Charmantes

Das Licht fiel auf das Metall und enthüllte eine silbrig schimmernde Inschrift: Meine Liebe, mein Leben. Mit zitternden Fingern ließ Agatha das Medaillon zuschnappen und legte es vor sich auf den Frisiertisch. Es war Elizabeths Hochzeitsgeschenk von Frederic.

Die bitteren Erinnerungen verblassten, als sie aufsah und ihr Spiegelbild betrachtete. Elizabeth hatte verloren, und nun war sie an der Reihe. Nach jahrelanger Planung und zahllosen Intrigen hatte sie endlich gesiegt, und heute Nacht würde sie ihren Triumph vollenden. Die Ironie des Schicksals ließ Agatha leise auflachen. Elizabeth lag schon viele Jahre im Grab und hatte Frederic nur sechs glückliche Ehemonate beschert. Sie dagegen hatte ihm mit Paul einen Schatz geschenkt, der heute sein ganzer Stolz war und der das Vermächtnis der Duvoisins weitertragen würde.

Wieder betrachtete sie das Medaillon. Wenn sich Elizabeth nicht eingemischt hätte, wäre sie die strahlende Empfängerin dieses Prachtstücks gewesen. Doch heute spielte das keine Rolle mehr. Heute war die Zeit auf ihrer Seite, denn nun war sie es, die an Frederics Arm den Ballsaal betrat und ihren Sieg vollendete.

Das festliche Dinner war für sechs Uhr angesetzt. Die Zwillinge trugen bereits die neuen blassblauen Chiffonkleider mit weißer Spitze, die ihre Augen besonders betonten. Colettes Augen. Die Mädchen wurden ihr immer ähnlicher, und bald genug würden sie genauso aussehen wie sie. Im Augenblick hüpften sie aufgeregt durchs Zimmer und konnten gar nicht abwarten, dass sie endlich nach unten durften. Schon drangen erste Stimmen bis zu ihnen herauf. Sehnsüchtig sah Charmaine das hübsche Ballkleid an, das an diesem Abend nicht zu Ehren kam. Da sie dank Agathas Winkelzügen nur als Gouvernante der Kinder bei Tisch geduldet war, hatte sie ihrer Stellung entsprechend ihr bestes Sonntagskleid angezogen. Frederic wünschte, dass seine Töchter am festlichen Dinner teilnahmen und auch den Ball, der um acht Uhr dreißig begann, eine Stunde lang miterlebten. Anschließend wollte es sich Charmaine mit einem Buch in ihrem Zimmer bequem machen und nicht weiter darüber nachdenken, was ihr entging.

Dank der neuen Schuhe hallten die Schritte der Mädchen laut durchs Foyer, als sie über die Marmorfliesen zum Ballsaal gingen. Die Türen standen weit offen und präsentierten den Saal in seiner ganzen Pracht und erfüllt vom Stimmengewirr einer erwartungsfrohen Menschenmenge. Fast Ehrfurcht gebietend, dachte Charmaine. Sie nahm die Mädchen an der Hand und betrat zusammen mit ihnen den Saal.

In hohen Kandelabern brannten zahllose Kerzen, und das flackernde Licht spiegelte sich tausendfach im Porzellan und in den Gläsern wider, und kunstvolle Arrangements aus frisch gepflückten Blumen krönten die vier runden Tafeln. Elegant gekleidete Ladys spazierten mit einem Glas in der Hand am Arm ihrer Begleiter umher und unterhielten sich, tranken oder stießen miteinander an oder labten sich bereits an den Horsd’œuvres.

Während die Mädchen zu einem der Diener liefen, um sich ein Glas vom Tablett zu nehmen, inspizierte Charmaine die Tischkärtchen. Sie saßen zusammen mit Frederic, Agatha, Edward Richecourt und seiner Frau Helen, Geoffrey Elliot, Robert Blackford und einem Ehepaar aus North Carolina am selben Tisch.

In diesem Augenblick betrat Paul mit Anne London am Arm den Saal. Im grauen Gehrock mit schwarzer Hose und weißem Hemd bot er ein großartiges Bild, das die Blicke vieler Frauen auf sich zog. Mrs London trug ein schulterfreies Gewand nach neuester Pariser Mode mit engem Mieder und gerüschten Ärmeln, das von der Taille an weit und fließend zu Boden fiel. Der Ausschnitt war so tief, dass der elfenbeinfarbene Satin kaum das Mieder bedeckte und viel von ihrem cremeweißen Busen sehen ließ. Ihre Arme steckten in langen Handschuhen aus Spitze, an ihren Ohren glitzerten Diamanten, und ein Diadem schmückte die kunstvoll hochgesteckte Zopffrisur. Vermutlich hatte diese Toilette den ganzen Tag in Anspruch genommen, dachte Charmaine, denn sie hatte Mercedes seit dem Frühstück nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Nach dem Paar erschienen John und George in Gesellschaft von einigen Geschäftspartnern aus New York und Boston. Charmaine stockte der Atem, als sie John zum ersten Mal in formeller Kleidung erblickte. Bis auf die Nelke am samtenen Aufschlag seines Jacketts war er ganz in Schwarz gekleidet. Der Anzug brachte seine schlanke Gestalt und die breiten Schultern vollendet zur Geltung. Das Haar trug er ordentlich zurückgekämmt, die Koteletten waren frisch geschnitten, und sein Gesicht war glatt rasiert. Wenn er mit seinen Partnern aus dem Norden plauderte, ließen die lebendigen Blicke einen flinken Geist erahnen. Er sah wirklich beeindruckend aus und strotzte vor Selbstsicherheit, sodass Charmaine ihn unentwegt ansehen musste.

Den jüngeren Ladys ging es offenbar nicht anders. Unter dem beifälligen Nicken ihrer Mutter löste sich ein Mädchen aus ihrem Kreis, zückte ihre Tanzkarte und hielt sie John unter die Nase. Offensichtlich hatten die Gattinnen der Farmer und Händler eigene Pläne. Während die Gentlemen um Verträge und Geschäftspartner warben, hielten die Ladys einstweilen nach Ehemännern für ihre Töchter Ausschau. Mit einem Seufzer wandte Charmaine sich ab.

Kurze Zeit später führten die Diener die ersten Gäste zu ihren Plätzen. Charmaine holte Yvette und Jeannette und setzte sich zwischen den Mädchen an den Tisch, als Agatha ebenfalls ihren Platz einnahm. Frederic wartete, bis jedermann seinen Platz gefunden hatte, bevor er sich als Letzter setzte. Als Charmaine den Mädchen bedeutete, ihre Servietten auf dem Schoß auszubreiten, sah sie auf und bemerkte Frederics Blick. Tapfer widerstand sie dem Wunsch, die Augen niederzuschlagen, und gab ihm erst nach, als Frederic sich Edward Richecourt zuwandte. Während der erste Gang serviert wurde, begann ein Geigenquartett zu spielen, und ganz allmählich ließ Charmaines Anspannung nach.

Irgendwann blickte sie sich um und stellte fest, dass an jedem der Tische ein Mitglied der Gastgeberfamilie saß. Paul und Anne saßen am Tisch nebenan, wo eine ruhige Unterhaltung im Gange war. Als Pauls Blick Charmaines begegnete, lächelte er kurz zu ihr herüber. Anne bot ihren ganzen Charme auf und legte besitzergreifend ihre Hand auf die seine. Rose und George saßen am Tisch in ihrem Rücken, doch trotz lebhafter Gespräche um ihn herum wirkte George ein wenig verloren. Am Tisch daneben wurde eifrig diskutiert und gescherzt, wobei John wie immer im Mittelpunkt stand und seine Gäste bestens unterhielt.

Geoffrey Elliot ließ Charmaine die ganze Mahlzeit über nicht aus den Augen und zog sie immer wieder ins Gespräch, sobald sich ihre Blicke trafen. Helen Richecourt unterhielt sich ausführlich mit den Zwillingen, und immer, wenn die Mädchen nickten, tanzten ihre goldenen Löckchen. Überhaupt benahmen sich die Kleinen wie die Engel und legten beste Manieren an den Tag. Colette wäre stolz auf ihre Töchter gewesen.

Als die Tische für das Dessert abgeräumt wurden, sah Charmaine wieder einmal zu John hinüber. Er saß mit locker gekreuzten Armen leicht nach vorn gebeugt auf seinem Stuhl und war offensichtlich in eine Erzählung vertieft. Den ganzen Abend über hatte er kein einziges Mal zu ihr herübergesehen. Hatte er sie überhaupt bemerkt?

Nach dem Dessert komplimentierten die Bediensteten die Gäste aus dem Saal, damit der Umbau für den Ball beginnen konnte. Einige der Gäste begaben sich in den Wohnraum oder die Bibliothek, um etwas zu trinken, während die anderen das Haus verließen und sich auf den Wiesen und im Garten ergingen.

Charmaine begleitete ihre Schützlinge in den Wohnraum, wo Frederic seine Töchter einigen Gästen vorstellte. Alle waren überaus freundlich. Helen Richecourt hatte soeben erfahren, dass die Mädchen Piano spielten, und bat Jeannette um eine Kostprobe. Es dauerte nicht lange, bis sich ein kleinerer Kreis um das Instrument sammelte und den Lieblingsstücken der Mädchen lauschte.

»Charmaine? Charmaine Ryan?«

Charmaine wandte sich zu dem Ehepaar um. »Mr und Mrs Stanton! Wie schön, Sie zu sehen!«

Raymond Stanton war Kaufmann und ein Geschäftspartner von Joshua Harrington in Richmond. Seine Frau Mary und er hatten nicht am Dinner teilgenommen und waren vermutlich gerade erst zum Ball eingetroffen.

»Wir freuen uns ebenso, meine Liebe. Loretta und Joshua lassen Sie grüßen.« Lächelnd betrachtete Mary Charmaine von Kopf bis Fuß. Diese gewandte junge Frau konnte doch unmöglich das schüchterne Mädchen sein, das sie vor Jahren bei den Harringtons kennengelernt hatte.

»Ich freue mich immer, wenn ich von den Harringtons höre. Wie geht es ihnen denn?« Charmaine blieb höflich, obwohl ihr die abschätzenden Blicke missfielen.

»Recht gut. Im Augenblick bereiten sie sich auf einen Besuch bei Jeremy in Alexandria vor.«

»Das ist ja wunderbar. Jetzt im Frühling fällt das Reisen auch leichter.«

»Ja, ja.« Marys Blicke schweiften umher. »Dieses Haus ist wahrlich beeindruckend. Wie lebt es sich denn in solcher Pracht?«

Charmaine bemerkte, dass Frederic Duvoisin nur wenige Schritte hinter ihr stand. »Ich lebe sehr gern auf Charmantes, Mrs Stanton. Natürlich ist mein Leben hier ein klein wenig anders als mein früheres in Richmond.«

»Das will ich meinen. Ich muss sagen, Paul Duvoisin ist ein wirklich gut aussehender Mann. Bestimmt liegen ihm die Mädchen zu Füßen. Sehen Sie ihn öfter?«

»Fast jeden Tag, Mrs Stanton. Er wohnt ja hier.«

»Wie ich sehe, ist Anne London seine Begleiterin. Seltsam. In Richmond tuschelt man nämlich, dass sie mit seinem Bruder verlobt sei. Ich meine, mit John.«

Bevor Charmaine etwas sagen konnte, plapperte Mary Stanton bereits weiter. »Ist er denn auch hier?«

»Ja …« Charmaine seufzte, als Marys Augen aufleuchteten.

»Sie müssen ihn mir unbedingt zeigen. Ich habe schon so viel von ihm gehört, ihn aber noch nie persönlich getroffen. Raymonds Partner bezeichnen ihn als schwierig.«

In diesem Moment kamen die Zwillinge angestürmt. Charmaine konnte die Mädchen kaum mit den Stantons bekannt machen, als Yvette schon ungeduldig an ihrem Arm zerrte. »Kommen Sie, Mademoiselle, wir müssen Johnny suchen!«

Mary Stanton zog die Brauen hoch, aber Charmaine murmelte nur höflich »Guten Abend« und ließ sich bereitwillig ins Foyer ziehen. Als John nirgendwo zu finden war, schlug sie vor, nach oben zu gehen und sich für den Abend umzuziehen.

