Freitag, 7. September 1838
Charmantes

Im Lauf der Zeit stellte sich auf der Insel eine gewisse Routine ein. Paul und George setzten alles daran, um abends pünktlich zum Dinner nach Hause zu kommen, wenn sich alle um den Tisch versammelten: Paul, Charmaine, die Zwillinge, Rose und Mercedes und George. Charmaine konnte sich gar nicht genug wundern, wie schnell die Mädchen erwachsen wurden und wie vernünftig sie an den Unterhaltungen teilnahmen, die bei Tisch geführt wurden. Yvette fragte Paul mit Vorliebe über seinen Arbeitsalltag aus. Obendrein führte sie die Buchhaltung für die Sägemühle weiter, sodass er diesen Punkt von der Liste seiner Pflichten streichen konnte. Er staunte oft, was Yvette schon alles über die Geschäfte der Familie wusste, und je mehr sein Respekt wuchs, desto freundschaftlicher gestaltete sich ihr Umgang.

Sobald der Tisch abgeräumt worden war, begaben sich an diesem Abend alle in den Wohnraum, wo Yvette und Paul ihre hitzige Debatte über eine Zuckerraffinerie auf der Insel fortsetzten. »Das ist unmöglich«, wiederholte Paul. »Die Reinigung wird schon immer außerhalb von Charmantes gemacht.«

»Aber wenn wir den Saft konzentrieren, können die Schiffe mehr transportieren, und du könntest einen höheren Preis für ein fast fertiges Produkt verlangen.«

»Dafür wird viel frisches Wasser benötigt, aber das ist auf der Insel nur begrenzt vorhanden. Außerdem muss man noch den Holzverbrauch berücksichtigen. Der Unterhalt der Plantage kostet uns bereits sehr viel Holz.«

»Und wie wäre es mit Kakaopflanzen?« In dieser Art ging es weiter.

Charmaine und Rose schmunzelten, bis Charmaine noch einen vergessenen Teller erspähte und in die Küche brachte. Auf dem Tisch stapelte sich das schmutzige Geschirr. Fatima trug die Stapel einen nach dem anderen zum Ausguss, wo das neue Mädchen Rachel spülte.

»Oh, Miss Charmaine, geben Sie her!«

»Aber, Cookie, wo stecken denn Felicia und Anna?«

»Vermutlich haben sie ihren Spaß mit Master Paul.«

Charmaine wurde zornig. Offenbar war das nicht das erste Mal, dass Fatima noch andere Arbeiten übernehmen musste. »Das Spülen ist doch Sache der Hausmädchen, oder nicht?«

»Seit sich Mrs Faraday um Master Pauls Haus und Miss Agatha kümmert, drücken sich die Mädchen, wo sie nur können.«

»Das wollen wir doch mal sehen.« Mit diesen Worten verließ Charmaine die Küche.

Sie hatte schon bemerkt, dass die Mädchen in ihrem Eifer nachgelassen hatten, aber das war nicht der einzige Grund für ihre Empörung. Erst vor zwei Tagen hatte sie eine Unterhaltung der beiden vor Johns altem Zimmer mitgehört.

»… seit er weg ist, macht sie sich wieder an Paul ran.«

»Obwohl Johns Kind in ihrem Bauch wächst.«

»Na ja … vielleicht ist es ja gar nicht von ihm.«

Die Mädchen kicherten.

Charmaine hatte geschwiegen, weil sie den Mädchen die Genugtuung nicht gönnte, sie verletzt zu haben. Aber heute Abend war das anders. Heute war sie für den Kampf gerüstet.

Wie erwartet fand sie die beiden an der Bar. Anna tat, als ob sie Gläser polieren müsse, während Felicia mit schwingenden Hüften durch den Raum eilte und Paul ein Glas Portwein kredenzte. Er sah auf und nahm das Glas mit einem Lächeln in Empfang.

Charmaine verschränkte die Arme. »Felicia, Anna!«

Die Hausmädchen fuhren herum.

»Ist das Geschirr schon gespült?«

»Fatima hat gesagt, dass sie das macht«, log Felicia.

»Ich habe Mrs Henderson gesagt, dass diese Arbeiten sie nichts angehen. Sie ist schließlich unsere Köchin und kein Hausmädchen! Wenn ich Fatima noch einmal beim Spülen erwische, gebe ich ihr einen Tag frei. Dann könnt ihr sehen, wie ihr ein Essen auf den Tisch bringt. Verstanden?«

Die Mädchen wirkten eingeschüchtert, doch als Anna den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, kam Charmaine ihr zuvor. »An deiner Stelle würde ich schleunigst in die Küche rennen. Ihr werdet nicht dafür bezahlt, Getränke auszuschenken.«

Felicia sah Paul an, als ob sie nur von ihm Befehle entgegennähme und er ihr helfen solle. Charmaine hielt den Atem an. Doch ein Blick auf sein Gesicht genügte … und sie wusste, dass er sich nicht einmischen würde. Offenbar hatte Felicia denselben Eindruck gewonnen, denn sie stapfte mit beleidigter Miene davon. »In Zukunft verzichten wir beim Dinner auf eure Dienste. Diese Zeit soll allein der Familie gehören«, fügte Charmaine hinzu.

Als die beiden draußen waren, lachten Jeannette und Yvette, und George schloss sich ihnen an. »Worum ging es eigentlich?«, fragte Paul ganz unschuldig.

»Wenn ich schon Hausherrin bin«, sagte Charmaine, »dann muss ich mich auch wie eine benehmen.«

Paul hob sein Glas und zwinkerte ihr zu, und zum ersten Mal seit zwei langen Wochen verspürte Charmaine ein kleines Glücksgefühl.

Drei Tage später musste Felicia plötzlich ihre Sachen packen, ohne dass Charmaine den Grund dafür kannte. Paul hatte das Hausmädchen fristlos entlassen und würdigte sie keines Blickes, als sie an ihm vorbei aus dem Haus stürmte. Auf dem Rückweg in die Bibliothek, wo er gearbeitet hatte, dachte er an die Szene zurück. Anna und Felicia hatten beim Bettenmachen wieder über Charmaine geredet. Vermutlich glaubten sie, dass er seine Räume bereits verlassen hätte.

»Mein Blut kocht, wenn ich nur daran denke, wie sich die Hexe hier eingeschlichen hat, indem sie die unschuldige Jungfrau markiert hat.«

»Denke das gar nicht erst«, riet Anna ihrer Freundin flüsternd.

Aber Felicia konnte ihr Temperament nicht zügeln. »Lieber hätte ich Miss Agatha zurück.«

»Aber Miss Charmaine ist doch gar nicht so übel. Ich glaube, du bist nur eifersüchtig.«

»Worauf denn? Etwa auf ihren dicken Bauch? Das Baby war sicher schon drin, als sie sich John geschnappt hat.«

»Wie kannst du das sagen, Felicia? Wir haben doch beide die verfleckten Laken gesehen!«

»Und wenn sie sich nur geschnitten hat, um den armen John und uns alle an der Nase herumzuführen? Siehst du denn nicht, wie dick sie schon ist? Wenn Paul sie nicht mehr ansehen mag, kommt er sowieso wieder zu mir.«

Paul hatte genug gehört. Er stürmte nach nebenan und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Anne quietschte. »Master Paul!«

Felicia wich vor Pauls wütendem Blick zurück. »Pack sofort deine Sachen!«, herrschte er sie an. »Du bleibst keine Nacht mehr unter diesem Dach!«

»Aber wohin soll ich denn gehen?«

»Deine Eltern leben doch auf Charmantes, nicht wahr? Die nehmen dich ja vielleicht wieder auf. Oder Dulcie erbarmt sich deiner. Diese Art Arbeit liegt dir sowieso besser.«

Felicia wurde knallrot und rannte aus dem Zimmer.

Als Paul sich zu Anna umdrehte, wich sie unwillkürlich zwei Schritte zurück. »Sir, ihr Gerede war mir oft zuwider«, jammerte sie.

»Davon kannst du mich gern überzeugen. Ich will nicht hören, dass Miss Charmaine dich noch ein einziges Mal ermahnen muss. Über sie wird nicht geredet. Ist das klar?«

»Ja, Sir«, murmelte das Mädchen kleinlaut, bevor sie knickste und davonrannte.

Dienstag, 11. September 1838

Paul war zufällig in der Stadt, als laute Rufe das Nahen eines Seglers ankündigten, und er wartete schon am Kai, als Matt Williams die Destiny an ihren üblichen Liegeplatz steuerte. Kaum dass die Leinen befestigt waren, stürmte er an Bord. »Welche Neuigkeiten bringen Sie uns, Matt? Müssten Sie nicht eigentlich in Johns Auftrag in Virginia Tabak laden?«

»So lautete mein ursprünglicher Auftrag, aber Stuart Simons lässt ausrichten, dass Ihr Vater und John ihre Pläne geändert haben. Sie ließen sich von der Raven nach New York bringen und haben mich beauftragt, diese beiden Briefe hierherzubringen.« Er übergab Paul zwei Umschläge, die in Johns Krakelschrift adressiert waren. »Ich habe nur die halbe Ladung Tabak an Bord genommen. John war der Meinung, dass wir unseren Preis halten könnten, wenn wir noch zusätzlich Melasse laden.«

»Gönnen Sie sich fürs Erste eine Pause, Matt«, sagte Paul. »Das Laden besorgen wir morgen. Dann können Sie übermorgen wieder Segel setzen.«

Matt nickte und informierte sofort seine Matrosen. Jubel brandete auf, und anschließend wurden die nötigen Arbeiten in großer Eile erledigt, weil die Männer den freien Nachmittag im Dulcie’s kaum erwarten konnten.

Paul zog sich in die Kajüte des Kapitäns zurück und las seinen Brief. Als er danach den anderen in der Hand wog, der an Charmaine adressiert war, änderte er plötzlich seine Arbeitspläne für den Nachmittag.

Charmaine saß auf der Schaukel und lauschte den Stimmen der Mädchen. Das Wetter war so wunderbar mild und schön, dass sie vorgeschlagen hatte, die Geschichte im Schatten des Eichbaums zu Ende zu lesen. Sie war überrascht, als Paul auf Alabaster durchs Tor ritt und auf sie zuhielt.

Rasch sprang er vom Pferd und versteckte die Hände hinter dem Rücken. »Rechts oder links?« Unschlüssig wählte sie die rechte Hand, aber als nichts darin war, präsentierte Paul sofort die linke und lächelte. »Eine kleine Überraschung.«

Charmaine seufzte vor Erleichterung, als sie Johns Handschrift erkannte. Dann drehte sie den Umschlag um und löste vorsichtig das Siegel.

»Ist er von Johnny?«, fragte Jeannette.

Yvette wollte wissen: »Was steht denn drin?«

Paul legte den Finger auf die Lippen und bedeutete seinen Schwestern, ihm zu folgen. Ohne Widerworte gehorchten sie und führten Alabaster zum Stall hinüber. »Gönnt Charmaine diesen Moment. Sie hat ein bisschen Glück verdient.«

Die Mädchen lächelten zu ihm auf.

»In meinem Brief hat John auch ein paar Worte an euch gerichtet.«

»Wirklich?«, riefen beide wie aus einem Mund. »Und was?«

»Er schreibt, dass er euch vermisst und möglichst bald nach Hause kommen will.«

»Mehr nicht?« Yvette war enttäuscht. »Hat er Blackford inzwischen getötet?«

»Aber nein, Yvette …« Paul schmunzelte. »Er schreibt nur, dass er immer noch nach ihm sucht.«

»Das dauert aber ganz schön lange, findest du nicht?«

»Wie geht es Papa?«, fragte Jeannette. »Geht es ihm gut?«

Paul runzelte die Stirn. »Davon schreibt er gar nichts, aber ich bin sicher, dass es den beiden gut geht.«

»Hoffentlich müssen sie nicht kämpfen«, bemerkte Yvette. »Dann dauert es nur noch länger.«

Angesichts von so viel Weisheit schüttelte Paul den Kopf. »Das wollen wir hoffen, Yvette.«

Von Anfang an hätte Charmaine am liebsten über jedes Wort gejubelt. Von Meine liebste Charmaine bis hin zu dem Schluss: Sage unserem hübschen Kind, dass ich es genauso liebe wie seine schöne Mutter. Sie erfuhr, dass er zufällig Joshua Harrington in der Bank getroffen hatte und dass die Suche ihn und seinen Vater am nächsten Tag sogar bis nach New York führen würde. Dann folgten liebevolle Worte, die Charmaines Herz schmelzen ließen.

