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Sonntag, 13. Januar 1839
Charmantes

Charmaine schrak aus dem Schlaf auf. Hatte Marie geschrien? Selbst der kleinste Laut weckte sie. Sie rollte sich herum und spähte in die Wiege. Aber die Kleine schlief friedlich.

Paul war inzwischen seit beinahe drei Wochen unterwegs. Charmaine dachte ständig an ihn und zählte die Tage. In den vergangenen Wochen war sie tagtäglich in die Stadt gefahren, und auch heute machte sie keine Ausnahme. Wie immer wollten die Mädchen und die Harringtons sie begleiten.

Vor der Abfahrt ging Charmaine noch kurz in die Kapelle. Seit vier Monaten hatte sie keine Messe mehr gehört. Doch die Ruhe des Raums spendete ihr Trost. Bisher hatte sie jeden Tag den Allmächtigen um die gesunde Rückkehr ihres Mannes gebeten und würde das auch in Zukunft so halten … bis ihre Gebete erhört würden.

Kurz vor zehn Uhr waren sie bereits unterwegs. Da heute Sonntag war, war die Hauptstraße voller Menschen. Sie grüßten Nachbarn und Bekannte und erfreuten sich an der morgendlichen Brise, die bald genug abflauen würde. Wie immer erledigten sie einige Besorgungen, bevor sie schließlich bei Dulcie zu Mittag aßen.

Charmaine hatte keinen rechten Appetit, was Loretta nicht entging. »Aber, Charmaine, Sie haben Ihr Essen nicht einmal angerührt.«

»Ich bin einfach nicht hungrig«, erwiderte Charmaine.

»Aber Sie müssen etwas essen! Schon Ihrer kleinen Tochter zuliebe. Es nützt niemandem, wenn Sie sich in Ihrem Kummer vergraben.«

Charmaine kannte diese Bemerkungen bereits und war froh, als Yvette sie von der Antwort erlöste. »Gehen wir nach dem Essen noch zum Hafen?«

Sie nickte. »Sehr gern.«

Marie hatte sich die ganze Zeit nicht geregt, doch jetzt wurde sie unruhig. »Bitte, essen Sie in Ruhe weiter«, sagte Charmaine, als sie mit der Kleinen aufstand. »Ich komme nach, sobald ich Marie gefüttert habe.«

Loretta nickte, und Charmaine ging zum Wagen zurück, den sie im Mietstall abgestellt hatten. Sie ordnete die Kissen, dass sie es bequem hatte, zog die Vorhänge zu und legte sich ihre Tochter an die Brust.

Charmaine lächelte auf Marie hinunter, während die kleinen Lippen ihre Brustwarze umschlossen und eifrig saugten. Nach einigen Minuten verdrehte Marie die Augen, während sich die dunklen Wimpern ganz allmählich senkten. Wie immer genoss Charmaine auch heute jeden einzelnen Augenblick. »Süße kleine Marie Elizabeth«, hauchte sie. »Was uns die Zukunft wohl bringt?«

Lebte John? Oder sah sie sich eines Tages mit Pauls Antrag konfrontiert? Normalerweise verdrängte sie den Gedanken, kaum dass er auftauchte, doch heute wollte ihr das nicht gelingen. Würde sie Paul heiraten? Vielleicht. Allerdings weniger wegen sich selbst, als wegen Marie und ihm. Sie wusste, dass Paul litt und dass er sie liebte. Ja, wenn das Schicksal sie zwang, mit diesem schweren Verlust zu leben, wollte sie es in Erwägung ziehen.

Plötzlich wurde die Wagentür aufgerissen. »Was ist denn hier los?« Ein zahnloser Kerl starrte zu ihr herein und wischte mit der Hand den tabakbraunen Spuckefaden weg, der ihm aus dem Mundwinkel rann.

Entsetzt raffte Charmaine ihr Mieder zusammen. »Ich muss doch sehr bitten, Sir! Dies ist mein Wagen!«

Er blinzelte. »Sind Sie die neue Mrs Duvoisin?«

»Ja, genau. Und wer sind Sie?«

»Martin St. George«, antwortete der Mann. Der Name förderte weit zurückliegende Erinnerungen zutage. »Martin, der Hufschmied?«

»Genau der. Und was machen Sie hier drinnen?« Seine Blicke irrten in alle Winkel, als ob sie einen versteckten Liebhaber suchten. Das Kind in ihren Armen schien er gar nicht zu sehen.

Mit einem Mal prustete Charmaine los, wie sie seit langem nicht mehr gelacht hatte. Und ihn habe ich damals in der Nacht für John gehalten! Nicht zu fassen!

Marie begann zu schreien, aber Charmaine beruhigte sie schnell.

»Was ist denn so lustig?«

Seufzend wischte sich Charmaine die Tränen ab. »Nichts, überhaupt nichts.«

Der Widerling spuckte ins Heu und stapfte kopfschüttelnd davon. Immer noch kichernd richtete Charmaine ihre Kleidung, bevor sie mit der schlafenden Marie im Arm aus dem Wagen stieg.

Als sie zur Bar zurückkam, traten die Harringtons und die Mädchen gerade auf die Straße. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Hafen.

Plötzlich ließ lautes Rufen Charmaines Herz höher schlagen, und als sie aufblickte und weit draußen vor der Halbinsel geblähte Segel erblickte, setzte ihr Herz vor Schreck einen Schlag lang aus. Gebe Gott, dass das Schiff die Flagge der Duvoisins führt! Gebe Gott, dass es aus New York kommt! Gebe Gott, dass Paul John gefunden hat!

Alle drängten zum Kai hinunter, und binnen kürzester Zeit hatte sich eine große Zuschauermenge versammelt. Wer Charmaine und die Zwillinge ansah, konnte die bange Erwartung ahnen, mit der sie dem Segler entgegenblickten, während er die Landspitze umrundete und in die Bucht einfuhr. Joshua geleitete sie zu einem freien Platz, wo sie eine halbe Ewigkeit warten mussten, bis endlich der Segler nah genug war. »Es ist die Tempest!«, rief einer der Umstehenden. Charmaines Hand flog an ihre bebenden Lippen. Hier und heute bekam sie ihre Antwort.

»Sehen Sie nur, Mademoiselle«, rief Jeannette, »Wade ist auch da!«

Wade Remmen gesellte sich zu ihnen, aber Charmaine konnte das Schiff keine Sekunde lang aus den Augen lassen.

»Darf ich Marie halten?«, bat Jeannette, weil sie ihm das Baby gern zeigen wollte.

Ohne den Blick vom Schiff zu wenden, reichte Charmaine die Kleine an sie weiter. Jeannette kicherte, als Marie quietschte und strampelte.

Die Tempest wurde ständig größer, bis man sogar vom Kai aus erkennen konnte, wie die Matrosen durch die Rahen turnten, um die Segel zu reffen und das mächtige Handelsschiff auf das Anlegemanöver vorzubereiten. Yvette wollte weiter nach vorn laufen, doch Joshua hielt sie zurück. Als Charmaine kein bekanntes Gesicht an der Reling ausmachen konnte, faltete sie die Hände, hob sie an die Lippen und betete ein stilles Ave-Maria.

Loretta tätschelte ihren Arm. »Es geht alles nach Gottes Willen, mein liebes Kind.«

Charmaine betete um die nötige Kraft, dieses Kreuz auf sich zu nehmen und ihr Schicksal zu tragen.

Holz rieb gegen Holz, als sich der mächtige Schiffsbauch an dem Kai rieb. Hafenarbeiter fingen die Taue auf und schlangen sie um die Poller, während die Gangway herabgelassen wurde. Als Charmaine plötzlich Father Michael Andrews aus Richmond erblickte, war sie völlig verwirrt, und das umso mehr, als dieser Frederic Duvoisin den Arm reichte und zusammen mit ihm das Schiff verließ.

»Papa!«, jubelte Jeannette lauthals und rannte ihm mit der kleinen Marie entgegen. Sobald Frederic festen Boden unter den Füßen hatte, warf sie sich in seine Arme.

Charmaines Blick irrte zurück an Deck, aber von John oder Paul war nichts zu sehen. Obwohl Frederic ihr zulächelte, sah sie den Kummer in seinen Augen. Ihr Herz erstarrte. Er ist ohne John zurückgekommen! Er hat einen Priester mitgebracht … den Priester meiner Familie! Das war Antwort genug. Er hat Father Michael mitgebracht, damit er mich tröstet.

Sie schluckte einen abgrundtiefen Seufzer hinunter und barg ihr Gesicht an Joshua Harringtons Brust. Als seine Arme sie umfingen, ließ sie ihrem Kummer freien Lauf.

Plötzlich übertönte ein schriller Schrei den allgemeinen Lärm. »Johnny! Johnny ist wieder da!«, schrie Yvette.

Charmaine schoss herum, während der Name noch in ihrem Innersten widerhallte und die unterschiedlichsten Gefühle weckte. Und dann erblickte sie ihren Mann, wie er über die Gangway vom Schiff humpelte. Paul hielt ihn am Arm und stützte ihn bei jedem Schritt. Er schien Schmerzen zu haben, doch als er sie erblickte, lächelte er strahlend. Charmaine konnte ihr Glück nicht fassen und blieb wie angewurzelt stehen, während sich Stille über den Kai legte. »Ist das John?«, hörte sie Loretta hinter sich fragen. Als John das Ende der Gangway erreicht hatte, grinste er so verwegen wie eh und je. »Na, willst du deinen verlorenen Ehemann wiederhaben, my charm

In diesem Moment fiel aller Kummer von ihr ab, und sie rannte los. John löste sich von Paul und trat einen Schritt auf Charmaine zu. Seinen Namen rufend stürzte sie sich in seine weit geöffneten Arme und weinte vor Glück, als sie spürte, wie seine Arme sie umschlangen, wie er das Gesicht in ihrem Haar barg und seine Umarmung ihr fast den Atem nahm. Irgendwann hob er den Kopf und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, während seine Daumen ihre Wangen liebkosten und ihre Tränen trockneten. Schließlich beugte er sich hinunter und küsste sie, und Charmaine schlang die Arme um seinen Hals und begegnete seinen Lippen voller Leidenschaft. So standen die beiden lange mitten in der prallen Sonne und scherten sich weder um Freunde und Familie noch um die Menschen auf dem Kai oder gar die Matrosen auf dem Schiff.

Frederics Herz schwoll vor Stolz, Michaels Kehle verengte sich, und Joshua und Loretta hielten einander vor Aufregung eng umschlungen. Wieder und wieder stammelte Charmaine Johns Namen, zauste ihm das Haar und folgte mit dem Finger zärtlich jedem seiner Züge, als ob sie nicht glauben könne, was sie vor sich sah.

