? Sie konnte ihn danach fragen, ihm erzählen, dass sie den Brief rein zufällig gefunden hatte und beinahe auch gelesen hätte. Irgendwann, überlegte sie. Irgendwann, aber nicht heute. Der heutige Tag war schon traurig genug.

Mittlerweile war John fast zwei Monate zu Hause und allen Anzeichen zufolge völlig wiederhergestellt. Inzwischen war es März, und im milden Wetter hatten sie viele schöne Stunden zusammen verbracht. Ihr Vater war mit den Harringtons Ende Januar nach Virginia zurückgereist, und sie freute sich auf das Wiedersehen. Warum also war sie so niedergeschlagen? Charmantes. Charmantes war ihre Heimat und würde es immer bleiben.

Den blitzenden Diamantring trug sie schon lange nicht mehr am Finger und hatte sich stattdessen für Elizabeths Ehering entschieden. Der Diamant baumelte an einer langen Goldkette, die Frederic ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, und ruhte unter ihren Kleidern direkt über ihrem Herzen. »Zu besonderen Anlässen stecke ich ihn natürlich auf den Finger«, hatte sie John versprochen. »Aber hier ist er sicherer aufgehoben.« Dabei hatte sie die Hand auf ihre Brust gelegt.

»Da bin ich ganz sicher«, hatte er geantwortet und frech gegrinst. »Aber bei unserer Ankunft in Richmond musst du ihn unbedingt tragen, damit die Klatschbasen endlich einen echten Grund zum Tratschen haben.«

»Aber, John!«

»Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich nicht jetzt schon freust, wenn sie vor Neid grün anlaufen, sobald du den Ring blitzen lässt. Gib es ruhig zu, Charmaine!«

Sie war ein bisschen errötet, weil sie nicht lügen mochte, und John hatte leise gelacht.

Beim Frühstück war Frederic ausgesprochen melancholisch. Auch Mercedes wirkte sehr nachdenklich, während sie ihren neugeborenen Sohn auf dem Schoß schaukelte. George aß wie immer tüchtig und sagte wenig, und hinter der Küchentür waren schniefende Geräusche zu hören. Nur die Mädchen plapperten aufgeregt, weil sie mit ihrem Bruder verreisen und eine neue Welt kennenlernen durften, von der sie bisher nur gehört hatten. Wenn sie zu Hause bleiben müssten, würde das Haus sicherlich vor Geheule erbeben, dachte Charmaine.

Marie wurde unruhig, doch bevor Charmaine aufstehen konnte, trat Frederic an die Wiege. Mit ihrem Einverständnis nahm er seine Enkeltochter heraus und setzte sie auf seinen Schoß. »Ihr müsst sie mir bald wiederbringen«, sagte er.

»Das tun wir ganz bestimmt«, versprach Charmaine, doch Frederics Blick war auf John gerichtet.

»Keine Sorge, Vater«, beruhigte ihn John. »Charmaine wird schon dafür sorgen, dass wir bald wieder nach Hause kommen. Spätestens im Herbst sind wir wieder da.«

»Im Herbst?«, protestierte Yvette lautstark. »Aber wir wollen nach New York fahren und Schnee sehen! Im Herbst regnet es hier doch immer.«

John schmunzelte. »Normalerweise gibt es in New York vor Januar oder Februar selten Schnee. Im Winter fahren wir auf jeden Fall hin. Vielleicht möchte Vater uns ja begleiten.«

»Wirklich nicht«, widersprach der alte Mann. »Von dieser Stadt habe ich für mein Leben genug!«

»Wir können doch unmöglich nicht hier sein, wenn Rebecca ihren Sohn bekommt«, warf Jeannette ein.

