Sonntag, 16. Dezember 1838

Charmaine hatte einen wunderschönen Geburtstag verlebt. So wunderschön, wie das ohne John möglich war. Im nächsten Jahr würde es sicher anders sein, hatten alle versichert. Jeder hatte sich große Mühe gegeben, um ihr eine Freude zu machen, und ihr ging es fast schon wieder so gut wie damals vor ihrer Schwangerschaft.

Marie schlummerte zufrieden in der Wiege, und Charmaine strich versonnen über die Mähne des kleinen Schaukelpferds. Fast alle Geschenke, die sie erhalten hatte, waren eigentlich Geschenke für Marie, aber das störte sie nicht. Im Gegenteil. Sie freute sich sehr über die hübschen Kleidchen und die Strümpfchen. Doch wohin damit? Da Johns Kommode sehr viel geräumiger war als ihr Frisiertisch, machte sie sich daran, seine Kleidungsstücke neu zu ordnen, um Platz für Maries Sachen zu schaffen.

Sie war gerade bei der zweiten Schublade angelangt, als sie ihn fand … zwischen zwei Hemden, sorgfältig gefaltet und sichtlich mitgenommen. Als ob sie sich verbrannt hätte, ließ sie Colettes Liebesbrief fallen. Ihre zitternden Finger flogen an ihre Lippen, während die Blätter zu Boden flatterten.

Aber sie fasste sich rasch. Sie konnte nicht wissen, ob es ein Liebesbrief war. Schließlich hatte sie vor anderthalb Jahren ja nur ein kurzes Stück davon gelesen.

Plötzlich fielen die Monate von ihr ab, und sie stand wieder in Johns Zimmer, wo sie die Zwillinge vermutete. Der Wind wehte die Blätter zu Boden, sie bückte sich, hob sie auf, ordnete sie und las. Heute schien es ihr unmöglich, dass es derselbe John war, ihr John, der damals ins Zimmer gestürmt war, und dass jemals so viel Zorn und Hass zwischen ihnen gestanden hatte. Und doch würde sie diesen Tag liebend gern erneut erleben, solange John nur wieder bei ihr wäre.

Der Brief lag auf dem Boden … und zog sie wie ein Magnet an. Unsicher wich sie einen Schritt zurück. Sie durfte ihn nicht lesen. Aber vielleicht kommt er nie mehr nach Hause. Er ist dein Mann, und du hast ein Recht, alles zu wissen. Aber wollte sie es überhaupt wissen? Die Sache ist doch kein Geheimnis mehr. John hat dir alles erzählt … Wirklich? War es nicht besser, sich Gewissheit zu verschaffen?

Hastig hob sie die Blätter auf. Die letzte Seite lag obenauf, und sie las die letzten Wörter: Bis wir uns wiedersehen, deine dich liebende Colette. Sie schloss die Augen und schluckte. Warum tat sie sich das an? Rasch faltete sie die Seiten zusammen und ärgerte sich, dass sie überhaupt damit angefangen hatte. John mochte es nicht, wenn sie seine Briefe las, und sie hatte nicht die Absicht, das jetzt zu tun. Außerdem wollte sie Colettes geheimste Gefühle nicht kennen, damit sie keine Macht über sie bekamen. Kurzentschlossen legte sie den Brief an seinen Platz zurück.

Mit einem Mal überkam sie ein Albtraum. Sie fror. Wenn ihr Traum Wirklichkeit und John tot war, so war er jetzt bei Colette. Solange sein Vater lebte, hatte er sie ganz für sich allein. Dass er Colettes Brief stets gehütet und bei seinen persönlichsten Sachen aufbewahrt hatte, bewies nur seine verzweifelte Liebe zu dieser Frau, selbst über den Tod hinaus. Kein Wunder, dass er ohne Furcht den Verbrecher jagte, wusste er doch, dass Colette im Jenseits auf ihn wartete.

Unwillkürlich dachte sie an den einzigen Brief, den sie in drei langen Monaten von ihm erhalten hatte. Doch selbst wenn sie noch am Leben wäre, hätte ich dich gewählt. Aber Colette lebte nicht mehr. Sie war im Paradies. Zusammen mit Pierre. Und John war bei seiner Familie. Sie wusste es. Sie schloss die Augen vor dem Bild, wie Colette und Pierre ihn umarmten, und kämpfte mit den Tränen. »O Gott!«, stöhnte sie. Dann warf sie sich aufs Bett und schluchzte bitterlich.

Donnerstag, 20. Dezember 1838

Paul war äußerst beunruhigt, als plötzlich die Heir im Hafen einlief. Sie hatte Charmantes im November verlassen und sollte eigentlich auf dem Weg nach Europa sein. »Will!«, rief Paul, als er an Deck kletterte. »Was ist geschehen?«

»Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten.« Dann berichtete Will Jones, was sich seit dem Anlegen der Heir in New York ereignet hatte. Paul wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Unwillkürlich musste er an Charmaines Vorahnung denken.

»Ihr Vater hat befohlen, dass ich am neunten Dezember den Anker lichten solle, aber ich habe einen Tag länger gewartet. Um ganz sicherzugehen, habe ich sogar einen Mann nach Ihrem Bruder suchen lassen. Offenbar wurde sein Haus von der Polizei durchsucht, und sie erschienen auch im Lagerhaus. Aber sie waren nicht besonders gesprächig, sodass ich nicht weiß, was vorgefallen ist. Normalerweise wären wir früher hier gewesen, aber wir hatten fast die Hälfte der Strecke mit Schneestürmen zu kämpfen.«

Er bemerkte Pauls besorgte Miene. »Vielleicht haben Ihr Vater und John ja von der Suche der Polizei erfahren und sind untergetaucht. Ich weiß, dass Ihr Vater besorgt war.«

»Oder«, dachte Paul laut, »Blackford hat sie verletzt, und die Polizei wollte die Familie verständigen.«

Will zuckte die Schultern. »Bisher wissen wir nicht genug, um das Schlimmste anzunehmen.«

»Das ist wahr, aber wie können wir das herausfinden?«

Den übrigen Tag verbrachte Paul im Hafen. Die körperliche Anstrengung an der Seite der Hafenarbeiter und Matrosen half ihm, den Kopf freizubekommen und wieder klar zu denken. Er spielte mit dem Gedanken, sofort nach New York aufzubrechen, doch als er an Charmaine dachte, ließ er den Gedanken schnell wieder fallen. Er konnte ihr unmöglich erzählen, was er gehört hatte. Das würde sie nur unnötig beunruhigen. Und wenn er vor Weihnachten nach New York aufbrach, würde sie natürlich das Schlimmste vermuten. Wohl oder übel musste er sich noch zwei Wochen gedulden, bis Weihnachten vorüber war.

Als es dunkel wurde und sich die Ladearbeiten dem Ende näherten, stand Pauls Entschluss fest. Die Tempest wurde täglich auf Charmantes erwartet. Gleich nach den Feiertagen wollte er an Bord seines neuesten Seglers nach New York aufbrechen.

Heiliger Abend 1838

Charmaine saß auf dem Sofa, und die kleine Marie schlief tief und fest in ihren Armen. Die Stimmung war ähnlich gedrückt wie im vergangenen Jahr. Im Haus war es still und friedlich, aber dem Frieden war nicht zu trauen. Seit drei Monaten hatten sie weder von John noch von Frederic ein Lebenszeichen erhalten. Paul sagte zwar immer, dass keine Neuigkeiten gute Neuigkeiten seien, doch Charmaine ahnte, dass ihr Traum etwas Schlimmes angekündigt hatte. Und während sie auf ihr Kindchen hinuntersah, fügte sie ihrer Litanei ein weiteres Stoßgebet hinzu.

Rose und die Mädchen befestigten die letzten Girlanden am Kamin und hängten die Strümpfe für den Weihnachtsmann auf, ohne die kleine Marie dabei zu vergessen. Charmaine warnte die Zwillinge vor allzu großen Erwartungen, aber Yvette war ihrer Sache sicher.

»In diesem Jahr kommt der Weihnachtsmann ganz bestimmt, weil Auntie Agatha ihn nicht mehr verscheuchen kann.«

Erschrocken sah Charmaine zu Paul hinüber. Doch der schien unbeeindruckt und zwinkerte ihr nur vergnügt zu.

Joshua und George spielten Schach und verstanden sich prächtig, während Loretta und Mercedes in einem Katalog für Babysachen blätterten. Mercedes’ Schwangerschaft ging dem Ende zu, sodass die kleine Marie in kürzester Zeit Gesellschaft bekommen würde.

In Gedanken versunken stand Paul am Kamin und sah immer wieder zu Charmaine hinüber, was Loretta und Mercedes nicht entging. Pauls Arbeit auf Espoir war im Augenblick etwas in den Hintergrund getreten, weil er auf Charmantes gebraucht wurde. Doch die beiden wussten, dass er hauptsächlich wegen Charmaine hier war.

Auch George war in Gedanken versunken, aber die kreisten um John und Frederic. Paul hatte ihm von der missglückten Aktion berichtet, und obwohl er ihn vor voreiligen Schlüssen gewarnt hatte, malte er sich eine schreckliche Szene nach der anderen aus. Umso erleichterter war er, als Paul beschloss, nach New York zu reisen und persönlich nach dem Rechten zu sehen. Wenn Mercedes nicht so kurz vor der Geburt gestanden hätte, hätte er ihn am liebsten begleitet, doch er wollte seiner Frau nicht zumuten, was Charmaine an Ängsten durchlebte.

Irgendwann gab George das Spiel verloren und erhob sich. Er half seiner Frau aus dem Sessel, und zusammen wünschten sie der Gesellschaft eine gute Nacht.

Charmaine sah zu den gähnenden Zwillingen hinüber. »Es wird Zeit, dass ihr zu Bett geht. Soviel ich weiß, kommt der Weihnachtsmann nur, wenn die Kinder schlafen.« Das genügte, und sofort verschwanden die beiden mit Rose nach oben.

Zuletzt verabschiedete sich Joshua Harrington und wünschte eine gute Nacht, und nach einigem Zögern schloss seine Frau sich ihm an. Wortlos setzte sich Paul neben Charmaine aufs Sofa und beobachtete sie mit verhaltenem Lächeln.

Trotz aller Trauer badete Charmaine förmlich in dem Glück, das ihre kleine Tochter ihr schenkte. »Warum lächeln Sie?«, fragte sie, als sie Paul ansah.

Doch er schüttelte nur den Kopf und zuckte die Schultern. Als er sicher war, dass niemand mehr in den Wohnraum kommen würde, zog er vier kleine, mit Schleifen verzierte Päckchen hinter dem Sofa hervor.

»Was ist das?«

»Das hat der Weihnachtsmann gebracht«, sagte er, als er zum Kamin ging und zwei davon in jeden Strumpf steckte.

»Und was ist darin?«

»Ein Kartenspiel für Yvette und Würfel.«

»Sie machen Witze?« Charmaine lachte.

»Ganz im Gegenteil.«

»Ihr Vater wird wütend werden!«

»Wenn er gesund nach Hause kommt, nehme ich die Strafe gern auf mich.«

Sofort schossen Charmaine die Tränen in die Augen. Sie senkte den Kopf. »Ich bin ein Feigling, Paul«, flüsterte sie. »Wenn ich der Wirklichkeit ins Auge sehen könnte, könnte die Leere in meinem Herzen vielleicht heilen.«

Der Satz hallte durch die Stille. Hatte er nicht selbst schon das Schlimmste vermutet? Dass die beiden Blackford am sechsten Dezember überwältigen wollten und irgendetwas ganz schrecklich schiefgegangen war? Sind sie tot? Voller Zorn ballte er die Fäuste, was er seit der Ankunft der Heir immer öfter tat.

Gleich darauf lenkte ihn Charmaine von seinen mörderischen Gedanken ab. »Was ist in Jeannettes Päckchen?«

Paul zwang sich zu einem Lächeln. »Ein Medaillon und ein kleines Pferd.«

»Würden Sie Marie einmal halten?«, fragte sie, ohne lange zu überlegen. Hatte er schon jemals ein neugeborenes Kind im Arm gehalten?

Stolz nahm Paul ihr die Kleine ab und wiegte sie, als ob er nie etwas anderes getan hätte. Vermutlich hatte er früher schon Pierre und die Zwillinge auf dem Arm gehalten.

»Wohin gehen Sie denn?«, fragte Paul.

»Das werden Sie schon sehen.« Sie lief hinaus.

Kurz darauf kam sie mit ihren Päckchen zurück und stopfte sie in die Strümpfe der Mädchen, die sich gehörig beulten. Zufrieden drehte sie sich um. »Marie wird nicht mehr lange schlafen. Ich muss mich jetzt auch ein wenig ausruhen.«

Paul nickte verständnisvoll, weil er schon öfter nachts die Schreie des Babys gehört hatte. Doch als Marie die Hände nach ihrer Tochter ausstreckte, schüttelte er den Kopf. »Ich trage sie.« Den anderen Arm legte er um Charmaines Schultern, und so gingen sie nach oben. Die Lampen waren heruntergedreht, und Stille lag über dem Haus. Paul trat ins Zimmer und legte Marie in die Wiege.

Dann drehte er sich um und betrachtete Charmaine im Schein der Lampe. »Was wünschen Sie sich eigentlich zu Weihnachten?«

»John«, stieß sie, ohne nachzudenken, hervor. Und schon krampfte sich ihre Kehle zusammen.

Genau die Antwort, die ich hören wollte! »Seit Maries Geburt habe ich sehr viel nachgedacht. Nach Weihnachten werde ich mich auf die Suche nach Ihrem Mann und meinem Vater machen. Es wird Zeit, dass wir erfahren, was geschehen ist.« Erstaunt sah Charmaine ihn an, doch er achtete nicht darauf. »Mein neuestes Schiff liegt augenblicklich im Hafen und hat Fracht für New York und Boston geladen. Wenn es Segel setzt, werde ich an Bord sein.«

Voller Hoffnung schlug ihr Herz schneller. »Wollen Sie das wirklich tun, Paul?«

»Das ist mein Weihnachtsgeschenk für Sie. Allerdings« – er zögerte – »allerdings möchte ich, dass Sie mir etwas versprechen.«

»Und was?«

»Falls ich mit schlechten Nachrichten zurückkomme – was nicht heißt, dass das so sein wird –, versprechen Sie mir, sich in angemessener Zeit zu überlegen, ob Sie mich heiraten wollen.«

Widerstreitende Gefühle ließen Charmaine zu Boden blicken.

»Ist der Gedanke denn so abstoßend?«

»Nein, Paul, natürlich nicht.« Ihre Blicke trafen sich.