Irgendwann hielt John seine Frau auf Armeslänge von sich und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »Und? Wo ist sie?«

Als Charmaine ihn noch fragend ansah, trat Jeannette auf die beiden zu und präsentierte John das kleine Bündel, das sie im Arm hielt. »Hier ist sie, Johnny. Hier ist die kleine Marie.«

Sanft hob John seine Tochter in die Höhe, bettete sie in seine Armbeuge und beobachtete lächelnd, wie sie strampelte, gähnte und zufriedene Laute von sich gab. »Sie ist unglaublich hübsch«, flüsterte er heiser und begegnete Charmaines Blick. »Das hast du wunderbar gemacht.«

»Genauso wunderbar wie du.«

In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass aller Augen auf sie gerichtet waren. Als John den Blick des Priesters suchte, runzelte sie die Stirn. Warum war Father Michael Andrews hier und weshalb diese bedeutungsvollen Blicke?

John lächelte unschuldig. »Was hast du denn?«

»Ich weiß genau, dass du etwas vor mir verbirgst.« Und als John sich dumm stellte und nur die Schultern zuckte: »Willst du es mir nicht verraten?«

Er grinste, und auf seinen Wangen bildeten sich Grübchen. »Was meinst du denn?«

Sie winkte ab. »Vergiss es einfach.« Früher oder später würde sie es herausfinden. Zufällig begegnete sie Father Michaels forschendem Blick, hatte aber nicht die leiseste Ahnung, was er dachte.

Dabei freute er sich nur, dass seine Tochter ihren Mann so gut kannte. Offenbar liebten die beiden einander von ganzem Herzen. Diesen Bund hatte Gott gesegnet.

»Willkommen auf Charmantes, Father Michael«, sagte Charmaine und ergriff seine Hand. »Was führt Sie denn zu uns?«

»Genau genommen ist John schuld. Wir sind seit fünf Jahren befreundet.«

Als Charmaine staunte, musste John lachen. »Wie du siehst, stehe ich nicht mit dem Teufel im Bund, wie du einst behauptet hast.«

Sie verdrehte die Augen und wandte sich wieder dem Priester zu.

»John ist ein großzügiger Förderer von St. Jude«, erklärte Father Michael.

»Mein Mann, der nicht einmal an Gott glaubt?«, fragte Charmaine ungläubig.

»Umso mehr glaube ich an gute Menschen und gute Werke, my charm

An diesem Punkt unterbrach Frederic die Unterhaltung. »Komm, John«, sagte er mit besorgtem Blick, »du warst jetzt lange genug auf den Beinen. Es wird Zeit, dass wir nach Hause fahren.«

Charmaine war beeindruckt, wie liebevoll Frederic seinen Sohn umsorgte.

»John war sehr krank«, erklärte Frederic. »Er muss sich von einer ernsten Verletzung erholen und sollte sich nicht zu sehr anstrengen.«

»Es geht mir schon wieder gut, Charmaine«, versicherte John, als er ihr besorgtes Gesicht sah. »Das Schlimmste ist überstanden, aber Vater hat recht. Ich würde mich jetzt gern hinsetzen.«

Sie nickte schweigend und nahm ihm Marie ab, die zum Glück schlief.

Yvette war neugierig. »Hast du ihn erwischt, Johnny? Hast du Dr. Blackford getötet?«

Die Umstehenden hielten den Atem an, bis Frederic endlich das Wort ergriff. »Blackford ist tot, Yvette.« Es schien ihm am klügsten, die Geschichte gleich hier und jetzt zu erzählen. »Als er deinen Bruder mit dem Messer angegriffen hat, habe ich geschossen und ihn getötet. Jetzt kann er unsere Familie nicht mehr bedrohen.«

Paul erbot sich, einige Wagen aus dem Mietstall zu holen, doch als er sich abwenden wollte, hielt ihn Charmaine am Arm zurück. Sie bemerkte ein Lächeln in seinen Augen und sah, wie herzlich er sich für sie freute.

»Ich danke Ihnen sehr«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Vielen Dank für alles.«

Er strahlte über das ganze Gesicht. »Keine Ursache. Aber jetzt ist Schluss mit den Tränen!«

Mit brennenden Augen beobachtete Rebecca Paul und Charmaine, während sie über die Gangway von Bord eilte und sich auf den Heimweg machte. Seit dem Nachmittag, als John und Frederic an Bord gekommen waren, hatte Paul keine zwei Worte mit ihr gewechselt. Jetzt kannte sie den Grund. Ganz gleich, ob John lebte oder tot war … Paul liebte Charmaine und würde sie immer lieben. Sie musste ihn vergessen.

Langsam ging die Familie über den Kai zur Hauptstraße zurück. In ihrer Freude hatte Charmaine die Harringtons vollkommen vergessen, doch als sie auf sie zusteuerte, lächelten die beiden ihr entgegen. Mit dem einen Arm hatte sich John bei seiner Frau eingehängt, und Father Michael Andrews stützte den anderen.

»John, dies sind Loretta und Joshua Harrington«, erklärte sie voller Stolz. »Mr und Mrs Harrington, darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen?«

John grinste übermütig. »Genau: Joshua, der Prophet. Es tut mir leid, dass ich Sie in Richmond nicht erkannt habe. Wenn Sie allerdings Ihr Gewand getragen hätten …«

»Aber, John!«, mahnte Charmaine, während ihr Blick von Joshua zu Father Michael eilte, der hinter vorgehaltener Hand kicherte. »Ich habe den Harringtons gesagt, dass du gar nicht so unverbesserlich bist, wie alle behaupten. Aber du musst mir natürlich in den Rücken fallen.«

»Ich bin sogar noch schlimmer«, sagte John. Doch als Charmaine die Stirn runzelte, wurde er ernst. »Nein, my charm, das käme mir nicht in den Sinn.« Er schüttelte Joshua die Hand. »Ich danke Ihnen sehr, dass Sie nach Charmantes gekommen sind und sich um meine Frau gekümmert haben.« Er schenkte Loretta sein strahlendstes Lächeln. »Mrs Harrington.«

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Loretta lächelte skeptisch und wandte sich dann an Charmaine. »Geben Sie mir Marie. Dann können Sie Ihrem Mann besser in den Wagen helfen.«

Die Zwillinge hüpften um ihren Vater herum und schwatzten in einem fort. »Du hast ja gar keinen Stock, Papa!«, rief Jeannette.

»Den habe ich irgendwo verloren.« Frederic legte den Arm um ihre Schultern. »Ich glaube, ich brauche keinen Stock mehr. Nicht wenn ich mich auf euch beide stützen kann. Schließlich liegen die aufregenden Zeiten jetzt hinter uns.«

»Ihr seid nicht die Einzigen, die Aufregendes erlebt haben!«, unterbrach ihn Yvette. »Warte nur, bis du hörst, was hier passiert ist!«

»Zuerst will ich John in den Wagen helfen. Danach könnt ihr mir dann auf dem Heimweg alles erzählen.«

Am Ende des Kais erwartete sie der Wagen. John wehrte alle hilfreichen Hände ab und zog sich mit einiger Anstrengung selbst hinein. Er schnitt eine Grimasse, als er auf den Sitz sank, und stieß die Luft aus, doch er überspielte den Schmerz mit der Bitte, Marie halten zu dürfen. Charmaine reichte ihm die Kleine und setzte sich neben ihn, während Father Michael Andrews ihnen gegenüber Platz nahm.

Als der Wagen anfuhr, ergriff Charmaine die Hand ihres Mannes und betrachtete eingehend jede Linie seines Gesichts, während er auf seine schlafende Tochter hinuntersah und ihre zarten Züge bewunderte.

Michaels Herz weitete sich vor Freude, denn die Liebe zwischen diesen beiden Menschen war fast körperlich zu spüren.

»Ich träume«, flüsterte Charmaine, woraufhin John den Blick von Marie abwandte. »Ich weiß genau, dass ich träume.«

»Aber nein, my charm.« Er lachte leise. »Das ist kein Traum. Ich bin wirklich und wahrhaftig hier.«

»Aber ich hatte eine Vorahnung … damals in der Nacht, als Marie auf die Welt kam … Ich habe geträumt, dass du gestorben bist!«

John legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Ich bin auch gestorben«, flüsterte er, »aber deine Mutter hat mich zu dir zurückgeschickt.«

Sie hielt den Atem an. »Meine Mutter?«

»Ja.« John nickte und sah wieder auf seine schlafende Tochter hinunter. »Deine Mutter … Marie … sie hat mich schon einmal gerettet. Und zwar lange bevor ich dich kannte, my charm. Erst im letzten August habe ich erfahren, dass Marie deine Mutter war. Sie hat mir in der schrecklichen Zeit kurz vor und nach Pierres Geburt beigestanden. Durch sie habe ich auch Father Michael kennengelernt.«

»Du lieber Gott!« Charmaine bekam Gänsehaut.

»Was ist los?«

»Du warst das also«, flüsterte sie. »Je größer der Reichtum, desto tiefer der Schmerz. Das hat meine Mutter öfter gesagt. Damals habe ich nicht verstanden, was sie meinte oder von wem sie sprach. Nach Pierres Tod habe ich die Nähe meiner Mutter ganz deutlich gespürt. In der Kapelle hat sie neben mir gestanden. Auch am Tag darauf sind mir diese Worte während der Beerdigung ständig durch den Kopf gegangen. Tagelang habe ich daran denken müssen. Jetzt bin ich mir sicher, dass sie damals über dich gesprochen hat. Über dich und deinen Schmerz!«

John erinnerte sich gut. Er hatte Marie gesagt, dass der Reichtum seines Vaters sein Leben zerstört habe und er sicher sei, dass Colette ihre Liebe diesem Reichtum geopfert habe. Er sah zu Father Michael hinüber. »Mir scheint, dass Marie uns beide zusammengeführt hat.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich auch nur geahnt hätte, welches Leben deine Mutter an der Seite von John Ryan fristen musste, hätte ich der Sache ein Ende gemacht. Das schwöre ich. Aber sie hat mich nie mit eigenen Schwierigkeiten belastet, sondern sich immer nur um mich gesorgt. Ich kannte weder ihren Nachnamen, noch wusste ich, dass sie gestorben war. Als das Verbrechen geschah, war ich längere Zeit in New York. Ich habe auch nie eine Verbindung zwischen dir, John Ryan und ihr hergestellt.« Inzwischen hatte er sich in Wut geredet. »Er wird seine gerechte Strafe erhalten. Das verspreche ich dir.«

Charmaine seufzte. »Darüber musst du dir nicht mehr den Kopf zerbrechen.«

Die Bemerkung beunruhigte ihn. Paul hatte berichtet, dass John Ryan Anfang Dezember nach Charmantes gekommen war und er ihn ins Gefängnis gesperrt hatte. »Was ist geschehen?«, fragte John besorgt.

In kurzen Worten berichtete Charmaine, wie Benito St. Giovanni und John Ryan aus dem Gefängnis entkommen waren. John fluchte, und seine Miene verfinsterte sich, als er begriff, in welche Gefahr er Charmaine, seine Tochter und die Zwillinge gebracht hatte. Das Ende der Geschichte entlockte ihm jedoch ein Grinsen … und eine lakonische Bemerkung: »Zum Glück habe ich Yvette das Schwimmen beigebracht.«

»Genau das hat sie auch gesagt«, bemerkte Charmaine. »Dabei hätte mein Vater sie umbringen können!« Sie senkte den Kopf. »Doch Gott, der Allmächtige, hat sie beschützt.«

Es war genau der richtige Augenblick, um mit dieser Lüge aufzuräumen und ihr das Schuldbewusstsein zu nehmen. »John Ryan war nicht dein Vater, my charm. Du musst dir keine Vorwürfe machen.«

Überrascht sah Charmaine auf. »Woher weißt du das?«

John war mindestens so erstaunt wie sie. Offenbar war ihr die Wahrheit nicht völlig unbekannt. Aber wieso?