… Ich entschuldige mich für die Art, wie ich mich von dir verabschiedet habe. Bitte, versteh mich, Charmaine. Ich will nur Gerechtigkeit. Ich könnte nie in dem Wissen leben, dass der Mörder meines Sohnes frei herumläuft und ich nichts unternommen habe. Natürlich tue ich das auch für Colette. Ich würde lügen, wenn ich das nicht vor mir selbst eingestehen würde. Aber ich tue es nicht aus Liebe zu ihr. Colette war eine wunderbare Person, die diesen frühen Tod nicht verdient hat. Doch selbst wenn sie noch am Leben wäre, hätte ich dich gewählt. Auf eine Frau wie dich habe ich nie zu hoffen gewagt. Übrigens habe ich heute etwas ganz Wunderbares erfahren … etwas, das mich inmitten dieses Elends lächeln ließ … und das mir gezeigt hat, wie viel du mir bedeutest, my charm, und wie sehr ich dich liebe. Heute Nacht ist es hier sehr einsam. Ich sehne mich danach, dich im Arm zu halten und dich zu lieben. Sei sicher, ich werde dich für die vielen Wochen entschädigen und alles Versäumte nachholen, wenn ich nur erst wieder zu Hause bin …

Blind vor Tränen drückte Charmaine den Brief an ihre Lippen und verharrte einen Moment bewegungslos, als ob sie Johns Gegenwart in sich aufsaugen könne. Voll bittersüßem Glück schloss sie die Augen und atmete tief ein. Als sie sich wieder in der Gewalt hatte, öffnete sie die Augen und merkte, dass sie allein war.

Später am Abend, als die Mädchen längst schliefen, verfasste sie ihren ersten Liebesbrief. Sie legte all ihre Gefühle hinein und schluchzte, als sie die letzten Worte schrieb. So wie John entschuldigte auch sie sich für alles, was sie ihm beim Abschied an den Kopf geworfen hatte, sagte ihm, wie sehr sie den Tag seiner Rückkehr herbeisehnte, und küsste den Umschlag zum Abschied. Paul versprach, den Brief mit dem ersten Schiff nach New York zu schicken. Seit George im Auftrag von Colette nach John gesucht hatte, war seine dortige Adresse kein Geheimnis mehr.

Donnerstag, 13. September 1838

Robert Blackford stand hinter einer Frau in mittlerem Alter, die mit dem Angestellten der Apotheke sprach. Er schmunzelte in sich hinein, als die Frau nach einem kleinen Fläschchen Arsen verlangte. Wen sie wohl vom Leben zum Tode befördern wollte? Vermutlich ihren Mann oder vielleicht einen Liebhaber? Der Angestellte holte einen Ordner und ließ sich den Empfang mit Unterschrift bestätigen. Dann zahlte die Frau, und der Mann übergab ihr das Gift.

Wie einfach, dachte Robert. Wie überaus einfach. Wenn Colette auf dem Festland gelebt hätte, hätte Agatha seine Hilfe gar nicht benötigt. Aber der Laden auf Charmantes hatte kaum Chemikalien vorrätig. Um Arsen aus Europa zu besorgen, hatte Agatha auf ihn zurückgreifen müssen. Er hatte seiner Schwester ohne Zögern geholfen, nachdem sie Anfang April 1836 eine erste, beinahe tödliche Dosis über Colettes Essen gestreut hatte.

Wenig später trat Robert in den abendlichen Sonnenschein hinaus und sog tief die kühle Herbstluft ein. Die Luft war angenehm und frisch … aber sauber war sie nicht, da zahllose Fabriken sie mit ihrem Rauch verschmutzten. Nun gut, man konnte nicht alles haben.

Während er durch die belebten Straßen ging, wanderten seine Gedanken nach Charmantes zurück, wo er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Agatha hatte gut für seine Zukunft gesorgt. Er erinnerte sich noch lebhaft an seine Freude, als sie für immer nach Charmantes gekommen war. Damals hatte er noch an ein gemeinsames Leben geglaubt, doch in Wirklichkeit war es der Anfang vom Ende gewesen.

Agathas Mann war kurz zuvor gestorben … und sogar heute noch fragte er sich zuweilen, ob Robert Ward womöglich ihr erstes Opfer gewesen war. Auf jeden Fall hatte Agatha bei ihrer Abreise aus England genügend Arsen im Gepäck, um Colette umzubringen. Doch ihre Ungeduld hätte beinahe alles verdorben. Entweder war Colette kräftiger, als sie vermutete, oder sie hatte nicht die gesamte Dosis zu sich genommen. Jedenfalls erholte sie sich … und Agatha hatte nicht mehr genügend Gift übrig. Als sie sich ihm anvertraute, machte er ihr ernste Vorhaltungen.

»Du Närrin! Was, wenn Frederic das herausfindet? Er wird dich hängen lassen!«

Agatha warf sich ihm in die Arme und schluchzte an seiner Schulter. Überglücklich genoss er die Umarmung. Als die Tränen versiegten, schmeichelte sie ihm und versprach ihm ihre ganze Liebe. »Doch zuvor muss ich noch die Erinnerung an Elizabeth tilgen. Bitte, Robert, hilf mir!«

Sie wollte Colette töten und Frederic heiraten, dann John aus der Erbfolge drängen und sicherstellen, dass Paul alles bekam, was man ihm von Geburt an vorenthalten hatte. Danach wollte sie zusammen mit ihrem Bruder das Leben genießen, das ihnen Frederics Geld ermöglichte.

Er hatte ihren Worten nur zu gern geglaubt und sich aus übergroßer Liebe zu ihr auf das Mordkomplott eingelassen. Er besorgte das Arsen und verabreichte es Colette in winzigen Dosen. »Auf diese Weise wird sie langsam einem unerklärlichen Leiden erliegen«, rechtfertigte er sich. Doch in Wirklichkeit setzte er auf die Zeit und darauf, dass Agatha doch noch anderen Sinnes wurde und zu ihm zurückkehrte.

»Ja, ich will, dass sie möglichst qualvoll stirbt.«

Als Colette häufiger über die »Krankheit« klagte und ein gewisses Misstrauen gegenüber Robert entwickelte, bot es sich an, dass Agatha die Pflege übernahm. Zusammen entwickelten sie einen Stundenplan und berechneten die Dosierung haargenau. Drei Tage vor Roberts Visite streute Agatha eine winzige Giftmenge über das Essen, die sie am nächsten Tag steigerte und ebenso am dritten, bis Colette sich so elend fühlte, dass sie Roberts Besuche jedes Mal herbeisehnte. Nach der Visite setzte Agatha mit der Beigabe von Arsen aus, woraufhin Colette sich jedes Mal besser fühlte. Drei Tage später begann alles wieder von vorn.

Anfangs genoss Agatha Colettes Leiden und beschrieb ihm genüsslich alle Einzelheiten wie Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und Erbrechen, die verschmutzte Unterwäsche, das leichenblasse Gesicht und den Haarausfall. Aber irgendwann ging es ihr nicht mehr schnell genug. Also kam er doppelt so häufig zur Visite.

Eigentlich hätte Colette früher sterben müssen, aber eine Lungenentzündung durchkreuzte ihren Plan. Obgleich das Arsen weder zu schmecken noch zu riechen war, nahm Colette auf Grund des Fiebers nur sehr wenig Nahrung oder Flüssigkeit zu sich. Außerdem saßen meistens Gladys oder Millie oder auch Rose und manchmal sogar Frederic an ihrem Bett. Kurz vor dem Ende bekam Robert es mit der Angst zu tun, weil sowohl Paul als auch Frederic zu viele Fragen stellten. Er hoffte zu Gott, dass die Krankheit Colette umbrachte. Doch als sie auch diese Krise überstand, nahm er eine günstige Gelegenheit wahr und vergiftete sowohl ihre Brühe als auch ihren Kaffee mit einer tödlichen Dosis. Als man ihn nicht zu ihr ließ und Frederic ihm das Tablett abnahm, das er aus der Küche heraufgebracht hatte, befürchtete er das Schlimmste. Was, wenn Frederic die tödliche Dosis zu sich nahm?

Doch er hatte Glück. Colette trank alles bis zum letzten Tropfen, und innerhalb einer Stunde war ihr sterbenselend zumute. Er war erstaunt, dass sie den Tag überstand. Und noch erstaunter, dass keiner jemals die Symptome hinterfragte. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie die Dosis Arsen über lange Zeit nur minimal erhöht hatten.

Ihr Plan hatte zu dem gewünschten Ergebnis geführt. Mit einer Ausnahme, und die hieß Benito St. Giovanni. Der Priester war ebenso durchtrieben wie gewissenlos. Aber das war nicht Roberts Sache. In dieser Beziehung ließ er seiner Schwester freie Hand. Agatha war überzeugt davon, dass sie den erpresserischen Priester auf die eine oder andere Art loswerden würde. Doch dann gab es Wichtigeres: Pierre war an der Reihe.

»Pierre ist in Frederics Testament bedacht«, jammerte sie. »Er könnte also Alleinerbe werden … und Paul geht leer aus. Das ist ungerecht und muss geändert werden. Liebster Bruder, hilf mir! Ich bitte dich inständig, mein Liebster! Sobald dieses letzte Hindernis aus der Welt geschafft ist, werden wir beide ein Paar. Das verspreche ich dir.«

»Aber John steht doch an erster Stelle. Ich dachte, er sei das Problem.«

»Das ist er natürlich auch! Aber er soll genauso leiden, wie ich gelitten habe! Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich garantiere dir, dass mein Plan ihm endgültig den Hals bricht.«

Ihre hohlen Versprechungen verfolgten ihn noch heute. Unbewusst hatte er damals die Wahrheit erkannt: Er war Agathas Werkzeug. Aber das wollte er nicht wahrhaben. Stattdessen stimmte er ihrem teuflischen Plan zu und hoffte im Stillen, dass Frederic in der Aufregung einen fatalen Schlaganfall erlitt und Agatha endlich begriff, wie sehr er sie liebte. Für den Fall, dass es nicht so kam und er von der Insel flüchten musste, setzte er einen entsprechend hohen Preis für seine Mithilfe an.

Dann der verhängnisvolle Abend: Aufgeregt kam Agatha zu ihm. Die Gelegenheit war perfekt. Beim Dinner hatte Pierre selbst den Anlass geliefert. »Wir müssen das Eisen schmieden, solange es heiß ist.« Agathas Gedanken arbeiteten fieberhaft. »Wir müssen Frederics Zorn zum Inferno steigern, solange er noch so wütend auf John ist! Und zwar schnell, bevor John wieder nach Richmond fährt!«

Robert schauderte. Agatha war wie besessen. »Wie viel zahlst du mir dafür?«, fragte er kühl.

Im ersten Moment verschlug es Agatha die Sprache, doch sie erholte sich schnell … und unterzeichnete einen Schuldschein, der ihm Thomas Wards gesamtes Vermögen übertrug.

Am nächsten Morgen rührte Agatha eine winzige Dosis Arsen in Pierres Milch. Eine Stunde später klagte der Junge über Bauchkrämpfe und Kopfschmerzen, und man betraute John, wie sie es vorausgesehen hatte, mit der Wache am Krankenbett, während die Familie die Messe besuchte.

Inzwischen betrat Robert die Stallungen, wo kaum jemand war, da die meisten Pferdeknechte ebenfalls die Messe besuchten. Er hatte Respekt vor dem Hengst, aber auch diese Aktion verlief überraschend einfach. Mit Heißhunger verschlang Phantom die Mango, die er zuvor ausgehöhlt und mit Lauge gefüllt hatte, und Sekunden später wand sich das Tier vor Schmerzen. Robert löste den Riegel, und der Hengst machte einen gewaltigen Satz und riss Robert zu Boden, als er aus dem Stall ins Freie sprengte. Robert sprang auf und floh durch die Hintertür, während von der Wiese aufgeregte Rufe und lautes Wiehern zu hören waren.

Minuten später rannte er die Hintertreppe hinauf, die ins obere Stockwerk zu Agathas und Frederics Räumen führte, und beobachtete, wie John aus dem Kinderzimmer zum Treppenhaus stürzte. Noch bevor die Haustür ins Schloss fiel, war er an Pierres Bett und nahm den Jungen auf die Arme. Er mied den Blick auf die geschlossenen Augen und rannte denselben Weg zurück, den er gekommen war, und weiter über die rückwärtigen Wiesen bis in den sicheren Wald. Aber das Kentern des Bootes und das Ertränken erforderten mehr Zeit als geplant. Laute Rufe aus der Ferne lenkten ihn ständig ab. »Der See … mein Vater sagt, wir müssen am See suchen!«

Er flüchtete zum Bootshaus und musste zu seinem Entsetzen sehen, dass der Junge nicht tot war. Was, wenn er aufwachte, wenn er redete? Drei grausame Tage lang konnte er nichts tun als warten. Es lagen keine Schiffe im Hafen … es gab keine Möglichkeit zur Flucht. Wenn man ihn ans Bett des Jungen rief, würde er keine Sekunde zögern und die Tat vollenden. Aber Pierre starb ohne sein weiteres Zutun.