Als er sah, dass sie den Tränen nahe war, nahm er sie in die Arme. Charmaine hielt sich an ihm fest und weinte ein wenig, während er ihr übers Haar strich und einen Kuss auf ihren Scheitel drückte. Sein Herz war schwer. Als sie zu ihm aufblickte, war es um seine Fassung geschehen. Er beugte sich vor und küsste sie zart auf die Lippen. Einen Moment lang ließ sie es geschehen, bevor sie einen Schritt zurücktrat. »Ich liebe Sie, Charmaine«, flüsterte er heiser. »Ich will immer für Sie und für Marie da sein.«

Sie war verblüfft, als ihr erneut die Tränen kamen.

»Ich … ich weiß, Paul«, murmelte sie und trocknete ihre Wangen. »Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe. Aber ich kann das nicht …«

»Lassen Sie es gut sein, Charmaine. Ich will Sie nicht drängen. Sie sollen nur wissen, dass Sie nie mehr allein sein müssen.«

Sie seufzte. Irgendwann musste sie der Wirklichkeit ins Auge sehen. »Ich werde es mir überlegen«, sagte sie. »Aber erst, wenn ich weiß, was geschehen ist … wenn alle Hoffnung verloren ist.«

Paul ging zur Tür. »Gute Nacht«, murmelte er und zog sich zurück.

Einen Augenblick lang war sie versucht, ihm nachzulaufen. Sie wollte ihn nicht lieben, aber sie wollte gern in jemandes Armen einschlafen, sich beschützt fühlen und die schreckliche Verzweiflung endlich einmal hinter sich lassen.

Als Marie sich regte, war der Gedanke an Einsamkeit sofort vergessen. Charmaine hob ihre Tochter aus der Wiege und nahm sie mit zu sich ins Bett. Die Kleine trank gierig, und es dauerte nicht lang, bis Mutter und Tochter in friedvollen Schlummer fielen.

Weihnachtstag 1838

Rebecca Remmen stellte den Topf mit gekochten Kartoffeln auf den Tisch und sah zu, wie ihr Bruder dünne Scheiben von dem Schinken abschnitt, den er zum Weihnachtsessen besorgt hatte. Zusammen mit frischem Brot und grünen Zuckerbohnen war dies das beste Essen des ganzen Jahres. Von dem Schinken konnten sie mehrere Tage lang essen, und aus dem Knochen wollte Rebecca später eine Suppe kochen und somit den Genuss auf eine ganze Woche ausdehnen.

Es gefiel ihr sehr, wenn Wade den ganzen Tag zu Hause war. Normalerweise war sie immer allein und meistens einsam. Sie war inzwischen siebzehn Jahre alt, aber trotzdem erlaubte Wade nicht, dass sie sich in der Stadt Arbeit suchte. Er hatte Angst, dass ein hübsches Mädchen wie sie nur Schwierigkeiten bekommen würde. Erst recht in einer so kleinen Stadt, in der ständig Matrosen eintrafen. Dabei konnte Rebecca sehr gut auf sich aufpassen. Aber Wade hatte sie bisher noch nicht überzeugen können. Außer an den Wochenenden, wenn sie ihn in die Stadt begleiten durfte, um Einkäufe zu erledigen und andere Menschen zu treffen, verließ sie ihr Cottage so gut wie nie. Paul Duvoisins Ball war das schönste Fest, das sie jemals besucht hatte, und ein unvergessliches Erlebnis, von dem sie noch immer träumte.

Vor drei Jahren waren sie und ihr Bruder nach Charmantes gekommen. Seitdem hatte sich ihr Leben ständig verbessert. Inzwischen hatten sie genug zu essen, etwas zum Anziehen und außerdem ein Dach über dem Kopf. Aber Rebeccas Ehrgeiz war geweckt. Sie wollte mehr: Sie wollte Briefe schreiben, Bücher lesen und außerdem rechnen können, damit sie die Einkäufe bei Maddy Thompson bezahlen konnte. Sie hatte es gründlich satt, immer nur das ohnehin saubere Häuschen auf Hochglanz zu putzen, die Beete zu gießen oder Gemüse im Garten anzubauen. Sie hatte genügend Socken gestopft und Hemden geflickt, um eine ganze Armee damit auszustatten. Wenn sie schon solche Arbeit tun musste, dann lieber für einen Ehemann. Wenn ihre Pflichten erledigt waren, ging sie in der Abenddämmerung vors Haus oder setzte sich im Garten unter eine Palme, um auf Wade zu warten. Dabei träumte sie oft von einem abenteuerlichen Leben. Aber noch häufiger träumte sie von Paul.

Seit der Kapitän der Black Star sie damals als blinde Passagiere zu Paul Duvoisin gebracht hatte, hatte sich ihr Leben grundlegend geändert. Erstens hatte Paul ihrem Bruder keine Vorwürfe gemacht, sondern in Ruhe zugehört, als Wade ihm das elende Leben in den Slums von Richmond schilderte. Er hatte verstanden, dass sie die ungewöhnliche »Pilgerfahrt ins gelobte Land« der Duvoisins unternehmen mussten, und genickt, als Wade erklärte, dass er kräftig und arbeitswillig sei und der Familie Duvoisin Ehre machen wolle, wenn man ihm nur die Gelegenheit dazu bot.

Als Erstes sorgte Paul für Essen und Kleidung, dann wies er den Geschwistern das leer stehende Cottage zu, wo sie heute noch wohnten, und verschaffte Wade Arbeit. Mit einem Teil des Lohns konnte Wade das Cottage abzahlen. Seine Arbeit erledigte er zur allgemeinen Zufriedenheit, und deshalb wurde er im Lauf der Zeit mit immer verantwortlicheren Arbeiten betraut, auch wenn einige der älteren Kollegen murrten. Inzwischen leitete Wade die Sägemühle weitgehend selbstständig und genoss den Respekt seiner Männer. Ohne Paul wäre er nie so weit gekommen. Seitdem war Paul in Rebeccas Augen ein Held.

Entsprechend begeistert war Rebecca, als sie mit ihrem Bruder zum Ball eingeladen wurde, obwohl Paul bisher so gut wie keine Notiz von ihr genommen hatte. Doch Wade wollte nicht hingehen. Seiner Meinung nach waren sie bei einem solchen Fest fehl am Platz. Rebecca war anderer Meinung und bettelte, bat und flehte wochenlang, bis Wade letztlich nachgab. Trotzdem sollte er recht behalten. Die Enttäuschung traf Rebecca völlig unvorbereitet, als sie den großen Saal betrat und nur Ladys in den prächtigsten Roben erblickte. In ihrem einfachen Kleid würde Paul sie nie bemerken.

Kurz entschlossen fasste sie einen Plan. Sie brauchte nicht mehr als ein paar Minuten, damit Paul auf sie aufmerksam wurde. Sie wusste, dass sie attraktiv war. Die Rufe und das Pfeifen der Matrosen in der Bar waren deutlich genug, wenn sie mit Wade dort vorbeikam. Sie nutzte die Situation in der Küche … und benahm sich wie ein Dummkopf. Sie hatte sich geschworen, immer ehrlich zu sein. Doch was hatte es genützt? In Pauls Augen war sie nur ein plapperndes, unreifes Mädchen, das einer kindischen Schwärmerei erlegen war. Viele Monate machte sie sich wegen ihres Benehmens an diesem Abend Vorwürfe.

Doch die Erkrankung ihres Bruders im vergangenen September änderte alles. Obgleich Paul sie vermutlich immer noch nicht besonders mochte, hatte sie zumindest bewiesen, dass sie kein dummes Kind mehr war. Sie konnte für sich und ihren Bruder eintreten und besaß genau wie ihr Bruder Charakter.

»Rebecca?« Wade unterbrach ihre Nachdenklichkeit. »Wovon träumst du?«

Sie schrak zusammen. »Verzeih. Was hast du gesagt?«

»In den kommenden Wochen muss ich sehr viel arbeiten.«

»Und warum? Kehrt Paul wieder nach Espoir zurück?«

»Hast du überhaupt ein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe?« Er runzelte die Stirn. »Paul reist morgen früh an Bord der Tempest nach New York, um seinen Vater und seinen Bruder zu suchen.«

»Und warum?« Unwillkürlich musste sie an Felicias Worte denken: Charmaine wickelt ihn um den kleinen Finger, und er ist so dumm und würde alles für sie tun.

»Er macht sich große Sorgen«, erklärte Wade. »Er hat seit mehr als drei Monaten nichts mehr von ihnen gehört. Er wird zwei Wochen lang fort sein, und in dieser Zeit bin ich ganz allein für die Sägemühle verantwortlich. Nicht einmal George darf mir in meine Entscheidungen hineinreden.«

Wades Arbeit interessierte Rebecca nur am Rande. Dafür war sie zutiefst beunruhigt und aß schweigend, während ihr das Gehörte durch den Kopf ging. Als ihr Bruder aufstand, um Zeitung zu lesen, lief sie nach nebenan, um den Flemmings frohe Weihnachten zu wünschen und ein paar Worte mit Felicia zu wechseln.

»Ich habe gehört, dass Paul nach New York fährt, um seinen Vater und seinen Bruder zu suchen«, sagte sie, als Felicia aus der Hintertür trat.

»Das überrascht mich nicht. Bestimmt hat sich Charmaine bei ihm ausgeweint. Nun will er sie glücklich machen, indem er John nach Hause holt.«

»Aber warum tut sie das, wenn sie doch hinter Paul her ist, wie Sie sagen?«

Felicia lachte. »In Wahrheit will sie John doch gar nicht wiederhaben. Aber Paul soll es glauben.«

»Und warum?«

Die Frage war so dumm, dass Felicia angewidert das Gesicht verzog. »Agatha hat Pierre wegen Frederic Duvoisins Testament beseitigt, und Frederic und John starben vermutlich durch die Hand ihres Bruders. Wenn er jetzt auch noch Paul erledigt, bekommt Charmaine alles, und ihre Tochter wird Alleinerbin.«

»Glauben Sie im Ernst, dass Dr. Blackford Frederic und John umgebracht hat?«

»Das ist doch sonnenklar! Warum haben sie sich denn nie gemeldet?«

Jetzt war Rebecca ernstlich besorgt. Falls Pauls Vater und sein Bruder tatsächlich tot waren, lief er womöglich in dieselbe Falle.

Felicia plapperte unverdrossen weiter. »Ich wäre nicht überrascht, wenn sie sogar mit Blackford gemeinsame Sache machte.«

»Aber, Felicia! Das kann ich nicht glauben!«

»Nicht? Nun gut, ich kenne sie besser. Schließlich weiß jeder, dass ihr Vater ein Mörder ist. Sie hat die Sache von Anfang an raffiniert eingefädelt. Ich möchte sogar wetten, dass ihre Tochter gar keine Duvoisin ist. Sie hat John im April geheiratet … eine Woche nach seiner Ankunft. Für gewöhnlich brauchen Kinder neun Monate, aber ihres kam schon nach acht Monaten auf die Welt.«

In dieser Nacht fand Rebecca keinen Schlaf. Sie glaubte zwar längst nicht alles, was Felicia gesagt hatte, doch sie war in großer Sorge. Als sie im Dunkeln lag und die lähmende Stille sie fast erstickte, wollte sie plötzlich kein artiges Mädchen mehr sein und allem tatenlos zusehen.

Auf Zehenspitzen schlich sie ins Zimmer ihres Bruders, kramte in seinen Schubladen und zog eine Hose und ein Hemd heraus. Da sie nicht schreiben konnte, konnte sie ihm keinen Zettel hinterlassen. Und dass sie ihn weckte, kam nicht infrage. Wenn sie ihm sagen würde, was sie vorhatte, würde er sie einsperren. Sollte er ruhig denken, dass sie sich an einen Ort geflüchtet hatte, wo sie allein sein konnte. Rasch zog sie sich an, fädelte ein Stück Schnur durch die Ösen der Hose und knotete sie in der Taille zusammen. Ihr Haar versteckte sie unter Wades Kappe, die am Haken neben der Tür hing. Dann nahm sie noch das letzte Stück Brot aus dem Küchenschrank und verließ das Cottage.

Wenig später stand sie vor dem majestätisch aufragenden Schiff, das sanft auf den Wellen schaukelte. Vorsichtig spähte sie nach allen Seiten, bevor sie über die Gangway an Bord schlich. Einige Matrosen schliefen an Deck, doch sie drückte sich mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei. In der Dunkelheit war ihr Gesicht ohnehin nicht zu erkennen.

Doch wo sollte sie sich verstecken? Vor drei Jahren hatte sie sich mit Wade zwischen die Fässer im Laderaum gequetscht und fast einen ganzen Tag lang dort ausgehalten. Es war nicht gerade verlockend, das jetzt zu wiederholen, aber es war wichtig, zuerst einmal zu verschwinden, bis sich das Schiff weit draußen auf dem Atlantik befand. Sobald es an Deck ruhiger wurde, konnte sie sich nach oben wagen. Solange sie den Kopf gesenkt hielt, würde niemand Notiz von ihr nehmen. Sie musste den richtigen Moment abwarten, um in Pauls Kabine zu schlüpfen und sich dort zu verstecken. Sie konnte nur hoffen, dass er bis zum Schlafengehen an Deck blieb. Wenn er sie erst spät am Abend entdeckte, waren sie längst auf hoher See, und ihr blieb Zeit genug, um mit ihm zu diskutieren.

Mittwoch, 26. Dezember 1838

Paul verließ das Haus, als die Sterne noch am Himmel standen und der Halbmond die Wiesen vor dem Haus in grelles Licht tauchte. Er dachte an den vergangenen Abend, als er sich von Charmaine verabschiedet hatte.

»Passen Sie gut auf Marie auf, solange ich fort bin.«

»Sie haben keine Ahnung, was mir diese Reise bedeutet, Paul«, flüsterte sie.

»Ich denke schon.«

Als er an Bord der Tempest ging, färbten die ersten Sonnenstrahlen den östlichen Himmel. Im Halbdunkel bereiteten die Matrosen das Ablegemanöver vor. Der Kapitän begrüßte Paul. Conklin wusste, dass dies keine normale Fahrt war, auch wenn der Tabak, der im Laderaum lagerte, in New York versteigert werden sollte. Paul fasste tatkräftig mit an, und keine halbe Stunde später löste sich die Tempest vom Kai. Die Ebbe hatte soeben eingesetzt, und der Wind blähte die Segel. Mühelos glitt die Tempest aus dem Hafen, quer durch die Bucht und weiter auf den offenen Ozean hinaus.