»Weil ich dein Vater bin«, flüsterte Michael.

Charmaine war entsetzt, aber John drückte ihre Hand und ermutigte sie, die ganze Wahrheit anzuhören. »Deine Mutter und ich haben uns von ganzem Herzen geliebt.« Michael räusperte sich. »Ich wusste nicht, dass sie ein Kind von mir erwartete. Das habe ich erst vor neun Monaten erfahren.«

Die Beichte fiel ihm nicht leicht.

»Eines Tages hat Marie mich verlassen, und als sie nach St. Jude zurückkam, warst du bereits ein kleines Mädchen. In meinen Augen warst du John Ryans Tochter.« Er zog einen Brief aus der Tasche und reichte ihn ihr. »Diesen Brief hat deine Mutter geschrieben.«

Charmaine betrachtete die vertraute Handschrift auf dem Umschlag.

»Sie hat John einige Jahre vor ihrem Tod diesen Brief anvertraut«, fuhr Michael fort.

»Falls ihr etwas zustößt, sollte ich ihn Father Michael übergeben«, erklärte John. »Doch ich habe erst im vergangenen Frühjahr von Maries Tod erfahren.«

»Da ich John gegenüber nie deinen Namen erwähnt hatte, konnte er auch dann noch keine Verbindung zwischen dir und Marie erkennen«, fuhr Michael fort. »Während Pauls Fest habe ich die Harringtons in Richmond besucht und dabei erfahren, wo du lebst … und begriffen, dass John dich kennen muss. Doch erst als John mich aufsuchte und wegen eures Priesters um Nachforschungen bat, fügte sich endlich eines zum anderen.«

Charmaine war sprachlos, und John und Father Michael ließen ihr Zeit, um diese unglaubliche Geschichte in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen.

»Ich habe deine Mutter sehr geliebt, Charmaine«, erklärte Michael träumerisch. »Wenn ich gewusst hätte, dass sie ein Kind erwartete, hätte ich das Priesteramt niedergelegt. Aber sie wollte diesen Schritt verhindern. Deshalb hat sie ihr Geheimnis bewahrt und es niedergeschrieben.« Er sah auf den Brief hinunter, den Charmaine noch immer in der Hand hielt. »Sie hat ihr Glück für meine Berufung geopfert …«

Er senkte den Kopf, und Charmaine wusste, dass er mit den Tränen kämpfte. Sie streckte den Arm aus und ergriff seine Hand. »All die Jahre habe ich geglaubt, dass meine Mutter niemals wirklich glücklich war. Doch jetzt bin ich froh, dass ich mich geirrt habe. Sie haben sie von Herzen geliebt, und ich weiß, dass meine Mutter Ihre Gefühle genauso aufrichtig erwidert hat.«

Als Father Michael den Kopf hob, schimmerten seine Augen verräterisch. Damit war alles gesagt. Mit verschränkten Händen saßen die beiden da und freuten sich an dem wunderbaren Wissen, von nun an eine Familie zu sein.

Als die kleine Marie strampelte, sah John zu Michael hinüber. »Möchten Sie Ihre Enkeltochter einmal halten?«

Auf sein Nicken hin nahm Charmaine das Baby hoch und reichte Michael das Bündel. Er bettete die Kleine in seine Armbeuge, und dann ließ er seinen Tränen freien Lauf. Charmaine schmiegte ihren Kopf an Johns Schulter. Sie schloss die Augen und schickte ein Dankgebet zum Himmel. In Zukunft würde sie noch viele Tränen über diese wunderbare Fügung vergießen.

Sie waren beinahe zu Hause angelangt, als Marie plötzlich zu schreien begann und ihr sogar Charmaines Arme kein Trost mehr waren. »Sie hat Hunger«, flüsterte sie. Und nur für Johns Ohren bestimmt: »Sie ist eingeschlafen, bevor sie satt war. Ich muss sie möglichst bald stillen.«

Er neigte den Kopf ganz dicht zu ihr. »Darf ich dabei zusehen?«

Charmaine errötete und sah verstohlen zu Michael hinüber. Aber der schien nichts gehört zu haben und lächelte sie nur freundlich an. Zu ihrem Entzücken bemerkte sie das Funkeln in Johns Augen. »Wenn du möchtest.«

Bei dieser unverblümten Antwort zog John eine Braue in die Höhe und grinste.

Als der Wagen durchs große Tor rollte, staunte Michael über das prächtige Anwesen. Der Wagen fuhr die Zufahrt entlang und hielt vor den Stufen zur Säulenhalle an. Charmaine drückte die strampelnde Marie ihrem Mann in den Arm und sprang aus dem Wagen. Als die Kleine wie am Spieß brüllte, war sie bereits wieder zur Stelle, um sie John abzunehmen.

George stürmte durch die Haustür und lachte herzlich, als er John mühsam aus dem Wagen klettern sah. »Na, wie fühlst du dich, du müder Reisender?« Als er näher kam, bemerkte er Father Michael, der inzwischen ausgestiegen war.

»An den Kanten etwas ausgefranst.« John lachte. »Aber zur Not bin ich noch tragbar.« Er machte George mit Father Michael bekannt.

»Hast du den Kerl erwischt?«

John wurde ernst. »Mein Vater hat ihn erwischt.«

Inzwischen waren auch die anderen Wagen eingetroffen, und eine Woge lärmender Freunde und Familienmitglieder ergoss sich auf die Veranda.

Als die Bediensteten erschienen, erhob sich Charmaines Stimme über den allgemeinen Lärm, und sie erteilte der Reihe nach ihre Anweisungen. »Travis, bitte bringen Sie Father Michaels Gepäck in eines der Gästezimmer. Und du, Joseph, holst auf schnellstem Weg Dr. Hastings herbei. Richte ihm aus, dass er Master John untersuchen muss. Millie, du wechselst bitte Maries Windeln und bringst sie danach in mein Schlafzimmer. Und Sie, Cookie, kochen uns bitte eine große Kanne Kaffee und richten ein paar Kleinigkeiten zum Essen her. Und Sie, Mrs Faraday …«

Der Lärm verstummte, sodass nur noch Charmaines Stimme zu hören war.

»Habe ich euch nicht gesagt, dass sie inzwischen das Haus regiert?«, sagte Paul zu John und Frederic.

Charmaine drehte sich zu ihnen um. »Und du« – sie deutete auf John – »ab mit dir ins Bett!«

»Ich warte auf dich, wann immer du Zeit für mich findest, my charm

George johlte vor Vergnügen, doch Charmaine schüttelte nur den Kopf und beschloss, die Bemerkung zu überhören. »George, Father Michael, würden Sie ihm nach oben helfen?«

Kurz darauf war John bereits in seinem Zimmer. Charmaine zog die Decke vom Bett, und John stöhnte, als er sich setzte und langsam die Beine aufs Bett zog. In diesem Moment begriff sie, mit welcher Energie er sich auf dem Kai aufrecht gehalten hatte. Sie dachte auch an sein schmerzvoll verzerrtes Gesicht, das er beim Einsteigen so gern verborgen hätte. »Darf ich endlich erfahren, was in New York geschehen ist?«

»Blackford hat mir das Messer in die Seite gerammt«, stieß John hervor. »Mein Vater kam genau im richtigen Moment, um ihn an Schlimmerem zu hindern.«

»Ich wusste es!« In ihre Sorge mischte sich Zorn. »Du warst in großer Gefahr!«

»Es ist ein für alle Mal vorbei, Charmaine. Sei mir bitte nicht böse.«

»Warum hast du mir nicht geschrieben?«

»Aber ich habe dir geschrieben … wenigstens drei oder vier Briefe!«

»Ich habe aber nur einen bekommen. Und zwar aus Richmond.«

»In New York habe ich noch zwei weitere abgeschickt.«

Er verzog das Gesicht, als er die Kissen in seinem Rücken zurechtrückte, woraufhin Charmaines Zorn rasch verflog. »Lieg still«, mahnte sie. Dann strich sie ihm das Haar aus der Stirn und tupfte ihm den Schweiß von der Stirn.

Er ergriff ihre Hand und küsste sie zart. »Ich habe dich so sehr vermisst, Charmaine. Ich verspreche, dass ich dich in Zukunft nie wieder allein lasse.«

»Ich hoffe, du vergisst das nicht«, drohte sie, »denn ich werde dich daran erinnern.«

Ein leises Klopfen, dann brachte das Hausmädchen die schreiende Marie herein. »Vielen Dank, Millie«, sagte Charmaine. »Bitte schließ die Tür, wenn du hinausgehst.«

John beobachtete genüsslich, wie sich seine Frau neben ihm ausstreckte, ihre Bluse aufknöpfte und dem gierigen Mäulchen die pralle Brustwarze anbot. Sein Atem ging stoßweise, und das Ziehen in seinen Lenden ließ ihn sogar den Schmerz vergessen. Mit hungrigen Blicken nahm er jede Einzelheit ihres Körpers in sich auf. »Es wird noch ein bisschen dauern, bis ich dich wieder lieben kann, my charm«, flüsterte er. »Wenn es nach mir ginge, würde ich keine Sekunde mehr warten.«

»Ich sehne mich ebenso nach dir.« Sie beugte sich über ihre kleine Tochter zu ihm hinüber, um sich einen Kuss zu stehlen. Doch er legte rasch die Hand an ihren Kopf, um den kostbaren Augenblick ein wenig zu verlängern.

Nachdem Marie eingeschlafen war und Charmaine sie in die Wiege gelegt hatte, wandte sie sich wieder dem Bett zu und stellte kopfschüttelnd fest, dass John ebenfalls schlief. Ruhe war alles, was er jetzt brauchte.

Lautlos verließ sie das Zimmer und schloss die Tür. Ob Joseph den Arzt bereits erreicht hatte? Stimmen lockten sie ins Esszimmer, wo alle ihre Lieben um den Tisch versammelt saßen: Joshua und Loretta Harrington, George und Mercedes, Nana Rose, Yvette, Jeannette, Father Michael, Paul und Frederic. Als sie Frederics Blick begegnete, erhob er sich. Charmaine ging zu ihm hinüber, schloss ihn in die Arme und legte ihre Wange an seine Brust.

»Ich danke Ihnen, dass Sie John zurückgebracht haben … dass er noch lebt.«

Frederic schloss die Augen. »Dafür müssen wir Gott danken«, murmelte er, »und all den Menschen, die meinen Sohn lieben. Ich habe nicht gewusst, wie viele das sind.«

Als Marie wie am Spieß brüllte, wurde John unsanft geweckt. Er setzte sich auf und sah in die Wiege. Die Kleine strampelte, und ihr Gesicht war knallrot. Er legte sich das Bündel auf die Schulter, aber der Erfolg blieb aus. Hilfesuchend sah er zur Tür und fragte sich, wo Charmaine so lange blieb.