Noch heute standen ihm die Bilder in aller Schrecklichkeit vor Augen. Er seufzte erleichtert. Vor elf Monaten war ihm das Schicksal mehr als gnädig gewesen. Deshalb hatte er Charmantes verlassen. Hier war er in Sicherheit. Weitab von Benito und weitab von Agatha. Hier spürte ihn niemand auf. Nicht einmal Frederic. Mit verhaltenem Lächeln ging er leichtfüßig die Straße entlang.

Samstag, 15. September 1838

Maddy Thompson schüttelte ein hübsches Kleid aus. Es gehörte zu der Garderobe, die John für seine Frau in Europa bestellt hatte. Aber Charmaine konnte sich nicht daran freuen. Die Kleider passten ihr nicht mehr, und selbst wenn sie gepasst hätten, war John nicht da, um sie zu bewundern.

»Gefallen sie Ihnen denn gar nicht?«, fragte Jeannette.

Selbst Yvette konnte ihre Gouvernante nicht verstehen. »Die sind doch wunderschön.«

»Ihr habt ja recht, aber ich kann sie doch nicht mehr tragen.«

Maddy verpackte das Kleid wieder in der Schachtel. »Ihr Zustand dauert ja nicht ewig. Spätestens im Frühjahr sind Sie wieder rank und schlank. Bis dahin nähe ich Ihnen ein paar bequeme Kleider.« Sie besah sich das Bäuchlein und das knapp sitzende Mieder. Inzwischen hatte Charmaine sämtliche Falten herausgelassen und die Säume verlängert, aber lange ging das wirklich nicht mehr. »Kommen Sie einfach in einer Stunde zu mir nach Hause, dann nehme ich Maß, und in der nächsten Woche habe ich einige Kleider fertig. Wie klingt das?«

»Das klingt wunderbar.« Charmaine lächelte dankbar.

In diesem Moment ertönte die Ladenglocke, und Wade Remmen kam in Begleitung einer jungen Frau herein. Es war das Mädchen, mit dem George auf dem Ball getanzt hatte. »Hallo, Yvette, die Rechnungen für diese Woche habe ich gerade im Lager abgegeben.«

Yvette nickte, aber genau wie ihre Schwester hatte sie nur Augen für die hübsche Frau.

»Meine Schwester Rebecca«, stellte Wade das Mädchen vor. »Und dies sind Yvette und Jeannette Duvoisin und Charmaine Duvoisin, die Frau von John.«

Charmaine streckte der jungen Frau die Hand hin, aber sie erntete nur einen feindlichen Blick.

Später auf dem Heimweg herrschte Wade seine Schwester an. »Was sollte das?«

»Was denn?«

»Charmaine war freundlich, und du warst nur unhöflich.«

Rebecca rümpfte die Nase. »Ich mag sie eben nicht. Das ist alles.«

Freitag, 21. September 1838

An diesem Morgen machte sich Paul in aller Früh auf den Weg zu den Tabakfeldern von Charmantes. Die letzte Woche hatte er auf Espoir verbracht und eine gute Lösung gefunden. Wenn Peter Wuerst ihn vertrat, konnte er ruhigen Gewissens auf Charmantes bleiben und nur einen Tag in der Woche auf Espoir nach dem Rechten sehen. Zuckerpflanzen waren robust und seine Männer erfahren genug, um die Arbeit auch in seiner Abwesenheit zu bewältigen.

Im Vergleich dazu war der Tabakanbau ein zeitraubendes und schwieriges Unterfangen: zeitig in der Saison anpflanzen, die Bekämpfung von Seuchen und Schimmel und die gewissenhafte Feuertrocknung für einen Zeitraum von drei bis zwölf Wochen. Zurzeit stand die Ernte an, die in ungefähr sechs Pflückungen durchgeführt wurde. Nach dem Trocknen musste der Tabak noch ein Jahr reifen, bevor er auf den Markt kommen konnte. Die gebündelten Blätter lagerten in einer Halle in der Nähe des Hafens, wo sie regelmäßig auf Insektenbefall kontrolliert wurden. Noch warf der Tabak aus Charmantes keinen Profit ab, sodass Paul sich manchmal fragte, warum er sich überhaupt darauf eingelassen hatte. Früher hatte er gedacht, dass der Anbau einfach sein müsse, wenn sogar John damit Erfolg hatte. Einfach?

Keine halbe Stunde später erreichte er die Felder im Süden der Insel und fluchte beim Blick über das wellige Gelände. Die Arbeiter und Helfer lungerten tatenlos herum. Paul trieb sein Pferd an. »Was ist hier los?«

»Wir warten auf Mr Richards«, antwortete einer der Männer. »Er wollte zeitig kommen, um die Arbeit einzuteilen.«

»Und wo ist Mr Browning?«

»Er ist mit ein paar Männern in die Stadt geritten. Sie müssen die Fässer der gestrigen Zuckerpressung im Lagerhaus stapeln.«

»Wenn Mr Browning nicht da ist und Mr Richards sich verspätet, wisst ihr wohl nicht, was zu tun ist?«, schimpfte er und sprang aus dem Sattel.

Er pflückte einige dunkelgrüne Blätter, bog eines nach dem anderen um und überzeugte sich, dass sie spröde waren. Dann schwang er sich wieder in den Sattel. »Ich erwarte, dass die letzten Blätter heute gepflückt und gebündelt werden. Morgen hängen sie alle in der Trockenscheune.«

Die Arbeiter murrten. »Aber wir haben doch erst gestern hier gepflückt.«

Paul ärgerte sich zwar, doch wenn er die Geduld verlor, erreichte er gar nichts. »Mein Bruder hat euch gezeigt, was zu tun ist. Diese Blätter sind reif. Wenn ihr bis Sonnenuntergang fertig seid, bekommt ihr einen Tag frei … aber erst nach der Ernte. Die bezahlten Kräfte bekommen einen Extralohn.«

Mit beifälligen Rufen machten sich die Männer an die Arbeit.

Paul dagegen machte sich auf die Suche nach George. Aber in der Sägemühle bot sich dasselbe Bild. Ohne Aufsicht ließen es die Männer ruhig angehen. »Hat einer von euch George Richards gesehen?« Er wurde immer wütender.

»Nein, Sir, der kommt für gewöhnlich erst um Mittag her.«

»Und wo, zum Teufel, steckt Wade Remmen?«

»Er ist sonst immer hier, Sir. Aber gestern hat er sich krank gefühlt.«

Paul fluchte leise. »Nun gut, Tom, was hältst du davon, wenn du für heute das Kommando übernimmst?« Als der Mann die Stirn runzelte, fügte er hinzu: »Es gibt doppelten Lohn, wenn du genauso viel schaffst wie Wade.«

»Ja, Sir!«

Paul wandte sich an die anderen. »Heute ist Tom für die Mühle verantwortlich. Macht, was er sagt. Dann gibt es bei Sonnenuntergang einen Bonus.«

Schon brüllte Tom seine Befehle.

Was jetzt? Offenbar war er in letzter Zeit zu großzügig gewesen. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass Frederic und John nicht auf der Insel waren und er viel zu tun hatte. Paul war ratlos, wo er jetzt noch suchen sollte. Aber Wade Remmen sollte wissen, dass er nicht nach Gutdünken freinehmen konnte! Er wurde gut genug bezahlt.

Zwanzig Minuten später ritt er am Meer entlang in die Außenbezirke der Stadt. Vor einem der bescheidenen Cottages sprang er vom Pferd und band es an den Gartenzaun. Mit den Blumen vor den Fenstern und der frisch gestrichenen Tür war das Häuschen eindeutig das hübscheste. Trotz seines Ärgers musste Paul lächeln.

Er klopfte und wartete. Dann öffnete sich die Tür … und da stand die junge Frau, mit der er am Ballabend in Fatimas Küche geredet hatte. Aber natürlich! Sie ist ja Wades Schwester! Selbst in diesem einfachen Kleid sah sie hinreißend aus. »Ist Ihr Bruder zu Hause?«, fragte er barsch, um seine Überraschung zu verbergen.

»Ja«, antwortete sie leise.

»Kann ich ihn sprechen?«

»Es geht ihm nicht gut.«

»Ich möchte ihn trotzdem sprechen.« Es wäre schön, wenn sie mich ins Haus bäte.

»Wade hat Fieber. Ich will nicht, dass er gestört wird.«

Paul schnaubte. Das war vermutlich gelogen. Durch ihre Weigerung setzte sie sich ins Unrecht.

Langsam verlor er die Geduld. »Darf ich eintreten?«

Da sie ihn nicht hereinbat, drückte er die Tür mit der Hand auf. Als er den kleinen Raum betrat, der Küche und Wohnzimmer zugleich war, lief sie schimpfend hinter ihm her.

»Wie können Sie es wagen! Dies ist unser Haus! Wenn Sie glauben, dass Sie hier schalten und walten können, nur weil Sie der allmächtige Paul Duvoisin sind, dann haben …«

Paul ging auf eine der Türen zu.

Doch Rebecca flog an ihm vorbei und blockierte den Rahmen mit ausgebreiteten Armen. »Ich habe Ihnen doch gesagt … Wade ist krank! Sie dürfen ihn nicht stören!«

»Miss Remmen! Gehen Sie zur Seite … oder ich trage Sie weg!«

Sie kniff die Lider zu Schlitzen zusammen. »Versuchen Sie es doch!«

Sie war fürwahr ein widerspenstiger Teufel, aber er hatte nicht die Absicht, sich von einem Mädchen herumkommandieren zu lassen … und sei sie noch so hübsch. Mit Schwung hob er sie in die Höhe und setzte sie auf den nächstbesten Stuhl. Sofort sprang sie wieder auf, doch bevor sie die Tür erreichte, hatte er den Raum bereits betreten.

Die Vorhänge waren zugezogen, und im Bett lag jemand und atmete schwer. Als sich Pauls Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte er Schweißtropfen auf Wades Stirn. Seine Lider zitterten, und er redete wie im Delirium. »Er glüht ja!«, rief Paul empört. »Warum haben Sie keinen Arzt gerufen?«

»Ärzte kosten Geld«, flüsterte die junge Frau. »Bitte, gestatten Sie, dass er sich ausruht. Wenn Sie ihn wecken, schimpft er mich!«

»Er schimpft Sie?« Paul war fassungslos. »Er ist doch gar nicht bei sich! Ich zahle Ihrem Bruder einen anständigen Lohn, für den er sich einen Arzt leisten kann!«

»Wade besteht darauf, sein gesamtes Geld zu sparen.« Als Paul sie verständnislos ansah, fügte sie hinzu: »Damit wir nie wieder hungern müssen.«

Beschämt wandte sie sich ab und war froh, als es klopfte. Paul folgte ihr zur Haustür. Auch er freute sich über die Unterbrechung. Es war George.

»Wo bist du gewesen?«, herrschte Paul ihn an.

»Ich habe dich gesucht. Als Wade Bescheid gesagt hat, dass er nicht arbeiten kann, musste einer von uns seine Pflichten übernehmen. Du hast lange vor mir das Haus verlassen, und anschließend habe ich dich auf den Tabakfeldern und in der Sägemühle verpasst …«

»Alles klar, George.« Paul rieb sich den Nacken. George erbot sich, Dr. Hastings zu benachrichtigen, und ehe Paul sichs versah, war er bereits zur Tür hinausgeeilt. Mit ernster Miene sah Rebecca Paul an.

»Auf dem Ball waren Sie sehr viel hübscher.« Er lächelte. »Erinnern Sie sich? In der Küche haben Sie gesagt, dass Sie mich lieben …«

Sie tat, als ob sie nichts gehört hätte. »Ich habe doch gesagt, dass Wade kein Geld für einen Arzt verschwenden will. Wegen Ihnen hat er jetzt Fieber. Ohne Ihre Einmischung ginge es ihm sicher schon besser.«

»Wegen mir?«

»Genau. Er hat gestern stundenlang im Regen gearbeitet … um Ihnen zu helfen. Dabei hat er sich erkältet, und jetzt muss er dafür büßen.«

Aber Paul war mit seinen Gedanken ganz woanders. »Warum haben Sie nicht gesagt, dass Ihr Bruder George Bescheid gesagt hat?«

»Ich dachte, Sie seien deswegen gekommen.« Paul schien verwirrt, also erklärte sie es genauer. »Ich dachte, Sie wollten ihn zur Arbeit zwingen.« Sie senkte den Kopf. »Ich liebe meinen Bruder. Er ist alles, was ich habe.«

»Aus diesem Grund holt George ja auch Dr. Hastings. Machen Sie sich keine Gedanken über das Honorar. Das ist meine Sache.«

»Das gefällt Wade ganz bestimmt nicht.« Sie funkelte ihn an. »Das klingt ja, als ob er Almosen annähme.«

»Hören Sie zu, Miss Remmen. Wenn Ihr Bruder noch ein paar Tage krank ist, kostet mich das weit mehr als das Arzthonorar. Im Augenblick brauche ich Wade dringender denn je. Seine Arbeit ist unersetzlich.«

Als Rebecca ihn zweifelnd ansah, begriff Paul, dass sie ihn nicht richtig verstanden hatte. »Ohne Wade kann ich meine Arbeit nicht bewältigen.« Es faszinierte ihn, wie sich der Ausdruck in den grünen Augen blitzartig veränderte.