Noch sechs Tage, überlegte Paul, dann bekam er vielleicht seine Antwort. Aber welche? War er darauf vorbereitet? Solch innere Anspannung hatte er noch nie erlebt. Er betete um die Gnade Gottes. Wünschte er seinem Bruder den Tod? Ganz sicher nicht. Er war froh, dass John sein Glück gefunden hatte. Und sei es auch auf seine Kosten. John und Charmaine liebten sich. Schon deshalb wollte er seinen Bruder unbedingt lebendig nach Hause bringen. Doch wenn das Schicksal anders entschieden hatte, war er bereit, Johns Stelle einzunehmen. Denk jetzt nicht daran, ermahnte er sich, denn er wusste, dass ihr Schmerz überwältigend sein würde. Was geschehen ist, ist geschehen. Bald genug wirst du die Wahrheit erfahren.

Rebecca lief in der engen Kabine hin und her. Bisher hatte ihr Plan reibungslos geklappt. Seit dem frühen Nachmittag wartete sie nun schon. Sie war müde, und nach den vielen Stunden in der Enge des Laderaums schmerzte ihr Körper. Das schmale Bett sah einladend aus, aber sie waren noch nicht lange genug auf See. Außerdem wollte sie wach sein, falls jemand zufällig in die Kabine kam. Für den Fall plante sie, den Kopf zu senken, eine Entschuldigung zu murmeln und schnell hinauszuschlüpfen. Als es dämmerte, wurde ihr etwas leichter ums Herz. Der erste Tag war vorüber.

Doch es wurde später und immer später. Die Schiffsglocke schlug sechs Mal, was bedeutete, dass die sechste halbe Stunde der nächtlichen Wache vorüber war. Elf Uhr, und noch immer war Paul nicht gekommen. Ob sie in der falschen Kabine wartete? Eher nicht, denn diese Kabine lag direkt neben der Kabine des Kapitäns und war größer als die des Ersten Offiziers. Womöglich war es sogar besser, dass er nicht in der Kabine schlief. Das verschaffte ihr noch eine kleine Atempause. Morgen früh war noch Zeit genug, um ihn vor dem gefährlichen Abenteuer zu warnen. Er durfte sich auf nichts einlassen. Erst recht nicht seiner durchtriebenen Schwägerin zuliebe. Sie war jetzt an seiner Seite … und sie liebte ihn! Vielleicht war sie nicht so klug wie Charmaine Duvoisin, aber dafür war sie frei und hatte noch keinem anderen Mann gehört. In der trauten Zweisamkeit an Bord würde Paul ihre Liebe erkennen … und womöglich sogar erwidern.

Unter einem kleinen Tischchen erspähte sie einen Seesack und öffnete ihn. Es waren nur wenige Sachen darin. Vor allem maßgefertigte Kleidung. Es war also eindeutig Pauls Kabine. Vermutlich schlief er an Deck unter dem Sternenhimmel. Sie rieb ihre Augen und stellte fest, dass ihre Müdigkeit bei Weitem vom Hunger übertroffen wurde. Gierig aß sie das letzte Stückchen Brot, spülte es mit einem Schluck Wasser aus der Kanne auf dem Waschtisch hinunter und streckte sich in der schmalen Koje aus. Dann drehte sie sich zur Wand und ließ sich von dem leise rollenden Schiff in den Schlaf wiegen.

Gegen Mitternacht betrat Paul seine Kabine und tastete nach dem kleinen Tisch, auf dem die Lampe festgeschraubt war. Als er den Docht entzündete, verbreitete sich ein sanftes Licht. Er sank auf einen Stuhl, um sich die Stiefel und das Hemd auszuziehen. Als er aufstand, um die Hose aufzuknöpfen, bemerkte er etwas auf seinem Bett. Mit gerunzelter Stirn trat er näher und identifizierte das Bündel als jungen Mann mit langen Haaren, der tief und fest schlief.

Unsanft knuffte er den Unbekannten. »Was, zum Teufel, soll das?«

Stöhnend drehte sich der Junge um und starrte ihn verwirrt an. Dann sprang er auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

»Jesus!«, fluchte Paul, als er Rebecca Remmen vor sich stehen sah. »Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen?«, brüllte er sie an.

»Ich … ich habe mich an Bord geschlichen«, stotterte Rebecca.

»Wie? Und wann?«

»Letzte Nacht«, antwortete sie kleinlaut. »Es war ganz leicht. Alle haben geschlafen.«

Paul verdrehte die Augen. »Und warum?«

Rebecca nagte an ihrer Unterlippe. »Weil ich Angst um Sie habe. Ich will nicht, dass Sie verletzt … oder ermordet werden.«

Paul fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Glauben Sie nicht, dass ich selbst auf mich aufpassen kann?«

»Nein … das heißt … ich weiß es nicht«, stammelte sie. »Ich wollte Sie doch nur … Ich liebe Sie so sehr und möchte Sie nicht verlieren.«

Na wunderbar!, dachte Paul und biss die Zähne aufeinander. Genau das hat mir noch gefehlt! »Sind Sie verrückt geworden oder einfach nur dumm?«

Verletzt sah sie ihn an. Sie öffnete ihm ihr Herz, und er beschimpfte sie! »Machen Sie sich nur über mich lustig! Dabei bin ich der einzige Mensch, der sich um Sie sorgt.«

»Darauf kann ich gern verzichten. Lassen Sie mich einfach nur in Ruhe.« Er deutete auf die Kabinentür. »Und jetzt hinaus mit Ihnen! Ich bin müde.«

»Wie bitte?« Entgeistert sah sie ihn an.

»Na los! Suchen Sie sich einen anderen Schlafplatz.«

»Aber … ich kann doch nicht an Deck schlafen. Wenn die Männer merken, dass ich eine Frau …«

Sein spöttisches Gelächter betäubte sie beinahe. »Eine Frau? Ich denke, da haben Sie nichts zu befürchten …« Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »Die sehen bestenfalls ein junges Mädchen. Oder vielleicht doch einen Jungen?« Er musste an Charmaine denken. »Eine Frau würde so etwas nie tun.«

Rebeccas Kehle brannte. »Ich bin jedenfalls mehr Frau als Ihre kostbare Charmaine«, zischte sie, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte.

Seine Nasenflügel bebten. »Was wissen Sie schon von Charmaine?«

»Mehr, als Sie glauben.«

Diese Rebecca konnte ganz schön lästig sein. »Da bin ich aber gespannt.«

»Charmaine nutzt Sie nur aus! Sie liebt Sie nicht … aber sie weiß, dass Sie alles für sie tun. Ein sanftes Wort und hin und wieder ein scheuer Blick genügen. Sie wirft Ihnen Krümel vor die Füße, und Sie kriechen herum und sammeln alle auf, die Sie finden können.« Ihre Eifersucht riss sie mit. »Es ist abscheulich! Jeder auf Charmantes lacht über Sie.«

»Hinaus! Es reicht!« Mit zwei Schritten war er bei ihr und zerrte sie zur Tür.

»Sie können mich nicht hinausjagen!«, schrie sie und schlug ihm heftig gegen die Brust. »Lassen Sie mich los!«

Überrascht sah er sie an. Ihre hochmütige Miene ärgerte ihn bis aufs Blut. Als sie erneut die Hand hob, wurde sein Blick hart. »O nein, das tun Sie nicht!« Er packte ihr Handgelenk und schüttelte sie heftig.

»Lassen … Sie … mich … los!«

»Es reicht, Rebecca Remmen. Höchste Zeit, dass Ihnen jemand Respekt beibringt!«

Er zerrte sie quer durch die Kabine zur Schlafstelle und zog sie auf seine Knie. Sie gab keinen Laut von sich, wehrte sich aber verbissen wie ein wildes Tier. Er hatte große Mühe, sie zu bändigen, während er das Seil löste, die Hose herunterzog und ihr den Allerwertesten versohlte. Seine Hand brannte, aber ihr Geschrei verschaffte ihm Genugtuung. Als er einen Moment innehielt, grub sie die Zähne in seinen Unterarm. Fluchend ließ er sie los und besah sich die Abdrücke auf seinem Handgelenk, aus denen erste Blutstropfen sickerten. »Verdammtes Biest!«

Sie floh von seinem Schoß, stolperte über die Hose, die sich um ihre Knöchel wickelte, und fiel zu Boden. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. Übermütig packte er die Hose und zerrte sie herunter, während Rebecca blitzschnell auf die Füße kam und zur Tür rannte. Doch bevor sie die Tür aufreißen konnte, war er bei ihr und zog sie zu sich herum. Mit einem Mal war sein Zorn verflogen … und er verspürte nur noch die köstlichste Erregung. Ihre Gegenwehr hatte seine Lust geweckt.

»Wo wollen Sie hin? So ganz ohne Hose? Haben Sie denn keine Angst mehr vor den Männern?« Wütend stieß sie ihn weg, aber er wich nicht zurück. »Ich weiß, ich weiß.« Er lachte leise. »Sie sind furchtlos! Sie sind schließlich ein Kerl! Lassen Sie mich doch mal Ihre Muskeln fühlen!«

Bevor sie sich versah, riss er ihr Hemd auf und enthüllte ihre perfekten kleinen Brüste. Rund und einladend. Und während er ihr ungerührt den Stoff von den Schultern streifte, hämmerte sie mit den Fäusten auf seine nackte Brust ein. Mit seinem Gewicht drückte er sie gegen die Tür und umfasste ihren Hintern mit der einen Hand, während die andere ihr Haar packte und ihren Kopf nach hinten zog. Dann küsste er sie mit heißer Leidenschaft, und seine Zunge drängte ihre Lippen auseinander und vergrub sich tief in ihrem Mund. Gleichzeitig wanderte seine Hand über ihre Hüfte bis zu ihren Brüsten empor und knetete und liebkoste sie.

Die widerstreitenden Gefühle versetzten Rebecca in einen wahren Taumel. Mit einem letzten matten Schlag gab sie ihren Widerstand auf und überließ sich Pauls Kuss und ihrer Sehnsucht. Wenn er ihren Mund nicht bald freigab, würde sie in Ohnmacht fallen. Trotzdem lernte sie schnell und küsste ihn immer gieriger zurück. Ihre Hände fuhren über seine muskulösen Arme und seine Schultern, und sie presste sich an seine haarige Brust und schwelgte in der Hitze, die von seiner Haut ausstrahlte.

Urplötzlich ließ er sie los, sodass sie ins Wanken geriet. Im nächsten Moment hob er sie auf die Arme und trug sie zum Bett. Dieses Mal wehrte sie sich nicht und sah unter halb geschlossenen Lidern zu, wie er sich seiner Hose entledigte und zu ihr kam.

»Du würdest also gern eine Frau sein?«, stöhnte er heiser.

»Ihre Frau«, murmelte sie, während die ungehemmte Lust in seinen Augen prickelnde Neugier erweckte.

Ihre Worte lockten ihn ebenso wie ihre Schönheit, die sich ihm unverhüllt darbot. Sein Körper brannte vor Lust. Wieder bemächtigte sich sein Mund ihrer Lippen, und er küsste sie heftig. Sie seufzte, als er sie freigab, aber schon setzten seine Lippen die Marter fort und glitten über Kinn und Hals. Sein Schnurrbart kitzelte die zarte Haut, bis seine Lippen endlich ihre Brust erreichten und seine Zunge ihre erregte Brustwarze liebkoste.

Die Sehnsucht, die Rebecca verspürte, sobald sie Paul nur ansah, steigerte sich zu solch unerträglicher Qual, dass sich ihre Fingernägel in seine Schultern gruben und kleine Freudentränen aus ihren Augen quollen und in ihrem Haar versickerten. Gierig glitten seine Hände über ihre Hüften, ihren Bauch und die Innenseite ihrer Schenkel, bis seine Finger endlich den lustvollsten Ort ertasteten und in seiner heißen Feuchte badeten. Ein leiser Schmerzenslaut mischte sich in das sehnsüchtige Stöhnen, als er in sie eindrang.

Rebecca war Jungfrau. In seinem Leben hatte er schon viele Frauen geliebt, aber das war neu. Allein der Gedanke, dass sie noch nie einem anderen gehört hatte, ließ seine Glut lodern. Um sie nicht zu überrumpeln und nichts zu verderben, hielt er absolut still, bis der Schmerz vergangen war. Doch als ihm ein kleines Zucken antwortete, war es um ihn geschehen. Er stützte sich auf die Ellenbogen und bewegte sich so verhalten und gefühlvoll, dass er bei jedem Stoß vor Sehnsucht verging.

Rebecca drückte den Kopf ins Kissen und schloss vor Wonne die Augen. Seine Lippen küssten sie und liebkosten ihren Körper, kehrten wieder zu ihrem Mund zurück, um sofort wieder neue Stellen zu erkunden. Gleichzeitig entfachte der Rhythmus seiner Bewegungen eine sehnsuchtsvolle Gier in ihrem Inneren. Als er mit beiden Händen ihren Hintern packte, schlang sie die Beine um seine Hüften, um ihm noch näher zu sein. Er bewegte sich schneller und tiefer, und ihr Körper reagierte wie von selbst, bis ihr Gefühl unglaubliche Höhen erklomm. Plötzlich stöhnte er aus tiefster Seele, brach mit einem letzten Stoß über ihr zusammen und presste sie in nie gefühlter Innigkeit an sich. Es war das reglose Gewicht seines Körpers, das auf ihr lastete und ihr Innerstes in so maßlose Erregung versetzte, dass sie haltlos zu zittern begann. Krampfhafte Zuckungen saugten ihn förmlich in sie hinein, und ihr Bauch und ihre Scham erschauerten stärker, als sie das je zuvor in ihrem einsamen Schlafzimmer erlebt hatte. Mit geschlossenen Augen und hämmerndem Herzen lag sie absolut still. Als er sich bewegte, hielt sie ihn fest und genoss, dass sein Körper sie wie ein Laken bedeckte.

Irgendwann rollte er zur Seite, aber in der engen Koje lagen sie noch immer dicht beisammen.

»Das hätte nicht passieren dürfen«, murmelte er leise.

Sie runzelte die Stirn. »Ich fand es wunderschön.«

Gegen seinen Willen musste er lächeln. Rebecca war wunderschön … und sie war eine Frau. Er hatte sie soeben zu seiner gemacht. Im selben Moment dachte er an Charmaine und schämte sich. Schon der zweite Antrag, den er bei nächstbester Gelegenheit vergessen hatte. Was ist nur los mit mir? Er stand auf und begann, sich anzuziehen.

»Ich liebe Sie«, flüsterte Rebecca, während ihr vor Verzweiflung die Tränen in die Augen stiegen. »Heiraten Sie mich jetzt?«

Er sah auf sie hinunter und begriff, wie sehr sie litt. »Nein, Rebecca, ich heirate Sie nicht. Wie ich schon gesagt habe, hätte es nie geschehen dürfen.«

»Alles nur wegen Ihrer kostbaren Charmaine!«, schimpfte sie. »Sie Narr! Sie glauben doch nur, dass Sie sie lieben!« Damit drehte sie sich zur Wand.