George ging es nicht gut. Er dachte unentwegt an Mercedes und wünschte so sehr, dass sie heute Abend an seiner Seite wäre. John hatte ihm allen Ernstes vorgeschlagen, um ihre Hand anzuhalten. Damit wäre Mrs Londons Drohung nichtig, und Mercedes könne tun, was ihr gefiel. Doch gestern Abend vor ihrer Zimmertür hatte er in letzter Minute kalte Füße bekommen und die schicksalsschweren Worte nicht über die Lippen gebracht. Wie ein Hornochse war er sich vorgekommen, doch heute bereute er seine Feigheit.

Als Frederic auf die Veranda trat, um eine Zigarre zu rauchen und sich mit zwei Gentlemen über Politik und Handelsfragen zu unterhalten, erspähte er Paul inmitten einer Gruppe von Gästen auf der Wiese. Anne London befand sich noch immer an seiner Seite. Nach ihrem Gespräch vor drei Wochen hatte er eigentlich angenommen, dass ihm Charmaine mehr bedeutete als eine vorübergehende Affäre und er sie heute als Tischdame wählen würde. Zudem hatte Jeannette ein neues Kleid erwähnt. Warum also hatte Miss Ryan die Kinder in diesem schlichten Kleid zu Tisch begleitet? Er erinnerte sich an seine Affären mit Agatha und Elizabeth und schauderte, wie ähnlich Paul ihm doch war. Er konnte nur hoffen, dass er nicht auch noch dieselben Fehler machte.

John klopfte an Mercedes’ Zimmer im zweiten Stock. Sie öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, doch die geschwollenen Augen sah er trotzdem. »Sie haben geweint.«

Mercedes drehte den Kopf zur Seite.

»Ich möchte Sie zum Ball abholen.«

»Aber … ich … ich kann nicht«, stammelte sie. »Mrs London würde mich sofort entlassen.«

»Sie wird keine Szene machen, glauben Sie mir. Sie will doch einen guten Eindruck auf meinen Bruder machen.«

»Trotzdem kann ich es nicht tun. Wenn sie mich heute nicht entlässt, dann eben morgen.«

»Ich habe so eine Ahnung, dass auch das nicht passiert.« Ein schiefes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Aber falls es Sie beruhigt, beschaffe ich Ihnen gern eine neue Arbeit. So oder so. Ich brauche unbedingt einen Hufschmied auf meiner Plantage.«

Lächelnd riss sie die Tür sperrangelweit auf. »Ist das wahr?«

»Das bin ich Ihnen auf jeden Fall für die Behandlung von Phantom schuldig.«

»Aber ich habe kein passendes Kleid!«

»Da bin ich ganz anderer Meinung. Mrs Londons Schrank quillt doch sicher vor teuren Kleidern über. Suchen Sie einfach eines aus, das sie noch nie getragen hat.«

Jeannette und Yvette wurden langsam ungeduldig. Von unten drangen erste Stimmen und leise Musik herauf. Offenbar trafen bereits die Gäste ein. Sie rannten auf den Balkon hinaus und sahen zu, wie ein Wagen nach dem anderen vorfuhr, wie fein gekleidete Gentlemen mit Zylinder ausstiegen und ihren eleganten Ladys aus dem Wagen halfen. Als der letzte Wagen davonfuhr, wurde es langsam Zeit, nach unten zu gehen. Zuvor warf Charmaine noch schnell einen sehnsüchtigen Blick auf ihr Ballkleid.

Unter lautem Jubel hüpften die Zwillinge in den Saal, wo bereits die ersten Paare tanzten. George drehte sich mit einer bildhübschen jungen Frau im Kreis. Sie hatte ihre Haare nur mit einem Band zusammengefasst und trug ein schlichtes Kleid. Wahrscheinlich ein Mädchen von den Inseln, dachte Charmaine. Anne London ließ Paul keine Sekunde aus den Augen, und immer wenn der Kotillon sie zusammenführte, schlangen sich ihre Arme wie Lianen um seinen Hals. Obwohl Charmaine die Frau nicht ausstehen konnte, ließ sie der Anblick der beiden in enger Umarmung seltsam kalt. Vermutlich hatte sie sich inzwischen daran gewöhnt.

Robert Blackford stand in der Nähe des Orchesters im Schatten und beobachtete seine Schwester. Als die Musikanten den ersten Walzer anstimmten, erhob sich Agatha und führte ihren Mann aufs Parkett. Besitzergreifend legte sie eine Hand auf seine Schulter und die andere um seine Taille. Sie trug ein blutrotes Gewand, das eine untadelige Figur betonte, um die sie jede Frau in ihrem Alter beneidete. Ihr Schmuck glitzerte im Kerzenlicht. Robert bewunderte seine Schwester. Sie war immer noch wunderschön. Für ihn die schönste Frau im Raum. Als Frederic die ersten Walzerschritte vollführte, ging die Phantasie mit Robert durch … Er durchquerte den Raum, tippte Frederic auf die Schulter und nahm dessen Platz ein. Doch als das Paar an ihm vorübertanzte, meuchelte Agathas strahlendes Lächeln seine Träume. Obwohl Frederic Mühe mit den Tanzschritten hatte, sah Agatha voller Stolz und Liebe zu ihm auf. Ja, Liebe war das richtige Wort. Nach all den Jahren traf Robert die Erkenntnis mit voller Wucht. Seine Schwester liebte diesen Mann, und sie hatte ihn schon immer geliebt.

Beim zweiten Walzer wagten sich auch Yvette und Jeannette auf die Tanzfläche. Als Yvette Joseph erspähte, der mit einem Tablett an der Wand lehnte, machte sie sich los, nahm ihm das Tablett aus der Hand und stellte es auf einen Tisch. Dann fügte sie Joseph und Jeannette zum Gaudium der Gäste zu einem Paar zusammen und schubste die beiden auf die Tanzfläche.

Plötzlich wurde es totenstill, dann entstand leises Gemurmel. Charmaine hob gerade den Kopf, als John mit Mercedes am Arm den Saal betrat. Die Zofe trug ein aufregendes grünbraunes Kleid, und das offene Haar reichte ihr bis zur Taille. Ein hinreißender Anblick.

Im ersten Moment fühlte sich Charmaine hintergangen. Außerdem verspürte sie einen Anflug von Eifersucht. Ihre Blicke suchten George, doch der tanzte noch immer mit der schwarzhaarigen Schönheit. Yvette rannte zu John und deutete auf Jeannette und Joseph. Ein Lächeln huschte über Johns Gesicht … doch Mercedes hatte nur Augen für George.

Als die Musik endete, führte John seine Begleiterin zu George hinüber. Sie wechselten einige Worte, und George grinste über das ganze Gesicht. Mercedes strahlte, als er seine Hand auf ihren Rücken legte … und im selben Augenblick ebbte Charmaines Eifersucht ab.

Während die drei noch miteinander redeten, trat Rose zu ihnen und zog John in einen schottischen Rundtanz mit sich fort. Sie hüpfte mit solch unglaublicher Energie, dass John alle Mühe hatte, ihrem Tempo zu folgen. Zwei Tänze später wischte er sich den Schweiß von der Stirn und reichte Rose an ihren Sohn weiter.

Charmaine fühlte sich elend und konnte kaum erwarten, dass die Stunde mit den Zwillingen vorüber war und sie sich endlich in ihr Zimmer zurückziehen und in den Schlaf weinen konnte.

Frederic war sehr erleichtert, als der Walzer endlich zu Ende ging. Er hatte seine Belastbarkeit sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht getestet. Doch nun, da er Agatha den Matronen überlassen konnte, erlosch sein bemühtes Lächeln.

Er ging zu einigen Männern hinüber, die in einer Saalecke heftig diskutierten. »… Nein, Percival, die ersten Fahrten überlasse ich gern Ihnen. Riskieren Sie nur getrost Ihre Waren und Ihr Geld.«

»Wenn Paul erst auf dem Markt Fuß gefasst hat, gibt es im nächsten Jahr womöglich keine Spielräume mehr.«

»Dieses Risiko gehe ich ein. Es gibt immer irgendwelche Schiffe.«

»Das schon, aber zu welchem Preis? Die Frachtraten der Duvoisins sind viel zu günstig, um sie auszuschlagen.«

Das zustimmende Gemurmel legte sich jedoch schnell, als der Erste seinen Standpunkt verteidigte. »Für einen Vertrag über fünf Jahre habe ich zu viele Gerüchte über einen Zwist zwischen Frederic und John gehört. Angeblich sprechen sie nicht miteinander.«

»Umso besser für Paul … und seine Kunden. Vermutlich wird er eines Tages auch die Flotte seines Vaters übernehmen.«

Der andere brummte. »Und bis dahin herrscht Chaos, oder wie soll ich das verstehen?«

»Ich habe die drei im Lauf dieser Woche sehr genau beobachtet. Ich bin wahrlich kein Freund von John, aber ich habe kein einziges Wort gehört, das mir Sorgen bereitet.«

»Ein Wort? Das nicht. Aber was ist mit unterschwelligen Strömungen? Selbst Paul wirkt sehr verschlossen. Vergangenes Jahr in Richecourts Büro war er sehr viel zugänglicher. Ich vermute, dass er verärgert ist, weil sein Bruder hier ist. Wenn Sie mich fragen, so machen uns alle drei etwas vor.«

»Wann hätte denn John jemals jemandem etwas vorgemacht, Matthew? Ihm ist es doch gleichgültig …«

»Wenn es um Geld geht und wenn er sein Vermögen in Sicherheit bringen will, ist ihm nichts gleichgültig. Dazu stellt er sein Vermögen viel zu gern zur Schau. Allein das Schild über der Zufahrt zu seiner Plantage … Es hat sicher eine Menge gekostet …«

»Verzeihen Sie, Gentlemen«, mischte sich Frederic ein, woraufhin alle verstummten. »Erlauben Sie, dass ich auf einige Ihrer Bedenken antworte.« Er sah den Wortführer an. »Ich kann Ihre Fragen verstehen, Matthew, denn ich würde mir dieselben stellen, wenn ich internationale Frachtverträge abschließen müsste. John und ich waren oft gegensätzlicher Meinung, das ist wahr, aber diese Differenzen haben niemals die Geschäfte der Duvoisins beeinträchtigt. Ich respektiere Johns Meinung ebenso, wie ich Pauls Urteil achte. Während der letzten zehn Jahre, in denen John die Interessen der Familie in Virginia vertreten hat, hat sich mein Vermögen verdreifacht.« Er legte eine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. »Dennoch steht John in dieser Woche nicht im Mittelpunkt, sondern Paul. Es geht um seine Flotte und seine Schiffsrouten. Alles, was Sie hier gesehen haben, wurde allein von ihm aufgebaut. Ich habe lediglich die Investitionen abgesichert. Weder John noch ich haben hier etwas zu sagen. Wir geben höchstens Ratschläge, wenn wir gefragt werden. Es ist meine größte Sorge, dass Paul das auch tut. Das sollte auch Ihre Sorge sein, Matthew … Dieser Teil unseres Geschäfts ist neu für ihn. Bisher hat John das allein erledigt. Und lukrativer als ich … nicht zuletzt für Agenten und Händler, die mit ihm geschäftlich verbunden sind. Aus diesem Grund ist er in dieser Woche hier … um seine Erfahrungen weiterzugeben.«

»Ich wollte Sie keineswegs kränken, Frederic.«

»Das habe ich auch nicht so verstanden. Ihre exakte Prüfung von Verträgen und Bedingungen verrät einen gesunden Geschäftssinn.« Er schüttelte den Gentlemen der Reihe nach die Hand. »Wenn Sie noch weitere Fragen ansprechen wollen, so kommen Sie getrost zu mir. Aus diesem Grund haben wir Sie alle eingeladen.«

Anne London war außer sich. Ihre Zofe tanzte in den Armen ihres Verehrers … und das in ihrem Kleid, das ein Vermögen gekostet hatte! Ihr Schneider hatte es für sie entworfen, und morgen wollte sie es zur Messe tragen und ihren heutigen Erfolg noch übertreffen. Dieser Plan war nun dahin. Anne kochte. Wie konnte die dumme Gans ihre gute Stellung aufs Spiel setzen? Sie schnaubte. Nun gut, Mercedes, diesen Auftritt wirst du bereuen! Am Montag, wenn alle Gäste fort sind, wirst du entlassen. Du wirst schon sehen, wie das deinem Verehrer schmeckt!