Loretta hörte das Geschrei schon auf der Treppe. Sie hatte die Gesellschaft im Wohnraum verlassen, die von Charmaine bestens unterhalten wurde. Als das Brüllen unverändert anhielt, ging sie zur Tür und klopfte, aber niemand antwortete. Rasch trat sie ein, um das Kind zu beruhigen, bevor es seinen erschöpften Vater weckte.

John saß auf der Bettkante und hielt Marie im Arm. Als sie eintrat, drehte er sich um und sah sichtlich enttäuscht drein. »Nicht das Milchmädchen, Marie«, tröstete er seine Tochter.

Lächelnd ging Loretta zu den beiden hinüber. Die Kleine zappelte und strampelte. »Sie sucht nach Mamas Brust.«

»Ich fürchte, da bin ich die falsche Adresse.«

Loretta schmunzelte. »Geben Sie sie mir. Vielleicht hat sie auch nur die Hosen voll.« Sie nahm ihm Marie ab und schnupperte an der Windel.

John runzelte die Stirn. »Macht man das so?«

Schmunzelnd trug Loretta die Kleine zum Wickeltisch ins benachbarte Zimmer. »Sie braucht nur eine frische Windel.«

John folgte ihr. Sobald Loretta das Kind auf die weiche Unterlage legte, hörte das Schreien augenblicklich auf. »Sie weiß offenbar genau, wo sie ist«, wunderte sich John.

»Die Kleinen lernen schnell.«

Mit geübten Griffen wechselte Loretta die Windeln. Dann reichte sie John seine zufriedene Tochter. »Sie machen das wirklich gut«, sagte er, als er Marie auf den Arm nahm.

»Das macht die Übung. Ich hatte fünf Jungen.«

»Wie lange brauchen Babys diese Windeln?«

»Ungefähr zwei Jahre, manchmal auch ein bisschen länger. Es kommt auf das Kind an.«

»Soviel ich weiß, haben wir keine anderen Pläne, was Ihr Quartier angeht. Sind Sie sicher, dass Sie schon nach Hause wollen? Ich könnte Ihnen Kost und Logis für zwei Jahre oder auch länger anbieten, das kommt darauf an …«

»Ich würde liebend gern bleiben, aber meinen Joshua zieht es nach Virginia zurück, und ich vermisse meine Söhne und meine Enkel.« Nachdenklich sah sie ihn an. »Ich gehe davon aus, dass Sie jetzt für immer heimgekehrt sind?«

»So ist es, Mrs Harrington. Ich habe meine Pflicht erledigt. Von jetzt an fahre ich nirgendwo mehr hin.«

Loretta war noch nicht ganz zufrieden. »Charmaine ist mir so lieb wie eine Tochter, Mr Duvoisin. Wie die Tochter, die ich nie hatte. Ich möchte, dass sie glücklich wird. Ich liebe sie sehr, müssen Sie wissen.«

»Nicht so sehr wie ich, Mrs Harrington.«

Loretta nickte. Sie schien zufrieden. Seine Erklärung und seine Sicherheit gefielen ihr.

»Wenn Charmaine Ihre Tochter ist, macht mich das zu Ihrem Schwiegersohn. Warum sagen Sie nicht einfach John zu mir? Das heißt … falls es Ihrem Mann recht ist. Er hat vermutlich ganz andere Namen für mich.«

Loretta lachte herzlich. Dieser Mann hatte eine rasche Auffassungsgabe und war nicht unbedingt respektvoll. Kein Wunder, dass ihr sanftmütiger Mann ihn ablehnte. »Einverstanden, John … aber nur, wenn Sie Loretta zu mir sagen.«

Rebecca schloss die Tür des Cottage und lehnte sich dagegen. Sie war wieder zu Hause, aber geborgen fühlte sie sich nicht. Einen Moment lang schloss sie die Augen und hoffte, dass der Raum endlich zum Stillstand käme. Sie fühlte sich schwindlig wie auf einem Schiff. Als die Übelkeit nachließ, raffte sie sich auf, um in ihr Zimmer gehen. Sie wollte das schöne Kleid ausziehen und es nie wieder tragen.

Sie zuckte zusammen, als plötzlich die Haustür aufflog und Wade mit verkniffener Miene ins Haus stürmte. Er knallte die Tür ins Schloss. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen?«, herrschte er sie an.

Lügen war zwecklos. »An Bord der Tempest«, flüsterte Rebecca.

Mit einem leisen Fluch musterte er sie von Kopf bis Fuß. »Du kleine Schlampe!«, zischte er und weidete sich an ihrem schmerzlichen Gesichtsausdruck. Doch kaum dass sie ihr Kinn hob, folgte der nächste Schlag. »Bist du jetzt seine Geliebte?« Als sie schwieg, ließ er seiner Verachtung freien Lauf. »Diese feinen Kleider müssen eine Stange Geld gekostet haben.«

Sie sah an ihrem wunderschönen Kleid hinunter und kämpfte mit den Tränen. Ohne ein weiteres Wort machte sie kehrt und ging auf ihre Zimmertür zu.

Doch Wade trat ihr blitzschnell in den Weg und schlug ihre Hand beiseite, als sie nach dem Türknauf greifen wollte. »Verdammt, Rebecca! Gib Antwort! Wie konntest du mir so etwas antun? Und dir? Genau davor sind wir doch fortgelaufen, haben uns auf das Schiff nach Charmantes geschlichen und hier ein neues Leben begonnen. Wie willst du jetzt unseren Freunden gegenübertreten? Bedeutet dir das alles denn gar nichts?« Als sie schwieg, fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. »Mir ist das jedenfalls nicht egal!«

»Ich bin nur froh, dass dir alle anderen wichtiger sind als ich!«, schluchzte sie. Sie wollte seine Vorwürfe nicht länger hören, stieß ihn zur Seite und rannte in ihr Zimmer. Dann knallte sie die Tür ins Schloss, ließ sich aufs Bett fallen und weinte bitterlich.

Paul betrat sein Schlafzimmer und seufzte erleichtert. Drei aufreibende Wochen lagen hinter ihm, und er war froh, wieder zu Hause zu sein. In seinem eigenen Zimmer. In seinem eigenen Bett. Doch als er sich setzte, um die Stiefel auszuziehen, und sein Hemd aufknöpfte, fühlte er sich mit einem Mal seltsam verloren und einsam. Obwohl er hundemüde war, stand er noch einmal auf und ging hinaus auf den Balkon.

Rebecca Remmen. Wie es ihr wohl ging?

Er hatte nicht beobachtet, dass sie die Tempest verlassen hatte. Allerdings hatte er sich auch um seinen Bruder kümmern und die Wagen besorgen müssen, um alle nach Hause zu bringen. Während der neuntägigen Seereise hatte er meistens geschwiegen und nur wenige Sätze mit Rebecca gewechselt, um die Geschichte vom blinden Passagier nicht zu gefährden und ihre Ehre zu schützen. Alle hatten seine Erklärung für bare Münze genommen. Nur John hatte eine Braue hochgezogen.

Im Nachhinein konnte sich Paul über seine Selbsttäuschung nur wundern. Als er noch fürchtete, seinen Bruder tot aufzufinden, war das Grund genug, um Rebecca gegenüber den Gleichgültigen zu mimen. Doch inzwischen war er frei. Sein Bruder lebte, und er war frei, um Rebecca den Hof zu machen. Aber warum hatte er es nicht getan? Niemand hätte ihn daran gehindert, sie heute Nacht mit in sein Bett zu nehmen. Sein Herz hämmerte, dass ihm die Ohren dröhnten, wenn er nur daran dachte, wie er sie nackt in seinen Armen gehalten und sie sich ihm trotz ihrer Unschuld mit Leidenschaft hingegeben und er sich ganz und gar vergessen hatte.

Aber Rebecca wollte mehr als nur sein Bett. Sie wollte seine Frau sein, wollte von ihm geliebt werden. War eine Ehe mit ihr wirklich ganz unmöglich? Nein, antwortete er ohne Zögern. Es wäre sogar äußerst reizvoll, sie Nacht für Nacht zu lieben und dieses Recht für sich in Anspruch zu nehmen. In den achtzehn Tagen seit ihrer hemmungslosen Vereinigung hatte er an kaum etwas anderes gedacht. Nie zuvor hatte ihn eine Frau so gefesselt, hatte so hemmungslos von ihm Besitz ergriffen. Nicht einmal Charmaine. Selbst wenn sie ihn zurückwies, wollte er sie wenigstens ansehen. Er bewunderte ihren Eigensinn und brannte darauf, sie zu zähmen. Aber noch mehr sehnte er sich danach, sie einfach nur im Arm zu halten, zu trösten und sie glücklich zu machen.

Gleich morgen wollte er sie aufsuchen … nur um sie anzusehen und sich von ihr bezaubern lassen. Endlich war er bereit, ins Bett zu gehen, und nach einer Weile konnte er sogar schlafen.

Teuflische Träume suchten ihn heim, Bilder von Rebecca, die in Panik durch einen finsteren Wald rannte, verfolgt von unheimlichen Gestalten und Hunden, die bellten und nach ihr schnappten. Sie weinte und schluchzte, sie schrie nach ihm, und sein Herz raste. Von kaltem Schweiß bedeckt, schreckte er hoch und sprang aus dem Bett.

Der Wunsch, sie zu sehen, war übermächtig. Er vermisste sie. Er musste wissen, ob es ihr gut ging. Kaum zehn Minuten später war er angekleidet und sattelte Alabaster. Er dankte den Göttern für einen wolkenlosen Himmel und das Mondlicht. Es war fast ein Uhr, als er vor dem Cottage der Remmens vom Pferd sprang. Aus dem Küchenfenster drang Lichtschein nach draußen. Irgendjemand war noch wach. Er band Alabaster an den Zaun und klopfte an die Tür.

Wade war betrunken und starrte ihn finster an. »Was, zum Teufel, wollen Sie hier?«

»Darf ich eintreten?«

»Nein. Dürfen Sie nicht«, sagte er undeutlich.

»Ich möchte Rebecca besuchen.«

Wades Lachanfall endete in einem Schluckauf. »Das glaube ich gern«, zischte er sarkastisch angesichts solcher Frechheit. »Rebecca ist meine Schwester! Wenn Sie glauben, dass ich ruhig zusehe, wie Sie Ihre Lust an ihr befriedigen, so haben Sie sich geirrt. Versuchen Sie nur, das Haus zu betreten oder sie anzurühren … und ich schwöre, ich breche Ihnen das Genick!«

»Sie sind ja betrunken«, stellte Paul fest. Er war ein wenig mutlos, da Rebecca ihrem Bruder offenbar von ihnen erzählt hatte.