Offenbar fand seine Erklärung Rebeccas Beifall. Jedenfalls lächelte sie und sah hinreißender aus denn je. Es war einfach überwältigend.

»Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee oder Tee?« Sie griff nach dem Kessel und stellte ihn aufs Feuer.

»Sehr gern, denn ich möchte noch hören, was der Arzt sagt.«

»Sie glauben doch nicht, dass es ernst ist, oder?«

»Vermutlich haben Sie recht, und Wade wird von ganz allein gesund.«

Sie seufzte und lächelte fast schüchtern. Dann bückte sie sich und stocherte im Feuer. Paul lehnte sich zurück und sah ihr zu.

Dr. Hastings bestätigte Rebeccas Vermutung, dass Wade sich überarbeitet, sich daraufhin erkältet und anschließend Fieber bekommen habe. Bettruhe und gute Ernährung würden ihn schnell wieder auf die Beine bringen. Paul verfügte, dass Rebecca ihn bis Montag pflegen und sofort Bescheid geben solle, falls sich keine Besserung einstellte. Damit verabschiedeten sich George und Paul.

Als sie die Straße erreichten, meinte George: »Rebecca ist in dich verliebt.«

Paul schnaubte nur unwirsch.

»Aber es ist so! Du hättest sie auf dem Ball sehen sollen. Ich habe einige Zeit mit ihr getanzt, aber sie konnte ihre Blicke nicht von dir abwenden! Wenn ich an diesem Abend nicht so beschäftigt gewesen wäre, hätte ich euch bekannt gemacht.«

Wieder schnaubte Paul, aber er sagte nicht, dass Rebecca das selbst besorgt hatte.

Aber George ließ nicht locker. »Immer wenn ich in Wades Cottage komme, bringt sie über kurz oder lang die Sprache auf dich.«

Paul zog die Brauen in die Höhe. »Heute Morgen hatte sie allerdings wenig Freude an mir.«

»Sie kann ganz schön wild werden und macht Wade gehörig das Leben schwer. Aber hübsch ist sie.«

»Und sehr jung, wie mir scheint.«

»Soviel ich weiß, ist sie siebzehn.« Er legte eine kleine Pause ein. »Weißt du was, Paul. Eine kleine Abwechslung würde dich auf andere Gedanken bringen.«

Paul lachte verächtlich. »Beim letzten Mal habe ich dabei genau das verloren, was mir wirklich etwas bedeutet hat.«

»Womöglich war Charmaine gar nicht die Richtige für dich.« George ließ seine Worte einen Augenblick lang wirken. »Über kurz oder lang kommt John wieder nach Hause … dann leidest du erneut an gebrochenem Herzen.«

Paul wandte den Blick ab. »Ist das so deutlich zu merken?«

»Aber ja.«

Paul schüttelte den Kopf. »Kannst du mir vielleicht verraten, wann alles so schwierig geworden ist? Ich denke oft an früher. Damals war das Leben einfach. Wir haben jeden Tag genossen und konnten unter zahllosen Frauen wählen.«

»Ich fürchte, wir sind erwachsen geworden.«

»Da magst du recht haben.«

Als es klopfte, löste sich Rebecca aus ihrem Traum und ging zur Tür. Womöglich kam Paul noch einmal zurück. Sie schwelgte noch in der Erinnerung an gemeinsame Augenblicke und verzog enttäuscht das Gesicht, als sie Felicia Flemmings, das ehemalige Hausmädchen, erblickte.

»Was hat Paul Duvoisin hier verloren?«

»Meinem Bruder geht es nicht gut. Paul hat nach ihm gesehen.«

Felicia schob sich an Rebecca vorbei ins Haus. »Hab ich richtig gehört? Du sagst Paul zu ihm?«

Misstrauisch sah Rebecca die Frau an. Sie mochte sie nicht. Obwohl Felicia ihre Freundschaft suchte, seit sie wieder bei den Eltern im Nachbarhaus eingezogen war. Sicher war ihr Bruder der Grund dafür, dachte Rebecca. Wade sah nun einmal gut aus. Dabei duldete sie die Besuche nur, weil Felicia sich als unerschöpfliche Quelle erwies, was Geschichten über Paul und das Herrenhaus anging. Sie hatte erfahren, dass Felicia den Dienst gekündigt hatte, weil sie Johns Frau nicht ausstehen konnte. Eine Schlampe, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht war und während der Abwesenheit ihres Mannes Paul verführen wollte. »Ich konnte dem Treiben nicht länger zusehen. Armer John.«

Armer Paul, dachte Rebecca.

Felicia schnalzte mit der Zunge. »Wie mir scheint, gefällt dir Paul. Habe ich recht?«

»Ich werde ihn heiraten.«

Felicia klappte vor Staunen der Unterkiefer herunter, bis sie begriff, dass Rebecca es ernst meinte. Sie wartete noch einen Moment, aber als sich Wade nicht blicken ließ, wünschte sie Rebecca viel Glück und verschwand mit einem anzüglichen Lachen.

Rebecca strich den Auftritt der Nachbarin aus ihrem Gedächtnis und gab sich lieber wieder ihren Träumereien hin. Sie stellte sich Pauls kräftige Hände vor, seine Arme, die sie einfach in die Höhe hoben … Sie war allein, und ihr Bruder schlief tief und fest. Wie in Trance ging sie in ihr Schlafzimmer und schloss mit klopfendem Herzen die Tür.

Freitag, 28. September 1838

Yvette und Jeannettes zehnter Geburtstag dämmerte herauf und versprach strahlend schön und warm zu werden. Trotzdem stand Charmaine missgestimmt auf. Mit schwerem Herzen dachte sie an das vergangene Jahr und fragte sich, wo John gerade war und wie es ihm ging. Ob er wusste, welcher Tag heute war? Dachte er auch an ihr wundervolles Picknick, das gerade ein Jahr zurücklag?

Selbst die Zwillinge wirkten bedrückt und fragten nicht einmal nach Geschenken. George und Mercedes erwarteten sie bereits am Frühstückstisch. »Was sind denn das für traurige Mienen?«, wunderte sich George. »Am Geburtstag muss man doch fröhlich sein!«

»Uns ist nicht nach Feiern zumute«, brummelte Yvette. »Jedenfalls nicht ohne Johnny!«

»Ist das wahr? Mercedes und ich dachten eigentlich, dass ihr die neuen Sättel und das Zaumzeug ausprobieren wolltet, die Paul für die Ponys gekauft hat.« George grinste, als die Traurigkeit der beiden schnell verflog. »Ja, genau. Mercedes hat die Sachen bestellt, und ich habe mir den heutigen Tag für euch frei genommen.«

Ein erstes Glücksgefühl spiegelte sich in den Augen der Mädchen, und kurze Zeit später waren sie bereits unterwegs. Da Charmaine ihnen nicht Gesellschaft leisten konnte, setzte sie sich zu Rose auf die Veranda und dachte an John. Morgen würde er zusammen mit seinem Vater seinen Geburtstag begehen …

Montag, 1. Oktober 1838

Aus den Tagen wurden Wochen. Frederic und Father Michael suchten die Postämter und Hafenbüros auf und durchkämmten endlose Register und Einwandererlisten nach dem Namen Blackford. Und das, obgleich ihnen der gesunde Menschenverstand sagte, dass der Mann vermutlich seinen Namen geändert hatte. Aber da sie nicht sicher sein konnten und nichts in der Hand hatten, waren sie versucht, jeden Blackford, Black oder Ford und am liebsten auch noch jeden Smith, Jones oder Brown zu verfolgen, der ihnen in die Finger geriet. Frederic machte seinen Einfluss bei den Inhabern der Schifffahrtsunternehmen geltend, um ihre Passagierlisten einsehen zu dürfen. Aber in den letzten Wochen hatte kein Blackford New York verlassen. In den Postämtern dagegen waren zwar eine Menge Blackfords, Blacks und Fords bekannt, aber ohne genaue Adressen konnten sie nur ungefähr die Gegend ermitteln, wo diese Personen wohnten. Frederic und Michael verbrachten zahllose Stunden auf den zentralen Plätzen der Stadt oder wanderten durch die Straßen, in der Hoffnung, zufällig auf den flüchtigen Doktor zu stoßen. Sie gingen auch den allerkleinsten Hinweisen nach und warteten manchmal einen ganzen Tag, bis der Bewohner erschien, um danach enttäuscht nach Hause zurückzukehren.

John trieb sich in der Kleidung eines gewöhnlichen Hafenarbeiters auf Kais und Werften herum, oder er besuchte die Handelsvertretungen und die Textilfabriken auf der East Side, unterhielt sich mit den Arbeitern und hörte sich in allen Tavernen und auch in übel beleumundeten Häusern um. Er fragte sogar Passanten, ob sie einen Mann gesehen hatten, auf den Blackfords Beschreibung passte, oder ob sie jemanden mit diesem oder ähnlich klingendem Namen kannten. Er erkundigte sich auch bei den örtlichen Ärzten nach Kollegen mit den Namen Black, Ford, Smith oder Brown. Dabei durchstreifte er sowohl die besseren Viertel mit Stadthäusern aus Backstein als auch die ärmeren Quartiere südlich der Wall Street.

John mochte die verschiedenen Gesichter dieser Stadt: die Immigranten, die den Schiffen entstiegen, die Arbeiter in den Fabriken oder die Hafenarbeiter, die nach zwölf Stunden harter Arbeit zum Dinner nach Hause gingen. Er sah Kinder in den Straßen spielen und beobachtete deren Mütter, die die Wäsche in hölzernen Zubern wuschen und im Hof zum Trocknen aufhängten. New York war der Traum all dieser Menschen, und er genoss das Leben in ihrer Mitte, obgleich ihn das Schicksal sehr viel mehr begünstigt hatte als sie. Alle arbeiteten mit großem Fleiß, nachdem sie sich aus der chancenlosen Existenz in der Heimat befreit hatten, und John war überzeugt, dass die Stadt einst zu den Juwelen in der Krone des Landes gehören würde. Außerdem war New York durch den Erie-Kanal ein Tor zum Westen und zog Händler magnetisch an.

An diesem Abend saß John an seinem Pult und schrieb an Charmaine. In der Eile des Aufbruchs hatte er ihr nicht einmal seine Adresse hinterlassen. George kannte sie zwar, aber John wollte sichergehen, dass Charmaine sie ebenfalls besaß. Es war die reinste Ironie, dass sein Vater heute hier in seinem Haus saß. Bisher hatte er seine Adresse immer wie ein Geheimnis gehütet, um eines Tages mit den Kindern und Charmaine ein neues Leben beginnen zu können. Hier in New York hätte sie niemand aufgespürt. Nicht einmal Frederic. Im vergangenen Jahr hatte sich George auf der Suche nach ihm viele Wochen in den Büros der Duvoisins herumgetrieben, bis John eines Tages zufällig vorbeigekommen war.

Seit seinem letzten Brief an Charmaine war inzwischen ein ganzer Monat ins Land gegangen. Den nächsten hatte er von Tag zu Tag hinausgezögert, in der Hoffnung, ermutigende Neuigkeiten berichten zu können. Zumindest konnte er ihr schreiben, dass sie inzwischen einen Blackford nach dem anderen ermittelt und ausgeschlossen hatten. Außerdem war er unruhig und freute sich auf Neuigkeiten aus Charmantes. Gleich morgen wollte er den Brief zusammen mit der übrigen Post nach Richmond auf den Weg bringen, damit Stuart ihn dem nächsten Segler der Duvoisins nach Charmantes übergab.

Im Wohnraum war es kühl geworden. Er stand auf, um neue Scheite in die Glut zu schieben. Dabei stoben die Funken wie kleine Feuerwerke empor. Michael und Frederic hatten es sich in den Sesseln zu beiden Seiten des Kamins bequem gemacht.

In der Stille beobachtete Frederic seinen Sohn, der schon den ganzen Tag über sehr nachdenklich schien. Vor einem Jahr war Pierre gestorben, und ganz offensichtlich war John in Gedanken bei ihm.

Sein Blick wanderte zu einer kleinen Zeichnung am Sims, auf der fünf Personen am Strand abgebildet waren. Ich habe Mama und Pierre umarmt und geküsst, wie du gesagt hast, hatte Jeannette daruntergeschrieben. Unwillkürlich musste Frederic an Yvettes Zeichnung im Stadthaus denken und neigte bekümmert den Kopf.

