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Dienstag, 10. April 1838

Jane Faraday erschien unter der Tür des Schlafzimmers. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Ma’am?«

Charmaine war von der Förmlichkeit der Anrede überrascht. Sie nickte.

»Wie Sie wissen, hat Mrs Duvoisin – Mrs Agatha Duvoisin – das Personal für die Festwoche eingestellt und in Aussicht gestellt, dass die fünf Tüchtigsten dauerhaft auf Espoir beschäftigt würden. Ich vermute, dass sie unter den Leuten ausgewählt werden sollen, die bereits auf Espoir arbeiten.«

Charmaine hörte geduldig zu. Warum erklärt sie mir das alles?

»Hier bei uns arbeitet ein Mädchen, das ich jedoch gern für Charmantes behalten würde.«

Damit endete der Monolog. Wartete Mrs Faraday auf eine Antwort? Charmaine war etwas verwirrt. »Ich schlage vor, dass Sie die Sache mit Master Frederic besprechen.«

»Das habe ich versucht, Ma’am. Aber er sagt, dass Sie das entscheiden sollen. Sie sind jetzt die Hausherrin.«

Mit offenem Mund starrte Charmaine die Haushälterin an. Sie sind jetzt die Hausherrin. Sie rieb sich die Stirn. »Falls Sie das Mädchen für geeignet halten, Mrs Faraday, so vertraue ich Ihrem Urteil.«

Mit einem Lächeln wandte sich die Frau zum Gehen, aber dann zögerte sie. »Ich möchte mich noch für meine Worte im vergangenen Herbst entschuldigen, Ma’am.«

»Entschuldigen? Ich fürchte, ich verstehe nicht …«

»Gestern habe ich mit Felicia und Anna die schmutzige Wäsche sortiert …« Charmaine fühlte, wie ihre Wangen brannten. »Ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich mich damals geirrt habe. Ich hoffe, Sie tragen es mir nicht nach.«

»Keine Sorge, Mrs Faraday«, flüsterte Charmaine, »das tue ich nicht.«

Fünf Minuten später hörte John Charmaine fröhlich vor sich hinsummen.

Er grinste. »Bin ich vielleicht der Grund?«

»Wenn du wüsstest!«

Sonntag, 22. April 1838

Unmittelbar nach der Messe hatte Father Benito Frederic um eine Unterredung gebeten, doch als er ihm gegenüberstand, wusste er nicht recht, wie er beginnen sollte. Gestern war Agatha nicht wie gewohnt zum wöchentlichen Treffen gekommen, aber den Grund hatte er erst heute Morgen erfahren. Offenbar hatte ihr Mann sie nach Espoir verbannt. Aber warum? Angst vor Entdeckung hatte Father Benito nicht. Falls Frederic Duvoisin über seine Machenschaften Bescheid wüsste, hätte er um dieses Gespräch nachgesucht. Nichtsdestotrotz konnte Agathas Exil schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.

»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Frederic.

»Ja.« Benito räusperte sich. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, die Ihre Frau betreffen. Als Ihr seelischer Ratgeber erscheint es mir wichtig, dass Sie mich über Ihre Absichten in Kenntnis setzen.«

»Ist das so?«

Wieder räusperte sich Benito. »So ist es.«

Frederic lehnte sich zurück. Ein feines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Nun gut. Vielleicht können Sie mir ja wirklich von Nutzen sein, Father. Ich trenne mich von meiner Frau und habe entsprechende Papiere vorbereiten lassen. Da wir vor Gott noch immer verbunden sind, möchte ich, dass Sie nach Rom schreiben und einen Dispens erwirken, um die Ehe endgültig aufzuheben.«

»Das kann ich nicht!«, widersprach Benito heftig. »Agatha ist Ihre Frau, und bei der Trauung haben Sie einander Treue bis in den Tod versprochen. Rom wird einen solchen Antrag ablehnen, und sollten Sie nicht einsichtig sein, müssten Sie im schlimmsten Fall sogar mit Exkommunikation rechnen.«

Frederic lachte auf. »Dann muss eben mein Vertrag genügen. Auf jeden Fall ist Agatha nicht länger meine Frau.«

Benito runzelte die Stirn. Das klang gar nicht gut. Er hatte gehofft, Frederic zur Rücknahme seiner Entscheidung zu bewegen, damit er Agatha weiter erpressen konnte. Noch ein weiteres Jahr, und er hätte genügend Geld beisammengehabt, um sich bequem zur Ruhe zu setzen. Doch mit einem Mal war seine Quelle versiegt … und Frederics Äußerungen ließen keinen Zweifel aufkommen, dass das auch in Zukunft so bleiben würde. Sein letzter Ausweg bestand darin, die Insel zu verlassen. Weiteres Warten war sinnlos. Allerdings musste er die Abreise sorgfältig planen, um keinen Verdacht auf sich zu ziehen. Am besten nahm er die Sache sofort in Angriff.