Als Charmaine sang- und klanglos mit den Zwillingen verschwand und nicht zurückkehrte, wurde John immer wütender. Anne London hatte beim Dinner neben seinem Bruder gesessen und war auch an seinem Arm zum Ball erschienen. Dagegen hatte sich Charmaine als Gouvernante um die Kinder gekümmert. Offenbar hatte Paul seine Einladung widerrufen.

Die Zwillinge schliefen, und Charmaine hatte gerade ihren Morgenmantel angezogen und sich mit einem Buch in den Sessel gesetzt, als es klopfte. Sie staunte nicht schlecht, denn mit John hatte sie nicht gerechnet.

»Ich dachte, dass Paul Sie zum Ball eingeladen hätte«, begann er sehr direkt.

»Ich habe Sie nicht belogen.«

»Das weiß ich. Was ist geschehen?«

»Agatha hat Anne in Pauls Namen zum Ball eingeladen. Er konnte nichts dagegen tun.«

»Also hat er Sie belogen.«

»Das war keine Lüge! Es ist doch gegen seinen Willen geschehen.«

»Na ja.« John war nicht so überzeugt.

»Agatha hat das Ganze angezettelt, und Paul wollte keinen Ärger.«

»Mir wäre das nicht passiert.«

»Sie provozieren die Leute gern, nicht wahr? Aber Paul liegt das nicht.«

»Wie wahr. Er hält lieber eine Frau im Arm, während sich die andere in den Kulissen nach ihm verzehrt.«

»In diesem Fall irren Sie sich. Paul wollte mit mir zum Ball gehen. Er hat das Geschehene bedauert und sich bei mir entschuldigt.«

»Und Sie haben ihm seinen Willen gelassen, was Sie den Abend gekostet hat.«

Charmaine wollte nicht an ihre Enttäuschung erinnert werden. Da es ohne Absicht passiert war, fühlte sie sich verpflichtet, Paul zu verteidigen. »Sie sind unfair, John. Paul hat versprochen, es wiedergutzumachen. Was bedeutet schon ein Abend, wenn die ganze Zukunft …«

Sie verstummte erschrocken. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und wollte in ihr Zimmer zurückgehen, doch John folgte ihr mit gerunzelter Stirn.

»Hat Paul Ihnen etwa einen Antrag gemacht? Ist es das, was Sie mir nicht sagen wollen?«

»Wäre das denn so unmöglich?«, fragte sie gekränkt zurück, als ob sie es nicht wert wäre.

»Dass er Ihnen einen Antrag gemacht hat? Oder dass Sie es mir nicht sagen wollen?«

»Ich habe nichts zu verbergen! Ja, er hat mir einen Antrag gemacht.«

»Also will er die Sache geheim halten!«

»Aber nein!«, widersprach Charmaine.

Johns Stirnrunzeln verstärkte sich noch. »Wann wollte Paul die Verlobung denn verkünden, Charmaine? Etwa heute Abend auf dem Ball an Annes Arm, während Sie hier oben in Ihrem Zimmer hocken?«

Die Worte brannten wie Salz in ihrer Wunde. Wieder war sie so gereizt, dass sie mehr verriet, als sie wollte. »Wir sind ja noch gar nicht verlobt. Ich habe Paul gesagt, dass ich darüber nachdenken muss.«

John schien überrascht, doch seine Stimme klang schneidend scharf. »Wie großzügig von Ihnen … und wie passend für ihn! Noch ein kleines Abenteuer, bevor er verheiratet ist!«

»Von wegen großzügig!« Wut und Scham bildeten einen Kloß in ihrem Hals. »Ich habe Ihnen doch erklärt, dass Agatha ihn in diese unangenehme Situation gebracht hat.«

John schnaubte verächtlich. »Egal. Und wenn Auntie der lieben Anne heute Abend weismachen würde, dass Paul um ihre Hand angehalten hat, wäre Paul sicher zu feige, um zuzugeben, dass er Ihnen bereits einen Antrag gemacht hat. Habe ich das jetzt richtig verstanden?«

Wütend funkelte sie ihn an. Eine Antwort war überflüssig.

»Nachdem wir das geklärt hätten, ziehen Sie sich jetzt bitte an. Wir gehen auf den Ball.«

Sie zögerte, aber zugleich erregte sie der Vorschlag. Doch dann meldete sich ihr Gewissen. »Ich finde es unpassend, einen anderen Mann zum Ball zu begleiten, bevor ich Paul meine Antwort gegeben habe.«

Ungläubig starrte John sie an. »Aber für ihn ist es völlig normal, eine andere Frau zum Ball zu führen, obwohl er Ihnen einen Antrag gemacht hat?«

Charmaine seufzte. »Was geht Sie die Sache überhaupt an?«

John überlegte. Wenn er Charmaine überzeugen wollte, musste er Paul aus dem Spiel lassen. »Es geht mich deshalb etwas an, weil ich weiß, wie sehr Sie sich auf den Ball gefreut haben. Die ganze Woche über haben Sie von fast nichts anderem geredet. Außerdem habe ich beim Dinner genau gesehen, wie enttäuscht Sie waren.«

Charmaine war überrascht. Er hatte sie also wahrgenommen. Sofort besserte sich ihre Stimmung.

»Na los, Charmaine. Welche Frau würde nicht alles dafür geben, um heute Nacht dabei zu sein? Eine solche Gelegenheit kommt doch nie wieder. Außerdem können Sie immer sagen, dass wir nur gute Freunde sind.«

Obwohl sie wusste, dass ihr das niemand glauben würde, geriet ihre Ablehnung ins Wanken.

»Geben Sie sich einen Ruck, Charmaine. Ich habe in meinem Leben schon viele Feste gefeiert. Da kommt es auf eines mehr oder weniger nicht an. Aber es wäre mir eine große Freude, Ihre Freude mitzuerleben. Enttäuschen Sie uns nicht beide.«

Charmaine überlegte. Warum sollte sie auf diesen Ball verzichten? Sie schmunzelte beim Gedanken an Anne Londons oder Mrs Stantons dumme Gesichter, wenn sie an Johns Arm auf dem Ball erschien.

»Also gut, ich komme mit. Aber ich warne Sie: Wenn Sie mich auch nur ein einziges Mal in Verlegenheit bringen, verschwinde ich auf der Stelle.«

»Um Gottes willen, ich werde mich hüten.« Er winkte ab, als er zur Tür ging. »Sie haben zehn Minuten.«

»Zehn Minuten?«

»Zehn Minuten.« Er grinste. »Ich warte.«

Sobald er die Tür geschlossen hatte, riss sich Charmaine das Nachthemd vom Leib und zog das Ballkleid aus dem Schrank. Der Stoff umschloss ihre Brüste und ihre Taille wie eine zweite Haut und fiel von den Hüften weit bis auf den Boden hinunter. Die champagnerfarbene Seide schmeichelte ihrer Haut und ihrem dunklen Haar, während das Band um die Taille ihre schlanke Figur betonte und die Rüschen um den Ausschnitt den Blick auf ihre schwellenden Brüste lenkten. An den tiefen Ausschnitt musste sie sich genauso gewöhnen wie an die seidenen Slipper. Als John klopfte, fuhr sie sich noch schnell mit der Bürste durchs Haar und steckte die Locken mit zwei Elfenbeinkämmchen zurück. Dann noch kurz in die Wangen kneifen, um einen rosigen Hauch aufs Gesicht zu zaubern. Als sie sich vor dem Spiegel drehte, fragte sie sich, ob dies noch dasselbe Mädchen war. Ein letzter Blick auf ihr strahlendes Gesicht … und sie verließ siegessicher das Zimmer.

John lehnte am Geländer und sah auf das Treiben hinunter. Als er ihre Tür hörte, richtete er sich auf und wandte sich um. Das Bild, das sich ihm bot, übertraf alles, was er sich jemals vorgestellt hatte. Wenn er nicht sofort den Blick abwandte, würde er sie ins Zimmer zurückziehen und den Ball augenblicklich vergessen. Tapfer konzentrierte er sich nur auf ihr Gesicht. Offenbar hatte Charmaine keine Ahnung von der Wirkung, die sie auf ihn hatte. Trotz ihrer zart geröteten Wangen funkelten ihre Augen übermütig.

Sein Schweigen verunsicherte sie. »Kann es sein, dass es Ihnen die Sprache verschlagen hat?«

Er lachte erleichtert, als der Bann endlich gebrochen war. »Sie sehen einfach unglaublich aus, my charm

»Dieses Kompliment kann ich nur zurückgeben. Schwarz steht Ihnen.«

»Das sagen Sie mir nicht zum ersten Mal.«

Sie kicherte und wurde immer alberner.

»Seien Sie vorsichtig, my charm«, warnte er. »Sie sehen heute Abend so zauberhaft aus, dass mich meine schwarze Seele einholen könnte und wir es gar nicht bis in den Ballsaal schaffen.«

Sie grinste und freute sich, dass er sie begehrenswert fand. Und als er ihren Arm nahm und sie zur Treppe führte, packte sie der Übermut. Sie rannte voraus und lachte vom Treppenabsatz zu ihm empor. Als sie sich über das Geländer beugte, konnte sie in den Ballsaal hineinsehen. Die Farben, die Düfte und die Musik waren unwiderstehlich. Wie im Rausch schwangen die Säume der Roben am Eingang vorüber, und der Rhythmus des Walzers war so anregend, dass John sie kaum noch zurückhalten konnte.

»Laufen Sie mir nicht davon, my charm!« Lächelnd bot er ihr seinen Arm. Als sie ihre Hand darauf legte, spürte sie seine Muskeln unter dem Stoff.

»Ich komme mir vor wie Cinderella«, flüsterte sie.

Lächelnd führte er sie die letzten Stufen hinunter und dann durchs Foyer in den Ballsaal. Die Musik war verstummt, und Charmaine registrierte viele erstaunte Blicke. Doch ihr elegantes Ballkleid war nicht der Grund, sondern John. Sie hörte einige »die Gouvernante« flüstern, aber John ließ das kalt. Selbstbewusst führte er sie durch die Menge. An seiner Seite fühlte sie sich beschützt.

»Wie hübsch Sie aussehen!«, rief George, als er Charmaine erblickte. »Bin ich froh, dass Sie zurückgekommen sind. Wir amüsieren uns wunderbar!«

Mercedes nickte Charmaine mit wissendem Lächeln zu.

Gleich darauf bat eine Stimme bellend um Ruhe, woraufhin der Lärm augenblicklich erstarb. Charmaine sah, wie Mrs Stanton, die am Rand der Menge stand, bei ihrem Anblick förmlich nach Luft schnappte. Und dann kletterte Edward Richecourt mitten auf der Tanzfläche auf einen Stuhl, um eine kurze Ansprache zu halten.

John stupste George mit dem Ellenbogen an. »Du legst ihm die Schlinge um den Hals, und ich trete den Stuhl um.«

Gelächter hallte durch den Saal, und alle drehten sich um und wollten wissen, wer so laut gelacht hatte.