»All die leeren Häuser, John … in Richmond und auch hier. Niemand wohnt hier …«

Michael sah von seiner Bibel auf, und John drehte sich vom Kamin zu seinem Vater um. »Ich bin häufig in Richmond und auch in New York, Vater, und ich wohne lieber in einem Haus als in einem Hotel.« Er wunderte sich, was seinen Vater auf diese Gedanken gebracht hatte.

»Du wolltest sie hierherbringen, nicht wahr? Hast immer gehofft, eines Tages hier mit ihnen leben zu können?«

Michael erhob sich, um sich zurückzuziehen.

»Bleiben Sie ruhig hier, Michael.« John sah seinen Vater an und staunte über seinen Scharfsinn. Er lehnte sich gegen den Sims und starrte in die Flammen. Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er seinen Vater und ahnte das tiefe Bedauern, das dieser Mann mit sich herumtrug. Wenn er die Zeit bis zu dem verhängnisvollen Tag vor fünf Jahren zurückdrehen könnte, dem Tag ihres Streits, an dem er den Anfall erlitten hatte, würde er Colette freigeben, damit sie weiterlebte. Mit einem Mal wurde ihm alles klar. Frederic hatte Colette nicht bei sich haben wollen, um ihn zu strafen oder Rache zu üben … Er hatte sie bei sich haben wollen, weil er sie liebte und es nicht ertragen hätte, sie gehen zu lassen. Inzwischen jedoch bereute er sein Handeln und sehnte sich nach nichts mehr als nach Vergebung. Aber weit und breit war keiner da, der ihn getröstet oder seinen Schmerz verstanden hätte.

Es war mucksmäuschenstill geworden, und die Minuten schlichen dahin.

»Als ich nach Pierres Tod nach Richmond zurückfuhr«, begann John, »habe ich mich Millionen Mal gefragt, warum ich ihn nicht besser beschützt habe. Wie konnte ich ihn nur allein lassen? Ich hätte wissen müssen, dass er nach mir suchen würde, wenn er aufwacht. Beim Dinner hatte er es sogar angekündigt! Ich hätte es voraussehen müssen!«

Er seufzte, um den Schmerz in seiner Brust einzudämmen. »Auch in der Nacht, als er starb, war ich nicht an seiner Seite! Charmaine hat mich damals gesucht und es mir gesagt. Sie war ebenso verzweifelt wie ich. Sie hätte mir Vorhaltungen machen können, aber das kam ihr nicht in den Sinn. Stattdessen stand sie mir bei. Noch Monate später, als ich nicht mehr leben wollte, habe ich mich an ihre Worte geklammert …«

Dann richtete er sich auf und fuhr fort: »Nein, Pierre hat nicht nach mir gesucht«, sagte er mit rauer Stimme. »Aber wenn ich ihn ernst genommen hätte, hätte ich den Raum nicht verlassen, und Blackford hätte keine Chance gehabt! Manchmal passieren die Dinge direkt vor deiner Nase … ganz offen … und trotzdem siehst du es nicht.« Er blickte Frederic an und suchte nach Worten. »Auch Colettes Tod war nicht deine Schuld, Vater. Ich war unendlich wütend, als ich herausfand, was geschehen war. Aber ich hätte dich niemals dafür verantwortlich machen dürfen! Agatha und Blackford waren die Schuldigen, aber nicht du!«

Er kehrte zum Schreibtisch zurück und griff nach der Feder.

Verblüfft wandte Michael den Kopf und wurde von Stolz erfüllt, als er die Erleichterung und Hoffnung auf Frederics Gesicht bemerkte. Charmaines Einfluss hatte diesen verwundeten Seelen den Weg gewiesen! Er war so glücklich wie seit drei Jahren nicht mehr. Marie war nicht mehr da, doch ihre Großmut und ihr Mitgefühl lebten fort. Aus diesem Grund war er Priester geworden und trotz aller Selbstzweifel geblieben. Er schloss die Augen und schickte ein Dankgebet zum Himmel.

Dienstag, 2. Oktober 1838

Als Jeannette den Wagen kommen hörte, lief sie auf den Balkon, und ihre Schwester rannte hinterher. Charmaine blieb das Herz stehen, und das Baby versetzte ihr einen kräftigen Tritt. Aber dann eilte auch sie durch die Glastüren hinaus. John! Er ist verletzt, und sie bringen ihn im Wagen nach Hause, weil er nicht mehr … Sie weigerte sich, den schrecklichen Gedanken zu Ende zu denken.

Ein unbekannter Wagen bog in die Einfahrt ein. Sie starrte diesen einen Augenblick an, aber dann fasste sie sich und folgte den Zwillingen nach unten. Sie traten gerade auf die Veranda hinaus, als die Tür des Wagens aufsprang und Joshua Harrington herauskletterte und sich umdrehte, um seiner Frau beim Aussteigen zu helfen.

»Mrs Harrington!« Völlig überrascht, erleichtert und ein klein wenig enttäuscht, schnappte Charmaine nach Luft. »Mr Harrington! Welch eine Überraschung!« Sie rannte die Stufen hinunter und fiel Loretta um den Hals.

»Meine liebe Charmaine!« Loretta standen die Tränen in den Augen, als sie die junge Frau auf Armeslänge von sich hielt und sie von Kopf bis Fuß betrachtete. »Es ist also wahr!«

Charmaine errötete. »Ja, es ist wahr! Haben Sie denn meinen Brief nicht bekommen?«

Loretta schüttelte den Kopf, aber das Glück in Charmaines Augen sagte ihr, dass es offenbar nicht so schlecht stand, wie ihr Mann und sie befürchtet hatten.

Yvette und Jeannette traten nach vorn und wurden mit den Besuchern bekannt gemacht.

Charmaine schnalzte mit der Zunge. »Wo sind nur meine Manieren? Sie hier in der prallen Sonne stehen zu lassen! Kommen Sie ins Haus! Drinnen ist es angenehm kühl.«

Joshua wollte das Gepäck entladen, aber Charmaine tadelte ihn. »Lassen Sie das, Mr Harrington! Travis wird ihr Gepäck nach oben bringen.«

Sie führte ihre Gäste ins Haus und bat Travis, die Sachen der Harringtons hereinzuholen. »Bringen Sie das Gepäck in Master Johns früheres Zimmer. Dort haben sie es bequem.«

Der Mann nickte und lächelte. »Sehr wohl, Miss Charmaine.«

Loretta und Joshua wechselten erstaunt einen Blick. Charmaine war wahrlich zu einer Mrs John Duvoisin gereift. Aber war Frederics Frau Agatha mit dem Benehmen der jungen Frau auch einverstanden? Sie ließen sich im Wohnraum nieder, und Charmaine läutete nach einer Limonade. Mit leuchtenden Augen setzte sie sich zu Loretta aufs Sofa und konnte noch immer nicht ganz glauben, dass die beiden wirklich hier waren. »Was hat Sie denn nach Charmantes geführt?«

»Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht«, begann Loretta und sah zu den Mädchen hinüber.

Charmaine verstand den Hinweis. »Da wir unverhofft Gäste haben, sollten wir den Unterricht für heute ausfallen lassen, nicht wahr?«

Die Zwillinge waren nur zu gern damit einverstanden. »Dürfen wir in den Stall und die Ponys pflegen?«, fragte Jeannette, und als Charmaine nickte, liefen die Mädchen überglücklich davon.

»Sie lieben Sie sehr«, bemerkte Loretta, als die beiden draußen waren.

»Und ich sie genauso«, flüsterte Charmaine. »Oh, ich kann es immer noch nicht glauben! Ich bin so froh, dass Sie hier sind! Hat Gwendolyn Sie begleitet? Besucht sie ihre Eltern?«

»Nein, nein. Sie ist bei unserem Hausdiener in Richmond geblieben. Damit Cal sich nicht so allein fühlt, wie sie sagt. Aber der wahre Grund ist natürlich Mr Elliot. Er macht ihr seit einiger Zeit eifrig den Hof.«

Charmaine musste kichern, als sie sich die Romanze vorstellte.

»Geht es Ihnen wirklich gut?« Loretta beugte sich ein wenig vor und tätschelte Charmaines Hand.

Der besorgte Unterton war nicht zu überhören. »Zu Beginn meiner Schwangerschaft war mir immer übel, aber das ist inzwischen vorbei.«

Erleichtert sahen Joshua und Loretta einander an.

»Joshua hat John in Richmond getroffen«, bemerkte Loretta.

»Ja, das weiß ich. John hat mir geschrieben, dass Sie sich in der Bank getroffen haben.« Sie sah Joshua an und dann zu seiner Frau und bemerkte den Blick, den die beiden wechselten. »Es geht mir wirklich gut, Mrs Harrington. Ich habe keine Ahnung, was Sie gehört haben, aber es geht mir bestens.«

»Und sind Sie auch glücklich?«, fragte Joshua noch einmal nachdrücklich.

Charmaine neigte den Kopf und versuchte, in seinen Augen zu lesen. »Ja, ich bin glücklich …«

»Aber?«, fragte Loretta.

»Aber ich vermisse meinen Mann«, hauchte Charmaine.

»Und Sie sind wirklich nur wegen Ihrer Übelkeit nicht mit nach Richmond gefahren?«

»Das war nicht der einzige Grund«, räumte Charmaine ein. »Außerdem ist John gar nicht mehr dort. Er ist inzwischen nach New York weitergereist.«

Loretta wollte die junge Frau wahrlich nicht beunruhigen, aber sie war entschlossen, die dummen Gerüchte ein für alle Mal aufzuklären. »In Richmond wird über Ihre hastige und völlig überraschende Hochzeit mit Mr Duvoisin getuschelt.«

Charmaine wurde ärgerlich. »Und was sagen die Leute?«

»Es geht nicht darum, was sie sagen, sondern was sie andeuten. Ich sage es nicht gern, aber hinter jedem Gerücht lauert oft ein Stück Wahrheit.« Als Charmaine schwieg, sprach sie weiter. »Hat man Sie gezwungen, diesen Mann zu heiraten?«

»Aber nein!« Charmaine war sprachlos. Offenbar hatten die Gerüchte die Harringtons hierhergetrieben. »Ich habe mir John doch ausgesucht! Er ist meine große Liebe.«

Loretta war mit der begeisterten Antwort zufrieden, aber nicht so ihr Ehemann. »Warum lässt er Sie dann ausgerechnet in dieser schwierigen Zeit allein?«

Charmaine sah auf ihre Hände hinunter, die sie auf dem Schoß gefaltet hatte. »Vor einem Monat ist hier etwas ganz Schreckliches passiert.« Und dann berichtete sie den beiden von den Mordfällen.

»Aber warum sind John und sein Vater gemeinsam hinter diesem Arzt her?«, fragte Joshua. »Ich dachte immer, dass sich die beiden nicht gut verstehen.«

Charmaine suchte mühsam nach Worten, weil sie unmöglich die Wahrheit sagen konnte. Aber Loretta verstand auch so, dass noch sehr viel mehr hinter dieser Geschichte steckte.

»Aber, aber, liebe Charmaine«, wiegelte sie ab. »Wir wollten Sie keinesfalls aufregen.« Sie sah ihren Mann warnend an. »Außerdem ist das nicht gut für das Kind. Ich würde mich gern ein wenig frisch machen und etwas ausruhen. Die Reise war doch sehr ermüdend. Würden Sie uns bitte unser Zimmer zeigen?«

»Aber natürlich.« Charmaine war für Lorettas Verständnis sehr dankbar. »Wie lange können Sie denn bei uns bleiben?«

»So lange, wie es Ihnen behagt«, bot Loretta in überschwänglicher Liebe an.

»Dann auf jeden Fall, bis das Baby geboren ist«, sagte Charmaine.

Loretta sah ihren Mann an. »Ich bin sicher, dass wir das einrichten können, nicht wahr, Joshua?«

Montag, 15. Oktober 1838

Johns zweiter Brief an Charmaine kam im Lagerhaus der Familie Duvoisin in Richmond an, und einer der Angestellten bezahlte die Beförderungsgebühr. Als er den Hinweis An Stuart Simons weiterleiten las, warf er den Umschlag auf einen größeren Stapel, der bereits auf Stuart wartete. Man rechnete erst in ungefähr zwei Wochen wieder mit ihm.

Freitag, 26. Oktober 1838

Der Juwelier reichte John den Ring, damit er ihn näher in Augenschein nehmen konnte. Er hatte ihn genau nach den Wünschen seines Kunden angefertigt, was nicht ganz einfach gewesen war, da Mr Duvoisin auf einem lupenreinen Diamanten von mindestens drei Karat bestanden hatte. Der Mann sah zu, wie John den Ring nach allen Seiten drehte und begutachtete. Selbst in diesem halbdunklen Raum funkelte er mit einem unglaublichen Feuer. Er saß auf einem breiten schmucklosen Band, auf dessen Innenseite My charm – in LiebeJ.D. graviert war.