»Schluss damit!« Er ärgerte sich über sich selbst, doch er fürchtete sich davor, sie zu trösten, damit das Ganze nicht wieder von vorn begann. Als er die Decke vom Boden aufhob, um sie über Rebecca auszubreiten, bemerkte er eine Narbe an ihrer Hüfte.

»Was ist das?« Irritiert berührte er die Stelle, die so gar nicht zu ihrem makellos schönen Körper passte.

Sie bäumte sich auf, als ob er ihr ein Brandeisen aufgedrückt hätte. »Die stammt von meinem Vater«, stieß sie hervor. »Der war genauso grausam.«

Die Bemerkung saß. Getroffen fuhr Paul zurück. Er warf die Decke auf das Bett und verließ die Kabine. Er brauchte Zeit, um nachzudenken.

Der Himmel war rabenschwarz. Dichte Wolken verdeckten die Sterne, sodass das Deck nur von wenigen Lampen erhellt wurde. Zwischen den Matrosen, die ein Lager an der frischen Luft ihrem stickigen Quartier unter Deck vorzogen, ging Paul zur Reling hinüber. Tief atmete er die salzige Nachtluft ein und starrte in die Finsternis hinaus.

Was habe ich getan? Vor nicht allzu langer Zeit hätte er ein solches Abenteuer einfach vergessen. Doch diesmal war das anders.

Er dachte an sein erstes Mal. Damals war er fünfzehn Jahre alt geworden, und John und George fanden es an der Zeit, ihm sein erstes Mal im Dulcie’s zu spendieren. John wettete um zehn Dollar, dass Paul versagen würde, doch er verlor. Allerdings erzählte ihm Paul nie von seinen Ängsten. Obgleich die Lady sicher mehr Männer gehabt hatte, als sie zählen konnte, sorgte er sich, dass er sie geschwängert haben könnte. Nie sollte ein Kind erleben, was ihm widerfahren war.

Nachdem er die fleischlichen Lüste einmal erlebt hatte, war es um ihn geschehen. Mit der Zeit legte sich auch seine Angst, ein Kind zu zeugen. Und für die Liebe bezahlen musste er auch nicht mehr. Im Gegenteil. Er wusste um seine Ausstrahlung und traf überall Frauen, die ihn begehrten. In der Regel waren sie älter und erfahrener, und Paul stellte von Beginn an klar, dass sie sein Bett auf keinen Fall mit einem Kind im Bauch verlassen würden. Es gab schließlich Mittel und Wege. Frauen, die ihn länger kannten, wussten genau, wie sie ihn befriedigen konnten. Trotz seiner zahlreichen Liebschaften war Paul sicher, dass er bisher noch kein illegitimes Kind gezeugt hatte.

In dieser Nacht jedoch war ihm der beunruhigende Gedanke in keiner Sekunde in den Kopf gekommen. Er hatte Rebecca voller Leidenschaft geliebt und sich ganz und gar vergessen. Wie groß war eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass sie gleich beim ersten Mal empfangen hatte? Klein, sehr klein. Aber nicht klein genug … Ihr Liebesspiel hatte ihn förmlich berauscht. Wer hatte eigentlich wen beherrscht?

Paul hatte gehört, dass eine Jungfrau nicht so intensiv empfinden könnte wie eine erfahrene Frau. Aber Rebecca hatte er zutiefst befriedigt. Selbst jetzt spürte er noch, wie sich ihre Hüften unter ihm bewegten, hörte ihr Stöhnen … War sie eine Ausnahme, weil sie ihn liebte? Er seufzte, als er die aufregenden Momente noch einmal durchlebte. War das Liebe? Unmöglich. Er kannte sie doch kaum.

Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar und dachte an Charmaine. Warum hatte er sie hintergangen? Und Rebecca genauso? Wie sein Vater mit Elizabeth und Agatha … Denk einfach nicht daran! Sei kein Narr. Warte einfach ab. Mehr brauchst du nicht zu tun.

Als er müde wurde, kehrte er in die Kabine zurück. Rebecca hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Vermutlich hatte sie sich in den Schlaf geweint. Angezogen, wie er war, legte er sich neben sie und war kurz darauf eingeschlafen. Genauso schnell begann er zu träumen.

Er ritt auf Alabaster auf das Herrenhaus zu. Charmaine saß auf der Schaukel, und die kleine Marie lag auf einer Decke neben ihr. Sie sah ihn schon von Weitem und winkte. Als er abstieg, nahm sie Marie auf den Arm und kam zu ihm. Dann gingen sie ins Haus und stiegen die Treppe hinauf. Nachdem Charmaine ihre Tochter ins Bett gebracht hatte, kam sie in sein Zimmer und schloss hinter sich ab. Sie zog sich aus und ließ sich umarmen und küssen. Dann hob er sie hoch und trug sie zum Bett. Er liebte sie, doch als es vorüber war, rollte sie sich, Tränen in den Augen, von ihm weg und ließ ein leeres Gefühl in ihm zurück.

Im nächsten Traum sah er frühmorgens in der Sägemühle nach dem Rechten und nickte Wade zu. Anschließend ritt er in die Stadt. Dort ging er auf das Cottage der Remmens zu. Als auf sein Klopfen niemand öffnete, verschaffte er sich gewaltsam Zutritt. Mit blitzenden Augen trat ihm Rebecca entgegen. Sie beschimpfte ihn, weil er mit Charmaine geschlafen hatte. Er war sicher, dass sie ihrer Leidenschaft erlag, wenn er sie nur küsste. Sie wollte flüchten, doch er war mit zwei großen Schritten bei ihr und riss sie in seine Arme. Als seine Lippen ihren Mund eroberten, gab sie den Widerstand auf. Mit dem Fuß stieß er die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf und trug sie zum Bett. Dort nahm er sie, bis seine Leidenschaft befriedigt war. Dann zog er sie in seine Arme und wiegte sie, während sein Glück langsam abebbte.

»Paul, was tust du da?«

John stand im Türrahmen.

Paul riss die Augen auf. Sein Atem ging stoßweise, und der schnelle Puls trieb ihm die Schweißtropfen auf die Stirn. Er starrte zur Decke empor und begriff nur langsam, wo er sich befand. Das Ganze war nur ein Albtraum gewesen.

Rebecca hatte sich im Schlaf bewegt und eng an ihn geschmiegt. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, und ihr Arm lag quer über seiner Brust. Trotz guter Vorsätze zog er sie näher an sich. »… aber ich liebe Sie doch«, murmelte Rebecca. Paul musste schlucken. Er war zutiefst verwirrt und hätte am liebsten geweint. Er schloss die Augen und schlief kurz darauf erschöpft ein.

Helles Tageslicht, das durchs Bullauge in die Kabine drang, weckte Rebecca. Ihr Kopf schien zu platzten, ihre Augen brannten, und ihr Körper schmerzte von Kopf bis Fuß. Besonders zwischen den Beinen. Als sie merkte, dass sie bei Paul lag, rollte sie von ihm weg und weckte ihn. Als er die Augen öffnete, errötete sie und versuchte, ihre Blöße zu bedecken.

»Hier.« Er zog sein Hemd über den Kopf und legte es um ihre nackten Schultern. Sie wickelte sich darin ein und starrte aufs Bett hinunter. »Es tut mir leid, was passiert ist«, sagte Paul.

»Sie wiederholen sich.«

»Wir müssen reden.« Trotz der hitzigen Antwort spürte er ihre Angst. »Sie sind wunderschön, Rebecca. Eines Tages werden Sie auch jemanden finden, der Sie glücklich macht. Aber dieser Jemand bin sicher nicht ich.«

Tränen schimmerten in ihren Augen, und sie wandte das Gesicht ab. Doch er umfasste ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Heute Nacht haben Sie gesagt, dass ich Charmaine liebe. Sie haben recht. Ich unternehme diese Reise nur, um meinen Bruder zu finden. Doch falls ich John nicht lebendig nach Hause bringen kann, heirate ich Charmaine. Das habe ich ihr vor der Abreise versprochen. Bevor all dies passiert ist. Haben Sie das verstanden?«

Sie verweigerte die Antwort und entzog sich ihm.

»Haben Sie das verstanden?«

»Oh, ich verstehe nur zu gut! Sie schickt Sie in den Tod, wie sie das zuvor mit Ihrem Bruder und Ihrem Vater gemacht hat!«

Paul runzelte die Brauen. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Wenn Ihr Vater und John tot sind und Blackford auch noch Sie umbringt, erbt Charmaines Tochter das gesamte Vermögen. Stimmt das?«

Paul barg den Kopf in den Händen und lachte ungläubig. »Vermutlich ist das richtig, aber Blackford wird mich nicht töten.«

»Er könnte es aber tun, wenn Sie ihn verfolgen.«

»Ich bin nicht hinter Blackford her, und ich wollte auch nicht, dass John ihn aufspürt. Ich will nur wissen, was meinem Bruder und meinem Vater zugestoßen ist, und sie nach Hause holen … ganz gleich, wie. Wie kommen Sie nur auf solche Ideen? Von Wade haben Sie das hoffentlich nicht.«

»Er hat keine Ahnung von alledem. Felicia hat mir das erzählt. Felicia Flemmings.«

Wütend sah Paul sie an. »Hat sie auch erzählt, dass ich sie entlassen habe, weil sie ständig nur Lügen verbreitet?«

»Nein«, flüsterte Rebecca. »Sie hat angeblich gekündigt, weil sie die Machenschaften nicht mehr ertragen konnte.«

»Etwa Charmaines Machenschaften?«

»Das war bestimmt nicht alles gelogen!«, begehrte Rebecca auf. Sie war sehr unglücklich, dass Paul seine Schwägerin offenbar immer noch liebte.

»Hat sie auch erzählt, dass sie öfter das Bett mit mir geteilt hat?« Sein Ton wurde schärfer. »Dass sie gehofft hat, dass unser Techtelmechtel zu etwas Ernsthaftem führt? Dass sie eifersüchtig war, weil Charmaine in die Familie eingeheiratet hat und nicht sie?«

Rebecca zog eine beleidigte Miene. »Und jetzt glauben Sie, dass ich dasselbe plane?«

»Nein, Rebecca, das käme mir nicht in den Sinn.«

Sie hob ihre Hose vom Boden auf und hörte gar nicht hin. Weinend schlüpfte sie hinein. »Keine Sorge«, wimmerte sie, »sobald wir wieder in Charmantes sind, werden Sie mich nie mehr zu Gesicht bekommen.«

Er überging ihr Versprechen. »Sobald wir in New York ankommen, kaufe ich Ihnen etwas Anständiges zum Anziehen. Meinem Vater und meinem Bruder sage ich, dass Sie sich aufs Schiff geschlichen haben, weil Sie unbedingt die große Stadt sehen wollten. Sind Sie damit einverstanden?«

Sie gab keine Antwort, und er wusste nicht recht, ob Ärger oder Schmerz sie hatten verstummen lassen.

Donnerstag, 27. Dezember 1838

Benito St. Giovanni nahm die plötzliche Ankunft von John Ryan nicht weiter schwer. Schließlich hätte es schlimmer kommen können. Man hätte zum Beispiel seinen Tunnel entdecken können, der so gut wie fertig war. Oder seine Zeit hätte abgelaufen sein können. Nachdem Ryan vor knapp vier Wochen in sein Gefängnis gebracht worden war, hatte er ihn zuerst einmal eine Woche lang vorsichtig beäugt.

»Was hat es mit dem Gerede über John Duvoisins Frau auf sich?«, fragte Ryan.

Benito antwortete nicht gleich, weil er in Gedanken bei der neuen Mrs Duvoisin verweilte. So sieht also ihre Familie aus. Wie abstoßend!

Als Ryan keine Ruhe gab, stellte er ihm eine Frage: »Sagt Ihnen der Name Charmaine Ryan etwas?«

Misstrauisch starrte Ryan den Priester an. Wieso kennt dieser Mann den Namen meiner Tochter? Ganz langsam dämmerte es ihm.

Der Priester lächelte. »Ganz recht, mein Freund. Charmaine ist John Duvoisins Frau. Ich würde sagen, Ihre Tochter hat glänzend für sich gesorgt. Sie dagegen eher nicht.« Benito ließ seine Worte einige Zeit wirken. »Auf Charmantes ist allgemein bekannt, dass Charmaine Duvoisins Vater, also Sie, seine Frau zu Tode geprügelt hat. John dürfte nicht gerade erfreut sein, wenn er Sie bei seiner Rückkehr hier vorfindet. Er kann ganz schön wütend werden, falls Sie das nicht schon mitbekommen haben.«

»Was soll das heißen: bei seiner Rückkehr?«, zischte Ryan.

»Im Augenblick ist er noch einem anderen Mörder auf den Fersen«, erklärte der Priester. »Doch wenn er zurückkommt, geht es uns an den Kragen.«

John Ryan zog zwei reichlich zerknüllte Umschläge aus der Tasche. »Demnach sind die von ihm«, brummte er.

»Wo haben Sie die Briefe her?« Benitos Neugier war augenblicklich geweckt. Quer auf beiden Umschlägen prangte Charmaines Name.

»Vom Schiff. Ich habe gehört, wie Stuart Simons mit dem Kapitän gesprochen hat, den Namen meiner Tochter erwähnte, und dann habe ich gesehen, wie er diese Briefe und noch einen anderen Stapel übergeben hat. Später habe ich herausbekommen, wo sie lagen, und mich bedient. Ich kann nicht gut lesen, aber wie man den Namen meiner Tochter buchstabiert, weiß ich.«

Giovanni grinste. »Möchten Sie hören, was in den Briefen steht?« Ryan hätte das zu gern gewusst, aber als der Priester die Hand nach den Umschlägen ausstreckte, wollte er sie nicht herausrücken.

»Was haben Sie eigentlich auf dem Kerbholz«, fragte er stattdessen.

»Ich bin nicht bereit, darüber zu sprechen.«

»Nun gut. Dann sind Sie bestimmt auch nicht an den Briefen interessiert«, entgegnete Ryan freundlich.

Ah … Wie ich sehe, sprechen wir dieselbe Sprache, dachte Benito. »Erpressung«, sagte er dann. »Nur Erpressung.«

Ryan nickte zufrieden und schob dem Priester die Briefe hin. Giovanni öffnete sie und überflog das Geschriebene. Dann grinste er über das ganze Gesicht. Sie hatten noch jede Menge Zeit. John und Frederic Duvoisin suchten in New York nach Blackford und gingen inzwischen davon aus, dass er seinen Namen geändert hatte. Bis zu ihrer Rückkehr konnten Monate vergehen.