»Ladys und Gentlemen!«, rief Richecourt in gönnerhaftem Ton. »Ich möchte einen Toast ausbringen!« Er prostete Paul mit seinem Champagnerglas zu. »Auf unseren Gastgeber! Er hat uns eine wundervolle Woche beschert und sie obendrein mit einer wahrhaft königlichen Feier gekrönt! Möge seinen Unternehmungen ein großer Triumph beschieden sein! Zum Wohl!«

Applaus brandete auf, und alle Anwesenden forderten eine Erwiderung. Als Paul auf den Stuhl kletterte, spürte Charmaine, wie John den Arm um ihre Taille schlang und sie enger an sich zog.

»Ich bedanke mich für Ihre guten Wünsche«, begann Paul in herzlichem Ton.

Als seine Blicke über die Menge streiften, hielt Charmaine die Luft an und wollte sich von John lösen, doch sein Arm hielt sie wie ein Schraubstock fest.

»Außerdem danke ich allen, dass sie diese weite Reise auf sich genommen haben. Ich hoffe, dass der heutige Abend die Krönung Ihres Aufenthalts auf Charmantes bedeutet …« In diesem Moment fiel sein Blick auf John. »… außerdem freue ich mich auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit jedem von Ihnen …« Dann blankes Staunen, als er Charmaine entdeckte. In diesem Moment nahm er die beiden zum ersten Mal als Paar wahr, und Charmaine beobachtete, wie ihm der Zorn in die Augen trat und er nur mit verkniffenen Lippen weitersprechen konnte. »Mein Vater und ich wünschen Ihnen noch einen wunderschönen Abend.« So starr, wie sein Blick auf Charmaine haftete, nahm er den Beifall gar nicht wahr.

Als das Klatschen abebbte, nahm John ein Glas von einem Tablett und prostete Paul zu, bevor dieser vom Stuhl steigen konnte. »Auf dich, lieber Paul«, erklärte er laut und vernehmlich. »Ich muss gestehen, ich bewundere deine Ausdauer. In weniger als zwei Jahren hast du auf einer einsamen Insel ein Imperium errichtet. Wenn du weißt, was du willst, dann kann dich nichts aufhalten. Ich trinke darauf, dass deine Träume Wirklichkeit werden!«

Paul wollte etwas entgegnen, aber der Applaus nahm ihm das Wort aus dem Mund. Die Umstehenden drängten näher heran, erhoben ihre Gläser und tranken ebenfalls auf seinen Erfolg.

»Ich gehe!«, rief Charmaine mit blitzenden Augen.

»Noch nicht«, sagte John leise und hielt sie eisern fest.

»Wie soll ich Paul nach alledem gegenübertreten? Wir wissen doch beide, was er denkt.«

»Und was denkt er, my charm

»Dass wir ein Paar sind.«

»Genau das sind wir doch auch«, erwiderte John ungerührt. »Er ist selbst daran schuld. Warum also machen Sie sich Gedanken? Wenn es nach ihm gegangen wäre, säßen Sie jetzt dort oben!«, er warf einen Blick zur Decke, »und wünschten sehnlichst, dass Sie hier unten wären.«

»Warum mussten Sie mich in diese Verlegenheit bringen?«

»Ich habe Sie nicht in Verlegenheit gebracht. Früher oder später hätte er es ohnehin herausgefunden, oder nicht? Paul verdient Sie nicht, Charmaine.«

John ließ sie los, und sie hatte die Wahl, ob sie bleiben oder davonlaufen wollte. In diesem Moment setzte die Musik ein, und die Menschen zerstreuten sich.

»Darf ich um diesen Tanz bitten, my charm?«, fragte John mit leiser Stimme. In diesem Augenblick wusste Charmaine, dass sie bleiben wollte, und als ihre Blicke sich trafen, war auch plötzlich der Übermut aus seinen Augen verschwunden.

Sie zögerte. »Ich weiß nicht recht, ob ich die Schritte noch kann.«

»Keine Sorge, ich bin auch nicht sehr begabt.« Er lächelte … und freute sich insgeheim über seinen zweiten Sieg an diesem Abend. »Wenn wir stolpern, können wir immer noch den Experten zu Rate ziehen.« Er nickte zu Geoffrey Elliot hinüber, der in grotesken Verrenkungen mit einer durchaus hübschen Partnerin um die anderen Tänzer herumwirbelte und von allen spöttische Blicke erntete.

Charmaine musste kichern, als die beiden an ihnen vorübertanzten.

»Solange Geffey seine Vorstellung gibt, beachtet uns niemand.« Mit diesen Worten zog John sie in seine Arme. Sie reichte ihm ihre Hand und legte die andere auf seine Schulter. Dann überließ sie sich der Musik und folgte dem Druck der warmen Hand an ihrer Taille. Offenbar beherrschte John die Schritte besser, als er zugab, und ganz allmählich kehrte auch bei Charmaine die Erinnerung an ihre Tanzstunden bei Loretta Harrington zurück. Sie hob den Blick von ihren ungelenken Füßen und sah zu ihm auf.

Er lächelte ihr zu, und dann hielten ihre Blicke einander fest, bis Charmaine weder den Raum noch die Menschen um sie herum wahrnahm und nur noch die Musik, der Duft der Blumen und dieser Mann existierten. Seit Monaten hatte es keinen Augenblick gegeben, in dem sie nicht heimlich Hoffnungen gehegt hätte. Mit einem Mal wurde ihre Kehle eng, und tiefe Röte überzog ihre Wangen.

Als der Walzer endete, trat sie einen Schritt zurück. Zum Glück deutete John ihre Röte ganz harmlos. »Es ist ziemlich warm, nicht wahr?« Er führte sie zu den französischen Türen. »Ich hole uns etwas zu trinken.«

Sie war froh, als er ging, weil sie sich erst einmal sammeln musste.

Frederic stand an einer Seite des Ballsaals und beobachtete, wie Charmaine mit John tanzte. Er war neugierig geworden, als sie am Arm seines Sohnes auf dem Ball erschien. Vom ersten Moment an zogen die beiden die Blicke aller auf sich, und es wurde eifrig geklatscht. Irgendwann fiel ihm auf, dass er diesen Gesichtsausdruck bei Charmaine noch nie in Pauls Gegenwart bemerkt hatte, und im selben Moment wusste er, warum die Beziehung zwischen Charmaine und Paul seit Monaten keine Fortschritte machte. Sie ist in John verliebt.

Wenn er zurückdachte, so hatte er die beiden schon öfter als Paar wahrgenommen. Begonnen hatte es an dem Tag, als er John und Charmaine zum ersten Mal zusammen gesehen hatte. Das nächste Mal, als Agatha dem kleinen Pierre den Hintern versohlt hatte. Auch als er Colettes Gegenwart im Haus so deutlich gespürt hatte. Und am Geburtstag der Zwillinge, als er heimlich zugesehen hatte, wie John Charmaine zum Ritt auf der gescheckten Stute überredet hatte. Dann wieder am Abend, als Yvette in der Bar gepokert hatte und Charmaines Blicke bei John nach Hilfe gesucht hatten und nicht bei Paul. Nie im Leben würde er die furchtbaren Tage vergessen, als Pierre im Sterben lag, die unzähligen Stunden, die Charmaine an seinem Bett gewacht hatte, auch nicht ihr Mitgefühl mit John und die herzergreifenden Tränen, die sie vergossen hatte. Und zuletzt vor einer Woche, als sie bei Johns Rückkehr zum ersten Mal über das ganze Gesicht gestrahlt hatte.

Während er die beiden beobachtete, zeigte sich ein erster Hoffnungsschimmer am Horizont. Nach zehn schwierigen Jahren wirkte John zum ersten Mal glücklich und gelöst. Der Zynismus, der ihm früher als Schutzschild gedient hatte, war abgefallen. Frederic schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass John endlich jemanden gefunden hatte, der ihm ganz allein gehörte.

»Sie sind also doch heruntergekommen.« Bei den ersten Tönen des nächsten Walzers stand urplötzlich Paul vor ihr. »Darf ich um diesen Tanz bitten?«

Charmaine nickte nur stumm, da sie ihn unmöglich abweisen konnte, ohne ihn zu kränken. Von John war weit und breit nichts zu sehen. Paul führte sie zur Tanzfläche, wo sie sich willenlos in die Arme nehmen ließ. Den Kopf hielt sie gesenkt und das Gesicht abgewandt, sodass sie im Vorübertanzen nur da und dort in fragende Mienen blickte.

Als Anne London sah, dass Paul mit Charmaine tanzte, konnte sie ihren Zorn kaum noch beherrschen. Zuerst Mercedes … und nun das. Ich habe Sie unterschätzt, Charmaine Ryan. Sie haben nicht nur John betört, sondern auch Paul. Was für ein Spiel spielen Sie eigentlich?

Es juckte sie schon den ganzen Abend, nähere Einzelheiten über Frederics neues Testament und Johns Verbindung zu den Gegnern der Sklaverei herauszubekommen, doch leider hatte die Drohung ihres Vaters sie zum Stillschweigen verdonnert. Im Grunde interessierte die Gouvernante sie nicht. Sie war nur eine Angestellte, nichts weiter. Und doch war sie auf dem Ball erschienen … ausgerechnet an Johns Arm … in einem atemberaubenden Kleid und mit offenen Haaren … Und nun tanzte diese Person auch noch mit Paul und errötete sogar in seinen Armen! Es wurde Zeit, dass sie etwas unternahm! Zum Glück hatte ihr Vater ihr nicht verboten, Gerüchte über die Gouvernante auszustreuen. So wollte sie beginnen und danach alle Vorsicht fahren lassen und auf ihre Erfahrungen mit Männern vertrauen, um Paul diese Frau vergessen zu machen.

Einige Minuten lang tanzten Paul und Charmaine schweigend, doch das aufregende Gefühl, in seinen Armen zu liegen, wollte sich nicht mehr einstellen.

»Sie haben ja nicht lange gebraucht, um Ihre Pläne zu ändern.«

Diese Bemerkung verletzte Charmaine. »Ich habe meine Pläne nicht geändert. John hat mich eingeladen. Das ist keine halbe Stunde her.«

Im Kreis einiger Matronen erspähte sie Mary Stanton, deren Blick sie verfolgte.

»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie sich geärgert haben?«

Charmaines Blick kehrte zu Paul zurück. »Geärgert? Worüber denn?«

»Dank Johns Einladung konnten Sie es mir heimzahlen.«

Langsam keimte ein Verdacht in ihr auf. »Was wollte ich Ihnen heimzahlen?«

»Die Sache mit Agatha und Anne. War das etwa kein Denkzettel?«

»Aber nein!« Charmaine war entrüstet, dass er sie für so kleinlich hielt.

Sein leises Lachen machte sie nur noch wütender.

»Ich habe mich nicht geärgert, Paul, aber ich war sehr enttäuscht. John hat das gespürt und mich eingeladen, damit ich den Ball miterleben kann.«

»John versteht es meisterlich, anderen Männern die Frauen auszuspannen.« Das sagte er so leise, dass nur Charmaine es hören konnte. »Wollen Sie etwa sein nächstes Opfer sein?«

Sie wurde zornig, doch sie widerstand dem Wunsch, ihn einfach stehen zu lassen. Stattdessen sah sie ihm in die Augen und bemühte sich um einen besonders liebenswürdigen Ton. »Wenn Sie heute Abend Wort gehalten hätten, hätte John mich nicht stehlen können.«

»Also sind Sie doch wütend!«

»Jetzt ja!«

Die letzten Takte tanzten sie in eisigem Schweigen. Paul sah ihr nach, als sie zu seinem Bruder hinüberging, der am Rand der Tanzfläche mit zwei Gläsern wartete.

John reichte ihr eines. »Hat er Sie geärgert, my charm

»Ich möchte nicht darüber reden.«

»Und warum nicht? Hat er Sie geschimpft?«

»Ich habe gesagt, dass ich nicht darüber reden möchte.«

»Sie hätten ihm die Meinung sagen können.«

»Nein. Ich wollte keine Szene machen. Dazu ist für Paul diese Woche zu wichtig.«

»Er selbst scheint sich keine allzu großen Sorgen zu machen«, schimpfte John. »Aber zum Glück passen Sie ja auf ihn auf.«

»Paul war immer sehr gut zu mir. Sie verstehen das vielleicht nicht, John, aber ich habe ihn wirklich gern.«

John ließ das Thema lieber auf sich beruhen, obwohl ihn das »ich habe ihn wirklich gern« etwas verwirrte. Pauls Antrag hatte sie nicht angenommen, doch was wollte sie damit sagen?