»Da haben Sie ausnahmsweise recht. Ich bin betrunken!«, schrie Wade. »Was glauben Sie, wie ich mich gefühlt habe, als meine Schwester im elegantesten Kleid, das man sich denken kann, vom Schiff herunterkam? Was, glauben Sie, denkt jetzt alle Welt? Meine Schwester ist vor drei Wochen verschwunden, und jetzt ist sie plötzlich wieder da? Für jedermann ist sie jetzt eine Hure. Ihre Hure!«

Pauls Blut kochte, aber er wusste, dass Wade recht hatte. Zahllose Menschen hatten sie beobachtet, und alle hatten natürlich dasselbe gedacht. Und dazu das Kleid! Dabei hatte er Rebecca nur glücklich machen wollen. Erst jetzt wurde ihm schmerzlich bewusst, wie er ohne Absicht für jeden sichtbar demonstriert hatte, dass Rebecca ihm gehörte, dass das Kleid Ausdruck seiner Begierde war. Er hatte Rebecca und damit auch Wade der öffentlichen Meinung preisgegeben. Wie würde er selbst reagieren, wenn es um Yvette oder Jeannette ginge? Ich würde dem Bastard den Hals umdrehen!

»Ich muss Rebecca aber sprechen«, wiederholte er bedrückt.

»Ich habe gesagt, Sie sollen sich zum Teufel scheren!«

Doch Pauls Entschluss stand fest. Er drängte Wade zur Seite und betrat das Cottage.

Ohne Vorwarnung stürzte sich Wade auf ihn, und bevor Paul wusste, was ihn getroffen hatte, lagen sie beide auf dem Boden. Nachdem der erste Schreck vorüber war, packte er Wade am Hemd, rollte ihn herum und drückte ihn zu Boden. »Jetzt hören Sie mir einmal zu«, herrschte er ihn an. »Ich werde mit Ihrer Schwester sprechen! Was immer Sie von ihr glauben, Sie irren sich, und ich will nichts mehr davon hören! Ich liebe Ihre Schwester, und ich werde sie heiraten. Nur deshalb bin ich hier!«

Paul stand auf und streckte Wade die Hand entgegen. Wades Wut war einer großen Verwirrung gewichen. »Heiraten …?«, murmelte er, ohne sich zu rühren. »Aber das können Sie doch nicht. Ich meine, Sie …«

Hier endete seine Erwiderung, da er mit seiner Trunkenheit zu kämpfen hatte. Er ergriff Pauls Hand und zog sich hoch. »Ich hole Rebecca«, sagte er, plötzlich nüchtern geworden.

Aber Pauls Erleichterung währte nicht lange, denn Rebeccas Zimmer war leer. Das grüne Kleid lag ausgebreitet auf dem Bett. Besorgt fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und überlegte. Wohin konnte sie geflüchtet sein? Ihr Kummer war vermutlich riesengroß, und Wade hatte die Sache noch schlimmer gemacht. Ich möchte meinem Bruder keine Schande machen. Lieber verschwinde ich. Nein, das würde er nicht zulassen! Aber dazu musste er sie erst finden. Und zwar noch heute Nacht!

»Haben Sie eine Vorstellung, wo sie sein könnte?«

»Nein«, sagte Wade leise. Er schämte sich, wenn er daran dachte, wie er sie behandelt hatte. »Ich habe einige ziemlich schlimme Dinge gesagt.«

»Wir müssen sie unbedingt finden.«

»Felicia!«, rief Wade. »Sie wohnt nebenan. Vielleicht weiß sie ja etwas.«

Paul rannte hinaus und weckte mit mächtigen Faustschlägen das ganze Haus. Felicias Vater öffnete mit mürrischem Gesicht, doch er kapitulierte schnell, als er begriff, dass Paul nicht weggehen würde, bevor er nicht mit seiner Tochter gesprochen hatte. Wenig später stand Felicia vor ihm.

»Wo ist Rebecca?«, fragte Paul.

Ihr schläfriger Blick hellte sich auf. Sie lächelte. »Ich habe das schöne Kleid gesehen. Aber Rebecca hat gesagt, dass sie sich nicht kaufen lässt … nicht einmal von Ihnen.«

»Was hat sie sonst noch gesagt?«

»Nur, dass sie weggeht und ein neues Leben anfangen will«, antwortete sie genüsslich. »Ich habe versucht, sie vor Ihnen zu warnen, aber sie wollte nicht hören. Sie hat nur gesagt, dass sie Sie eines Tages heiraten wird. Manche lernen eben nur auf die harte Art. Immerhin ist sie jetzt klüger.«

»Ach ja?«, spottete Paul. »Na gut, falls du Rebecca siehst, dann sag ihr, dass ich sie heiraten will.«

Er wartete ihre Reaktion nicht ab, sondern legte den Arm um Wades Schultern und brachte ihn nach Hause. »Ich weiß jetzt, wo ich Rebecca finde. Legen Sie sich schlafen. Morgen früh treffen wir uns im Herrenhaus. Ich erwarte Sie dort … mit Rebecca.«

Wade wollte protestieren, aber Paul unterbrach ihn. »Ich muss unbedingt mit Rebecca sprechen, und zwar allein. Bitte, legen Sie sich jetzt hin.« Ohne weitere Erklärungen machte er sich auf den Weg zur Tempest.

Das Mondlicht schien durchs Bullauge und beleuchtete die Kabine, die sie miteinander geteilt hatten. Rebecca schlief tief und fest, und das schwarze Haar lag ausgebreitet auf dem Kissen. Ein unglaubliches Glücksgefühl ergriff ihn. Wenn er nicht rechtzeitig gekommen wäre, so wäre sie am Morgen fort und für ihn verloren gewesen. Womöglich für immer. Warum hatte er sich nur so dumm angestellt? Warum hatte er Rebecca nicht gleich auf dem Schiff geheiratet? Sie hatten sogar einen Priester an Bord, der ihren Bund gesegnet hätte. Damals war er noch zu wankelmütig und unsicher gewesen, doch das war jetzt vorbei. Entweder war die Hochzeit der größte Fehler seines Lebens … oder der beste Anfang, der sich denken ließ. Rebecca zuliebe wollte er diese Chance unbedingt ergreifen.

Vorsichtig setzte er sich auf den Rand der Koje. Er nahm Rebeccas Hand und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie bewegte sich, und ihre Lider zitterten ein wenig, bevor sie die Augen aufschlug. Einen Moment lang war sie verwirrt und starrte ihn benommen an. Er lächelte, damit sie nicht glaubte, dass sie träumte.

»Ich bin hier, um Sie zu mir zu holen«, sagte er leise. »Zu mir nach Hause.«

Sie entzog ihm ihre Hand und runzelte die Stirn. Sie stützte sich auf die Ellenbogen. »Wie kommen Sie hierher?«

»Ich konnte nicht schlafen. Ich habe mich gesorgt, also bin ich zum Cottage geritten. Doch Ihr Bruder konnte mich nicht beruhigen.«

»Er hasst mich.« Rebecca ließ den Kopf sinken. »Ich habe es gewusst.«

»Das tut er nicht.«

»Doch, Wade schämt sich für mich, und er hat jedes Recht dazu.«

»Nein, Rebecca.« Paul umfasste ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Er hat kein Recht dazu. Nach dem morgigen Tag wird es niemand mehr wagen, Sie zu beleidigen. Und wer es trotzdem wagt, bekommt es mit mir zu tun.«

Sie war verwirrt. Paul stand auf. »Kommen Sie, wir wollen nach Hause gehen.«

»Nein! Ich will ganz weit weg von hier!«

»Kommen Sie, Rebecca. Sie sind hier zu Hause … hier auf Charmantes und bei mir.«

»Ich will nicht Ihre Geliebte sein!«

»Das möchte ich auch nicht, Rebecca. Ich bitte dich vielmehr, meine Frau zu werden.«

Ihre grünen Augen füllten sich mit Tränen, aber dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Ich will Sie so nicht heiraten.«

Ihm war, als ob man ihm den Boden unter den Füßen wegzog. »Und warum nicht?«, stieß er hervor. »Warum denn nicht?«

Rebecca schluckte tapfer ihren Schmerz hinunter. »Ich will, dass Sie mich lieben. Ich könnte nicht leben, wenn Sie immer nur von Charmaine träumen. Sie sind doch nur hier, weil Sie Charmaine jetzt nicht mehr bekommen.«

»Nein, Rebecca, das ist nicht wahr. Ich schwöre, dass es nicht so ist.«

»Wirklich nicht?«

»Seit wir uns geliebt haben, kann ich nicht mehr klar denken. Anfangs war ich durcheinander, weil ich mich so sehr um meinen Bruder und Charmaine gesorgt habe. Außerdem war das, was zwischen uns geschehen war, so außergewöhnlich, dass es mich erschreckt hat. Selbst als ich wusste, dass John lebte, wurde es nicht besser. Erst heute Nacht, als ich allein in meinem Bett lag, habe ich begriffen, wie unglücklich ich bin. Aber ich war nicht unglücklich, weil ich Charmaine nicht bekommen habe, sondern weil du mir gefehlt hast. Du, Rebecca. Du bist die einzige Frau, die ich begehre.«

Er beugte sich zu ihr und küsste sie zuerst zart und vorsichtig und schließlich immer intensiver. Ihre Hände tasteten zu seinen Schultern und zogen ihn in ihre Arme. Abrupt hielt er noch einmal inne. »Sag mir jetzt, willst du mich heiraten?«

»Ja, o ja!« Schluchzend zog sie ihn zu sich herunter und küsste ihn voller Sehnsucht.

Pauls Vorsatz, bis zur Rückkehr ins Herrenhaus zu warten, löste sich blitzschnell in Luft auf, während sie sich die Kleider vom Leib rissen und einander mit aller Leidenschaft liebten. Als der Rausch vorüber war, zog er Rebecca in seine Arme. Sie schmiegte sich an ihn und seufzte vor Glück. Er fühlte ihre Tränen auf seiner Brust und empfand eine tiefe Zufriedenheit.

Montag, 14. Januar 1839

Am Morgen weckten sie das Geschrei der Möwen und strahlender Sonnenschein.

»Wir müssen aufstehen, sonst setzt Kapitän Conklin noch Segel und nimmt uns mit«, drängte Paul.

Rebecca lächelte zu ihm auf. »Was hat eigentlich deine Meinung über mich geändert?«

»Ich habe meine Meinung nie geändert«, bekannte er. »Ich glaube, ich habe dich von unserer ersten Nacht an geliebt.«

»Aber du hast mich ein kleines Mädchen genannt.«

»Aber du bist kein kleines Mädchen, Rebecca, sondern eine Frau … und zwar meine.« Er küsste sie leidenschaftlich. Dann seufzte er. »Ich hatte schon viele Frauen, aber keine hat solche Gefühle in mir geweckt, wie du das tust, und keine hat mich jemals so geliebt wie du. Ich war ein Narr, das alles von mir zu stoßen, nicht wahr?«

Ihre Arme schlangen sich um seinen Leib, und sie drückte ihre Wange an seine Brust. »Ich liebe dich schon lange … schon unendlich lange.«

Er küsste ihren Scheitel und presste sie an sich. Dann stand er auf, um sich anzuziehen. Rebecca schlüpfte wieder in die weite Hose und das Hemd, und Paul musste lachen.