Am Tag darauf beschloss er, John Ryan in seine Fluchtpläne einzuweihen. Angesichts der Lage blieb ihm nichts anderes übrig. Vielleicht konnte ihm der Mann ja sogar nützlich sein. Später wollte er ihn sich dann vom Hals schaffen. Bei dem Gedanken grinste er. Auf dem offenen Meer dürfte das kein Problem sein.

In der zweiten Woche seiner Gefangenschaft lernte Ryan, wie man mit dem Löffel einen Tunnel grub, und am Ende der dritten Woche war der Durchbruch geschafft. Der einzig kritische Augenblick in der viermonatigen Bauzeit war eine Bemerkung von Buck: »Entweder wachse ich, oder die Decke wird niedriger.«

Ende Dezember wurde die Sache plötzlich ernst. Buck Mathers berichtete, dass Paul Duvoisin die Insel verlassen hatte, um nach seinem Vater und seinem Bruder zu suchen. Die Zeit war gekommen. Am siebenundzwanzigsten Dezember krochen John Ryan und Benito St. Giovanni durch den Tunnel in die Freiheit und verschwanden in der Nacht.

Das Glück war auf ihrer Seite. Der Mond war beinahe voll. Sein strahlendes Licht ließ die Sterne verblassen und warf dunkle Schatten auf den Weg. Die sieben Meilen bis zu Benitos kleinem Haus legten sie zu Fuß zurück und kamen kurz vor Mitternacht dort an. Im Gefängnis hatten sie jeden Schritt haargenau geplant, um unterwegs nicht reden zu müssen. Stattdessen spitzten sie die Ohren, damit ihnen auch nicht das leiseste Geräusch entging.

Mit einer Laterne aus dem Häuschen suchte Ryan den Wald hinter dem Schuppen ab, bis er das Ruderboot kieloben in einer Art Unterstand unter dichten Zweigen entdeckte. Er drehte es um, legte Ruder, Holm und Segel hinein und zerrte es einen Pfad entlang, der bis hinunter zum Strand führte, wie Giovanni ihm erklärt hatte. Anschließend schlug er sich den Staub von den Händen und machte sich auf den Rückweg in das kleine Haus.

Giovanni betete, dass sich die Gegenstände, die er vor vier Monaten versteckt hatte, noch an Ort und Stelle befanden. Er war nicht sonderlich überrascht, dass man sein Häuschen durchsucht hatte. Er schüttelte den Kopf. Hielten sie ihn wirklich für so dumm, dass er seine Beute hier versteckte? Oder waren sie die Dummen? Sie hatten nicht einmal die Pistole gefunden, die er unter einem losen Dielenbrett unter dem Bett versteckt hatte. Er ließ eine Patrone in den Lauf gleiten und steckte die restliche Munition in die Tasche. Aus einer Tasse im Schrank holte er den Kompass hervor und aus einem Haufen schmutziger Wäsche ein längeres Tau. Als Letztes nahm er ein Heiligenbild von der Wand und steckte den silbernen Schlüssel ein, der dahinter verborgen war. Dieser Schlüssel öffnete das Tor zum Besitz der Duvoisins. Er besaß noch einen zweiten, den er seit dem Morgen seiner Festnahme am Körper trug. Dieser Schlüssel öffnete seine Zukunft.

John Ryan kam zurück, als Benito gerade das Haus verließ. Sie nickten einander zu, woraufhin der ältere Mann dem Priester den Vortritt ließ. Ihr nächstes Ziel war das Herrenhaus.

Wade Remmen saß am Küchentisch und fuhr sich verzweifelt mit den Händen durchs Haar. Rebecca war seit nunmehr zwei Tagen verschwunden. Er wusste, dass seine Schwester unglücklich war. Oft genug hatte sie sich über das langweilige Leben im Cottage beschwert, aber er hatte nicht hingehört und war nun außer sich vor Sorge. Als er am Tag nach Weihnachten aufwachte und das Haus leer war, hatte er sich nichts Böses gedacht. Doch als er von der Arbeit zurückkam und sie noch immer nicht da war, bekam er es mit der Angst zu tun. Wohin war sie gegangen?

Felicia Flemmings war überhaupt keine Hilfe. Ihrer Meinung nach hatte Rebeccas Verschwinden mit ihrer »Liebe« zu Paul Duvoisin zu tun. Wade war die Schwärmerei seiner Schwester nicht entgangen. Aber Paul war ein erwachsener Gentleman und Rebecca nur ein junges ungebildetes Mädchen mit romantischen Vorstellungen. Als er sich von Felicia verabschiedete, war er nicht schlauer als zuvor. Paul hatte die Insel an Bord der Tempest verlassen. Hatte Rebecca sich aus Kummer an einen Ort geflüchtet, wo sie allein trauern und auf seine Rückkehr warten konnte? So ein Unsinn, dachte Wade, bestimmt ist sie nur wütend auf mich.

Doch an diesem Abend war klar, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Ebenso gut konnte etwas passiert sein. Während des Tages hatte er nicht nach ihr suchen können, doch jetzt hatte er ein paar Stunden Zeit, bis er morgen früh wieder in der Sägemühle gebraucht wurde. Er verließ das Haus, und der Mond leuchtete ihm. Warum er zuerst die Richtung zum Herrenhaus einschlug, konnte er nicht sagen. Immerhin war es Pauls Zuhause, und vielleicht fühlte sich Rebecca von diesem Ort besonders angezogen, auch wenn Paul gar nicht dort war.

Jeannette konnte nicht schlafen. Es war lange Wochen her, dass sich die Glastüren zuletzt von allein geöffnet hatten. Seit Pierres Tod war die »Erscheinung« nur noch ein ferner Traum. Doch nicht so in dieser Nacht. Mit einem Mal hörte sie, wie sich der Riegel bewegte und die Tür sacht in den Raum schwang … und das, obwohl sich kein Lüftchen regte. Doch im Gegensatz zu damals hatte sie heute keine Angst mehr … auch wenn es ihr lieber gewesen wäre, wenn ihr Vater, Johnny oder Paul zu Hause gewesen wären. Leise schlüpfte sie aus dem Bett und weckte ihre Schwester.

Yvette rieb sich schlaftrunken die Augen. »Was ist los?«

»Die Türen«, flüsterte Jeannette. »Sie sind wieder aufgegangen.«

Wortlos stand Yvette auf, schloss die Türen und schob den Riegel an seinen Platz. »Das wollen wir doch mal sehen!«

Jeannette fühlte sich unbehaglich, weil ihr Bett näher an den Türen stand. »Kann ich bei dir schlafen?«

Yvette lächelte. »Klar.«

Zum Schutz vor der kühlen Dezemberluft kuschelten sie sich unter die Decke. Ein paar Minuten später öffneten sich die Türen wieder wie von Geisterhand. Die Mädchen sahen einander an. Diesmal schlich Yvette vorsichtig näher und huschte im letzten Moment blitzschnell auf den Balkon, um den »Geist« zu überraschen. Aber da war niemand.

Als sie wieder hineingehen wollte, ließ ein Geräusch sie herumfahren. Vorsichtig spähte sie über die Balustrade und sah gerade noch, wie sich die Außentür der Kapelle schloss. Ein dumpfes Geräusch bestätigte ihr, dass sie keine Gespenster gesehen hatte. Irgendjemand war in den Besitz eingebrochen, doch was genau hatte dieser Jemand mitten in der Nacht in der Kapelle zu suchen?

Mit entschlossenem Schritt durchquerten Giovanni und Ryan die Kapelle. Bisher war ihre Flucht ohne Zwischenfall verlaufen, und bald würden sie vom Meer aus den Sonnenaufgang beobachten. Ryan hob die Laterne in die Höhe, während Benito an den Altar trat. Kelch und Ziborium standen wieder auf dem Altar, aber keiner hatte sie ins Tabernakel eingeschlossen. Ein gutes Zeichen … denn den Schlüssel zum Tabernakel besaß nur er allein. Idioten, dass sie ihn nicht von mir verlangt haben! Er steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete den Schrein. Die Schmuckstücke und Münzen, um die er Agatha erleichtert hatte, waren unberührt. Er wog den schweren Beutel in der Hand, bevor er ihn sich mit Hilfe des Seils um den Bauch knotete und sorgfältig unter dem Hemd verbarg.

Misstrauisch kniff Ryan die Lider zusammen. »Ist das alles?«, flüsterte er.

»Keine Sorge, es ist genug«, versicherte der Priester.

»Genug für Sie, das kann schon sein«, brummte Ryan, während sein Blick über die steinernen Mauern bis zum Vorraum glitt, durch den sie die Kapelle betreten hatten. Rasch entwickelte er seinen eigenen Plan. »Dies ist ein prächtiges Haus. Da ist sicher noch mehr zu holen.« Dabei deutete er auf die Seitentür, die zum Ballsaal führte. »Bis Sonnenaufgang ist noch Zeit. Kommen Sie, lassen Sie uns sehen, was wir noch mitnehmen können.«

»Kommt nicht infrage!«, widersprach Giovanni energisch. »Das haben wir oft genug besprochen. Es ist zu gefährlich!«

»Sie haben das entschieden«, schimpfte Ryan. »Aber jetzt bin ich an der Reihe!«

»Dann gehen Sie doch. Ich stelle es Ihnen frei. Aber das Boot wartet nicht!«, drohte der Priester.

»Und wenn ich die Familie aufwecke? Das wollen Sie doch sicher vermeiden, oder nicht?«

Giovanni zögerte. Dieser John Ryan war mit allen Wassern gewaschen. Er hätte den Vogel schon in der Hütte abknallen sollen, wo der Wald das Geräusch verschluckt hätte. Im Moment blieb ihm nichts anderes übrig, als nachzugeben.

In seiner Gier versuchte Ryan den Priester umzustimmen. »Da die Hausherren ausgeflogen sind, können wir doch leicht noch mehr erbeuten. Sie kennen das Haus wie Ihre Westentasche. Wo fangen wir an?«

Im Grunde kein schlechter Gedanke, überlegte Giovanni. Es soll mir recht sein, wenn er noch mehr Schätze stiehlt. Umso reicher werde ich, wenn ich ihn abknalle. »In den Räumen des Hausherrn und der Hausherrin«, flüsterte er und überließ den anderen stillschweigend seinem Triumph.

»Gehen Sie voran.«

Im Ballsaal konnte sich Yvette gerade noch rechtzeitig in den Schatten drücken. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, dass sich die Tür zur Kapelle öffnete, und musste einen Aufschrei unterdrücken. Und dann fielen ihr beinahe die Augen aus dem Kopf, als sie Father Benito erblickte. Um zu erraten, wer der andere war, musste man kein Genie sein. Wenn Charmaine wüsste, dass ihr Vater ins Haus eingedrungen war, wäre sie sicher zu Tode erschrocken.

Vor dem großen Tor hielt Wade inne. Das mächtige Herrenhaus wurde vom Mond beleuchtet, aber alle Fenster waren dunkel. Er lehnte sich gegen das Gitter und war überrascht, als das Tor nachgab. Normalerweise schlossen die Pferdepfleger das Tor um zehn Uhr ab und öffneten es wieder bei Sonnenaufgang. Seltsam. Offenbar war es heute vergessen worden. Er stieß das Tor auf und ging die Zufahrt entlang.

Je länger ihre Schwester ausblieb, desto unruhiger wurde Jeannette. Leise schlich sie auf den Balkon und spähte über die Balustrade zur Kapellentür hinüber. Aber dort war alles ruhig. Als sie sich aufrichtete, blieb ihr vor Schreck das Herz stehen. Ein Mann näherte sich dem Haus. Blitzschnell duckte sie sich hinter das Geländer und kroch in ihr Zimmer zurück. Es war an der Zeit, Charmaine zu wecken.

Yvette folgte den beiden Eindringlingen in sicherer Entfernung durch den Ballsaal und dann weiter durch die Küchenräume bis zur rückwärtigen Treppe für die Bediensteten. Offenbar hatten es die Männer auf die Räume ihres Vaters abgesehen. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie durchs große Treppenhaus nach oben laufen sollte, aber dann verwarf sie den Gedanken. Es war sicherer, den beiden zu folgen. Sie wartete, bis sie das Geräusch einer Tür hörte. Dann hielt sie sich am Geländer fest und stürmte in absoluter Finsternis die Treppe hinauf. Im Flur lauschte sie an sämtlichen Türen, doch nichts war zu hören. Da sie nicht wusste, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte, entschied sie sich erst einmal für das Ankleidezimmer ihrer Mutter. Lautlos öffnete sie die Tür und spähte hinein. Das Mondlicht schien durch die französischen Türen, aber von den Männern keine Spur. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Salontür und horchte. Nichts. Sie wartete endlose Minuten und lauschte so angestrengt, bis ihr der eigene Atem in den Ohren dröhnte. Wo steckten die beiden nur? Ob sie in den Räumen ihres Vaters suchen sollte? Sie biss sich auf die Unterlippe und drehte geräuschlos den Knauf. Dann presste sie ein Auge an den einen schmalen Spalt und spähte hinein. Der Salon war leer. Sie seufzte erleichtert.

Doch kaum, dass sie den Raum betreten hatte, wurde sie ohne Vorwarnung von hinten gepackt und in die Höhe gehoben. Eine stinkende Hand legte sich über ihren Mund und erstickte ihren Schrei. Als sie wie eine Verrückte um sich schlug und trat, raunte es an ihrem Ohr: »Wenn du weißt, was gut für dich ist, lässt du das sofort bleiben!« Aber sie strampelte und zappelte weiter, bis Father Benito aus dem Schatten trat und eine Pistole auf sie richtete.

»Du spionierst zu viel, Yvette!«, flüsterte er.

Als sie weiter strampelte, spannte er den Hahn, woraufhin sie augenblicklich innehielt. »Ich vermute, dass du die Reitgerte hinter meinem Schuppen verloren hast.« Er schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Und deine liebe Stiefmutter hat tatsächlich geglaubt, dass der Wind die Körbe umgeworfen hat!«

Yvettes Braue zuckte, und Benito ließ ein drohendes Lachen hören. »Dachte ich es mir doch! Du wirst schon noch merken, wie es Kindern ergeht, die zu neugierig sind.« Er sah seinen Kumpan an. »Ich denke, wir können sie als Geisel gebrauchen, Mr Ryan.«

Grinsend sah Ryan das Mädchen an. Father Benito ging zum Tisch und entzündete seine Laterne. »Na los, Mädchen, zeig mir, wo deine Mutter ihren Schmuck versteckt hat! Und zwar leise, wenn ich bitten darf. Ich würde deiner Schwester oder dem Kindchen der Gouvernante nur ungern Schmerzen zufügen.«

Charmaine saß im Lehnstuhl und stillte Marie, als Jeannette plötzlich ins Zimmer kam und sie angstvoll ansah. »Was ist passiert?«, fragte sie besorgt.