»Rebeccas Sohn! Ha!«, rief Yvette. »Du willst ja nur wegen Wade zurückkommen. Bestimmt ist er öfter hier, wenn das Baby erst geboren ist.« Jeannette lächelte bei der Aussicht, doch Yvette schüttelte sich. »Schnee in New York ist jedenfalls interessanter als er!«

Rose schüttelte den Kopf. »Wir werden bald überhaupt niemanden mehr sehen, wenn Rebecca und Paul endgültig auf Espoir bleiben. Ich bin zu alt, um nach Espoir zu fahren und auf die Ankunft des Babys zu warten.«

John nickte. »Es ist eine beruhigende Vorstellung, dass in ein paar Jahren eine neue Generation auf Charmantes herumtobt und Unsinn macht.«

»Ich weiß nicht genau, was du meinst, John«, bemerkte George. »Du hast schließlich eine Tochter und keinen Sohn. Uns drei wird es so schnell nicht wieder geben.«

»Zum Glück!«, stieß Rose hervor.

»Wer weiß.« John grinste. »Marie wird vielleicht genauso wild wie Yvette. Jeder weiß doch, dass sie schlimmer ist als wir drei zusammen!«

Der Raum hallte vor Lachen wider, und selbst Yvette musste grinsen, obwohl sie sich energisch gegen die Unterstellung verwahrte.

Kurz darauf fuhr die Familie in drei Wagen zum Hafen und winkte Mercedes und Rose zu, die zu Hause blieben.

In der Stadt herrschte große Geschäftigkeit, da zwei Schiffe gleichzeitig im Hafen ankerten. Paul eilte über die Gangway des kleineren Schiffes. »Zum Glück bin ich noch rechtzeitig gekommen«, sagte er, als die Gesellschaft gerade aus den Wagen kletterte. »Ich wollte mich unbedingt verabschieden.«

Frederic war unglaublich stolz, als seine beiden Söhne einander die Hand schüttelten. »Pass auf dich auf, John, und bleib nicht zu lange weg.«

»Das wird mir sowieso nicht gestattet. Und du, arbeite nicht zu viel, Paulie. Spar dir ein bisschen Kraft für deine hübsche Frau.«

»Die meiste Kraft spare ich, wenn ich arbeite, fürchte ich.« Er lachte.

Er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um Charmaines gerötete Wangen zu bemerken. Dabei fiel sein Blick auf das schlafende Kind in ihrem Arm. »Bis Sie zurückkommen, haben wir vielleicht schon unser eigenes Kind«, sagte er.

»Wir wollen versuchen, vorher zurückzukommen.« Sie lächelte zu ihm empor.

Er trat einen Schritt auf sie zu, schloss sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Geben Sie auf sich acht, Charmaine. Sie werden uns fehlen.«

»Ist ja schon gut«, beschwichtigte Yvette. »Du tust ja so, als ob ihr euch nie wiedersehen würdet. Na los, ich will endlich weg!«

»Noch einen Augenblick Geduld, Yvette«, rief John. »Geh doch schon mit deiner Schwester an Bord und sucht eure Kabine.«

Yvette stürmte los, aber Jeannette drehte sich, Tränen in den Augen, zu ihrem Vater um. Sie umarmte ihn und flüsterte: »Ich werde dich vermissen, Papa.«

»Und ich dich erst, Prinzessin«, sagte er mit belegter Stimme. »Du wirst sehen, die Reise wird wunderschön, und wenn du nach Charmantes zurückkommst, kannst du mir viele Geschichten erzählen.«

Bevor sie endgültig losheulte, lief Jeannette noch schnell zu Paul und gab ihm ebenfalls einen Kuss. Dann rannte sie ihrer Schwester nach.

John beobachtete seinen Vater und überlegte, wie leer das Haus ohne sie sein würde. Er wurde nachdenklich. Unter allen Umständen wollte er einen rührseligen Abschied vermeiden. »Hör zu, Paulie, du bist also nur nach Charmantes gekommen, um uns Adieu zu sagen?«

»So gesehen, nein.« Paul lachte in sich hinein. »Rebecca ist noch in der Kabine. Wir haben beschlossen, in Charmantes zu bleiben. Zumindest bis das Baby geboren ist. Außerdem will in dem Haus auf Espoir niemand arbeiten. Alle sagen, dass es dort spukt.«

»Und was sagst du?«, fragte John, dem das Gelächter seines Bruders auf die Nerven ging.