Der Juwelier sah, dass sein Kunde zufrieden war. Er legte den Ring zurück in die Schachtel, und John zahlte in bar, ließ die Schachtel in eine Tasche seines Mantels gleiten und trat in den trüben Tag hinaus.

Seit ihrer Ankunft in New York waren bereits zwei Monate vergangen, und doch waren ihre Bemühungen bisher ohne Ergebnis geblieben. In letzter Zeit hatte sein Vater einige Male davon gesprochen, die Suche in London oder Liverpool fortzusetzen, da Blackfords Wurzeln in England lagen. Aber John hatte darauf bestanden, weiterhin in New York zu suchen. Seiner Meinung nach konnte sich Blackford nirgendwo so gut verstecken wie hier. Außerdem bot sich ihm in dieser Stadt dank der vielen Immigranten eine Menge Arbeit. Was Johns Meinung in dieser Sache anging, so verließ er sich einzig auf sein Gefühl, das Nacht für Nacht durch seine Träume bestätigt wurde.

Er ging zu Fuß zum Postamt. Vor einigen Tagen hatte er einen Brief von Charmaine erhalten und mit Erleichterung die Neuigkeiten aus Charmantes zur Kenntnis genommen. Vor allem die wichtigste Nachricht, dass Agatha tot war. Eine Sorge weniger, die ihm zu schaffen machte. Den Zwillingen ging es gut, und Mercedes war schwanger. Aber am meisten freute ihn, dass ihm Charmaine seine überstürzte Abreise inzwischen verziehen hatte. Sie schrieb, dass sie die Bewegungen des Kindes spüren konnte, und er sehnte sich danach, diesen Kreuzzug endlich zu beenden und nach Hause zurückzukehren. Er vermisste das alles so sehr. Im heutigen Brief musste er allerdings eingestehen, dass sie noch immer nichts Neues über den Aufenthaltsort seines Onkels erfahren hatten. Dennoch war er voller Zuversicht, sie bald wieder im Arm zu halten.

Auch diesen Umschlag hatte er an Stuart Simons in Richmond adressiert. Da Pauls Schiffe mindestens ein Mal im Monat dort anlegten, war er sicher, dass Charmaine den Brief spätestens Anfang Dezember erhalten würde.

»Wunderschön«, sagte Michael, als er ihm am Abend den Ring zeigte.

»Ich weiß, was Sie denken: Ich hätte das Geld lieber den Armen geben sollen, nicht wahr?«

»Aber nein, John. Charmaine verdient so etwas Schönes.« Er drehte das Schmuckstück in der Hand. »Sie wird sehr glücklich sein.«

John lächelte, als Michael die Gravur las. »My charm?«, fragte er.

John grinste, und seine Augen leuchteten. »Das ist mein Spitzname für sie. Früher hat sie es gehasst, wenn ich sie so genannt habe. Doch ich mochte, wenn ihre Augen blitzten. Genau wie Maries Augen«, sagte er versonnen.

Michael nickte. »Ich erinnere mich gut an diesen Blick …«, sagte er leise.

Er gab den Ring zurück, und John verschloss ihn in seinem Schreibtisch. »Falls mir etwas zustößt, Michael, dann sorgen Sie bitte dafür, dass Charmaine ihn erhält.«

Angesichts dieser düsteren Worte wurde Michaels Herz schwer.

November 1838

Da es auf Charmantes kein Gefängnis gab, hatte Father Benito Giovanni die letzten beiden Monate im Keller unter dem Versammlungshaus zubringen müssen. Im Lauf der Jahre hatte der Raum schon den verschiedensten Zwecken gedient, und so hatte Paul Benito nach einigen Tagen dort einsperren lassen, um ihn besser unter Aufsicht zu haben.

Das Gebäude lag auf einem kleinen Hügel, sodass die Besucher der sonntäglichen Messe acht Stufen bis zu einer hölzernen Plattform emporsteigen mussten, von der aus man in den großen Raum gelangte. Innen führte in einem Schacht eine Treppe in den dunklen Keller hinab, wo man verderbliche Dinge lagern konnte. Der Raum war niedrig, und der Fußboden bestand aus gestampftem Erdreich. Die soliden Felsbrocken der vorderen Wand waren mit Mörtel verfugt, während die rückwärtige Wand aus Ziegelsteinen bestand, die direkt ins Erdreich des Hügels eingebettet waren. Davor standen drei hohe Regale, auf denen Wein, Gemüse und exotische Früchte lagerten. Entzückt stellte Benito fest, dass das hinterste Regal zwei Fuß breit von der rückwärtigen Mauer entfernt stand. Der Zwischenraum war zwar eng, aber immerhin so breit, dass man dahinterkriechen konnte.

In den ersten beiden Wochen hatte Benito tagtäglich sein Pech verflucht. Sein Plan, die Insel am Jahresende zu verlassen, war in weite Ferne gerückt. Er hatte zwar einen möglichen Verrat bei seinen Plänen berücksichtigt, doch als Blackford verschwand und Agatha von der Insel verbannt wurde, schien die Gefahr vorüber. Mit dieser Entwicklung hatte er jedoch nie und nimmer gerechnet. Bevor er die Insel jetzt verlassen konnte, musste er sich erst einmal aus dieser Zelle befreien. Solange ihm genügend Zeit blieb, hatte er eine Chance. Keine zwei Wochen später stand sein Plan fest.

George oder Paul sahen zweimal in der Woche nach dem Rechten. Manchmal öffneten sie die Tür, doch wenn er sie nur auf der anderen Seite reden hörte, wusste er, dass draußen ein Mann auf Posten stand. John und Frederic hatte er seit den ersten Tagen nicht mehr gesehen und konnte nur vermuten, dass sie die Insel verlassen hatten und nach Blackford suchten. Was genau aus Agatha geworden war, wusste er nicht, und er fragte sich öfter, wie ihre Machenschaften ans Tageslicht gekommen waren.

Zweimal am Tag bekam er etwas zu essen: früh am Morgen und dann wieder ungefähr um fünf Uhr. Um diese Zeit wurde auch sein Nachttopf geleert und gereinigt. Sie hatten Buck Mathers vom Hafendienst abgezogen und mit der Betreuung des Gefangenen beauftragt. In seiner Gegenwart einen Fluchtversuch zu wagen wäre Giovanni nie in den Sinn gekommen. Stattdessen nutzte er die Zeit für kurze Gespräche, um mit dem Mann Kontakt aufzunehmen und sein Vertrauen zu gewinnen. Buck war fromm und besuchte mit seiner Frau und seinen fünf Kindern regelmäßig die Messe. Genau wie die anderen Inselbewohner konnte auch er kaum glauben, dass man einen Priester der Erpressung beschuldigte. Der Erpressung wegen zweier Mordfälle, wohlgemerkt.

»Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte«, sagte Benito eines Abends zerknirscht.

Buck sah von seinem Stuhl herüber, den er direkt an der Tür postiert hatte.

»Frederic Duvoisin muss doch wissen, dass ich an das Beichtgeheimnis gebunden bin.« Verstohlen sah er zu Buck hinüber und freute sich über den verdutzten Gesichtsausdruck des Schwarzen. »Die Beichte seiner Frau zu hören hat mich sehr geschmerzt, aber ich durfte ihre schreckliche Sünde doch nicht enthüllen!«

»Nach allem, was ich weiß, gab es keine Beichte«, erwiderte Buck kurz angebunden. »Sie haben Agatha Duvoisin erpresst.«

»Es betrübt mich, das sagen zu müssen, aber sie war eine hinterhältige Person. Ich dachte, sie wolle mir Geschenke machen, um ihr Gewissen zu beruhigen. Wenn ich geahnt hätte, dass sie mich nur in die Sache hineinziehen wollte …«

Eine ganze Woche lang sagte er nichts mehr, damit Buck sich die Bemerkungen in Ruhe durch den Kopf gehen lassen konnte.

Dann stahl er eines Tages einen Löffel vom Tablett und freute sich, als die Sache unentdeckt blieb. Abends überlegte er, wo er graben solle und wie er das Loch verbergen könne. Mit Hilfe des Löffels legte er den untersten Stein der kaum befestigten Mauer frei, woraufhin sich weitere Steine wie Maschen in einem Strickzeug lockerten. Als das Loch groß genug war, fügte er die Steine wieder sorgfältig ein. Damit man das Loch nicht entdeckte, musste er zuerst die Anordnung der Gegenstände auf dem Regal verändern. Am ersten Tag verrutschte er einen Sack mit Früchten, am nächsten einige Einmachgläser, dann einen Eimer oder einen Korb, bis die Stelle langsam, aber unmerklich vollkommen verdeckt war. Dann grub er stundenlang im kümmerlichen Licht, das durch das winzige Gitterfenster in der Felsenmauer hereindrang, und beendete die Arbeit eine halbe Stunde, bevor Buck ihm das Essen brachte. Er füllte einen Eimer bis zum Rand, verteilte die Erde anschließend gleichmäßig auf dem Boden und trampelte sie fest. Er konnte nur beten, dass er durchbrach, bevor seine Zeit ablief.

Seine ehrliche Reue hatte ihm Bucks Sympathie eingetragen, und wenn er ihm das Essen brachte, konnte Giovanni hin und wieder sogar so etwas wie Mitgefühl in seinen Augen lesen. Inzwischen unterhielt sich der schwarze Mann ganz normal mit ihm. So erfuhr der Priester, dass Frederic und John auf der Jagd nach Blackford Charmantes verlassen hatten. Paul trug die Verantwortung für die Insel, und Agatha hatte angeblich Selbstmord begangen, wie man sich erzählte.

Es konnte Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis Blackford gefunden war. Also hatte er vermutlich Zeit genug, um sich aus dem Gefängnis herauszugraben, seine Juwelen einzusammeln und die Insel mit Hilfe des kleinen Boots zu verlassen, das er in der Nähe seines Häuschens im Wald versteckt hatte. Falls Paul die Flucht entdeckte, bevor er der Insel den Rücken kehrte, würde er zuerst im Hafen nach ihm suchen. Aber Giovanni hatte alles sorgfältig geplant. Bei dem Ruderboot befand sich auch eine Seekarte, und das nächste unbewohnte Land war das winzige Esprit, das sich in einem halben Tag erreichen ließ. Dort würde niemand nach ihm suchen, und mit den Einmachgläsern voller Trinkwasser und Nahrung, die er dort verstaut hatte, konnte er, wenn nötig, mindestens vierzehn Tage überleben. Von Esprit aus waren die bewohnten Inseln der Bahamas bei gutem Wind in sechs Ruderstunden zu erreichen. Dort konnte er sich unter die Bevölkerung mischen und bei günstigen Gegebenheiten in die Zivilisation weiterreisen. Er brauchte nur eine ruhige See und etwas Glück. Dank Agathas Gaben konnte er außerdem dem Priestertum endlich Adieu sagen.

Donnerstag, 15. November 1838

John träumte. Er war zu Hause – auf Charmantes – in seinem Zimmer. Colette stand an den französischen Türen und lockte ihn: Diesmal folgte er ihr hinaus auf den Balkon, quer über die Wiesen hinter dem Haus und weiter zum Wald und dann den kleinen Fußweg entlang zum See.

Er stand schon am Ufer, als er begriff, dass Colette nicht mehr da war und er nur noch ihren zarten Lilienduft wahrnahm. Eine dunkle gesichtslose Gestalt beugte sich außerhalb seiner Reichweite über das Wasser. Obwohl die Sonne hoch am Himmel stand, war alles in Dunkelheit getaucht. Lichtblitze zuckten über das unruhige Wasser.

Dann sah er das Boot, das gefährlich schaukelte, und den Jungen darin. Wie vorauszusehen, kenterte es, und der Junge fiel ins Wasser. Er wollte loslaufen, um Pierre zu retten, doch er konnte seine Füße nicht bewegen. Als ob ihn Wurzeln am Boden festhielten. Er hatte keine Sekunde zu verlieren und konnte doch nur entsetzt und hilflos zusehen. Verzweifelt schaute er zu dem gesichtslosen Wesen hinüber, wie es sich immer weiter entfernte und sich schließlich zwischen den Stämmen verlor.

Erschrocken schoss er in die Höhe, als ein markerschütternder Schrei den Albtraum beendete. Er sprang aus dem Bett und rannte über den Flur zu Frederics Zimmer. Als er nach dem Türknauf griff, wurde die Tür bereits aufgerissen.

Verschlafen sah Frederic ihn an. »Was ist los?«

»Ich habe dich schreien hören.«

»Nein, ich habe dich gehört!«

»Ich habe nicht geschrien«, widersprach John. »Vielleicht war es Michael.« Er ging den Flur entlang, aber der Priester schnarchte laut und vernehmlich. »Vielleicht haben wir sein Schnarchen gehört«, meinte er und schloss geräuschlos die Tür. »Oder die Fenster klappern.« Damit kehrte er in sein Zimmer zurück.