Rasch berichtete das Mädchen, was geschehen war, doch Charmaine war nicht allzu beunruhigt, weil sich der »Geist« noch kein einziges Mal gezeigt hatte. Eher war das wieder eine von Yvettes Eskapaden. Und was die Gestalt vor dem Haus anging, so war vermutlich einer der Stallknechte aus seinem Quartier oberhalb der Ställe nach draußen gegangen, um sich zu erleichtern. Trotzdem konnte sie nicht zulassen, dass Yvette um zwei Uhr nachts durchs Haus geisterte.

Sie drückte dem Mädchen die strampelnde Marie in die Hand und stand auf, und nachdem sie ihren Morgenmantel neu geknotet hatte, nahm sie ihre Tochter wieder an sich. »Komm, Jeannette. Wir gehen deine Schwester suchen.«

Wade ging um das Haus herum, doch als er nichts Ungewöhnliches feststellen konnte, beschloss er, sich wieder auf den Heimweg zu machen. Warum war er überhaupt gekommen? Rebecca würde er vermutlich erst wiedersehen, wenn sie sich selbst zur Heimkehr entschloss.

Als er in der Nähe der Ställe um die Ecke bog, hörte er Stimmen. Die eine gehörte einem der Zwillinge und die andere eindeutig Johns Frau. »Wo kann sie denn nur sein?«, fragte das Mädchen, als beide aus der Kapellentür nach draußen blickten. »Sie wollte doch zur Kapelle gehen.«

Das Mädchen schien besorgt. So besorgt wie er. Das brachte ihn dazu, einen Schritt vorzutreten. Erschrocken schrien die beiden auf. »Es tut mir leid … ich wollte Sie nicht erschrecken!«, entschuldigte er sich sofort. »Ich bin es … Wade Remmen.«

Jeannette freute sich, doch Charmaine runzelte die Stirn. Ihr Schrei hatte Marie erschreckt, sodass sie einen Schrei ausstieß, der gleich darauf in lautes Weinen überging. »Warum schleichen Sie hier herum? Uns so zu erschrecken!«

»Ich wollte Sie nicht erschrecken, und ich bin auch nicht herumgeschlichen. Ich bin lediglich auf der Suche nach meiner Schwester. Ich vermisse Rebecca seit gestern Vormittag.«

»Was sollte Ihre Schwester denn ausgerechnet hier verloren haben, Mr Remmen?« Charmaine war misstrauisch. In ihren Ohren klang die Entschuldigung dürftig. Sie legte sich Marie über die Schulter und tätschelte ihr den Rücken, bis die Kleine sich langsam beruhigte.

»Seien Sie nicht böse, Mademoiselle«, bat Jeannette. »Wenigstens wissen wir jetzt, wen ich gesehen habe.« Sie sah Wade anbetend an. »Sie sind nicht zufällig meiner Schwester begegnet, oder?«

»Nein, Jeannette, leider nicht.«

Yvette wusste, dass sie sich irgendwie aus der misslichen Lage befreien musste. Andererseits hatte sie schreckliche Angst um ihre Schwester und die kleine Marie. Also tat sie erst einmal, was Father Benito verlangte. Sie zeigte ihm die geschnitzte Schatulle ihrer Mutter, die jedoch so gut wie leer war. »Mamas schönste Schmuckstücke fehlen ja!«, empörte sie sich und starrte den Priester vorwurfsvoll an.

»Halt den Mund!« Er fuchtelte mit der Pistole herum. Offenbar hatte ihm Agatha als Erstes Colette Duvoisins Schmuckstücke ausgehändigt. »Es muss noch irgendwo im Haus Geld geben. Womöglich einen Safe? Wo ist er?«

Yvette führte die beiden Männer in die Räume ihres Vaters und deutete auf die Schublade seines Schreibtisches, wo er nicht nur wichtige Dokumente, sondern auch einen Beutel voller Goldmünzen verwahrte. Und ihre Börse aus dem Spielsalon, wie sie überrascht feststellte. Den Safe in der Wand erwähnte sie mit keinem Wort. Offenbar waren die Männer zufrieden. Father Benitos Augen glänzten vor Gier, als er die Laterne abstellte, dann einen Beutel in den anderen füllte und den prallen Sack in seinen Händen wog. »Noch ein bisschen mehr, und wir könnten ihn nicht mehr heben! Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen, Ryan.«

John Ryan war ebenfalls zufrieden. Er nahm dem Priester den Beutel aus der Hand und band ihn an seinen Gürtel.

»Darf ich jetzt gehen?«, fragte Yvette kleinlaut.

»Alles zu seiner Zeit, meine Kleine. Alles zu seiner Zeit.«

»Aber meine Schwester ängstigt sich zu Tode, wenn ich nicht bald zurückkomme.«

Der Priester lachte in sich hinein. »Wenn sie so dumm ist wie du und Ärger sucht, so kann sie den bekommen.«

Im ersten Moment war Yvette beleidigt, aber dann merkte sie, dass die Geringschätzung ihren Zorn nur vergrößerte. So schnell gab sie sich nicht geschlagen. Wenn sie kühlen Kopf bewahrte, konnte sie womöglich ungeschoren davonkommen. Dann war allein das Geld ihres Vaters verloren. Aber das ließ sich ersetzen.

Die Männer führten ihre Geisel auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Father Benito leuchtete, und John Ryan drehte Yvette den Arm auf den Rücken, damit sie ihm nicht entkommen konnte. Auf dem Weg durch den Ballsaal blieben sie wie angewurzelt stehen, als sich dicht vor ihnen plötzlich die Tür zur Kapelle öffnete.

Charmaine machte einen Satz und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als ihr Father Benito eine Pistole entgegenstreckte. Aber ihr Entsetzen steigerte sich noch, als sie Yvette und den Mann erblickte, der das Mädchen gepackt hielt. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, als sie sich unvermittelt dem größten Albtraum ihres Lebens gegenübersah: John Ryan!

»Wie kommst du hierher?«, schrie sie. Das Gebrüll ihrer Tochter, das von den Wänden widerhallte, schien sie gar nicht zu hören.

»Aber, aber, Haley Charmaine. Wie ich gehört habe, bist du inzwischen zu Geld gekommen. Und genau wie damals hast du deinen Dad vergessen. Es wird Zeit, dass du deinen Reichtum mit mir teilst.«

»Aber wie … wie bist du denn hierhergekommen?«

»Ich stelle hier die Fragen«, erklärte Father Benito barsch. Er wandte sich seiner Geisel zu. »Sieh nur, Yvette, deine Schwester hat dich tatsächlich gesucht. Wahrlich schade, dass sie nicht so klug war, in ihrem Zimmer zu bleiben.« Er bedeutete Charmaine mit der Waffe, ihre brüllende Tochter zu beruhigen.

»Sie hat sich erschreckt!«, protestierte Charmaine. »Da kann ich nichts machen!«

»Sie weckt noch das ganze Haus auf!«, bellte Ryan.

Aufgeregt stellte Father Benito die Laterne ab. »Komm zu mir!«, befahl er und drohte Jeannette mit der Waffe. »Sofort!« Er packte ihren Arm und zerrte sie zu sich.

Charmaine schnappte nach Luft, als er dem Mädchen den Lauf der Pistole an die Schläfe drückte. »Nein … bitte!«, flehte sie. »Lassen Sie Jeannette gehen!«

»Immer mit der Ruhe«, erklärte Benito. »Sie gehen jetzt nach oben und stillen das Kind, damit es einschläft. Und dann knien Sie nieder und beten, dass ich so gnädig bin und die Kinder laufen lasse, wenn ich mit ihnen fertig bin. Wenn Sie jemanden im Haus alarmieren, garantiere ich, dass Sie … dass Sie Yvette und Jeannette nicht mehr lebend wiedersehen!«

Jeannette wimmerte.

»Bitte!«, flehte Charmaine. »Lassen Sie die Kinder frei. Ich verspreche auch, dass ich niemandem etwas sage!«

Der Priester räusperte sich und grinste nur hämisch. »Ich denke nicht daran.«

Da wandte sich Charmaine mit flehendem Blick an ihren Vater. »Bitte! Du bist doch mein Vater! Hilf ihm nicht. Lass die Mädchen frei!«

»Ich soll dein Vater sein?«, zischte Ryan abfällig. »Wirklich nicht! Deine Mutter war eine Hure, und zwar vom ersten Tag an bis zu ihrem Tod!«

Charmaine unterdrückte ein Schluchzen und klammerte sich in ihrer Verzweiflung an die kleine Marie.

Benito St. Giovanni entsicherte seine Waffe. »Wir vergeuden nur wertvolle Zeit. Bei zehn sind Sie verschwunden!«

»Guter Gott!«, stöhnte Charmaine, als der Priester zu zählen begann. Dann nahm sie all ihre Vernunft zusammen und flüchtete aus dem Ballsaal.

St. Giovanni stieß Jeannette in den Rücken, damit sie vor ihm hergehen sollte, und Ryan versetzte Yvette einen Tritt in den Hintern. Empört fuhr das Mädchen herum. »Kein Wunder, dass Mademoiselle Charmaine Sie hasst!«

»Ruhe!«, zischte der Priester. »Kein Wort mehr! Beeilt euch lieber.«

Yvette zeigte sich nicht allzu beeindruckt. »Wohin gehen wir denn?«

»Ruhe … oder ich blase deiner Schwester ein Loch in den Kopf!«, drohte Benito.

Yvette hielt den Mund, aber ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft.

Keine zwei Minuten später hämmerte Charmaine wie verrückt an Georges Tür, bis sie endlich aufgerissen wurde.

Erschrocken sah George sie an. »Was ist los?«

»Father Benito … mein Vater …« Charmaine schnappte nach Luft und zitterte am ganzen Leib. »Sie waren hier! Sie haben Yvette und Jeannette entführt!«

»Wann und wohin?«

»Gerade eben! Keine Ahnung, wohin sie gehen! Sie haben mir verboten, Alarm zu schlagen. Benito hat eine Pistole! O Gott, George … Was, wenn er die Kinder umbringt?«

George rannte ins Zimmer zurück und schlüpfte in seine Stiefel. »Zeigen Sie mir, wohin sie gegangen sind«, drängte er, während er sein Hemd überstreifte.

Mercedes übernahm Marie, die noch immer wie am Spieß schrie, und George rannte zusammen mit Charmaine in die Halle hinunter. »Mercedes«, rief er über die Schulter zurück, »wecke Travis und Joshua Harrington!«

Die Wiesen vor dem Haus waren verlassen. »Verdammt! Dafür bringe ich John um!«

Charmaine war überrascht. »Was hat denn John damit zu tun?«

»Es war seine Idee, Ihren Vater nach Charmantes zu locken.«

Zu spät begriff er, dass er besser den Mund gehalten hätte. Mit Riesenschritten eilte er zum Stall hinüber.

Charmaine hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Was meinen Sie mit seine Idee

»Das erkläre ich Ihnen später!«

Obwohl sie ihn bestürmte, wollte er nicht mit der Sprache herausrücken. »Zuerst einmal müssen wir die Mädchen finden.«

Schnell wurden die Pferde gesattelt und die Gewehre an die Männer verteilt. Sie wollten zuerst den Hafen durchsuchen und außerdem Benitos kleines Haus im Wald.

»Sie müssen äußerst vorsichtig sein, George«, beschwor ihn Charmaine. »Wenn die beiden merken, dass sie verfolgt werden, könnten sie den Mädchen etwas antun! Ich musste versprechen, nichts zu sagen.«

»Aber deswegen können wir nicht untätig dasitzen und warten.«

Ohne ein weiteres Wort schwang er sich in den Sattel und gab seinem Pferd die Sporen. Gerald und die Stallknechte taten es ihm nach und galoppierten hinter ihm durchs Tor hinaus. Einige Minuten später erschienen auch Joshua Harrington und Travis und Joseph Thornfield vor dem Haus und machten sich zu Fuß in nördlicher Richtung auf den Weg.

Charmaine konnte ihre Unruhe nicht länger bezähmen und verlangte, dass Bud ihre Stute sattelte.

»Aber, Ma’am, Sie können doch unmöglich allein losreiten!«, flehte Bud. Doch als sie sich nicht überzeugen ließ, befolgte er die Anweisung, die ihm George Richards gegeben hatte.

Charmaine schlug die Richtung zum südlichen Strand ein, wo bisher noch niemand suchte. Ein paar Minuten später hörte sie einen Reiter, und als sie sich umwandte, sah sie, dass Bud ihr auf Champion folgte. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn Ihnen etwas passiert, Ma’am«, sagte der Stallknecht, als er sie einholte.

Die ungleichen vier bahnten sich mühsam ihren Weg durchs Unterholz zum Strand hinunter, der ungefähr drei Meilen vom Besitz der Duvoisins entfernt lag. Doch auf dem Sand wurde das Gehen beschwerlicher, sodass Giovanni und Ryan bald unter der Last ihrer Beute keuchten. Mehr als ein Mal wollte Ryan eine Pause einlegen, aber der Priester trieb ihn unablässig voran, obwohl er genauso erschöpft war. Jeannette war froh, als sie langsamer vorankamen, weil sie hoffte, dass aus dem Herrenhaus Hilfe einträfe. Yvette dagegen wollte lieber schneller gehen, um die Männer zu erschöpfen. Als Jeannette zu ihr herübersah, zog sie nur stumm an ihrem Zopf. Jeannette verstand das Signal und nickte kaum merklich. Dann dachte sie an Wade. Vielleicht war er ja noch irgendwo in der Nähe und rettete sie, bevor ihre Schwester etwas Unüberlegtes tat.

Mit gerunzelter Stirn starrte Wade auf das Ruderboot hinunter und fragte sich, was ein Boot hier draußen, meilenweit von der Stadt entfernt, zu suchen hatte. Niemand fuhr zum Fischen in diese entlegene Gegend. Als er um das Boot herumging, bemerkte er Fußabdrücke und eine Art Schleifspur. Offenbar hatte jemand das Boot erst kürzlich hierher an den Strand gezogen. Er kratzte sich am Kopf und folgte der Spur, die am Waldrand in einen Pfad überging. Wenig später langte er bei Father Benitos Hütte an. Wieder kratzte er sich am Kopf und überlegte, ob Rebecca womöglich an diesem Ort Zuflucht gesucht hatte.

Als der Priester und Ryan am Ruderboot anlangten, waren sie schweißgebadet. Atemlos ließ sich Ryan in den Sand plumpsen, doch Benito sah sich mit gezogener Waffe nach allen Seiten um. Dann ließ er Jeannette für einen kurzen Augenblick los und schaute im Boot nach seinen Karten.