»Ich finde es zu Hause bequemer. Außerdem kocht keine so gut wie Fatima. Nicht einmal Rebecca. Sie fühlt sich auf Espoir einsam. Ihre Freunde leben schließlich alle hier auf Charmantes. Und hier hat sie Mercedes als Gesellschaft.«

George war derselben Meinung. Mercedes vermisste Rebecca schon jetzt und würde noch einsamer werden, wenn nun auch noch Charmaine das Haus verließ. Rebecca und Mercedes hatten sich inzwischen angefreundet und schon mit dem ersten Unterricht im Lesen und Schreiben begonnen.

»Nun gut« – John seufzte – »ich denke, es wird Zeit, dass wir aufbrechen.« Er sah seinen Vater an und streckte ihm die Hand entgegen.

Frederic ergriff die Hand und zog John in seine Arme. »Ich vermisse dich schon jetzt, mein Sohn. Bleib nicht zu lange fort.«

»Versprochen.« Er umarmte seinen Vater und trat dann einen Schritt zurück. »Und lass den Tabak nicht verwelken, während ich fort bin.«

Frederic musste tief Luft holen, bevor er nickte und leise lachte.

Mit frohem Herzen schloss ihn Charmaine als Nächste in die Arme. »Ich danke Ihnen, Frederic … für alles«, flüsterte sie. Doch er sah sie nur an, als ob er sagen wollte, dass er sich bedanken müsse.

»Passen Sie gut auf meine Enkeltochter auf.«

»Ich habe die Wiege am Kabinenboden festgeschraubt, damit es die kleine Prinzessin auf See bequem hat«, bemerkte George.

John versetzte dem Freund einen Klaps auf den Rücken, bevor er den Arm um Charmaine legte und mit ihr an Bord ging. Nachdem das letzte Gepäckstück verladen war, kamen die Mädchen an die Reling gerannt und winkten den Zurückbleibenden zu. Die Gangway wurde eingezogen und die ersten Segel gesetzt. Als der Wind das Tuch spannte, löste sich das Schiff langsam vom Kai. Die Mädchen hüpften davon, doch John und Charmaine blieben an der Reling stehen und sahen zu, wie sich Frederic, Paul und George abwandten und sich wieder ihrem Alltag widmeten. Weitere Segel wurden gehisst, und rasch gewann der Segler an Fahrt und durchquerte die Bucht.

Charmaine sah zu John auf. Er hatte Marie umgedreht und hielt sie vor der Brust, damit sie ihre Umgebung bestaunen konnte. Inzwischen konnte sie ihr Köpfchen halten und sah sich hellwach um. Anfangs folgten die blauen Augen den Möwen, die kreischend um die Takelage kreisten, bevor sie das schimmernde aquamarinblaue Wasser bewunderten.

Charmaine drückte Johns Arm und seufzte. Dank Fatimas guter Küche und sehr viel Ruhe hatte er sich schnell erholt und war wieder so kräftig wie vorher.

»Sei nicht traurig«, sagte John.

»Ich bin nicht traurig. Der Abschied war nicht leicht, aber seit wir unterwegs sind, freue ich mich auf dein Zuhause in Virginia und in New York.«

»Unser Zuhause«, verbesserte er.

Als das Schiff die offene See erreichte, frischte der Wind merklich auf, und die Segel bauschten sich hoch über ihren Köpfen wie riesige Kissen an den Masten. Der Wind fing sich in ihren Haaren und zerrte an den Kleidern. Jeannette und Yvette quietschten vor Begeisterung und mussten aufpassen, dass sie den Matrosen nicht ständig in die Quere kamen. Nach einiger Zeit, als nichts weiter zu sehen war als das weite Meer, wurde Marie unruhig und strampelte.