George und Mercedes hatten so gut wie jeden Tanz miteinander getanzt, doch nun hatten sie sich in den hintersten Teil des Gartens geflüchtet, wo sie vor neugierigen Augen sicher waren. George konnte nicht aufhören, Mercedes zu küssen. Wie John es geschafft hatte, sie zum Kommen zu überreden, konnte er nur ahnen. Was auch immer er gesagt hatte – er war ihm dankbar! Dies war die aufregendste Nacht seines Lebens. Wieder beugte er sich hinunter und küsste ihre Lippen. Am Montag musste sie nach Richmond zurückkehren. Aber er war dagegen. Er liebte sie doch so sehr. »Mercedes?«, murmelte er dicht an ihrem Ohr.

»Ja …?«, flüsterte sie und umschlang ihn.

»Willst du mich heiraten?«

Sie umschlang ihn fester. »Ja, George! O ja!«

»Darf ich um diesen Tanz mit der Lady bitten?«

John drehte sich zu Geoffrey Elliot um, der ihm auf die Schulter geklopft hatte und Charmaine mit gierigen Blicken verschlang. »Steht Ihr Name denn auf ihrem Tanzkärtchen?«

»Nun … so gesehen … nein.«

»Dann nehmen Sie das als Antwort.« Er zog Charmaine mit sich fort und ließ den beleidigten Geoffrey mitten auf dem Parkett stehen.

Als nächster Tanz folgte eine Quadrille, die Charmaine mit Mercedes, George und John zusammenführte. Bis dahin war sie der Meinung gewesen, dass niemand glücklicher sei als sie, doch als sie George ansah, strahlten seine Augen intensiver denn je. Als der Tanz endete, trat Rose zu ihnen und zog ihren Enkel mit sich fort. Charmaine musste lachen, als er seiner drahtigen Großmutter kaum folgen konnte.

An diesem Abend war John der perfekte Gentleman, und wie eine Debütantin sah Charmaine immer wieder verstohlen zu ihm auf. Sie bewunderte seine Erscheinung und das Spiel des Lichts auf seinem Haar und fühlte sich seltsam erregt, wenn seine Hand ihre Haut streifte oder sie so dicht beieinandersaßen, dass ihre Schultern sich berührten.

Im Ballsaal war es entsetzlich heiß, sodass sich die meisten Gäste in die Nähe der französischen Türen flüchteten. Erschöpft sank Charmaine auf einen Hocker. John stand nicht weit entfernt und unterhielt sich mit vier Geschäftsleuten. Offenbar ging es immer noch um Themen, die zuvor schon die Woche bestimmt hatten, zum Beispiel um den neuen Präsidenten, den Zusammenbruch der Bank of America und unweigerlich immer wieder um die Sklavenfrage. Während die anderen Männer ernsthaft diskutierten, war John eher ausgelassen und wurde immer lustiger, je verbissener und empörter die anderen reagierten. Ein überzeugter Virginier hätte ihn fast einen Verräter geschimpft, als er wiederholte, dass er Schutzzölle auf ausländische Importe befürwortete. Zwar waren sie den Schiffstransporten abträglich, doch andererseits förderten sie die Fabriken im Norden und damit seine Investitionen.

»Warum sollte das heute Abend anders sein?«

Eine Stimme, so rau wie Sandpapier, drang an Charmaines Ohr. Als sie sich vorsichtig umblickte, gewahrte sie zwei Matronen, die ihre Köpfe zusammensteckten und John fixierten.

»Wie Sie wissen, waren die Palmers vergangenen Februar in New York, und er hat tatsächlich die Frechheit besessen, seine Schlampe zur Dinnerparty bei den Severs mitzubringen. Von Sarah Palmers weiß ich, dass die Frau früher Sklavin auf seiner Plantage in Virginia war. Vor einigen Jahren hat er sie freigelassen und nach New York gebracht.« Sie grinste anzüglich. »Wir wissen doch alle, womit sie sich ihre Freiheit verdient hat!«

Die andere tat entrüstet. »Ich habe gehört, dass sie immer in seinem Haus wohnt, wenn er in New York ist. Wie jedermann weiß, ist sie seine … seine …«

»Geliebte!«, vollendete die erste Lady.

Sprachlos sah Charmaine zu John hinüber. Offenbar hatte er wenig Erfolg bei der Diskussion, denn er schüttelte den Kopf.

»Ob seine Geliebte in New York weiß, dass er hier noch eine andere hat?«

»Ausgerechnet die Gouvernante! Ich kann mir lebhaft vorstellen, welche Lektionen sie seinen Schwestern beibringt!«

Die beiden lachten lauthals, doch als sie merkten, dass sie beobachtet wurden, steckten sie die Köpfe näher zusammen. »Was kann man schon von … weißem Abschaum erwarten? Wie kann man nur eine wie sie mit einer solchen Position betrauen!« Charmaine war zutiefst verletzt.

Im nächsten Moment erlöste sie Johns sanfte Stimme aus dieser Hölle. »Beachten Sie das Gerede nicht, Charmaine.« Und dann so laut, dass die Ladys ihn verstehen konnten: »Diese alten, unbefriedigten Kühe neiden Ihnen doch nur Ihre Jugend und Ihre Schönheit!«

Den Ladys klappten vor Entrüstung die Unterkiefer herunter, aber weitere Beleidigungen wagten sie nicht mehr.

Paul flüchtete sich in die verlassene Küche, um einen Augenblick durchzuatmen. Eine sanfte Brise wehte durch die Hintertür herein. Fatima arbeitete heute im Kochhaus direkt hinter dem Ballsaal. Solange er zurückdenken konnte, war die Küche immer sein Zufluchtsort gewesen, wenn er Sorgen hatte. Fatima schickte ihn niemals weg. Seit er alt genug war, um sich ein Plätzchen zu erbetteln, wusste sie um seine Seelenlage. Wenn er Trost brauchte, füllte sie ihm den Teller und stellte ein Glas Milch vor ihn auf den Tisch. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, schälte Kartoffeln oder knetete den Teig, und dazu summte sie mit ihrer tiefen Stimme eine sehnsuchtsvolle, traurige Melodie vor sich hin.

Aber Erinnerungen trösteten nicht ewig. Paul ließ sich auf einen Stuhl sinken, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und barg den Kopf in den Händen. Gestern hatte er sich dumm angestellt, und heute hatte er sich wie ein Rüpel benommen. Verdammt!

Plötzlich merkte er, dass er beobachtet wurde. Er hob den Kopf und sah zur Tür. Der Anblick des Mädchens traf ihn wie ein Blitz. Glattes schwarzes Haar umrahmte das schönste Gesicht, das er je gesehen hatte, und dichte dunkle Wimpern beschatteten die grünen Augen. Ihr Körper stand ihrem Gesicht in nichts nach. Sie war noch jung, sicher zehn Jahre jünger als er, schätzte er. Aber warum hatte er sie noch nie gesehen? Ein so hübsches Mädchen konnte man unmöglich übersehen. Ihr forschender Blick beunruhigte ihn ein wenig, sodass er sich erhob.

Rebecca hatte nicht damit gerechnet, ihn in der Küche anzutreffen, und schon befürchtet, dass sie ihn überhaupt nicht finden würde. Und dann war plötzlich Wirklichkeit, wovon sie seit Jahren träumte! Sie war mit Paul allein in einem Raum … und ihre Kehle war wie zugeschnürt!

»Haben Sie sich verlaufen?« Eine närrische Frage.

»Nein«, antwortete sie leise.

»Kann ich etwas für Sie tun? Haben Sie vielleicht Hunger?«, fragte er und deutete auf Küchentisch und Schränke.

»Nein.«

Die Antwort war so kurz, dass er unsicher war, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte. Ein seltsames Mädchen, so wie sie ihn ansah, dachte Paul. Trotz ihrer Schönheit. War sie vielleicht die Tochter eines Geschäftspartners? Aber warum kannte er sie dann nicht? Vermutlich war sie die Tochter eines seiner karibischen Gäste, die in der Bar logierten. Allein ihre sonnengebräunte Haut …

»Ich muss gestehen, dass ich mich nicht an Sie erinnern kann, Miss …?«

Keine Antwort.

»Zu welcher Familie gehören Sie?«

»Zu keiner.« Die dunkle Stimme klang weich und sanft und schien nicht recht zu ihrer Jugend zu passen. »Ich meine, ich gehöre nicht zu den offiziellen Gästen. Mein Bruder hat mich mitgebracht. Er arbeitet für Sie.«

»Ihr Bruder?«

»Wade Remmen.«

»Ah ja«, murmelte Paul, dem allmählich ein Licht aufging. »Unser großartiger Mr Remmen. Ich hatte ganz vergessen, dass er eine Schwester hat.«

In seinem Kopf arbeitete es. Wie lange war es her – zwei Jahre oder drei –, dass man die beiden auf einem Schiff der Duvoisins entdeckt hatte? Verblüffend, was die Zeit vermochte. Oder täuschte ihn seine Erinnerung an das halb verhungerte, verdreckte Mädchen mit den großen Augen? »Und wie heißen Sie, Miss Remmen?«

»Rebecca.«

»Ein hübscher Name.« Er war erleichtert, als das Gespräch endlich in Gang kam. »Und was führt Sie in die Küche, Miss Remmen? Wollten Sie sich bei der Köchin beschweren?«

»Ich wollte Sie sehen.«

»Mich?« Er war erstaunt. »Aber ich kenne Sie nicht einmal. Was hätten Sie mir denn zu sagen?«

»Ich liebe Sie.«

Er lachte einfach los, doch ihre Offenheit gab ihm zu denken. Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten? Will sie mir ihr Herz ausschütten? Er stöhnte bei dem Gedanken, dass sie ihm nachlaufen oder zu den unmöglichsten Zeiten auftauchen könnte, als ob ihre Offenheit ihr das Recht dazu verlieh. Nun, dagegen gab es ein einfaches Mittel. »Sie lieben mich also.«

»Ja.«

Ihre grünen Augen schimmerten im Lampenlicht. Wenn sie älter gewesen wäre, hätte er das Früchtchen gleich hier auf dem Küchentisch vernascht. Doch er war sicher, dass sie noch nie mit einem Mann im Bett war, sonst hätte sie über ihre Gefühle geschwiegen. Ohnehin bevorzugte er erfahrenere Frauen.

Er ging auf und ab. »Wohin soll das führen?«

Sie folgte ihm mit den Augen. »Ich wollte es Ihnen nur sagen.«

»Und wozu?«

»Ich will Sie heiraten«, erklärte sie, woraufhin er wieder in Lachen ausbrach. Doch Rebecca reckte unbeeindruckt den Kopf in die Höhe. Mit Ängstlichkeit war dieser Mann nicht zu gewinnen. Dieser Kampf brauchte Zeit, und die war auf ihrer Seite. Die Begegnung heute war schon der erste Sieg.

»Wie ich bereits sagte, Miss Remmen«, sagte Paul geduldig, »kenne ich Sie nicht, und unseren Altersunterschied muss ich nicht noch betonen. Was also könnten Sie mir anbieten, damit ich Sie heirate?« Um sie von ihren Phantasien zu heilen, ließ er seine Blicke unverfroren über ihren Körper gleiten. Wenn sie trotzdem auf seine Annäherungsversuche einging, würde er den Teufel tun und seine Männlichkeit verleugnen. Erst recht nicht bei einer so verlockenden Beute.