Frederic folgte ihm. »Ich habe von Pierre geträumt«, sagte er leise. John blieb wie angewurzelt stehen. »Zuerst war er am See«, fuhr sein Vater fort. »In einem Boot, aber es war sehr dunkel. Das Boot kenterte …« Seine Stimme brach.

»Und?«, drängte John.

»Ich war machtlos, ich konnte ihn nicht erreichen, genau wie an dem Morgen, als Blackford …«

»Hast du das schon vorher geträumt?«

»Nein, nein. An dem Morgen, als Blackford Pierre entführt hat, war ich hellwach. Colette war bei mir und hat mich auf den Balkon gelockt, aber dann löste sie sich plötzlich in Luft auf. Ich dachte schon, ich würde verrückt … bis ich eine Bewegung am Waldrand bemerkte. Plötzlich packte mich entsetzliche Furcht. Deshalb habe ich doch Paul zum See geschickt.«

Bestürzt starrte John seinen Vater an. Bisher hatte er keine Ahnung gehabt, warum sein Bruder zum See gerannt war, und hatte angenommen, dass Charmaine Paul alarmiert hatte, als Pierre nicht im Kinderzimmer war. John war zutiefst verwirrt und wollte gern in sein Zimmer zurück. Doch Frederic hielt ihn auf. »Die Geschichte geht noch weiter.«

Mit gerunzelter Stirn hob John langsam den Kopf.

»Der Traum änderte sich. Plötzlich war ich hier in New York. Und dann habe ich Pierre gesehen, ganz allein auf einer Straße zwischen vielen Menschen. Als ich ihn packen wollte, war er in der Menge verschwunden.«

Ungläubig starrte John ihn an. »Und dann?«

»Ich habe Öfen gesehen und Flammen … brennende Kohle. Ich dachte, ich würde hineinfallen. Vielleicht habe ich deshalb im Schlaf geschrien.«

John bekam Gänsehaut an den Armen. »Woran erinnern dich brennende Kohlen, um Himmels willen?«

»Warum?«

»Weil ich genau dasselbe geträumt habe!«

Frederics Augen weiteten sich. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Aber später, als er wieder in seinem Bett lag, kam ihm die Erinnerung zu Hilfe.

Kohlen … coal … brennen … burn …

Coleburn war Elizabeths Mädchenname.

Freitag, 16. November 1838

Stuart Simons fluchte vernehmlich, als er im Lagerhaus nicht nur einen, sondern sogar zwei Briefe von John vorfand, die an ihn adressiert waren. Krankheitsfälle sowohl auf Freedom als auch auf Wisteria Hill hatten ihn mehr als einen Monat lang daran gehindert, nach Richmond zu fahren. Dabei hatte er zuvor ausdrücklich Anweisung gegeben, dass jeder Brief von John Duvoisin geöffnet und gegebenenfalls nach Charmantes weitergeschickt werden sollte. Er war ein wenig erleichtert, als er Johns Briefe an ihn las und erfuhr, dass inzwischen nichts Neues passiert war. John wollte nur sicherstellen, dass die beiliegenden Briefe seine Frau erreichten. Zum Glück musste sie nicht mehr allzu lange warten, denn das Schiff nach Charmantes wurde jeden Tag im Hafen erwartet.

Stuart lächelte. Im Gegensatz zu Johns Suche war seine eigene erfolgreicher verlaufen. Vor knapp zwei Monaten war John Ryan plötzlich aufgetaucht.

Samstag, 1. Dezember 1838

In weniger als zwei Wochen hatte Charmaine Geburtstag, und die Zwillinge wollten ihr etwas »Besonderes« schenken, wie sie sich ausdrückten. Paul war bereit, mit ihnen in die Stadt zu fahren. Charmaine wollte nicht mitkommen, weil sie sich in ihrem Zustand nicht gern in der Öffentlichkeit zeigte. »Ich ruhe mich lieber aus. Ich habe in der letzten Nacht nicht gut geschlafen.«

Als Loretta ihre Besorgnis äußerte, konnte Charmaine sie jedoch beruhigen. »Ich habe in einem fort geträumt. Meine Mutter war bei mir«, sie lachte, »und hat ausgerechnet über John geredet.«

Nachdem sich Paul mit den Mädchen auf den Weg gemacht hatte, sann sie noch eine Weile über ihre Träume nach und fragte sich, was sie wohl bedeuteten. Seit Johns erstem Brief vor zehn Wochen hatte sie keine Antwort mehr auf ihre Briefe erhalten, und je mehr Tage vergingen, desto intensiver quälten sie die Sorgen. Loretta schickte ihren Mann mit George fort, sodass Charmaine und sie den ganzen Nachmittag über ungestört blieben. An diesem Nachmittag erfuhr Loretta alles über John und den größten Teil dessen, was sich auf Charmantes abgespielt hatte.

Beim Verlassen des Mietstalls legte Paul seinen Schwestern die Arme um die Schultern, und dann spazierten sie die Hauptstraße entlang und genossen trotz der frischen Brise den wunderbaren Sonnenschein.

»Sonntage ohne Messe sind doch viel schöner, nicht wahr?«, bemerkte Yvette.

Paul zog zweifelnd eine Braue in die Höhe. »Zum Glück hat Charmaine das nicht gehört. Sonst beantragt sie womöglich einen neuen Priester.« Alle lachten. »Ich muss allerdings zugeben, dass ich Father Benitos langatmige Predigten auch nicht mochte.«

»Aber was passiert jetzt, wenn jemand heiraten will?«, fragte Jeannette.

»Dann muss das Paar eben nach Amerika oder Europa reisen«, erklärte Paul auf dem Weg zum Laden. »Oder sie machen es wie Vaters Schwester und heiraten vor einem Kapitän.«

Im Laden trafen sie Wade und Rebecca Remmen. Während Paul kurz mit Wade sprach, tat Rebecca uninteressiert, was Paul reizte, sodass er sie direkt ansprach. »Wie ich sehe, Miss Remmen, hat das Fieber Ihrem Bruder nicht geschadet.«

»Das habe ich Ihnen doch gesagt, Mr Duvoisin«, erwiderte sie gleichmütig, obwohl ihre Knie zitterten und Schmetterlinge in ihrem Magen flatterten. »Er brauchte nur Ruhe.«

»Und liebevolle Fürsorge«, fügte er mit hinreißendem Lächeln hinzu. »Aber jetzt müssen Sie uns entschuldigen. Wir haben etwas zu besorgen.«

»Paul hilft uns nämlich, ein Geschenk für Mademoiselle Charmaine auszusuchen«, erklärte Jeannette. »Sie hat bald Geburtstag.«

Wade nickte beiläufig, weil es ihn nicht interessierte, aber Rebecca zog ein Gesicht.

Eine knappe halbe Stunde später verließen Paul und seine Schwestern mit einer Schachtel Süßigkeiten und einem kleinen Gedichtband den Laden. Vor Monaten hatte Paul bereits ein Schaukelpferd bestellt, das inzwischen angekommen war und später nach Hause geliefert werden sollte.

Die Mädchen neckten ihn. »Das Baby kann doch frühestens im nächsten Jahr reiten!«

»Das ist doch egal. Wenn es das kann, hat es jedenfalls schon ein Pferd.« Er hatte seinen Spaß. »Ich bin sicher, ihr beiden werdet es ihm schnellstens beibringen.«

»Du bist schon genau wie Johnny!«, rief Yvette.

»Ich nehme das als Kompliment.«

»War es auch.«

Als sie die Straße überquerten, hörten sie vom Hafen her lautes Rufen. Wie immer war der Pier voller Menschen, die das ankommende Schiff begrüßten. Paul hastete mit den Mädchen durch die Menge, die bereitwillig Platz machte, bis sie vor dem hoch aufragenden Schiffsrumpf standen. Er ermahnte seine Schwestern, sich nicht von der Stelle zu rühren. Zwar konnte er keine Anzeichen von John oder seinem Vater entdecken, aber bestimmt brachte der Segler Neuigkeiten mit, da er vermutlich aus Richmond kam. Noch bevor die letzten Taue befestigt waren, kletterte Paul an Bord.

Sichtlich erleichtert stürzte der Kapitän auf ihn zu.

»Was ist los, Gregory?«, fragte Paul besorgt. »Bringen Sie Neuigkeiten von meinem Vater oder John?«

»Nein, Sir, leider nicht, aber ich habe wichtige Dokumente an Bord, die ich im Auftrag von Stuart Simons sofort nach dem Anlegen an Sie übergeben soll.« Er zückte eine Mappe mit Papieren. Sie bestätigten, was Paul bereits vermutet hatte: John Ryan befand sich an Bord.

»Verzeihen Sie, Gentlemen!«, rief er in die Runde, um die Matrosen zum Schweigen zu bringen. »Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Mr Ryan.«

John Ryan war nicht im Geringsten überrascht, als er seinen Namen hörte. Nach Stuart Simons Angaben suchte Paul Duvoisin tüchtige und verlässliche Arbeiter. Da er von seiner vorbildlichen Arbeit in Richmond erfahren hatte, wollte er ihn sehen, sobald er in Charmantes ankam. Ryan lachte insgeheim. Wie dumm konnte ein Mann sein? Lächelnd trat er einen Schritt nach vorn.

»Mr Ryan?«, fragte Paul mit gerunzelter Stirn. »Mr John Ryan?«

»Genau der bin ich.« Ryan nickte und streckte seinen Brustkorb hervor.

»Sie sind genau der Mann, den ich gesucht habe.« Paul verbarg seinen Widerwillen hinter einem Lächeln. »Diesen Unterlagen zufolge waren Sie meinem Bruder eine unschätzbare Hilfe. Ich bin der Meinung, dass ich Sie für die Arbeit im Versammlungshaus sehr gut brauchen kann.«

»Oh, ich bin wirklich ein tüchtiger Mann. Ich hoffe nur, dass der Lohn auch dementsprechend ist.«

»Vermutlich sogar besser«, versicherte Paul und legte dem Mann vertrauensvoll den Arm um die Schulter. »Und das bei freier Kost und Unterkunft.«

Ryan war neugierig geworden und ließ sich die Gangway hinuntergeleiten. Endlich war sein Schiff im richtigen Hafen eingelaufen!

Misstrauisch betrachteten Yvette und Jeannette den seltsamen Freund ihres Bruders. »Hallo, Mädchen«, rief Paul schon von Weitem. »Wir treffen uns bei Dulcie zum Mittagessen. In zehn Minuten bin ich dort.«

»Wer ist er?«, fragte Yvette, als Paul keine Anstalten machte, ihnen den Mann vorzustellen.

»Mein Name ist Ryan«, antwortete der Mann. »John Ryan.«

Paul fluchte innerlich, als er das Mienenspiel seiner Schwestern beobachtete. Offensichtlich kam ihnen der Name bekannt vor.

Yvette erholte sich am schnellsten und sah Paul an. Als er eine Grimasse zog und unmerklich den Kopf schüttelte, verstand sie. Sie packte Jeannette am Arm und zog sie den Kai entlang mit sich fort. »Na gut, dann bis gleich, Paul.«

Paul dankte Gott für diese kluge Schwester und wandte sich wieder seinem Begleiter zu. »Meine Schwestern«, bemerkte er beiläufig. Dann deutete er zum Versammlungshaus. »Sollen wir?«

Ryan nickte, woraufhin Paul ihn auf dem Weg mit allerlei Geschichten unterhielt. Vor der Treppe ließ er den älteren Mann vorangehen. Nachdem sie eingetreten waren, schloss er die Tür und lehnte sich dagegen.

Als Paul schwieg, huschten Ryans Blicke durch den leeren Raum. »Nun … was soll ich denn hier tun?«

»Beten«, sagte Paul mit leiser Stimme.

»Beten?« Angesichts der Antwort lachte der Mann laut heraus.

»Genau das, Mr Ryan.« Pauls Miene verdunkelte sich. »Am besten fangen Sie gleich damit an. Soviel ich weiß, werden Sie von der Polizei gesucht.« Als der Mann völlig verständnislos dreinblickte, verschränkte Paul die Arme vor der Brust. »Ich habe es aus verlässlicher Quelle: Sie sollen Ihre Frau ermordet haben.«

Das Thema behagte John Ryan sichtlich nicht, also gab er sich streitlustig. »Ich habe sie nur ab und zu einmal geschlagen, aber das hatte sie verdient.«

»Sie hatte das verdient?«, wiederholte Paul ungläubig.