»Ich habe Wade gebeten, heute Morgen zum Herrenhaus zu kommen. Wir müssen uns beeilen, wenn wir vor ihm dort sein wollen.«

Rebecca wunderte sich über die Bemerkung, stellte aber keine Frage.

Als sie das Schiff verließen, scharrte Alabaster mit den Hufen und hatte die Ohren angelegt. Rasch band Paul den Hengst los und tätschelte ihm entschuldigend den Hals. Dann stieg er auf und beugte sich hinunter, um Rebecca in den Sattel zu helfen. Als sie zögerte, ergriff er ihren Arm.

»Alle werden uns anstarren!«, widersprach sie.

»Sollen sie doch!« Er lachte.

Seine Worte rührten ihr Herz. Sie zog sich hoch und setzte sich hinter ihm in den Sattel, sie schlang die Arme um ihn, presste die Wange an seinen Rücken und war sicher, dass sie jede Sekunde aus ihrem Traum erwachen würde.

John und George standen auf der letzten Treppenstufe, als Paul und Rebecca das Haus betraten. Ein Blick auf Rebeccas ungewöhnliche Garderobe, und John lachte leise. »Was habt ihr denn so früh schon gemacht? Etwa eine kleine Wanderung durch die Natur?«

Rebecca senkte den Kopf, aber Paul legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. »Wo ist Father Michael?«

Johns Grinsen wurde immer breiter. »Ist mein Bruder etwa endlich zur Vernunft gekommen?«

»Lass es gut sein, John«, warnte George, obwohl Paul immer noch lächelte.

»Du hast recht, John. Ich bin endlich aufgewacht. Rebecca und ich werden heiraten … und zwar noch heute Morgen, wenn das möglich ist.

»Na gut, Paulie, meinen Segen hast du.« Er streckte ihm die Hand hin, doch insgeheim dachte er: Das hättest du schon letzte Woche auf dem Schiff machen sollen, du Ochse!

Der Morgen verging mit hastigen Vorbereitungen. Rebecca wurde in einem der Gästezimmer einquartiert, wo Millie ihr beim Baden half und ihr anschließend das Brautkleid von Mercedes überstreifte. Es passte zwar nicht genau, aber nach ein paar Stichen sah es aus, als ob es für Rebecca gemacht wäre. Paul badete ebenfalls und schlüpfte in den Anzug, den er beim Ball getragen hatte. In der Zwischenzeit richtete Father Michael die Kapelle für die erste Messe seit fast fünf Monaten her.

Um Punkt zwölf Uhr schritt Rebecca Remmen am Arm ihres Bruders durch die Kapelle zum Altar. Jeannette errötete, als die beiden an ihrer Bank vorbeigingen und Wade ihr zulächelte. Sie sah ihren Vater an und drückte kichernd seinen Arm, als er ihr zuzwinkerte. Paul wartete hoch aufgerichtet am Altar, dass Wade ihm Rebeccas Hand übergab. Dann traten die beiden vor den Priester.

Frederic betrachtete die Szene mit Stolz und freute sich von Herzen über Pauls Entscheidung. Während der Reise hatte jeder sehen können, wie verliebt Paul in das Mädchen war. Doch er hatte Rebecca stets auf Armeslänge von sich gehalten, als ob sie ihn im Ganzen verschlingen würde, wenn er ihr zu nahe käme. Jeder spekulierte, was wohl zwischen den beiden geschehen war, doch Frederic musste nicht lange überlegen. Er sah, wie Pauls Augen vor Verlangen brannten. Dieses Gefühl war ihm nur allzu vertraut, ebenso die Umstände. Pauls Sehnsucht nach Rebecca erinnerte ihn an seine große Liebe zu Elizabeth. Gott meinte es gut mit seiner Familie.

Nach der Zeremonie führte Paul seine Frau ins Foyer, wo sie die Glückwünsche aller Hausbewohner entgegennahmen. Als Letzter war Wade an der Reihe. Paul meinte, einen Anflug von Scham in seinem Blick zu erkennen. Oder waren es Vorbehalte? Doch Rebecca war viel zu glücklich, um ihrem Bruder noch böse zu sein, und schloss ihn herzlich in die Arme. Als er Paul mit schüchternem Lächeln gratulierte, klopfte ihm dieser auf den Rücken und strich den gestrigen Abend aus seinem Gedächtnis.

Father Michael hatte alle Hände voll zu tun, um die Kapelle für die beiden Hochzeiten vorzubereiten, die später am Tag gefeiert werden sollten. Es konnten noch Monate vergehen, bis die Antwort auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Father Benito St. Giovannis Priesterschaft eintraf, außerdem plante Father Michael die Rückkehr zu seiner Arbeit in St. Jude, die er sträflich lange vernachlässigt hatte. Aber zuvor wollten Charmaine und John und ebenso Mercedes und George noch sicherstellen, dass ihr Bund fürs Leben auch von Gott gesegnet war, und so hatte er ihrer Bitte nach einer Wiederholung der Gelöbnisse nur zu gern entsprochen.

Fatima Henderson hatte sich selbst übertroffen, als sich Verwandte und Freunde in der milden winterlichen Brise auf der Veranda und der Wiese zur Feier von Paul und Rebeccas Hochzeit versammelten. Irgendwann verließ Charmaine ihren Posten als Hausherrin und stahl sich nach oben, um Marie zu stillen und nach John zu sehen. Als sie Paul und Rebecca zum ersten Mal an diesem Tag allein erspähte, änderte sie die Richtung ihrer Schritte.

»Meine herzlichsten Glückwünsche«, sagte sie, als sie zu den beiden trat. »Willkommen in unserer Familie, Rebecca. Sie haben Paul und uns alle heute sehr glücklich gemacht.«

Rebecca war von ihrer Wärme und Herzlichkeit überrascht und neigte lächelnd den Kopf.

Dann wandte sich Charmaine an Paul. »Ich bin froh und dankbar, dass Sie diese Reise auf sich genommen haben, Paul. So gesehen haben wir ja beide davon profitiert.« Sie lachte ein wenig.

Paul war über Charmaines herzliche Begrüßung seiner Frau begeistert. »Vielen Dank, Charmaine«, sagte er schlicht, aber sie las alles Ungesagte in seinen Augen. Gemeinsam hatten sie einen langen Weg zurückgelegt und schätzten die Verbundenheit, die daraus erwachsen war.

Irgendwann gesellte sich Wade zu ihnen und gleich darauf auch Frederic. »Mr Remmen«, sagte Frederic, »Jeannette und ich möchten Ihnen ausdrücklich für Yvettes Rettung danken.«

Wade Remmen hüstelte. »Das war doch nicht der Rede wert, Sir.«

Aber Frederic ließ so viel Bescheidenheit nicht gelten. »Charmaine hat mir die ganze Geschichte berichtet, Mr Remmen. Ich stehe für immer in Ihrer Schuld.«

Wade rieb sich verlegen den Nacken, und Rebecca lächelte voller Stolz. »Wade wird nicht gern gelobt, Sir.«

»Das mag schon sein, aber ich bin ihm wirklich sehr dankbar und betrachte ihn von heute an als Mitglied dieser Familie.«

»Ich danke Ihnen sehr, Sir«, erwiderte Wade, und als er Frederic die Hand schüttelte, lächelte er sogar.

Charmaine scheuchte John ins Ankleidezimmer hinüber, damit sie sich in Ruhe vorbereiten konnte. »Der Bräutigam darf die Braut erst in der Kirche sehen.«

»Schon gut, schon gut.« John lachte, als sie ihm einen letzten Schubs versetzte. »Ich weiß, wann ich unerwünscht bin.«

Eine Stunde später kam Charmaine in dem prachtvollen Kleid, das sie bei Pauls Ball getragen hatte, die große Treppe herunter. Das Haar floss offen über ihren Rücken. Als sie an Joshua Harringtons Arm durch den Mittelgang der Kapelle schritt, war sie noch hübscher als nach der verzauberten Nacht vor neun Monaten. Die Mutterschaft stand ihr ausgezeichnet, und ihr üppiger Körper ließ sich von dem Mieder kaum bändigen. Sie sah so hinreißend aus, dass es John den Atem verschlug. Als sie vor ihm stand, schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. Dann sah sie zu ihrem Vater, dessen Glück das ihre widerspiegelte.

Endlich durften auch Familie und Freunde das Schauspiel genießen, das ihnen bei der ersten Hochzeit entgangen war. Überall in der Kapelle waren Seufzer und leises Schluchzen zu hören. Marie gab hin und wieder kleine Quietschlaute von sich und trug damit zur allgemeinen Freude bei.

Als sich die Zeremonie dem Ende näherte, bat Michael um die Ringe. Leicht verunsichert sah Charmaine zu, wie John in allen Taschen nach dem schmalen Ring kramte, den er ihr vorher am Tag gezeigt hatte. Er hatte einst seiner Mutter gehört. Als sie ihr Lächeln vergaß und die Stirn runzelte, beugte er sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr. »Keine Sorge, my charm. Ich weiß genau, dass er da ist.« Endlich zog er ihn aus seiner Westentasche hervor … den größten funkelnden Diamantring, den sie jemals gesehen hatte. Ihre Augen wurden so groß wie der Stein selbst, und aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihr Vater über das ganze Gesicht strahlte. Allgemeines Gemurmel erhob sich, als John ihre Hand ergriff und ihr den Diamantring an den Finger steckte.

»Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau …«, sagte er feierlich.

Fassungslos sah Charmaine auf den funkelnden Stein hinunter und spürte das ungewohnte Gewicht an ihrer Hand. Als sie zu John aufsah, blitzte die Freude über die geglückte Überraschung in seinen Augen auf.

Dann war sie an der Reihe. Sie zog ein schlichtes goldenes Band vom Zeigefinger und ergriff Johns Hand. »Mit diesem Ring nehme ich dich zum Mann«, sagte sie unter Tränen, als sie ihm den Ring auf den Finger schob.

»Sie dürfen die Braut jetzt küssen«, verkündete der Priester, als Charmaine sich wieder gefasst hatte.

John zog sie in seine Arme und streifte ihre Lippen mit einem zarten Kuss. Dann vergrub er das Gesicht in ihren Locken und ergötzte sich an ihrem Duft.

Charmaine drückte ihn eng an sich. »Ich kann diesen Ring unmöglich tragen, John Duvoisin«, flüsterte sie an seinem Ohr. »Er ist viel zu groß und viel zu schwer.«

»Dann muss ich mir leider eine andere junge Lady suchen, die das kann.« Er presste sie an sich. »Ich liebe dich, Mrs Duvoisin. Dieser Ring ist nur ein kleiner Beweis.«

»Ich liebe dich auch.«

Als jemand hüstelte, bemerkte Charmaine, dass ihre Umarmung länger dauerte, als es schicklich war. Sie löste sich von John, doch sein Arm lag auch weiterhin um ihre Schultern, während sie die Glückwünsche entgegennahmen.