»Ich verstehe Sie nicht …«

Der allzu bekannte Satz entfachte seinen Zorn. Verdammt! Dass seine Beziehung zu Charmaine so kompliziert geworden war, war seine Schuld! Ihm war das Spiel aus der Hand geglitten, als er ihr die Führung überlassen hatte. Wir werden ja sehen, wer hier der bessere Spieler ist. Wenn er doch nur seinem üblichen Schema vertraut hätte … Oder war John der bessere Spieler? Nein … der bin eindeutig ich!

Er blieb dicht neben der jungen Frau stehen. Diese Art Eroberungen endeten immer mit einem Sieg. Sie war der beste Beweis dafür. Er konnte sie jetzt haben, wenn er nur wollte …

Die grünen Augen folgten ihm, und sie legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen, obwohl sie zitterte. Sie war zu stolz, oder vielleicht begehrte sie ihn auch zu sehr, um jetzt noch zurückzuweichen. Für einen Moment genoss er die lockende Weiblichkeit. Dann beugte er sich hinunter, um ihre Lippen zu küssen und die verlockende Frucht zu genießen, die sich ihm darbot …

Im selben Moment flog die Tür auf, und augenblicklich war die stille Oase von Lärm, schlechter Luft und einer überlauten Anne London erfüllt. Bevor sie ihn entdeckte, richtete er sich auf und zog sein Jackett zurecht.

»Da sind Sie ja!«, plapperte Anne und zerrte ihn mit sich fort. »Alle suchen schon nach Ihnen. Sie können doch Ihr eigenes Fest nicht einfach verlassen!« Sie warf einen Blick in Rebeccas Richtung, doch das ging so schnell, dass Paul zweifelte, ob sie die junge Frau überhaupt gesehen hatte. Gegen Anne London war er chancenlos, und so gingen seine Gedanken an Rebecca Remmen in ihrem lauten Lachen unter.

Charmaine genoss die Stille auf der Veranda. Neben ihr lehnte John an der marmornen Balustrade und hatte die Hände vor der Brust gefaltet. Er war ihr so nah … so verlockend lebendig. Die Strähne, die ihm in die Stirn fiel, war nur eine Handbreit von ihrer Hand entfernt … Doch statt die Berührung zu wagen, wandte sie sich dem Ende der Säulenhalle zu.

John ergriff ihre Hand, um sie aufzuhalten. »Sie sehen heute Abend wunderschön aus, my charm

»Vielen Dank«, murmelte sie.

Beunruhigt sah er sie an. »Warum haben Sie Paul nicht erhört?«, fragte er dann ohne Vorwarnung.

Die Antwort dröhnte in Charmaines Kopf: Weil ich dich liebe!

Plötzlich rief jemand von der Glastür herüber. »Charmaine? Charmaine, bist du das?«

Charmaine wandte sich um und erkannte vor dem hellen Licht im Saal die Silhouette einer jungen Frau. »Da bist du ja! Ich suche dich seit unserer Ankunft, aber keiner wusste, wo du steckst!« Gwendolyn Browning trat in den Lichtkreis einer Fackel.

»Gwendolyn!« Lachend rannte Charmaine auf sie zu und umarmte sie. »Was machst du hier? Seit wann bist du zurück?«

»Mutter hat mir von dem Fest geschrieben. Das wollte ich natürlich nicht versäumen! Wir wären schon vor Stunden hier gewesen, doch im Mietstall gab es Probleme. Die Wagen waren für wen auch immer vorbestellt, und so mussten wir warten, bis der erste zurückkam. Mutter hat Vater Vorwürfe gemacht, weil er keinen Wagen reserviert hat, aber er meinte, er sei hier nur angestellt und die Gäste hätten Vorrang. Bevor ich mich versah, haben sie gestritten, und ich dachte schon, dass wir nie ankommen!«

Schmunzelnd zog John sich ans Ende der Veranda zurück, damit Charmaine ungestört mit ihrer Freundin plaudern konnte.

»Dieses Haus ist wirklich eine Pracht, was?« Sie deutete aufgeregt hierhin und dorthin. »Und du erst! Du siehst wunderschön aus. Oh, Charmaine, du hast ja solches Glück!«

»Das ist wahr, aber das sagst du immer.«

»Einige Freundinnen aus Richmond sind auch hier. Sie haben von Du-weißt-schon-wem gehört und sind eifersüchtig.«

Charmaine war nicht überrascht. Paul war auch früher Gwendolyns liebstes Thema gewesen, auf das sie unweigerlich nach spätestens fünf Minuten zu sprechen kam.

»Sie wollten mir nicht glauben, dass der echte Mann noch zehnmal besser aussieht, als die Gerüchte behaupten. Jetzt wissen sie endlich, dass ich nicht gelogen habe.«

»Aber, Gwendolyn …«, tadelte Charmaine mit einem Blick auf John. Er lehnte nicht weit von ihnen an der Balustrade und konnte sie womöglich hören.

»Als alle über das Fest geredet haben, habe ich gesagt, dass ich das schon seit Wochen weiß. Aber sie wollten mir nicht glauben, obwohl doch meine beste Freundin in dem Haus arbeitet, wo Du-weißt-schon-wer wohnt. Also habe ich ihnen deinen nächsten Brief vorgelesen. Sie wurden regelrecht grün vor Neid!«

Charmaine schnappte nach Luft. »Gwendolyn! Das hast du nicht gemacht!«

»Doch! Hast du Du-weißt-schon-wen heute Abend schon gesehen?«

»Aber natürlich, aber ich …«

»Guter Gott! Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen, als ich ihn gesehen habe«, plapperte Gwendolyn weiter. »Ich dachte, dass meine Erinnerung mich vielleicht getäuscht hätte, doch ich schwöre dir, Charmaine, er ist der schönste Mann, den ich kenne! Diese breiten Schultern, die Muskeln, seine Hüften und vor allem sein … Na ja, Mutter schimpft mich immer, wenn ich zu lange auf sein … Du-weißt-schon-was starre.«

»Gwendolyn, es reicht! Mit wem bist du denn befreundet? Mrs Harrington wäre entsetzt!«

»Sei doch nicht so prüde!« Sie lachte. »Wir reden immer über solche Sachen. Und natürlich habe ich ihnen gesagt, dass Du-weißt-schon-wer der aufregendste Mann der Welt ist! Er ist der beste Grund für meine Rückkehr. Wenn ich doch nur ein Mal mit ihm tanzen könnte! Meine Freundinnen würden auf der Stelle vor Neid sterben! Und für mich fettes Mädchen ginge ein Traum in Erfüllung!«

»Gwendolyn, bitte!«

Gwendolyn starrte über Charmaines Schulter. »Psst …!« Charmaine drehte sich um und erschrak, weil John unmittelbar hinter ihr stand.

»Fertig, my charm?« Er zwinkerte ihr zu.

In Johns Gegenwart wurde Gwendolyn plötzlich einsilbig, und Charmaine begriff, dass sie nicht wusste, wer er war. Umgekehrt vermutete Gwendolyn, dass Charmaine diesen Mann sehr gut kannte.

»Miss Browning, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, begrüßte John sie in munterem Ton.

»Woher … woher wissen Sie, wer ich bin?«, stammelte Gwendolyn.

»Oh, ich erinnere mich gut an Sie. Sie sind Harolds Tochter. Als kleines Mädchen sind Sie immer hinter Ihrem Vater über die Zuckerrohrfelder gerannt.«

Gwendolyn war sichtlich verwirrt und errötete. »Und wer sind Sie?«, fragte sie und kam sich ziemlich dumm vor.

»Sie erinnern sich nicht an mich? Nun gut, da Sie uns Ihre Geheimnisse verraten haben, haben Sie auch das Recht, meinen Namen zu erfahren.«

Hilfesuchend sah Gwendolyn zu Charmaine.

»Dies ist John Duvoisin, Gwendolyn.«

Grinsend zog John eine Braue in die Höhe. »Der Bruder von Du-weißt-schon-wem.«

Gwendolyns Augen wurden groß wie Untertassen. Charmaine hatte noch nie so glühend rote Wangen gesehen.

John rieb sich die Hände, als er zu Charmaine zurückkam. Er beobachtete das Paar auf der Tanzfläche und konnte seinen Spaß kaum verhehlen.

Ungläubig sah Charmaine zu, wie eine strahlende Gwendolyn in Pauls Armen tanzte. »Wie haben Sie denn das geschafft?«

»Vor zwei wichtigen Geschäftspartnern und ihren Frauen konnte Paul mir den Wunsch schlecht abschlagen.«

Charmaine kicherte, als Gwendolyn an ihr vorübertanzte und ihren Traummann sogar für einige Sekunden aus den Augen ließ, um ihr zuzulächeln. »Das war wirklich sehr nett. Sie haben ihr einen Traum erfüllt.«

»Das war reiner Eigennutz.«

»Eigennutz?«

»Ich würde zu gern erleben, dass sie tatsächlich in Pauls Armen ohnmächtig wird!«

Er hatte es kaum ausgesprochen, als ein lautes »Du lieber Gott!« durch den Saal hallte. Danach trat Stille ein. Die Menschen verließen die Tanzfläche, die Musik erstarb, und letzte Töne schwebten noch durch die Luft. Die Umstehenden traten zur Seite, als Paul die leblose Gwendolyn auf seinen Armen von der Tanzfläche trug und John vorwurfsvoll ansah, bevor er sie keuchend auf einem Sessel ablegte. Mrs Browning tauchte aus dem Nichts auf und scheuchte ihn verärgert zur Seite. Dann zog sie einen Fächer aus der Tasche und wedelte wie wild vor dem Gesicht ihrer Tochter herum. Charmaine sah Paul an, der jedoch nur ratlos den Kopf schüttelte.

»Was ist passiert?«, fragte ihn jemand.

»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?«, entgegnete Paul barsch. »Offenbar hat sie eine schwache Konstitution.«

John hatte kaum Zeit zu kichern, als Caroline Browning Paul bereits über den Mund fuhr. »Die Konstitution meiner Tochter war völlig in Ordnung, bis Sie sich ihr genähert haben! Sie stammt aus einer guten Familie.«

»Gibt es auch einen Stammbaum?«, wollte John wissen. »In der Zucht sind Papiere nämlich sehr wichtig. Mein Bruder legt größten Wert auf die kleinen Siegel. Sie verstehen?«

Wenn es ein Mauseloch gegeben hätte, wäre Charmaine sofort hineingekrochen. Aller Augen waren auf sie gerichtet. Selbst Caroline Browning hatte es die Sprache verschlagen. Zum Glück stieß Gwendolyn in diesem Moment einen Seufzer aus.

»Was ist denn passiert?«, fragte Charmaine besorgt.

Wieder seufzte Gwendolyn. »Ich bin ganz einfach in Ohnmacht gefallen!«

Johns herzliches Lachen löste die Spannung. Dann hakte er Charmaine unter und führte sie zurück auf die Tanzfläche. »Ich habe Paul schon immer gesagt, dass er zu enge Hosen trägt.«

»Ich würde Ihre Erinnerung gern auffrischen, John. Sie erlauben doch, dass ich Sie John nenne, oder?« Für Geoffrey Elliot war das eine rein rhetorische Frage. »Ich reise morgen ab und benötige noch Ihre Unterschrift auf den Dokumenten, die ich Ihnen am Montag übergeben habe.«

»Haben Sie die Verträge geschrieben?«, fragte John.

»Ja, warum?«

»Ich habe sie Richecourt zurückgegeben«, log John.

»Mr Richecourt?«, fragte Geoffrey. »Warum?«

»Sie müssen noch übersetzt werden.«

Geoffrey runzelte verständnislos die Stirn. »Übersetzt?«

»Ja, ins Englische.«

»Aber … sie wurden doch auf Englisch geschrieben … Das verstehe ich nicht.«

»Ich habe es auch nicht verstanden, Geffey. Aber das ist jetzt egal. Es gibt eine hübsche Lady, die ich Ihnen gern vorstellen würde. Ihre Abstammung kann sich mit der Ihren durchaus messen …«

Nach dem letzten Tanz begleitete John Charmaine zu ihrem Zimmer. Die Uhr im Foyer schlug eins, doch in den Fluren waren noch Musik und Stimmen zu hören. »Nun, my charm, ich denke, es ist Zeit, dass wir uns eine gute Nacht wünschen.«

»Das denke ich auch.« Sie lächelte. »Ich muss außerdem nach den Mädchen sehen. Ich hoffe, sie sind in ihrem Zimmer …« Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als John einen Schritt näher kam und sie schweigend ansah. »Ich danke Ihnen«, murmelte sie.