»Ich muss sie stillen«, sagte Charmaine. John grinste auf das kleine Persönchen hinunter und begleitete Frau und Tochter in ihre Kabine.

Als Paul auf sein Schiff zurückkehrte, wandte sich Frederic an George. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, George. Und zwar möchte ich, dass Sie auf die Silver Maple Plantage nach North Carolina reisen. Sie liegt westlich von Durham und südlich von Burlington.«

Georges Neugier war geweckt. Frederic zog ein Papier aus der Tasche und reichte es ihm. »Der Besitzer heißt Maximilian Sledge. Es geht um einen seiner Sklaven namens Henry Clayton. Sie sollen diesen Sklaven kaufen, und zwar unter Ihrem Namen. Der Name Duvoisin darf in den Verhandlungen nicht erwähnt werden.«

»Und warum?«

»Mr Clayton hat eine sehr hübsche Frau, die vor Jahren freigelassen wurde und mit drei Kindern in New York lebt. Lily Clayton hat uns geholfen, Johns Leben zu retten, und ich würde mich gern bei ihr bedanken.« Die Erinnerung an Nicholas Fairheld und Hannah Fields war eine mächtige Triebfeder. Sie gehörten in eine andere Zeit, und doch waren sie ein Teil des Ganzen. Die Erkenntnis ließ Colettes lächelndes Gesicht vor ihm erstehen, und er wusste, dass Colette, wo auch immer sie war, seine Entscheidung begrüßte. Er freute sich einen kurzen Moment an dem Bild, bevor er sich wieder George zuwandte. »Es ist das Wenigste, was ich für sie und die Kinder tun kann.«

George nickte. Er kannte Lily aus der Zeit, als er vor zwei Jahren nach John gesucht hatte, um ihm Colettes Brief zu übergeben. »Und warum muss ich das machen?«

»Michael Andrews ist der Meinung, dass Mr Sledge diesen Sklaven nie an einen Mann verkaufen würde, der mit dem Norden sympathisiert. Er ist dem Süden gegenüber loyal und würde nie einen Sklaven verkaufen, wenn er befürchten muss, dass er anschließend freigelassen wird. Sledge muss glauben, dass Clayton auf einer anderen Plantage eingesetzt wird. Sie machen ihm weis, dass Sie eine Plantage gekauft haben und drei starke Männer suchen. Natürlich dürfen Sie sich nicht allein auf Henry konzentrieren, um Sledge nicht misstrauisch zu machen.«

»Und was, wenn Henry nicht mehr dort ist?«

»Nach allem, was ich weiß, ist der Mann relativ hellhäutig und außergewöhnlich groß und stark. Auf einen solchen Mann kann keiner verzichten. Falls er aber trotzdem verkauft wurde, so müssen Sie alles unternehmen, um ihn aufzuspüren und zu kaufen. Sie können ausgeben, was immer erforderlich ist.«

»Und was mache ich mit Clayton, wenn die Aktion geglückt ist?«

»Die zweite Adresse ist Lilys Anschrift in New York.« Er deutete auf das Papier. »Sobald der Kauf abgeschlossen ist, unterzeichnen Sie die Papiere, die ihm die Freiheit schenken, und bringen ihn zu Lily.«

»Und die beiden anderen Männer?«

»Ich bin sicher, dass John in New York Arbeit für die beiden findet.«

George nickte zwar, doch eine gewisse Zurückhaltung war nicht zu übersehen. »Falls Sie sich um Ihre Frau sorgen«, fuhr Frederic fort, »so habe ich einen Vorschlag: Warum gönnen Sie sich nicht ein paar schöne Tage und nehmen sie einfach mit?« Sofort waren Georges Vorbehalte wie weggeblasen. Frederic händigte ihm einen schweren Beutel aus. »Falls Sie mehr Geld benötigen, finden Sie noch einige Wechsel darin, die in den Staaten durch die Bank of Richmond eingelöst werden.«