Den ganzen Tag lang drehte Charmaine den Ring um ihren Finger. Schon wegen seiner Größe war er ihr in jeder Sekunde gegenwärtig. Beim Dinner bemerkte John, wie sie ihre Finger auf dem Tischtuch spreizte. »Magst du ihn?«, fragte er.

»Nein.« Beschwörend sah sie ihn an. »Ich liebe ihn, aber ich wollte immer nur dich. Aber das weißt du, oder?«

»Ja, das weiß ich, my charm.« Er blickte auf ihre Hand. »Lies die Gravur.«

Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie zog den Ring vom Finger und las, was dort stand, und sofort stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Ich bin dein für immer … solange du mich willst.«

»Für immer, my charm«, flüsterte er. »Ich will dich für immer.«

Er hob ihre Hand empor und liebkoste sie mit den Lippen, dass ihr prickelnde Schauer über den Arm liefen. »Später, my charm«, versprach er, als er die Sehnsucht in ihren Augen las. Prompt schlug ihr Herz schneller. »Später …«

Nach der letzten Hochzeitsmesse ordnete Father Michael den Altar, bevor er die Kapelle verließ und durch den Ballsaal ins Foyer hinüberging. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft umfing ihn Stille. Er blieb einen Augenblick stehen, um das Porträt von Colette Duvoisin zu betrachten, das ihn schon gestern bei der Ankunft in seinen Bann gezogen hatte.

Dies also war die Frau, mit der alles begonnen hatte. Ihre Schönheit war wirklich atemberaubend und einzigartig. Genau so hatte John sie ihm geschildert. Er war in Gedanken versunken und bemerkte Frederic erst, als dieser bereits neben ihm stand.

»Sie war wirklich wunderschön«, sagte er.

»Das ist wahr«, erwiderte Frederic. »In ein paar Jahren werden meine Töchter ihr nacheifern. Vor allem Yvette.«

Frederic schmunzelte, als Father Michael ihn verwundert ansah. »Es ist nun einmal so, dass die Persönlichkeit die äußere Erscheinung beeinflusst. Yvette ist ihrer Mutter ähnlicher, als Jeannette das jemals sein wird. Colette besaß ein unglaubliches Feuer und eine klare Meinung, was ihre Überzeugungen und Unternehmungen betraf. Ihre Arbeit hätte ihr sehr imponiert.«

Bevor Michael nachfragen konnte, hörten sie Schritte. Frederic sah sich um und erblickte John.

Michael betrachtete die beiden Männer. Ihre Beziehung heilte nur langsam und war noch immer sehr fragil.

Frederics Blick kehrte zu dem Porträt zurück. »Ich denke, es ist langsam Zeit, es abzuhängen.«

»Nein, Vater«, widersprach John leise, »bitte, lass das Bild, wo es ist. Es gibt mir ein Gefühl der Sicherheit, wenn ich weiß, dass Colette über uns wacht.«

In der Stille gewann der Satz zunehmend an Gewicht, bis Frederic den Bann brach. »Ich glaube, ich habe etwas in der Kapelle vergessen«, murmelte er und ging davon.

John sah seinem Vater nach und schien tief in Gedanken.

Michael schwieg lange. »Sollen wir zum Dinner gehen?«, fragte er schließlich.

»Gehen Sie schon vor«, erwiderte John, ohne ihn anzusehen. »Ich komme in einer Minute nach.«

Das Licht des Tages schwand langsam dahin, und in der Kapelle wurden die Schatten länger. Innerhalb der Mauern war es kühl. Frederic zündete die Kerzen auf dem Altar an, bevor er in der ersten Bankreihe niederkniete. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und dankte Gott. Seine Gebete waren erhört worden. Wenn ihn sein Schöpfer in diesem Augenblick zu sich rief, konnte er in Frieden gehen … ohne schlechtes Gewissen. Er hatte alles getan, was ihm möglich war, um für seine vielen Fehler und Sünden zu büßen.

In der Stille des heiligen Orts öffnete er sein Herz und seine Seele und hieß Elizabeth und Colette in Gedanken willkommen.

Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, sah er sich um und sah John hinter sich stehen. Er war überrascht, als sein Sohn sich zu ihm setzte.

»Ich danke dir«, murmelte John nach langem Schweigen.

Als Frederic sich umsah, begegnete er Johns ernstem Blick.

»Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich jetzt tot.« John seufzte. »Als du den Anfall hattest, war es mir gleichgültig, ob du weiterleben oder sterben würdest. Ich wollte sogar, dass du stirbst. Nach allem, was ich dir angetan habe, hättest du mich auch einfach liegen lassen können … ja, mich liegen lassen müssen! Ich hatte deinen Beistand nicht verdient.«

Frederic wandte sich wieder dem Altar zu und suchte lange nach den richtigen Worten. »Vor dreißig Jahren habe ich dich im Stich gelassen, John. Obwohl du unschuldig und hilflos warst, habe ich dich im Stich gelassen.« Er schluckte. »Ich bin mit dir nach New York gefahren, weil ich dich liebe, mein Sohn. Ganz gleich, was du mir jemals getan hast, ich wollte dich auf keinen Fall noch einmal enttäuschen.«

Wieder schwiegen sie.

»Damals in der Nacht habe ich Pierre gesehen«, flüsterte John nach langen Minuten. »Ich habe meine Mutter gesehen, und auch Colette. Ich war bei ihnen.« Er sah Frederic an. »Sie befinden sich an einem friedlichen Ort. Mutter lässt dir sagen, dass sie dich noch immer liebt. Und Colette … sie liebt dich auch.«

Frederics Augen waren tränennass. »Ich liebe Colette, John.«

»Das weiß ich, Vater. Jetzt weiß ich das.«

Frederic konnte nichts mehr sagen.

John erhob sich und legte seinem Vater tröstend die Hand auf die Schulter. Einen Augenblick lang blieb er so stehen, bevor er sich abwandte und die Kapelle verließ.

Bei dem Dinner ging es an diesem Abend hoch her. Jeder Platz war besetzt, nur der Kopf und das untere Ende des Tisches waren noch frei. Irgendwann erschien John, und kurz darauf kam auch Frederic zu Tisch. Beide lächelten Charmaine zu, die sich fragte, wo die beiden so lange gesteckt hatten. Nun waren alle zwölf Stühle besetzt. John und Frederic wurden schnell in die Gespräche einbezogen und unterhielten sich auch öfter quer über den Tisch miteinander. Charmaine lehnte sich behaglich zurück und freute sich an dem munteren Familienleben.

Wie oft hatte sie sich in ihrem Elternhaus beim Dinner vor ihrem Vater gefürchtet! Sogar als sie schon bei den Harringtons lebte, hatte sie sich immer eine eigene Familie gewünscht. Jetzt endlich war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen. Wie ein nicht enden wollendes Fest. Plötzlich spürte sie die Anwesenheit ihrer Mutter ganz deutlich. Sie senkte den Kopf und dankte Gott. Nach langer Zeit waren endlich Liebe und Frieden unter diesem Dach eingekehrt.

Nach dem Essen begaben sich alle in den Wohnraum. Da John nach der Zeremonie in der Kapelle geruht hatte, bestand er darauf, sich der Familie anzuschließen. Man brachte weitere Stühle aus dem Arbeitszimmer herbei, und Michael setzte sich neben John auf die Klavierbank.

»Dieses Pianoforte sieht genauso aus wie das in New York«, bemerkte der Priester.

»Es ist auch das gleiche Instrument«, sagte John. »Sie wurden vor fünf Jahren bei Bridgeland and Jardin gebaut. Vielleicht haben Sie davon gehört?«

Als Michael den Kopf schüttelte, fuhr John fort: »Der Klang dieses Pianos ist kraftvoll und klar. Die Verbesserung gegenüber den Instrumenten, wie sie vor zehn Jahren gebaut wurden, liegt in der Art der Bespannung. Ich war damals bei der Vorführung sehr beeindruckt und habe auf der Stelle vier Instrumente gekauft, nachdem ich darauf gespielt hatte.«

»Vier?« Michael konnte es nicht glauben. »Sie haben vier Instrumente gekauft?«

John lachte in sich hinein. »Genau. Eines steht in New York, das andere in Richmond, das dritte auf der Plantage und das vierte habe ich hierhergeschickt. Es war kein einfacher Transport, aber es war die Mühe wert, als ich hier ankam. Ich dachte, dass meine Schwestern Spaß daran hätten, und dank Charmaine haben sie das auch.«

Jetzt mischte sich auch Frederic in die Unterhaltung. »John spielt ausgezeichnet, müssen Sie wissen. Auf diesem Gebiet hat er an der Universität am besten abgeschnitten.«

»Ich habe ihn in Richmond öfter spielen hören«, bestätigte Michael, »aber leider hat ihn meine Anwesenheit immer unterbrochen.«

»Dann kann er uns vielleicht jetzt etwas vorspielen«, sagte Frederic und sah seinen Sohn voller Stolz an. »Das heißt, falls es dir gut genug geht?«

Yvette und Jeannette waren sofort Feuer und Flamme. »O ja, Johnny, bitte! Früher hast du uns oft etwas vorgespielt. Bitte!«

»Was würdet ihr denn gern hören?«

»Irgendetwas.«

»Etwas Besonderes!«

»Warum spielst du nicht das Stück, das du komponiert hast?«, schlug Frederic vor.

Johns Blick suchte Charmaine, aber sie unterhielt sich gerade mit den Harringtons.

»Ich … ich glaube nicht, dass ich das kann.« Er zögerte.

Frederic wusste, was in John vorging. »Ich würde das Stück wirklich gern hören«, versicherte er.

John überlegte einige Augenblicke, dann war er einverstanden. Father Michael suchte sich einen Stuhl, und Yvette setzte sich auf Frederics Schoß. Jeannette zog George und Mercedes an den Händen herbei und setzte sich dann neben ihren Vater. Frederic tätschelte ihren Kopf, während John sein Spiel begann.

Als der erste Akkord durch den Raum hallte, verstummte jedes Gespräch, und die Augen aller wandten sich dem Pianisten zu. Auf vertrauten Pfaden glitten Johns Finger über die Tasten und erweckten die melancholische Rhapsodie zu neuem Leben. Er legte seine ganze Seele in das Spiel, ließ die Töne in schneller Folge zur Fuge emporwachsen, bis sie dissonant und erschöpft und ohne Hoffnung in Kadenzen voll bittersüßer Sehnsucht abwärtstaumelten. Doch aus der Verzweiflung wuchs eine süße Melodie empor, spannte sich als Bogen von der Finsternis zum Licht, verwob die Harmonien wie Fäden zu einem hallenden Crescendo und endete in einem einzigen triumphalen Akkord.

Irgendjemand begann zu klatschen. John hob den Kopf und drehte sich langsam zu den anderen um. Seine Augen suchten Charmaine, die ihn sprachlos anstarrte. Er zwinkerte ihr zu. Es war vollbracht: Er hatte das Ende seiner Komposition gefunden.

»Ich wusste gar nicht, dass du das geschrieben hast!«, sagte Yvette staunend.