»Und wofür?«

»Für einen wunderschönen Abend … und für Ihre Einladung.«

»Keine Ursache«, flüsterte er.

Seine Augen blickten begehrlich, als er den Kopf neigte, seine Lippen kurz vor den ihren innehielten und nur sein Atem heiß über ihre Wange strich. Sie schloss die Augen und wartete auf die Berührung. Als er ihre Schultern umfasste, sank sie mit klopfendem Herzen gegen ihn, während sein Mund ihre Lippen mit einem hitzigen Kuss verschloss. Ihre bebenden Glieder genossen die Wärme seines Körpers, die starken Arme, die sie hielten, und die feuchten Lippen, die über die ihren glitten. Ohne zu denken, umarmte sie ihn mit aller Kraft und empfand leises Bedauern, als seine Arme herabsanken. »Gute Nacht«, flüsterte sie heiser.

Rasch schlüpfte sie ins Zimmer, schloss blitzschnell die Tür und ließ sich dagegensinken. Mit eisernem Willen zwang sie sich zur Ruhe, denn der Wunsch, die Tür aufzureißen und sich in seine Arme zu werfen, war übermächtig.

Mit der Erinnerung an den Kuss und einer Flasche Wein wanderte John in den Stall hinüber und ließ sich neben Phantom auf einen Ballen Heu fallen. Der Hengst sah gleichmütig zu ihm herüber, als er sich einen Schluck aus der Flasche genehmigte. Doch der Alkohol hatte keinerlei Wirkung.

Nach einiger Zeit verließ er den Stall und blickte über die Wiese zum Haus hinüber. Im Ballsaal und auf der Veranda brannten noch die Lichter. Seine Augen suchten Charmaines Zimmer. Ein schwacher Lichtschein drang durch die Blätter des Eichbaums. Ist sie noch wach? Denk nicht daran, sonst findest du heute Nacht keinen Schlaf.

Er sank gegen den Türrahmen, während sich die Sekunden zu Minuten dehnten. Er versuchte, nicht zu denken, und atmete tief die kühle Nachtluft ein.

Irgendwann verließen Paul und Anne das Haus und schlenderten über die Veranda und weiter über die Wiese. In sicherer Entfernung vor neugierigen Blicken schlang Anne ihre Arme um Paul und presste ihre Hüften und ihre Brüste gegen ihn. Sie hob ihr Glas und trank auf seinen Erfolg. Paul beugte sich zu ihr und küsste sie heiß und leidenschaftlich. Schamlos fuhren ihre Hände über seinen Körper, um den Abend zu dem Ende zu bringen, das sie beabsichtigte. Paul zog sie in seine Arme, aber dann hielt er inne. »Nicht hier«, flüsterte er heiser. »Es ist nicht weit bis zum Bootshaus.« Er fasste ihre Hand, führte sie um die nördliche Veranda herum und verschwand mit ihr in der Nacht.

»Verdammt sollst du sein!«, fluchte John und kehrte ins Haus zurück, ohne dass ihm jemand begegnete.

Nachdem Charmaine in ihr Nachthemd geschlüpft war, war die Müdigkeit verflogen. Sie drehte die Lampe herunter und setzte sich in den Schaukelstuhl. Sekunden wurden zu Minuten, und die Minuten dehnten sich zu fast einer ganzen Stunde. Warum hatte sie ihn nur nicht hereingelassen?

Beschämt konzentrierte sie ihre Gedanken auf den Ball und durchlebte noch einmal jeden einzelnen Augenblick. Sie fühlte Johns warme Hand auf ihrem Rücken, sah sein schiefes Lächeln und hörte seine dunkle Stimme. Sie roch den Duft seiner Haut und spürte seine Lippen. Die Erinnerung weckte solch süßes Verlangen, dass sie aufsprang und auf den Balkon hinauslief.

Unter ihr gingen zwei Gestalten Arm in Arm von der Veranda auf die Wiese hinunter. Im Fackellicht erkannte sie Paul und Anne London. Anne hob ihr Glas und überschüttete Paul mit Schmeicheleien. »Du bist die Krönung des Abends, die alle Welt beneidet.« Sie warf das Glas in die Luft und schlang ungeniert die Arme um seinen Hals. Auf Zehenspitzen zog sie seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn mit großer Leidenschaft. Als Antwort riss er sie in seine Arme. Das Geräusch ihrer Küsse und die geflüsterten Zärtlichkeiten mischten sich mit dem rhythmischen Zirpen der Grillen. Charmaines Wangen brannten, als sie sehen musste, wie Anne Paul ungeniert berührte. »Nicht hier«, hörte sie ihn murmeln. »Es ist nicht weit bis zum Bootshaus.«

Geräuschlos trat Charmaine einen Schritt zurück. Mehr musste sie nicht sehen. Sie kannte das Ziel der beiden. Im ersten Moment wollte sie weinen, doch nicht aus Enttäuschung, sondern um ihre verlorenen Illusionen. Aber dann verging auch dieser Wunsch. Sie war jetzt erwachsen und bereit, kein naives Mädchen mehr.

Sie hob ihr Gesicht in die nächtliche Brise und genoss die Kühle auf ihrer Haut. Die schwülstige Szene hatte sie bereits vergessen. Sie wusste die Wahrheit über Paul. Hatte er es nicht selbst gesagt? Ich bin ein Schwerenöter, Charmaine … Es spielte keine Rolle mehr! Es war gleichgültig! Eine halbe Stunde verging, vielleicht mehr. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon dort stand und diese neue Leichtigkeit genoss.

Zu guter Letzt kehrte sie in ihr Zimmer zurück und ging einige Male unruhig auf und ab. Sie war noch immer vollkommen wach. Die kühle Brise hatte auch den letzten Anflug von Schlaf aus ihrem Kopf geweht. Sie setzte sich wieder in den Sessel, aber es gelang ihr nicht, die Augen zu schließen. Nicht jetzt … nicht in dieser Nacht … Mit einem Mal konnte sie die Enge des Raums nicht länger aushalten und sprang auf.

Da John nicht schlafen konnte, nahm er sich Geoffrey Elliots Vertragsentwürfe vor. Das lenkte ihn ab. Der Gedanke, dass Charmaine den Antrag seines Bruders annehmen könnte, trieb ihn zum Wahnsinn, je länger er darüber nachdachte.

Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Gleich darauf klopfte es erneut. Wer klopfte um diese Stunde? Der Ball war längst vorüber. Er warf die Papiere aufs Bett und öffnete, ohne daran zu denken, dass er nur eine Badehose trug. Wahrscheinlich war es Paul, der von seinem Techtelmechtel zurückkam.

Er staunte nicht schlecht, als er Charmaine erblickte. Doch ihr Gesichtsausdruck beunruhigte ihn. »Was ist passiert?«

Sie sah nur stumm zu ihm auf … und dann ging sie einen Schritt auf ihn zu und umschlang ihn. Als ihre Wange zart über seine nackte Brust glitt, war er augenblicklich erregt.

So standen sie eine ganze Zeit da, ohne sich zu rühren. Charmaine genoss es, seinen starken Körper in ihren Armen zu fühlen, und John war verunsichert und wusste nicht recht, was ihm diese plötzliche Zuneigung verschafft hatte. »Was ist passiert?«, fragte er noch einmal.

Charmaine war kaum mehr Herr ihrer Sinne. »Nichts.«

Welche Macht sie in sein Zimmer geführt hatte, wusste sie nicht. Absicht jedenfalls nicht. Sie wollte ihn nur sehen. Im Gegensatz zu seinem Bruder war John allein. Als er halbnackt unter der Tür stand, war ihre Vernunft dahin, und alles, was jetzt noch zählte, war ihre Lust.

John verspürte eine tiefe Erregung, als ihre Brüste sich gegen ihn pressten. War ihr eigentlich klar, welche Gefühle sie in ihm weckte, wenn ihre Hände seinen Rücken streichelten? Als sie den Kopf drehte und er plötzlich die Kühle der anderen Wange auf seiner Brust spürte, stöhnte er auf, und seine Hemmungen schwanden. Irgendwann ließ er jede Zurückhaltung fahren. Er zog sie an den Schultern ins Zimmer und drehte den Schlüssel um. Dann erkundeten seine Hände ihren Körper und streichelten gierig ihre Haut, bis er sie an den Hüften packte und sie mit einem Ruck gegen seinen erregten Körper presste.

Sie zuckte kurz, aber das Gefühl gefiel ihr. Zum ersten Mal sah sie ihm in die Augen. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals und kam ihm auf halbem Weg entgegen. Hauchzart fuhren seine Lippen über ihr Gesicht, doch im nächsten Augenblick bemächtigte er sich ihres Mundes, und seine Zunge fand den Weg zu ihrem erotischen Spiel.

In einer Atempause entzog er sich ihren Armen. Charmaine sah zu, wie er die Papiere vom Bett sammelte und achtlos auf einem Sessel deponierte. Geh in dein Zimmer zurück!, schrie die Vernunft. Doch sie achtete nicht darauf und setzte sich mitten auf sein Bett. Die frühere Charmaine hatte streng auf Richtig oder Falsch geachtet, aber diese Charmaine wollte es wissen, wollte fühlen, berühren und eins werden mit John. Zitternd lehnte sie sich in die Kissen zurück und folgte mit bangem Blick jeder seiner Bewegungen.

John gaben diese Momente Zeit, damit seine Leidenschaft ein wenig abkühlte. Sie war hier in seinem Bett, aber war sie auch bereit für die Liebe? Wenn er sie nicht völlig falsch einschätzte, so war dies ihr erstes Mal. Er wollte jedenfalls nichts überstürzen.

Sie sah zu, wie er die Vorhänge schloss, den Docht der Lampe herunterdrehte und die Tür zum Ankleidezimmer abschloss. Eine seltsame Heiterkeit befiel sie, als sie seine breiten Schultern und das Spiel der Muskeln an seinen Armen betrachtete.

Als er sich zu ihr aufs Bett setzte, begegneten sich ihre Blicke. Wie durch ein Wunder konnte sie sogar etwas sagen, um die beklemmende Stille zu durchbrechen. »Gehen Sie immer mit der Badehose ins Bett?«

»Wenn es heiß ist.« Schmunzelnd sah er sie an, weil sie noch immer ihren Morgenmantel am Kinn zusammenraffte. »Ist Ihnen denn gar nicht heiß?«

Die Luft war tatsächlich zum Ersticken, dachte Charmaine und begriff, wie albern sie sich benahm, und streifte den Morgenmantel ab.

Danach streckten sie sich aus und lagen eine Weile ganz still nebeneinander, ohne sich zu berühren. Irgendwann stützte John sich auf den Ellenbogen und sah sie fragend an. »Warum bist du hier, Charmaine?«

»Das weiß ich nicht.«

»Bist du sicher, dass du das willst? Dass du morgen nicht weinst?«

»Muss ich das denn? Weinen, meine ich.«

»Nein, my charm, im Gegenteil. Ich kann und ich möchte dich glücklich machen.«

»Ich konnte plötzlich keine Sekunde länger allein sein«, murmelte sie. »Ich habe meine Sehnsucht einfach nicht länger ausgehalten.«

Er lächelte. »Ich habe oft von diesem Augenblick geträumt. Und jetzt ist er da … und ich komme mir vor wie ein kleiner Junge vor Cookies Herrlichkeiten.«

Er hob den Arm, damit sie näher heranrücken konnte, und sie folgte seiner Einladung. Ihr Kopf lag nun an seiner Schulter, und ihre Hand ruhte auf seiner Brust. Zart fuhr er mit den Fingern durch ihr Haar, streichelte ihren Hals und spielte mit den dicken Locken. Minutenlang sagten sie gar nichts, und doch war es, als ob sie leise miteinander redeten. Sie schloss die Augen und fühlte, wie seine Hand über ihre Schulter glitt, und unter ihrer Handfläche spürte sie sein Herz aufgeregt klopfen. Dann zupfte er nervös an ihrem Nachthemd. »Kannst du das nicht ausziehen?«

In jeder anderen Situation wäre sie wie ein erschrecktes Kaninchen davongerannt. Aber jetzt lag sie hier auf seinem Bett und konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich ihr Nachthemd über den Kopf streifte, während er sich ebenfalls entkleidete.