»Also gut, abgemacht«, sagte George. »Jetzt muss ich nur noch Mercedes fragen.«

Dann machten sie sich auf den Heimweg. Am Ende des Holzstegs sah Frederic zum Versammlungshaus empor und dachte an seine wunderbare Colette. Für dich, ma fuyarde, nur für dich …

Es war schon dunkel, als John die Kabine verließ. Die Zwillinge hatten lange geredet und gekichert, bis der Seegang sie schließlich in Schlaf gewiegt hatte. Auch Marie war seit der Abfahrt unruhiger als sonst gewesen, doch Charmaine hatte ihr immer wieder geduldig die Brust angeboten, bis sie endlich nachgegeben hatte. Wenn sie satt war, würde sie mit Sicherheit tief und fest schlafen.

Er trat an die Reling und sah nachdenklich auf den Ozean hinaus. Das Auf und Ab der Wellen hatte früher den Lauf seines Lebens symbolisiert. Aber diese Zeit lag hinter ihm. Mit einer gewissen Zufriedenheit zog er Colettes Brief hervor. Er faltete ihn auseinander und ließ die Blicke über die zarte Schrift gleiten. Im schwachen Licht des zunehmenden Mondes konnte er die Worte nicht entziffern, und die wenigen Lampen an Bord waren weit heruntergedreht. Aber das war nicht weiter wichtig. Er kannte die Sätze auswendig. Er hob die Blätter an die Lippen und sog den zarten Lilienduft ein, der noch immer daran haftete. Langsam ließ er sie eines nach dem anderen aus den Fingern gleiten. Wie die Vögel, die das Schiff am Nachmittag begleitet hatten, so trug der Wind die Seiten als drei weiße Punkte vor dem dunklen Himmel hoch empor, bis sie langsam auf das Wasser niedersanken und mit den Wellen davontrieben.

Charmaine griff nach seiner Hand.

Er zuckte zusammen und sah sie schuldbewusst an, doch sie drückte nur stumm seine Hand und sah auf den Ozean hinaus.

»Charmaine …«

»Ich habe den Brief gefunden«, flüsterte sie, bevor er weitersprechen konnte, »aber ich habe ihn nicht gelesen. Ich hatte Angst davor.«

»Es ist vorbei, Charmaine«, versicherte er mit fester Stimme. »Es ist nicht mehr wichtig.«

»Aber du hast den Brief aufgehoben … all die Jahre

Er hörte die Verzweiflung, die in ihrer Stimme mitschwang, und wollte ihr die Ängste für alle Zeiten nehmen. »Du sollst wissen, warum ich das gemacht habe. Wort für Wort sollst du hören, was in dem Brief stand«, murmelte er, während er sich an die Reling lehnte und sie in seine Arme zog. Er lehnte das Kinn auf ihren Kopf und sagte:

Liebster John,

ich habe keine Vorstellung, wie es dir augenblicklich geht, und ich möchte dir auf keinen Fall noch größeren Schmerz zufügen. Ich bete nur, dass mein Brief dich erreicht, und setze mein Vertrauen in George, dass er ihn dir bringt.

Ich weiß, dass ich nicht mehr viele Tage zu leben habe. Doch um mit gutem Gewissen ins nächste Leben gehen zu können, will ich alles versuchen, um den tiefen Hass zwischen dir und Frederic zu beenden. Ich sehne mich nach der ewigen Ruhe, aber ohne deine Hilfe werde ich sie nicht erlangen. Dein Vater befindet sich in einem schrecklichen Zustand von Eifersucht, Wut und Trauer. Wenn er so sterben muss, werde ich immer dafür verantwortlich sein, weil ich mich zwischen euch gedrängt habe. Ich möchte nicht, dass er eines Tages so sterben muss. Seine Härte und sein Zorn überdecken nur seine tiefen Gefühle, doch jemand muss ihm zeigen, wie er sich befreien kann. Mir ist es nicht gelungen, aber ich weiß, dass du es kannst. Falls du mich jemals geliebt hast, so nimm dir meine Bitte zu Herzen. Kehre nach Charmantes zurück und versöhne dich mit deinem Vater.