»Ich bin zutiefst enttäuscht«, bemerkte er salbungsvoll. »Die fragwürdige Moral … das prächtige Fest mitten in der Fastenzeit … die Missachtung alles Heiligen … Ich will es Ihnen lieber jetzt schon sagen, Frederic: Zum Jahresende möchte ich mich zurückziehen. Ich habe einen Brief von meiner Familie aus Italien erhalten. Von einem Neffen, der schwer erkrankt ist. Wenn Sie es wünschen, schreibe ich nach Rom und bitte um einen Ersatz.«

»Machen Sie, was Sie für richtig halten, Benito«, brummte Frederic. Dass er bezweifelte, dass irgendjemand den Priester vermisste, behielt er für sich.

Dienstag, 1. Mai 1838

Die Tage reihten sich in endloser Glückseligkeit aneinander, und unbeschwerte Liebesspiele, Picknicks und fröhliches Lachen ließen Charmaine erblühen. Paul war endgültig nach Espoir gezogen und nur zwei Mal für jeweils eine Nacht nach Charmantes gekommen. Dabei hatte er sorgfältig auf Distanz zu seinem Vater und auch zu Charmaine geachtet. An diesem Morgen nun saßen Frederic, John, die Mädchen, Rose, Mercedes und George einträchtig um den Frühstückstisch. Eine richtige Familie. Charmaine war froh, dass in den Gesprächen zwischen Vater und Sohn nichts mehr von der früheren Schärfe zu spüren war. Auch die Mädchen profitierten von der neu gewonnenen Harmonie. Yvette erzählte einen Witz, woraufhin alle lachten.

Als Fatima frischen Kaffee brachte und Charmaines Teller sah, runzelte sie die Stirn. »Sie haben ja gar nichts gegessen, Miss Charmaine!«

»Es tut mir leid, Cookie, aber mir ist heute Morgen nicht wohl.«

John beugte sich vor. »Ist alles in Ordnung, my charm

Sie schob ihren Teller zurück. »Alles könnte bestens sein, wenn mir nur nicht so übel wäre.«

John wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit seinem Vater, woraufhin dieser lächelnd zu Charmaine hinübersah.

»Sir?«, fragte Charmaine beunruhigt, als ob er etwas gesagt hätte.

»Sie gehören jetzt zur Familie, Charmaine, und ich wäre froh, wenn Sie von heute an Frederic zu mir sagten.«

»Ich glaube nicht, dass ich das …« Hastig murmelte sie eine Entschuldigung. Dann schob sie ihren Stuhl zurück und rannte in die Küche, wo sie gerade noch rechtzeitig den Ausguss erreichte.

»Geht es wieder, Miss Charmaine?«, fragte Fatima besorgt.

Im nächsten Moment war John an ihrer Seite und strich ihr beruhigend über den Rücken, bis sie sich erholt hatte. »Komm, Charmaine, setz dich erst einmal«, sagte er und sah Fatima vielsagend an.

»Aber nein, es geht mir bestens. Wirklich.«

John kicherte in sich hinein. »Davon bin ich überzeugt.«

»Hör auf zu lachen!«, schimpfte sie.

»Ich lache nicht. Schließlich bin ich ja daran schuld.«

»Schuld?« Charmaine war erstaunt. »Woran?«

»An deinem Zustand.« Er beugte sich nahe zu ihrem Ohr. »Denkst du, dass es ein Michael wird oder doch eine Michelle?«

Charmaine lief dunkelrot an. Ihre Unschuld wärmte Johns Herz. »Ich liebe dich, Charmaine Duvoisin!«, rief er. »Komm endlich! Schließlich wollen alle die gute Nachricht hören …«

»John … warte! Bist du sicher? Wie kannst du das wissen?«

»Warte nur ein paar Monate … und dein Bauch wird es allen verraten.«

Fatima lachte laut.