Die Morgendämmerung war nicht mehr weit, als er sie endlich in die Arme nahm. Charmaine zitterte ein wenig, doch John beruhigte sie mit sanften Worten, während seine raue Wange über ihre Haut strich und seine Lippen an ihrem Ohr und ihrem Hals knabberten. Endlich glitten seine Hände über ihre Brüste, ihre Hüften und ihre Schenkel und riefen Gefühle in ihr hervor, die sie nie zuvor empfunden hatte. Etwas pochte in ihrem Inneren, und sie bebte vor Lust und Leidenschaft. Warum hatte sie diese Gefühle nur so lange vermieden? Neugierig erforschte er alle Winkel ihres Körpers, selbst die geheimsten, was sie früher niemals gestattet hätte. Doch heute konnte sie nicht genug davon bekommen und würde ihn um mehr anflehen, sollte er damit aufhören.

Als er sie endlich liebte, tat er das langsam und mit langen Pausen, damit sie sich an sein Gewicht gewöhnen konnte, bevor er tiefer in sie eindrang. Ihr leises Wimmern war der Beweis, dass er sich nicht geirrt hatte. Es war wirklich ihr erstes Mal. Sie hatte ihn als Liebhaber erwählt und gehörte ihm jetzt ganz allein. Als er von Neuem begann, erstarrte sie irgendwann, doch wieder bezähmte er seine Lust, bis ihr Schmerz abebbte. »Es ist alles gut, Charmaine«, flüsterte er leise. Er umfasste ihr Gesicht mit den Händen und wischte ihr mit den Daumen die Tränen aus den Augen. »Ich liebe dich. Lass mich dir zeigen, wie sehr ich dich liebe …« Wieder küsste er sie. Sie erwiderte den Kuss mit leicht geöffneten Lippen, und ihre Anspannung wich und machte der Leidenschaft Platz. Da konnte auch John sich nicht länger beherrschen.

Charmaine ergab sich diesem wunderbaren Gefühl, dieser unbeschreiblichen Einheit, die sie mit John fühlte. Der kleine Schmerz war schnell vergessen, und sie zog ihn so lüstern an sich, als ob sie ihn gar nicht tief genug in sich aufnehmen könnte. Sie gehorchte ihrer Sehnsucht, und ihre Lust steigerte sich, bis sich ihr Körper unter ihm wand. Der regelmäßige Rhythmus befeuerte ihre Lust und erschuf eine fast mystische Einheit. Und dann plötzlich krampfte sich ihr Körper zusammen, und die Spannung kulminierte, bevor sie sich in einer langen Reihe endlos süßer Zuckungen auflöste. John stöhnte und presste Charmaine keuchend und zufrieden an sich.

Viele Minuten lagen sie eng umschlungen da und genossen das Glücksgefühl. Als Charmaine irgendwann seufzte, stützte John sich auf die Ellenbogen. Seine Augen blitzten. Sie war schon auf allerlei Bemerkungen gefasst und staunte nicht schlecht, als er einfach nur schwieg. Er glitt von ihr herab und rieb träumerisch eine ihrer Haarsträhnen zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor er sie auf ihre Brüste fallen ließ. Sie widerstand der Versuchung, sich zu bedecken, und ließ es zu, dass er ihren nackten Körper betrachtete. Zart fuhr seine Hand über ihre schimmernde Haut, bis sie auf ihrem Schenkel liegen blieb. Ein Schauer durchzuckte sie, und sie wunderte sich über ihr neu erwachtes Begehren.

Er ließ sich rücklings auf die Kissen fallen und zog sie mit sich, sodass ihr Kopf auf seiner Brust ruhte und seine Arme sie umschlangen. Als sie die Augen schloss, überkam sie tiefste Zufriedenheit. Sacht strich er über ihr Haar. »Ich habe mein Leben wiedergefunden …«, hörte sie ihn murmeln, bevor er einschlief.

Freudentränen liefen ihr über die Wangen. »Ich liebe dich auch, John«, flüsterte sie an seiner Brust. Dann streckte sie die Hand aus und fuhr durch seine zerzausten Locken, bevor der Schlaf auch sie übermannte.

Agatha seufzte zufrieden, als sie ihre Salontür hinter sich schloss. Ein einzigartiger Abend lag hinter ihr. Sie konnte nicht glücklicher sein. Paul hatte eine bewundernswerte Figur abgegeben und den Sohn ihrer Schwester in jeder Beziehung ausgestochen. Und Frederic … er war der perfekte Gastgeber gewesen und hatte genauso gut ausgesehen wie damals, als sie sich kennengelernt hatten. Und heute Abend hatte sie den begehrten Platz an seiner Seite eingenommen.

Nur ein einziger Schatten hatte die Woche getrübt. Es war ihr nicht gelungen, aller Welt mitzuteilen, dass Paul nicht nur Frederics, sondern auch ihr Sohn war. Zumindest kannte er jetzt die Wahrheit und war nicht einmal gekränkt, wie Frederic prophezeit hatte. Sie hätten die Täuschung schon vor Jahren beenden sollen. Sie wollte mit ihm reden, ihm ihre Liebe zu seinem Vater gestehen und ihm das ungerechte Schicksal erklären, das ihm sein Geburtsrecht und alles, was er so sehr verdiente, bisher vorenthalten hatte. Aber nicht heute. Sie schüttelte den Kopf. Der heutige Abend war viel zu großartig gewesen, um ihn mit trüben Gedanken zu beschließen. Nachdem sie in Frederics Armen getanzt hatte, wollte sie auch endlich das Bett mit ihm teilen.

Sie entkleidete sich und schlüpfte in ein Nachthemd, bürstete ihr Haar und tupfte sich etwas Parfum hinter die Ohren. Seit dem Tag, als sie Pierre den Hintern versohlt hatte, hatte Frederic nicht mehr mit ihr geschlafen, obgleich sie es nicht an Verführungsversuchen hatte fehlen lassen. Doch heute Nacht sollte das anders werden. Heute Nacht wollte sie die Mauern erstürmen, die er um sein Herz errichtet hatte. Das war ihr schon öfter gelungen, und heute Abend würde sicher nicht das letzte Mal sein.

Sie war überrascht, dass er an den Verandatüren stand und in den Garten hinaussah. Als sie die Tür hinter sich zuzog, wandte er sich um.

»Es war eine wundervolle Woche«, sagte sie. »Du hast unseren Sohn sehr glücklich gemacht. Er kann stolz darauf sein, ein Duvoisin genannt zu werden.«

»Ja«, murmelte Frederic einsilbig und kehrte ihr wieder den Rücken zu.

»Ich bin stolz darauf, deine Frau zu sein«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. Sie ging zu ihm, schlang die Arme um ihn und lehnte ihren Kopf an seinen Rücken. »Ich liebe dich.«

Doch Frederic entzog sich ihr und trat einen Schritt zur Seite. Pauls Woche und der Ball waren vorüber. Jetzt konnte er die Fassade fallen lassen.

»Ich liebe dich nicht, Agatha. Ich habe einmal gedacht, dass so etwas wie Liebe oder auch Kameradschaft zwischen uns wachsen könnte. Doch während der letzten neun Monate haben wir uns voneinander entfernt.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Wirklich nicht? Du hasst meine Kinder, obwohl sie doch ein Teil von mir sind.«

Sie brauste auf. »Ich liebe Paul!«

Diese durchsichtige Rechtfertigung stimmte ihn noch trauriger. «Genau! Du liebst deinen Sohn. Was John angeht – deinen eigenen Neffen –, so hast du alles versucht, ihn mir zu entfremden. Dieses letzte Mal war besonders schlimm.«

Als sie zu einer Erwiderung ansetzte, hob er die Hand, und sie gab klugerweise nach.

»Du wolltest Pauls Geburt immer legitimieren, und Gott weiß, dass ich mir nichts mehr wünsche. Aber Johns Rechte wegen unserer persönlichen Konflikte zu untergraben, lehne ich ab. Ich dachte, dass unsere Eheschließung dir den Schmerz nehmen und dir Zufriedenheit schenken würde, doch leider bist du noch immer von Bitterkeit und Hass erfüllt.«

»Ich kann mich ändern, Frederic! Wirklich!«

»Außerdem geht es um meine Töchter. Wir wissen beide, was du von ihnen hältst, und als Pierre noch lebte …«

»Wirfst du mir etwa immer noch vor, dass ich ihn verhauen habe?«

»Nein, Agatha. Die Schläge haben nur deine wahren Gefühle für meine Kinder offenbart. Ich hätte damals nachdenken und begreifen müssen, dass du dich nicht ändern würdest.«

»Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe«, wimmerte sie. »Ich wollte deinen Kindern nicht wehtun. Besonders Pierre nicht. Ich war ehrlich der Meinung, dass für die Mädchen eine Schule für junge Ladys das Beste sei.«

Sie senkte den Kopf, und irgendwann merkte er, dass sie weinte. Er hatte ihr nicht wehtun wollen, nicht ausgerechnet heute, wo sie so glücklich war, doch er hatte die Verstellung satt. »Ich bin müde, Agatha«, sagte er leise. »Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir. Wenn unsere Gäste abgereist sind, werden wir weiterreden … auch mit Paul.«

Voll Liebe sah sie zu ihm auf. »Ja, Frederic, wir werden mit Paul sprechen und ihm alles erklären.« Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Ich liebe dich«, flüsterte sie. »Mehr als du jemals wissen wirst.« Damit verließ sie leise den Raum.

Frederic verschloss die Augen vor ihrem schmerzlichen Gesichtsausdruck. Dann starrte er wieder in die Dunkelheit hinaus. Vielleicht würde ihn ja Colette heute Nacht besuchen.

Agatha sank gegen die Tür und wartete, bis ihr Schmerz nachließ. Sie hatte Frederic bedrängt … zu sehr bedrängt. Aber sie liebte ihn, liebte ihn sehr, und letztlich würde diese Liebe sein enttäuschtes Herz erobern. Sie hatte zu viel erreicht, um daran zu zweifeln. Waren die erfolgreiche Woche und der triumphale Abschluss nicht Beweis genug? Mag sein, dass Frederic augenblicklich verärgert war, aber sie hatte schon ganz andere Rückschläge gemeistert. Nun, da Johns Name aus dem Testament getilgt war, folgte der nächste Schritt. Zu gegebener Zeit würde sie dafür sorgen, dass er von Charmantes verbannt wurde. Sie musste nur noch Frederics Bett erobern, um ihn zu überzeugen.

Frederic lag ausgestreckt im Bett und lauschte auf die Stille. Ein Jahr … Es war genau ein Jahr her, seit er Colette im Arm gehalten und vergeblich um ein Wunder gebetet hatte. Während er sie schlafend im Arm gehalten hatte, hatte sie ihren letzten Atemzug getan. Er musste die Augen schließen, als er sich an seinen Schmerz beim Aufwachen erinnerte, als sie ganz kalt gewesen war. Viele Stunden hatte er versucht, sie zu wärmen, hatte um die Liebe geweint, die er gegeißelt, und um das Glück, das er von sich gestoßen hatte. Es tut mir leid, Colette, und ich verspreche dir, dass ich es wiedergutmachen werde … und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich liebe dich, ma fuyarde … und werde dich immer lieben!