Als er sich umwandte, blickte er die Zwillinge an, die sich im Mondlicht zum Verwechseln ähnelten. »Komm her, Jeannette.«

Beide Mädchen traten einen Schritt vor und sahen einander überrascht und erstaunt an.

Benito lachte in sich hinein. »Ihr wollt mich wohl zum Narren halten, was?« Er wandte sich an das Mädchen, das starr geradeaus blickte. »Also noch einmal: Komm her, Jeannette.«

Nach einem kurzen Moment des Zögerns bestätigte sich sein Verdacht. Das »unsicher« wirkende Mädchen trat einen Schritt vor. »Ich bin Jeannette«, sagte sie kleinlaut. Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um, die eine Grimasse zog. »Tut mir leid, Yvette.«

Benito grinste durchtrieben. »Na los, steig ein!«, brummte er und deutete mit der Pistole auf das Boot.

»Aber ich fürchte mich vor dem Meer! Erst recht in der Nacht!«

»Steig ein, oder ich erschieße deine Schwester!«

Eilig gehorchte das Mädchen, und John Ryan tat es ihr nach.

»Sie doch nicht, Ryan!«, bellte Giovanni. »Helfen Sie mir lieber, das Boot ins Wasser zu schieben. Das Segel setzen wir, sobald wir die Brandung hinter uns haben.«

Brummend stieg Ryan wieder aus. Dann schoben sie das Boot gemeinsam in die anbrandenden Wellen.

»Und was wird aus mir?«, fragte Yvette ängstlich.

»Du bleibst am Strand!«, rief Benito über die Schulter zurück. Als die ersten Schaumkronen anrollten, musste er um sein Gleichgewicht kämpfen. »Bleib, wo du bist, wenn dir das Leben deiner Schwester lieb ist!«

Yvette nickte nur stumm und sah ihnen besorgt nach.

»Setz dich!«, herrschte der Priester Jeannette an. »Nein, nicht ans Ende … auf die mittlere Bank!«

Jeannette gehorchte und ließ die Pistole nicht aus den Augen, die dem Priester beim Schieben des Boots im Weg war. Als das Wasser tiefer und die Brandung stärker wurde, legte Benito die Pistole auf die hinterste Bank, um die Bordwand besser packen zu können. »Fester!«, herrschte er Ryan an. »Los, noch einmal!« Er keuchte. »Gleich haben wir es geschafft!«

Als die nächste Welle anrollte, sprang Jeannette auf die Füße. »Lauf los, Jeannette! Schnell!«, schrie sie.

Wie erwartet starrten Father Benito und Ryan zum Strand zurück, woraufhin das Mädchen die Pistole packte und auf Benito richtete. Der Priester zuckte zusammen, aber im nächsten Augenblick lachte er los. »Demnach haben wir doch die falsche Jeannette erwischt! Du hältst dich wohl für besonders klug! Was willst du jetzt machen? Willst du mich erschießen?«

Yvette runzelte die Stirn. Als die nächste Welle das Boot traf, hatten die Männer große Mühe, sich an der Bordkante festzuhalten. »Es ist nur eine Patrone im Lauf«, sagte Benito mit drohendem Unterton. »Wenn du mich erschießt, wird Mr Ryan dir den Hals umdrehen, und wenn du ihn erschießt, werde ich das besorgen! Also, sei brav und leg die Waffe hin.«

Die Pistole wog schwer. Yvette brauchte beide Hände, um sie über den Kopf zu heben und den Abzug durchzuziehen. Der Rückschlag ließ sie rückwärtstaumeln. Mit einem lauten Fluch zog sich Giovanni an der Bordkante hoch und rutschte ins Boot. Zu spät! Yvette schleuderte die Waffe mit aller Kraft über Bord. Benito schäumte vor Wut. Er packte Yvettes Haar und schlug ihr mitten ins Gesicht. Ungerührt trat das Mädchen zu und traf ihn an seiner verwundbarsten Stelle. Der Priester klappte vornüber, und sein Brüllen hallte durch die Luft. Yvette grinste nur … und dankte Joseph im Stillen für alle Tricks, die er ihr beigebracht hatte.

»Kümmern Sie sich nicht um sie!«, brüllte Ryan. »Wir müssen schnellstens die verdammte Brandung hinter uns bringen! Den Schuss hat bestimmt jeder auf der Insel gehört!«

Benito holte mehrere Male Luft und sprang ins Wasser. Mit gewaltiger Kaftanstrengung schoben sie das Boot über die letzte Klippe und kletterten anschließend hinein. Giovanni warf Ryan eines der Ruder zu und ergriff selbst das zweite. »Bleib sitzen!«, fuhr er Yvette an, als diese aufstehen wollte, und drohte ihr mit dem Ruder.

Yvette täuschte Reue vor. Sie senkte den Kopf … und sah verstohlen zum Strand zurück. In ihrer Angst hielt sich Jeannette die Hände vors Gesicht und sah nicht, dass jemand in vollem Tempo aus dem Wald auf sie zurannte und sich außerdem zwei Reiter aus westlicher Richtung näherten. Als Benito und Ryan die Ruder ins Wasser tauchten und durchzogen, sahen sie es ebenfalls.

Wade schleuderte Stiefel und Strümpfe von sich und riss sich das Hemd vom Körper, bevor er sich in halsbrecherischer Geschwindigkeit in die Brandung stürzte.

Benito fluchte lauthals. »Verdammt, schneller!«, feuerte er Ryan an und seufzte erleichtert, als sie endlich tieferes Wasser erreichten.

Plötzlich stand Yvette auf und zog sich bis auf die Unterwäsche aus.

»Verdammt, Mädchen!«, schimpfte der Priester. »Bist du jetzt vollkommen verrückt? Setz dich hin!«

»Warum werfen wir sie nicht einfach über Bord?«, schlug Ryan vor, als der Schwimmer ihnen immer näher kam. »Sie ist doch nur unnötiger Ballast.«

»Nein … bitte nicht!« Yvette zitterte am ganzen Körper. »Ich kann doch nicht schwimmen!«

Die beiden Männer lächelten sich zu. Mehr brauchte Ryan nicht. Er sprang auf und streckte die Arme nach dem Mädchen aus. In diesem Moment neigte sich das Boot so gefährlich zur Seite, dass er sich auf seine Füße konzentrieren musste, um das Gleichgewicht zu halten. Aber das Schaukeln nahm kein Ende.

»Mann, setzen Sie sich hin!« Giovanni ließ das Ruder los und klammerte sich an die Bordwand. »Oder wollen Sie, dass wir beide im Wasser landen?«

»Er ist viel zu dumm, um das zu verstehen«, bemerkte Yvette herausfordernd.

Außer sich vor Wut stürzte sich Ryan auf sie. »So redet keiner mit mir!«

Diesmal neigte sich das Boot zur anderen Seite, sodass die Bordwand eine lähmende Sekunde lang unter die Wasseroberfläche tauchte und Wasser ins Boot lief, bevor es sich wieder aufrichtete.

Entsetzt schrie der Priester auf. »Sie bringen uns noch um! Setzen Sie sich gefälligst, bevor wir kentern!«

Yvette nutzte die Gelegenheit und trampelte mit aller Kraft von einem Fuß auf den anderen. Dabei kicherte sie hysterisch. Das Boot schaukelte immer mehr, das Wasser schwappte von einer Seite auf die andere, und die Neigung wurde immer dramatischer.

Panisch klammerte sich Benito an die Bootswand. »Werfen Sie sie endlich über Bord!«, bellte er.

Yvette erwartete Ryans Angriff. Als er auf sie zustürzte, verlagerte sie ihr Gewicht auf dieselbe Seite, sodass das Boot viel zu tief eintauchte, umschlug und alle Insassen ins Wasser fielen.

Sie tauchte tief ins kalte Wasser ein und hielt unzählige Sekunden lang den Atem an. Als sie endlich auftauchte und nach Luft schnappte, strampelte sie wie ein Hund, um sich an der Oberfläche zu halten. In derselben Sekunde wurde sie unsanft nach unten gezerrt. Ihr Fuß war gefangen, und sie trat wie verrückt um sich, doch die menschliche Fessel, die sie tiefer nach unten zog, ließ sich nicht abschütteln. Sie beugte sich hinunter und versuchte, die Finger aufzubiegen, die ihren Knöchel umklammerten, und hatte das Gefühl, dass ihre Lunge platzte.

Und dann war sie plötzlich frei! Als sie prustend und keuchend auftauchte, brannte ihre Lunge wie Feuer. Noch eine Sekunde länger, und sie hätte die Qual nicht überlebt.

Mit einem Mal war Wade neben ihr und ermutigte sie, zum Strand zurückzuschwimmen. Sie strengte sich an und schwamm genauso, wie John es ihr beigebracht hatte. Völlig ausgepumpt erreichte sie schließlich die Brandung. Die Wellen schwappten über sie hinweg und trugen sie bis in knöcheltiefes Wasser, wo sie erschöpft auf dem Sand liegen blieb. Bud und Charmaine kamen angerannt und halfen ihr auf den Strand. Als Charmaine das Mädchen in ihren Bademantel wickelte, kroch Wade auf allen vieren aus dem Wasser.

Minuten später erreichten auch George und die Stallknechte die Küste und suchten das Meer nach den Flüchtenden ab. Das gekenterte Boot trieb jenseits der Brandungslinie kieloben auf den Wellen, aber von Benito St. Giovanni oder John Ryan war keine Spur zu entdecken.

»Sie haben eine Menge Gold und Schmuck gestohlen«, stieß Yvette zwischen klappernden Zähnen hervor. »John Ryan hat sich einen Beutel voller Münzen um den Bauch gebunden. Der hat ihn bestimmt nach unten gezogen. Ich glaube außerdem nicht, dass Father Benito schwimmen kann. Er hatte Todesangst!«

»Mein Vater konnte wahrscheinlich auch nicht schwimmen.« Schaudernd drehte Charmaine dem Meer den Rücken zu. Sie zitterte von Kopf bis Fuß. »Wir wollen nach Hause gehen«, sagte sie leise.

Jeannette kniete neben Wade, der sein Hemd übergestreift hatte und schwer atmend im Sand saß. »Vielen Dank, dass Sie meine Schwester gerettet haben!«

Wade lächelte. »Gern geschehen, Jeannette.«

»Ich möchte mich ebenfalls bedanken«, sagte Charmaine. »Wer weiß, was ihr passiert wäre, wenn Sie heute Nacht nicht da gewesen wären!«

»Sie sollten sich bei Johnny bedanken!«, rief Yvette. »Er hat mir doch das Schwimmen beigebracht.«

»Mit Benitos Hand um deinen Knöchel wärst du nirgendwohin geschwommen«, entgegnete Wade.

Erst jetzt begriff Yvette, dass Wade Remmen sie aus der Tiefe befreit hatte. »Vielen Dank, dass Sie mich gerettet haben.«

Als der Morgen dämmerte, saßen sie alle um den Esstisch versammelt und sprachen über die unglaublichen Ereignisse der Nacht. George erklärte, wie sie John Ryan nach Charmantes gelockt und zu Benito St. Giovanni ins Gefängnis geworfen hatten. Als Charmaine alles wusste, konnte sie ihrem Mann nicht länger böse sein. Sie dachte an ihren Abschied. Was würdest du tun, wenn du deinen Vater für das bestrafen könntest, was er deiner Mutter angetan hat? John hatte ihre innersten Ängste und ihr Verlangen nach Gerechtigkeit gespürt und danach gehandelt. Im Gegensatz zu der Polizei hatte er John Ryan aufgespürt und ihn nach Charmantes gelockt, um ihn für sein Verbrechen büßen zu lassen. Es sollte geheim bleiben, um ihr unnötige Ängste zu ersparen. Aber weder er noch Paul hatten vorhersehen können, was in ihrer Abwesenheit geschehen würde.

Die Sonne war schon lange aufgegangen, als sich die Gesellschaft endlich auflöste. Charmaine lud Wade ein, sich noch einige Zeit im Herrenhaus zu erholen. Doch er lehnte ab. Er wollte unbedingt nach Hause, falls Rebecca inzwischen zurückgekommen war. George bot ihm seine Hilfe bei der Suche an und gab ihm den Tag frei. »Ich werde mich persönlich darum kümmern«, versprach er, als Wade auf Champion nach Hause ritt. »Bis morgen haben wir jeden Stein einzeln umgedreht.«

Mercedes und Loretta zufolge hatte sich die kleine Marie in den Schlaf geweint. Charmaine nahm Mercedes ihre schlafende Tochter ab und zog sich zurück. In der Stille ihres Zimmers sank sie auf die Knie und dankte Gott, dass kein Mitglied ihrer Familie zu Schaden gekommen war.

Sonntag, 30. Dezember 1838

Rebecca verweigerte jedes Wort. Wenn Paul die Kabine betrat, wandte sie sich ab und rührte auch das Essen nicht an, das er ihr brachte. Nachts lag er allein im Bett und fragte sich am Morgen, wo sie und ob sie überhaupt geschlafen hatte. Es sollte ihm recht sein, wenn sie ihm zürnte. Das Ganze war schließlich ihre Idee gewesen. In besagter Nacht hatte sie Gelegenheit genug gehabt, seine Kabine zu verlassen. Trotzdem ärgerte er sich über sich selbst, ärgerte sich, dass er dauernd über sie nachdachte … dass er sie nicht aus dem Kopf bekam.

Als er am Abend vor der Ankunft in New York seine Kabine betrat, schlief Rebecca tief und fest. Wahrscheinlich schlief sie während des Tages, wenn er sich nicht dort aufhielt. Er stellte das Tablett auf den Tisch. An diesem Abend musste sie etwas essen. Zur Not wollte er sie zwingen. Seit vier Tagen hatte sie nichts mehr angerührt. Wenn das so weiterging, wurde sie womöglich noch krank.

Er weckte sie. »Rebecca.«

Sie rieb sich die Augen und wusste im ersten Moment nicht, wo sie sich befand.

»Ich habe Ihnen Essen mitgebracht«, sagte er liebenswürdig. »Sie müssen unbedingt etwas zu sich nehmen.«

Rebecca richtete sich auf und betrachtete ihn argwöhnisch. Sie hatte in Hemd und Hose geschlafen.

Paul versuchte es mit leichter Unterhaltung und hoffte, dass der Schlaf ihre Laune gebessert hatte. »Es schmeckt ganz köstlich. Das beste Essen, das ich bisher bekommen habe.« Er rührte die Suppe um und brachte ihr die Schale zur Koje.

Als sie merkte, dass er sie füttern wollte, drehte sie den Kopf zur Seite.