Charmaine war verblüfft. John … natürlich! Er hatte diese Rhapsodie komponiert! Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Wichtiger noch: Wann würde sie endlich begreifen, dass dieser Mann immer für eine Überraschung gut war?

»Du hättest nicht gedacht, dass dein Bruder so talentiert ist, was?«, fragte Frederic seine Tochter.

»O doch!«, rief Yvette, woraufhin alle lachten.

In nachdenklicher Stimmung umarmte Frederic seine Töchter und drückte ihnen einen Kuss aufs Haar. In diesem Augenblick fühlte er Colettes Gegenwart überdeutlich und genoss den kostbaren Moment.

John ging zu Charmaine hinüber und zog sie aus dem Sessel in die Höhe. Sie dachte ebenfalls an Colette, und eine ferne Erinnerung antwortete ihr: Vielleicht ist Ihre Berührung genau das, was das Stück braucht … es zu zähmen … es ebenso in Besitz zu nehmen, wie es sie in Besitz genommen hat … Wenn die Liebe zur Musik wird, dann ist die Harmonie perfekt. Colette hatte von John gesprochen. Colette wusste es. Irgendwoher wusste sie es!

Charmaine griff nach Johns Arm und ließ sich von ihm aus dem Zimmer führen. Sie schlenderten bis zum Ende der Veranda, wo es kühl und ruhig war. Beim Ballsaal blieben sie stehen. John lehnte sie an die Balustrade, und Charmaine ließ sich in seine Arme ziehen.

»Es war wunderschön«, murmelte sie.

»Das verdanke ich nur dir, my charm.« Er betrachtete ihr Gesicht und strich zart über ihre Wange. Dann zog er sie an sich und küsste sie. »Ich liebe dich, Charmaine. Ich liebe dich mehr, als du jemals wissen wirst.«

Rebecca zitterte ein wenig, als Paul sie in seine Räume führte und leise die Tür schloss. Ein überwältigender Tag lag hinter ihr. Jetzt war sie mit ihm allein. Es war ihre Hochzeitsnacht. Sie war aufgekratzt und albern, aber auch etwas verunsichert. Die großartige Umgebung, in der sie sich befand, war eine ganz andere Welt als die, die sie kannte. Im Lauf des Tages hatte sie ihre närrische Vorstellung der letzten drei Jahre immer öfter in Zweifel gezogen. Wie konnte sie jemals in diese Welt hineinwachsen? Mit bangem Gesichtsausdruck drehte sie sich zu ihrem Mann um.

»Was ist los?«, fragte Paul und lachte leise. »Du hast doch nicht plötzlich Angst vor mir? Wo ist das wilde kleine Ungeheuer hin, das mich fürs Leben gezeichnet hat?« Er rollte seinen Ärmel auf, damit sie die winzigen Narben an seinem Handgelenk sehen konnte, die sie ihm vor drei Wochen zugefügt hatte.

»Vor dir würde ich mich niemals fürchten«, widersprach Rebecca, »aber es ist dieses Haus … und deine Familie …« Mit großer Geste umschrieb sie ihre luxuriöse Umgebung. »Wie sie leben … was sie wissen … was sie tun … was sie alles besitzen … und können! Ich war so dumm und habe wirklich geglaubt, dass ich in ein solches Leben passe. Dabei kann ich nicht einmal lesen und schreiben!«

Paul fühlte, wie sich seine Brust vor Liebe zusammenkrampfte. Er zog sie in seine Arme. »Rebecca … meine liebste Rebecca …«, murmelte er in ihrem Haar. »Du machst mich so glücklich! Du bist aufrichtig, stark und stolz, und du hast keine Angst, deine Meinung zu sagen!«

Ihr Kopf lag an seiner Brust, und als er wieder leise lachte, klang das Geräusch sehr tröstlich.

»Du hast mich Tag und Nacht verfolgt und warst ständig in meinen Gedanken und Träumen, Mrs Duvoisin. Sag jetzt bloß nicht, dass du nicht zu mir gehörst! Du gehörst hierher nach Charmantes, und du bist genauso eine Duvoisin wie die anderen in meiner Familie!«

»Aber wir kennen uns doch kaum … es gibt so vieles …«

»Kein ›Aber‹.«

Er hielt sie auf Armeslänge von sich und sah sie sehr eindringlich an. »Du willst lesen und schreiben lernen? Dann wirst du es lernen! Du wirst alles lernen können, was du möchtest! Sag es mir nur. Dafür bin ich da. Hast du mich verstanden?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Nun gut.« Er grinste. »Dann will ich jetzt nichts mehr von solchem Unsinn hören, sonst sehe ich mich womöglich gezwungen, dich noch einmal übers Knie zu legen!«

»Das würdest du nicht wagen!«, lockte sie ihn und lachte. Mit einem Mal hämmerte ihr Herz, und ihre Wangen röteten sich vor Vorfreude.

Genüsslich entkleidete Paul seine Frau, und umgekehrt sie ihn. Dann trug er sie ins Schlafzimmer hinüber und liebte sie die ganze Nacht hindurch. Als der Morgen graute, waren sie völlig erschöpft.

»Noch ein paar Nächte wie diese, und du bekommst ein Kind von mir«, sagte er leise. »Unser Kind.«

Lächelnd strich sie über ihren Bauch. »Ich glaube, das ist schon passiert«, murmelte sie fast unhörbar. Sie war unendlich froh, dass Paul sie in der vergangenen Nacht gesucht und mit seinem Antrag ihren Ängsten und den Wutausbrüchen ihres Bruders ein Ende gesetzt hatte.

Rasch bedeckte er ihre Hand, sodass sich seine dunklen Finger auf ihrer blassbraunen Haut abzeichneten. »Habe ich es mir doch gedacht«, sagte er. Der Gedanke, dass schon ihre erste leidenschaftliche Umarmung sie untrennbar miteinander verbunden hatte, entfachte seine Lust aufs Neue. Seine Hand glitt über ihren Bauch und streichelte sie zwischen ihren Schenkeln. Als ihr ein lustvolles Stöhnen entfuhr, war es um seine Beherrschung geschehen.

Während John die schlafende Charmaine umschlungen hielt, dachte er an das Wunder, das ihn wieder nach Hause gebracht hatte. Ohne Schwierigkeiten fand er an den strahlend hellen, unwirklichen Ort zurück, wo ihn seine Mutter, Colette und Pierre umarmt hatten. In Gedanken war er wieder im Paradies, hielt seine verlorene Familie umschlungen … seinen Sohn und die Frau, die seine Frau hätte werden sollen.

Tod … Die Lösung war so einfach.

»John«, hauchte Colette, als er seine Umarmung ein wenig lockerte, »wie geht es deinem Vater?«

Der Friede, der ihn gerade noch umfangen hatte, war dahin. »Meinem Vater?«

»Er weint. Er betet für dich. Er will nicht, dass du stirbst.«

»Warum müssen wir über meinen Vater reden, wenn ich doch hier bin? Ich kann jetzt auf dich aufpassen.«

»Das hast du getan«, hauchte sie. »Agatha und Robert …«

»… sind fort, und wir sind endlich vereint. Mit unserem Sohn.«

»Aber das ist uns nicht bestimmt, John«, erwiderte sie bekümmert. »Frederic ist ein Teil von mir. Ich gehöre zu ihm, und er gehört zu mir.« Sie hob seine Hand an ihre Lippen und küsste sie zärtlich. »Du musst zurückkehren und dich mit deinem Vater versöhnen.«

»Ich verstehe kein Wort …«

»Frederic wollte dir niemals wehtun. Er liebt dich von Herzen. Hörst du denn nicht, wie er um dich weint?« Sie sah ihn traurig an … da konnte er ihn hören. »Charmaine liebt meine Kinder so sehr … und sie liebt dich. Sie braucht dich so nötig, wie Frederic mich braucht. Das hast du schon immer gewusst, nicht wahr?«

Die blauen und blonden Farbtöne verschwammen zu einem hellen Braun, als seine Mutter ihn lächelnd ansah. Pierre war plötzlich nicht mehr auf seinem Arm, sondern schmiegte sich an Elizabeth. Hinter sich hörte John ein Baby schreien. »Du gehörst nicht hierher, John«, sagte Elizabeth. »Geh zurück. Geh zu deinem Vater und sag ihm, dass ich ihn liebe. Sag ihm auch, dass du ihn liebst. Geh nach Hause zu deiner hübschen kleinen Tochter, geh zurück zu Charmaine. Sie liebt dich so sehr …«

Wieder schrie das Baby. Sein Vater sagte etwas zu ihm. Er flehte um Gottes Segen, und John spürte seinen Schmerz. Er wollte ihn trösten, seine Qualen lindern. Seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, und er musste tief atmen, um den Krampf zu lösen. Plötzlich sehnte er sich danach, Charmaine im Arm zu halten. Wenn er zu seinem Vater zurückkehrte, konnte er auch Charmaine wieder umarmen …

Er kehrte dem Licht den Rücken zu … und fand sich an der Decke seines Zimmers wieder. Sein Vater beugte sich noch immer über sein Bett. Ein Priester murmelte Gebete. Es war Michael. John sah sich noch einmal um, doch das Licht verblasste, je länger er hinsah. Dann wanderte sein Blick zum Fußende des Betts. Die Frau, die dort stand, sah aus wie Charmaine … Es war Marie. Sie lächelte und winkte. Er streckte die Hand nach ihr aus. Er besaß so viel, wofür es sich zu leben lohnte. Er wollte um sein Leben kämpfen.

Dann war er wieder in seinem Bett und schlief. Noch einige Augenblicke lang schwelgte er in dem friedvollen Gefühl, dass sein Sohn sicher und glücklich in den Armen seiner Mutter geborgen war. Als seine Lider zitterten und sich schließlich öffneten, sah er die Erleichterung und Freude seines Vaters. Als Frederic seine Hand umschloss, fühlte John sich getröstet. »Vater …«, stöhnte er nur, bevor ihm die Augen zufielen. Er war froh, dass er sich für das Leben entschieden hatte.

Wenn er heute Nacht an diese unglaubliche Erfahrung zurückdachte, während seine Frau in seinen Armen schlief und seine kleine Tochter geborgen in der Wiege lag, so wusste er, dass ihn nur dieses »Wunder« nach Hause zurückgebracht hatte. Elizabeth und Colette und sogar Marie hatten ihn zu Charmaine zurückgeschickt. Leider konnte er ihr das nicht sagen. Nicht, dass sie ihm nicht geglaubt hätte. Das nicht. Aber sie wollte Colettes Namen nie wieder hören. Und er ließ nicht zu, dass sich die Vergangenheit noch einmal zwischen sie drängte. Colette hatte klar gesagt, dass sie zu Frederic gehörte, und er war endlich bereit, das zu respektieren. Es war ihm nicht mehr wichtig. Es war vorbei. Es war endlich vorbei. Mit einem Seufzer zog er Charmaine an sich und schloss die Augen. Eine tiefe Ruhe ergriff von ihm Besitz und stimmte ihn hoffnungsfroh.