Ich möchte dich auch ganz persönlich um Vergebung bitten. Es tut mir leid, dass ich in meiner Einsamkeit und Selbstsucht deine Liebe angenommen habe, nur um dich dann von mir zu stoßen und allein leiden zu lassen. Ich denke täglich an dich und frage mich, wie es dir geht. Ich bete, dass du glücklich wirst. Ich würde dich so gern noch einmal sehen, bevor ich diese Welt verlasse. Und sei es auch nur, um in dein lächelndes Gesicht zu blicken, bevor ich die Augen schließe. Ich würde mich dann nicht so sehr vor dem ewigen Dunkel fürchten.

Unser Sohn ist ein wunderbares Kind. Ich hoffe, du kommst bald und kannst Pierre sehen. Zeige deinem Sohn, wie aufregend das Leben ist. Ich wünsche mir von Herzen, dass er dir seine unschuldige Liebe schenkt. Du brauchst diese Liebe so sehr.

Ich bete, dass du dich für Yvettes und Jeannettes Glück verantwortlich fühlst. Falls dein Vater seine Bitterkeit nicht überwinden kann, haben meine Kinder nach meinem Tod außer ihrer Gouvernante und Nana Rose niemanden mehr. Es ist so wichtig, dass sie die Liebe einer Familie erfahren. Bitte, bitte, John, nimm dich ihrer an, wenn ich es nicht mehr kann, und lehre sie zu singen, zu spielen und zu lachen.

Ich liebe dich, John. Ich liebe dich für das Glück, das du mir geschenkt hast. Und das nicht nur ein Mal. Ich liebe dich, weil du meine Töchter während der wunderbaren gemeinsamen Tage zu leben gelehrt hast. Und ich liebe dich für deinen Mut, all das loszulassen und dein eigenes Wohl hinter das der anderen zurückzustellen. Lebe, John, und finde jemanden, den du lieben kannst. Ich bin sicher, dass es eine Frau gibt, die deiner Liebe würdig ist und sie erwidert.

Obwohl ich weiß, dass ich sterben werde, hoffe ich auf die Zukunft. Ich hoffe auf die Zukunft meiner Kinder … dass ihr Leben glücklich wird und sie in einer Familie geborgen sind, die sie liebt. Ich hoffe, dass du Zufriedenheit findest und eines Tages eine liebende Frau und Kinder um dich hast. Und ich habe die Hoffnung, dass du einen Weg zu deinem Vater findest. Vergib ihm, John, damit uns vergeben werden kann. Wenn Gott so gnädig ist, mich in sein ewiges Licht zu holen, so werde ich über dich und alle meine Lieben auf Erden wachen und für euch beten.

Bis wir uns eines Tages wiedersehen,

deine dich liebende Colette

Charmaine weinte, als er zum Ende kam, und hatte die Arme fest um ihn geschlungen. »Ja, ich bin nach Charmantes zurückgekehrt, aber nicht um Colettes Wünsche zu erfüllen, sondern aus Eigennutz«, sagte John nach einem tiefen Seufzer.

»Und doch wurden alle ihre Wünsche erfüllt.« Plötzlich musste Charmaine weinen, aber diesmal waren es bittersüße Freudentränen. »Du hast sie gesehen, nicht wahr?«

»Ja, ich habe sie gesehen.«

»Und doch bist du zu mir zurückgekommen.« Sie sah zu ihm empor. »Warum?«

»Ich hatte die Wahl.« Seine Stimme klang rau. »Und ich habe mich für dich entschieden.«

Er vergrub den Kopf in ihrem Haar und umarmte sie fester als je zuvor. Sie spürte, dass er weinte, spürte, wie seine Tränen sich mit ihren mischten. »Colette hat niemals mir gehört, Charmaine«, hauchte er fast unhörbar. »Aber du … du gehörst mir. Du gehörst mir ganz allein.«

»Für immer, John.«