»Sie müssen essen!«, sagte er energisch. »So geht das nicht weiter.« Doch als ihr Kinn zitterte, wurde er sofort freundlicher. »Bitte, versuchen Sie es wenigstens.«

Sie sprang von der Koje und flüchtete in eine Ecke. Als er ihr folgte, versteifte sie sich. »Lassen Sie mich in Ruhe!«, stöhnte sie. »Warum gehen Sie nicht einfach?«

Paul war mit seiner Weisheit am Ende. Wütend knallte er die Schale auf den Tisch, dass die Suppe über den Rand schwappte. »Machen Sie doch, was Sie wollen! Wenn Sie hungern, so kümmert mich das nicht.«

»Das ist mir völlig klar«, erwiderte sie, doch da war er bereits hinausgestürmt.

Stunden später war das Essen noch immer unberührt. Paul schüttelte den Kopf. Rebecca war wahrlich ein Dickkopf. Und offenbar wild entschlossen, ihm Schuldgefühle zu bereiten.

Montag, 31. Dezember 1838

In der Morgendämmerung des sechsten Tages kam New York in Sicht, doch es dauerte noch weitere vier Stunden, bis die Tempest endlich angelegt hatte. Drei Wochen zuvor hatte ein gewaltiger Schneesturm die Küste heimgesucht, und der Hudson war noch immer vereist.

Nach dem Anlegen kehrte Paul ein letztes Mal in die Kabine zurück. Er warf sein Cape über, da die Luft sehr kalt war. Rebecca sah rasch beiseite, als er ihrem Blick begegnete. Er zögerte. Ihr Verhalten ihm gegenüber hatte sich nicht geändert, aber an diesem Morgen beunruhigte ihn etwas. Etwas, das er nicht benennen konnte.

»Bei Dunkelwerden bin ich zurück«, sagte er. »Ich will nicht, dass Sie die Kabine verlassen. Haben Sie verstanden?« Im Gegensatz zu den letzten Tagen nickte sie sogar. In diesem Moment wusste er es.

Er verließ die Kabine, nahm den Schlüssel vom Haken über der Tür und schloss hinter sich ab. Das metallische Geräusch war deutlich zu hören. Rebecca flog förmlich zur Tür und zog und zerrte am Knauf, aber nichts rührte sich. Mit beiden Fäusten hämmerte sie gegen die Tür. Ihr Plan war zunichtegemacht. »Lassen Sie mich hinaus!«, schrie sie.

Zum ersten Mal seit fast einer Woche empfand Paul tiefe Genugtuung. »Sie bleiben, wo Sie sind!« Grinsend ging er von Bord und begab sich als Erstes zu Johns Stadthaus in der Sixth Avenue, dessen Adresse ihm George gegeben hatte.

Als er das Hafengebiet verließ, staunte er über die vielen Menschen, die endlosen Häuserzeilen, den Lärm und die Größe dieser aufstrebenden Stadt. Seit er vor zwei Jahren den Bau seiner Schiffe in Auftrag gegeben hatte, war die Stadt unglaublich gewachsen. In der letzten Nacht war frischer Schnee gefallen und hatte die großen Abfallhaufen entlang der Straßen noch einmal überzuckert.

Er nahm sich einen Wagen und rief dem Fahrer auf dem Kutschbock die Adresse zu. Der Mann fror in seinem viel zu dünnen Mantel und hatte eine fadenscheinige Decke über die Knie gebreitet. Den Kragen hatte er aufgestellt, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, und von Zeit zu Zeit blies er in die Hände und rieb sie gegeneinander, um sie warm zu halten. Erleichtert nahm Paul im geschlossenen Wagen Platz, lehnte sich zurück und ließ die Bilder, die Gerüche und die Geräusche der Stadt auf sich wirken. Doch seine Gedanken waren weit weg, und er fragte sich, was ihn wohl an seinem Ziel erwartete.

Johns Stadthaus war verschlossen und dunkel. Am Vorabend des neuen Jahrs waren zum Glück einige Nachbarn zu Hause, aber leider konnten sie ihm so gut wie nichts sagen. Sie kannten John nur vom Sehen und wünschten einander gelegentlich einen guten Tag. Eine Frau berichtete ihm von einem unerhörten Zwischenfall Anfang Dezember, als die Polizei das Haus aufgebrochen und durchsucht hatte und die Nachbarn während der darauf folgenden Tage befragt hatte, ohne auch nur zu sagen, worum es überhaupt ging.

Paul war erleichtert und gleichzeitig verwirrt: Die meisten seiner Fragen hatten sich auf Johns möglichen Aufenthaltsort bezogen oder auf Familienmitglieder, die womöglich in der Stadt wohnten. Ob sich die beiden auf der Flucht befanden?

Am frühen Nachmittag fuhr er von der Sixth Avenue zur Hafenbehörde, wo er die Aufzeichnungen aller größeren Firmen durchschaute, um vielleicht auf jemanden zu stoßen, der den beiden Unterschlupf gewähren könnte. Die Angestellten waren ungeduldig und nicht sehr hilfsbereit. Am späten Nachmittag beschloss er, es für heute gut sein zu lassen. Vielleicht hatte er ja morgen mehr Glück und stieß auf jemanden, der ihm weiterhelfen konnte.

Wieder rief er einen Wagen herbei und ließ sich ins Zentrum der Stadt bringen, wo er ein hübsches blassgrünes Kleid erstand, das zu Rebeccas Augen passte, und außerdem Unterwäsche, ein Nachthemd und einen warmen Morgenmantel. Für sich selbst kaufte er einen warmen Wollmantel, einen Hut und Handschuhe. Er hatte jämmerlich gefroren und freute sich schon jetzt, wenn er morgen in warmer Kleidung die Suche fortsetzen konnte.

Es war schon dunkel, als Paul nach seiner erfolglosen Suche auf die Tempest zurückkehrte. Aber wenigstens hielt der Abend eine kleine Überraschung für ihn bereit. Er kam gerade dazu, als sich Kapitän Philip Conklin mit Johns New Yorker Agenten unterhielt. Roger Dewint kannte die Tempest noch nicht, doch als er die Flagge der Duvoisins am Mast wehen sah, ging er an Bord, um sich dem Kapitän vorzustellen. Was John oder seinen Vater anging, so konnte Dewint nichts Neues berichten. Immerhin besaß er eine Liste der Matrosen und Hafenarbeiter, die John anheuerte, sobald eines seiner Schiffe in New York festmachte. Die meisten der Männer waren ehemalige Sklaven. Roger Dewint schlug Paul vor, ihn zeitig am nächsten Morgen am Schiff abzuholen und zusammen mit ihm möglichst viele dieser Männer ausfindig zu machen. Wenigstens ein erster Erfolg.

Als Paul die Tür der Kabine aufschloss, empfing ihn tiefe Stille. Einen Augenblick lang hielt er die Luft an und fragte sich, ob Rebecca eine andere Möglichkeit zur Flucht gefunden hatte. Aber dann sah er sie. Sie saß, in eine Decke gewickelt, auf dem Bett und gab keinen Laut von sich. Paul schloss die Tür und steckte den Schlüssel ein. Dann legte er sein Paket auf einen Stuhl und zündete die Lampe an.

Als es klopfte, stellte sich Paul vor das Bett, während ein Mann eine Wanne in die Kabine schob. »Das heiße Wasser kommt sofort, Sir.«

Nachdem der Mann gegangen war, drehte Paul den Docht kleiner, bis die Koje völlig im Schatten lag. Misstrauisch beobachtete Rebecca ihn, sagte aber nichts.

Der Mann kehrte einige Male mit Krügen zurück, bis die Wanne mit dampfend heißem Wasser gefüllt war. Beim letzten Mal brachte er noch Seife, Waschlappen und Handtuch mit, bevor er sich endgültig zurückzog.

Paul verschränkte die Arme. »Sie nehmen jetzt ein Bad. Sie können das selbst tun … oder ich tue es. Sie haben eine halbe Stunde Zeit zum Nachdenken.« Rebecca schwieg. »Nun gut.« Er ging zur Tür. »Denken Sie daran: Wenn Sie warten, bis ich zurückkomme, ist das Wasser kalt. Im Paket sind übrigens die Sachen, die ich Ihnen versprochen habe.« Er deutete auf den Stuhl. »… für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen.«

Rebecca war überzeugt, dass Paul seine Drohung wahrmachen würde. Aber nicht mit ihr. Sobald er die Kabine verlassen hatte, zog sie sich aus und stieg in die Wanne. Den ganzen Tag über hatte sie nur gefroren. Umso mehr genoss sie jetzt die Wärme und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Rand. Irgendwann griff sie nach dem Lappen und wusch die Erinnerung an die letzten Tage gründlich von sich ab. Als ihr die Tränen in die Augen stiegen, tauchte sie den Kopf unter Wasser und wusch zuletzt noch ihr Haar.

Es dauerte keine halbe Stunde, bis sie aus der Wanne stieg und sich zitternd in das große Handtuch hüllte. Neugierig betastete sie das Paket, und schließlich öffnete sie es fast gegen ihren Willen. Sie fand ein wunderschönes grünes Kleid und dazu Unterwäsche und Strümpfe. Das Nachthemd und den warmen Morgenmantel zog sie auf der Stelle an.

Als Paul zurückkam, saß sie im warmen Morgenmantel in der Koje, und das feuchte Haar umrahmte ihr hübsches, etwas müdes Gesicht.

Er stellte ein Tablett auf dem kleinen Tischchen ab. »Essen Sie wenigstens mit mir?«, fragte er und staunte, als sie kaum merklich nickte.

Als es klopfte, verschmolz Rebecca mit den Schatten. Paul sagte dem Mann, dass er die Wanne erst am Morgen holen solle. »Ich möchte auch noch baden«, bemerkte er, als sich die Tür geschlossen hatte.

Dann setzte er sich an den Tisch, und sie aßen schweigend. Obwohl Rebecca nur wenig zu sich nahm, war Paul sichtlich erleichtert. Immerhin ein Anfang. Irgendwann legte er Messer und Gabel beiseite und sah sie an. »Warum wollten Sie heute Morgen weglaufen?«

Sie hörte auf zu kauen und starrte wortlos auf ihren Teller.

»Wissen Sie denn nicht, wie erbarmungslos eine so große Stadt wie New York ist? Bin ich denn so abscheulich, dass ich Sie nicht einmal nach Charmantes zurückbringen darf?«

Sie konnte kaum schlucken. Ihre Kehle brannte. Als sie ihn ansah, glitzerten die grünen Augen verräterisch. »Ich möchte meinem Bruder keine Schande machen«, flüsterte sie. »Er kann sich denken, was geschehen ist. Er soll mich besser nicht mehr sehen. Also verschwinde ich.«

Sie blinzelte die Tränen weg, und Paul begriff, wie sehr sie litt. Sie stand auf und drehte ihm verlegen den Rücken zu. »In diesen Tagen bin ich erwachsen geworden. Ich bin jetzt eine Frau«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Doch ich kann nicht behaupten, dass mir dieses Leben gefällt.«

Eine unwiderstehliche Sehnsucht ergriff ihn, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, sie zur Koje zu tragen und zärtlich zu lieben, um ihr das Gegenteil zu beweisen. Aber die Stimme in seinem Kopf war nicht zu überhören: Charmaine. Denk an das Versprechen, das du Charmaine gegeben hast.

Er holte tief Luft, um sich zu fassen. »Aber keiner muss jemals erfahren, was geschehen ist«, sagte er völlig ruhig. »Wenn alles gut geht, bringe ich morgen meinen Vater und meinen Bruder aufs Schiff. In diesem Fall überlasse ich Ihnen meine Kabine. Ich erzähle allen, dass ich Sie im Laderaum gefunden habe und zu Ihrem Bruder nach Charmantes zurückbringe. Sie hätten sich an Bord geschlichen, weil Sie unbedingt nach New York wollten. Für den Rest der Reise übernachte ich im Mannschaftsquartier, damit niemand dumme Fragen stellt.«

Das war so gar nicht das, was sie hören wollte. Offenbar ging er davon aus, dass John noch lebte. Wenn Charmaine ihren Mann zurückbekam, war Pauls Versprechen hinfällig. Und doch machte er ihr keinen Antrag, ließ ihr nicht einmal eine kleine Hoffnung. Sie bedeutete ihm nichts. Sie war nichts weiter als ein flüchtiges Abenteuer, das sie ihre Unschuld gekostet hatte. Genau wie bei Felicia: aus den Augen … aus dem Sinn. Wenigstens hatte Felicia sein Bett öfter geteilt … und sie nur ein einziges Mal! Er zeigte keinerlei Verlangen nach ihr. In seinen Augen war sie noch ein Kind. Sie sollte das lieber so hinnehmen, damit es ihr nicht das Herz brach. Diesen Triumph wollte sie ihm nicht auch noch gönnen.

Er wartete, bis sie ihm das Gesicht zuwandte, und war überrascht, als sie lächelte. Sein Plan schien ihre Zustimmung zu finden. Er atmete auf. Vielleicht fügte sich ja noch alles zu einem guten Ende.

Während er badete, sah Rebecca öfter aus dem Halbdunkel zu ihm hinüber. Trotz seiner abweisenden Haltung sehnte sie sich nach ihm. Sie musste an sich halten, um sich ihm nicht ständig an den Hals zu werfen. Beim Gedanken an seine rauen Hände und seine leidenschaftlichen Küsse stiegen ihr die Tränen in die Augen. Und doch blieb ihr nichts anderes übrig, als still auf ihrem Platz zu verharren. Als Paul aus der Wanne stieg, wandte sie sich ab. Er war für sie verloren … und sie war nur ein kleines verrücktes Mädchen mit großen verrückten Träumen.

Neujahrstag 1839

Früh am Morgen verließ Paul das Schiff. Zuvor berichtete er dem Kapitän noch von seiner Entdeckung in dem Laderaum, einem jungen Mädchen, das sich aus Sehnsucht nach der großen Stadt als blinder Passagier an Bord geschmuggelt hatte. »Ihr Bruder ist sicher außer sich vor Angst«, sagte er. »Ich habe sie bis zum Auslaufen in meine Kabine gesperrt.«

Philip Conklin runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts. Am Tag zuvor hatte man die Tempest entladen, aber einen blinden Passagier hatten seine Männer nicht entdeckt.

Roger Dewint erwartete Paul bereits unten am Kai. Sie gingen kreuz und quer durch den Hafen und blieben immer wieder stehen, um mit einzelnen Männern zu sprechen. Gegen Mittag hatte Paul endlich Glück. Samuel Waters arbeitete für John und war soeben an Bord eines seiner Segler im Hafen eingetroffen. Als ehemaliger Sklave war der Mann sehr misstrauisch, und Paul musste alle seine Überredungskünste aufbieten, bis er erfuhr, dass Samuel Waters eine gewisse Rose Forrester kannte, deren Schwester eine gute Freundin von John Duvoisin war. Er gab Paul die Adresse.