»Sie hat ständig nur genörgelt und musste zurechtgewiesen werden. Nichts anderes habe ich getan … ich habe sie zurechtgewiesen.«

Pauls Hand schoss nach vorn, packte den Mann am Kragen und stieß ihn zurück. Donnernd krachte er zu Boden, seine Arme und Beine ausgestreckt. »Warum tun Sie das?«, fragte Ryan nach einer Weile. »Warum haben Sie mich hergebracht?«

»Damit Sie für Ihre Verbrechen bezahlen.«

Ruckartig sprang John Ryan auf die Füße, aber Paul war schneller. Er packte den Unterarm und drehte ihn dem Mann auf den Rücken. Ryan jaulte vor Schmerz, als Paul den Arm nach oben schob und den Mann dann die Treppe hinunterführte. Der Wächter schloss auf, und Paul stieß Ryan so heftig durch die Tür, dass er stolperte und gleich wieder stürzte.

Während Ryan sich hochrappelte, sah Paul zu Benito St. Giovanni hinüber. »Jetzt haben Sie endlich Gesellschaft.« Er wischte sich die Hände an der Hose ab. »Verraten Sie Ihrem Zellengenossen doch, mit wem mein Bruder verheiratet ist. Das interessiert ihn bestimmt.«

Der stämmige Wächter schob den Riegel vor, und Paul mahnte ihn zu besonderer Wachsamkeit. Als er ins Dulcie’s kam, aßen seine Schwestern bereits. Nachdem er bestellt hatte, platzte Yvette heraus: »War das Mademoiselle Charmaines Vater?«

»Leider ja, aber du darfst ihr nicht sagen, dass er hier ist.«

»Warum ist er denn hier?«, fragte Jeannette mit besorgtem Blick.

»John will mit ihm abrechnen. Er hat den Tod seiner Frau verschuldet.«

»Und was macht Johnny mit ihm?«

»Das weiß ich nicht, Yvette.«

»Was würdest du denn tun?«, fragte Jeannette.

Paul fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Das weiß ich ebenso wenig. Darüber müsste ich auf jeden Fall lange und gründlich nachdenken. Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr Charmaine gegenüber den Mund haltet?«

»Wenn du das möchtest, dann tun wir das auch«, versprach Yvette im Brustton der Überzeugung.

»Ich danke euch, und übrigens vielen Dank, dass du meine Warnung auf dem Kai verstanden hast. Ich wollte den Mann zu Father Benito sperren, bevor er überhaupt begreift, warum er hier ist.«

Yvette lächelte. »Ich wette, das war die Überraschung seines Lebens.«

»Das kann man wohl sagen«, meinte Paul. »Das kann man wohl sagen.«

New York

Nach einem langen, erschöpfenden Tag auf den Straßen von New York war Frederic rechtschaffen müde, und Michael war hungrig. In der Nähe des Hafens riefen sie einen Wagen und ließen sich zum Washington Square zurückfahren. Frederic hatte die Stadt gründlich satt. Nach wochenlanger Suche hatten sie praktisch nichts erreicht. Selbst die neue Idee mit dem Namen Coleburn war eine Sackgasse gewesen. Er starrte aus dem Fenster, fühlte sich müde und niedergeschlagen und hatte Heimweh. Während die Dunkelheit hereinbrach, eilten die Menschen durch die Straßen, um noch schnell ein Brot oder ein Stück Fleisch für das Dinner zu kaufen.

Er schloss die Augen und döste im schaukelnden Wagen vor sich hin. Als eines der Räder plötzlich in ein Loch rumpelte, fuhr er hoch, und als er aus dem Fenster sah, zog die Silhouette eines Mannes seine Aufmerksamkeit auf sich. Groß, schlank und dunkelhaarig. In diesem Moment erreichte der Mann die Straßenecke, und sein Mantel bauschte sich im Wind. Eine Hand griff nach dem Hut, während die andere eine schwarze Tasche festhielt.

Frederics Herz raste. Ihr Wagen bog in die entgegengesetzte Richtung ab! Er brüllte dem Fahrer zu, dass er anhalten solle. Dann stieß er mit seinem Stock die Tür auf und wäre fast aus dem Wagen gefallen, während der Fahrer ihm nachbrüllte. »Bleiben Sie hier, Mann! Sie haben noch nicht bezahlt!«

Aber Frederic hörte ihn nicht. Rücksichtslos bahnte er sich mit den Schultern seinen Weg durch die Menge und ließ das Geschimpfe der Leute ungerührt an sich abprallen. Auf seinen Stock gestützt setzte er sogar über die Köter hinweg, die auf der Straße und im Rinnstein nach Essbarem suchten. Als er am Ende seiner Kräfte die Ecke erreichte, war der Mann nirgendwo zu sehen. War er geradeaus gegangen oder doch nach rechts oder links? Keuchend drehte sich Frederic in alle Richtungen, um in der Menschenmenge die dunkle Gestalt zu erspähen. Aber umsonst. Der Mann war verschwunden. Entmutigt machte er kehrt und hinkte zum Wagen zurück.

Obgleich Michael überzeugt war, dass Frederic sich das Ganze eingebildet hatte, ließ diesen der Vorfall nicht ruhen. Abend für Abend ließ er Michael im Stadthaus allein und trieb sich in der näheren Umgebung der Straßenecke herum. Wenn es dunkel wurde, betrat er für gewöhnlich eines der Gasthäuser, um etwas zu essen und mit einem Glas Bier in der Hand aus dem Fester zu schauen und von dort aus die Menschen zu beobachten.

Am heutigen Abend hatte ihm der Kellner gerade sein Essen serviert, als zwei Tische weiter plötzlich ein Streit aufflammte. Ein Barmädchen schrie zwei Männer an, die von den Stühlen aufgesprungen waren. »Du hast gesagt, dass du mich liebst, du verlogener Bastard!«, beschimpfte sie einen der beiden, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich mache das nicht! Ich habe gehört, dass einige dabei verblutet sind!«

Als der Mann nur die Schultern zuckte, warf sie ihm ein zusammengeknülltes Papier ins Gesicht und stürzte sich auf ihn. Rundherum sprangen die Leute auf, und sofort eilten zwei Kellner herbei, um eine mögliche Schlägerei im Keim zu ersticken. Auch Frederic war aufgesprungen. Selbst als die Kellner das Mädchen wegzogen, spuckte sie noch Gift und Galle. Einige Gäste warfen ein paar Münzen auf den Tisch und verließen die Kneipe, während die Besitzerin schützend den Arm um das weinende Mädchen legte und es in die Küche führte.

Frederic sank auf seinen Stuhl zurück. Als er die Gabel in die Hand nahm, bemerkte er, dass seine Serviette zu Boden gefallen war. Er bückte sich und entdeckte dabei das Papierchen unter seinem Stuhl. Als er den Zettel glattstrich, sprangen ihm beinahe die Augen aus dem Kopf: COLEBURN CLINIC, 27 WATER STREET.

Johns Meinung nach lag die Praxis in einer heruntergekommenen Gegend, nur ein paar Blocks vom Hafen entfernt. Er wollte das gleich am nächsten Tag überprüfen. Als ihm Frederic seine Begleitung anbot, lehnte John ab. »Zu zweit machen wir uns schneller verdächtig.«

Zögernd gab Frederic nach. »Für den Fall, dass es tatsächlich Robert Blackford ist, dann versprich mir, dass du nichts unternimmst. Wir müssen zuerst gemeinsam überlegen, wie wir vorgehen wollen.«

John nickte, aber beruhigt war Frederic deshalb noch lange nicht.

Am nächsten Tag begab sich John zu der angegebenen Adresse. Die Praxis lag in einem Stadthaus, in dem ständig Menschen ein und aus gingen. Er sprach eine Frau an, die mit zwei kleinen Mädchen aus dem Haus kam. »Ist dies die Praxis von Dr. Coleburn?«

Misstrauisch sah die Frau ihn an. Anfangs dachte er, dass sie kein Englisch sprach. »Ja«, meinte sie in breitem irischem Dialekt, »hier arbeitet Dr. Coleburn. Warum fragen Sie?«

»Ich wusste nicht, ob ich die richtige Adresse habe. Vielen Dank.«

Die Frau nickte und drängte ihre Kinder weiter.

John trieb sich den ganzen Tag über in der Nähe der Praxis herum und wartete. Nach Einbruch der Dämmerung kamen andere Patienten. Meistens waren es jetzt junge Frauen, die sich verstohlen umblickten, bevor sie den Türknauf drehten und rasch eintraten. Stunden später ging auch der letzte Patient, und die Fenster im Obergeschoss wurden dunkel. Einige Minuten darauf trat eine schlanke, dunkel gekleidete Gestalt aus der Tür und stieg mit schnellem Schritt die Treppe hinunter. John folgte dem Mann die Straße entlang. Dabei hielt er sorgfältig Abstand und trat sehr leise auf, damit ihn seine Schritte nicht verrieten. Irgendwann bog der Mann um die Ecke, ging einige Blocks weiter und bog gleich darauf noch einmal ab. Dann stieg er die Stufen zu einem Reihenhaus empor. John merkte sich die Adresse.

Am Tag darauf saß er noch vor der Morgendämmerung auf den Stufen des Hauses, das 13 Stone Street gegenüberlag. Den Kragen hatte er hochgestellt und die Mütze tief in die Stirn gezogen. Um Punkt acht Uhr verließ Robert Blackford das Haus und machte sich auf den Weg in die Praxis.

»Wir können umgehend ein Schiff organisieren. Jetzt, da wir die Adresse kennen, dürfte es für uns drei kein Problem sein, ihn zu überwältigen und aufs Schiff zu bringen.«

»Ich muss Ihrem Vater recht geben.« Nachdenklich rührte Michael in seinem Tee. »Es ist am ungefährlichsten.« Obgleich John nichts entgegnete, missfiel Michael seine Miene. Offenbar hatte John eigene Vorstellungen. »Wenn er erst einmal auf Charmantes ist, hat Ihr Vater bei der Strafe freie Hand.«

John faltete die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und sah von einem zum anderen. Aber seinen blitzenden Augen war nichts zu entnehmen. »Nun gut«, sagte er. »Wann soll es losgehen?«

»Morgen kümmern wir uns erst einmal um das Schiff«, antwortete Frederic. »Das nächste, das in New York eintrifft, muss den Umweg nach Charmantes machen.«

»In der Zwischenzeit werde ich Blackford im Auge behalten«, warf John ein. »Er soll uns nicht noch einmal entwischen.«

»Ausgezeichnet«, bemerkte Frederic.

John erhob sich, um sich zurückzuziehen. Beunruhigt sah Michael ihm nach. Er konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass John eigene Pläne hatte. »Hören Sie zu, John. Während sich Ihr Vater morgen um das Schiff kümmert, würde ich gern sehen, wo Blackford lebt.«

Verdutzt sah John den Priester an. »Das halte ich für viel zu riskant.«

»Wir können ja warten, bis er in die Praxis gegangen ist. Dann sind wir auf der sicheren …«

»Na gut«, unterbrach ihn John knapp, »ich gehe jetzt zu Bett.«

Mittwoch, 5. Dezember 1838

Der abendliche Wind war kalt, und es sah nach Regen aus, als Lily Clayton an den eleganten Stadthäusern von Greenwich Village entlang zur Sixth Avenue ging. Obgleich heute erst Mittwoch war, hatte ihr Arbeitgeber sie in einem Anfall von Großzügigkeit früher gehen lassen. Lily war dem Mann sehr dankbar. Sie hatte also zwei Stunden Zeit, bevor Rose, die tagsüber auf ihre Kinder aufpasste, sie zu Hause erwartete.

Sie blieb vor John Duvoisins Stadthaus stehen und sah, dass die Fenster erleuchtet waren. Licht bedeutete, dass John wieder in New York war. Seit Februar hatte sie ihn nicht gesehen und entsprechend vermisst. Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil er nie zuvor so lange fortgeblieben war. Im Augenblick fragte sie sich, warum er bisher nichts von sich hatte hören lassen. Normalerweise kam er nach seiner Ankunft immer kurz bei ihr vorbei.

Vor ein paar Jahren hatten Lily und ihre Schwester Rose noch auf den Plantagen der Duvoisins in Virginia gearbeitet. Zuvor waren die Mischlingsmädchen im Jahr 1834 durch den Kauf von Wisteria Hill in den Besitz von John Duvoisin gelangt. Als sie von der Kaufabsicht erfuhren, waren sie begeistert, weil sie wussten, dass John alle seine Sklaven auf Freedom in die Freiheit entlassen hatte. Bei seinem ersten Besuch auf Wisteria Hill hatte sich Lily regelrecht in ihn verliebt. John war nicht nur jung und sah gut aus, sondern er hatte auch, im Gegensatz zu anderen Plantagenbesitzern, mit ihr wie mit einer gleichberechtigten Person gesprochen. Gleich nach dem Kauf endete ihr Sklavendasein. Von da an war Lily Haushälterin auf Freedom, während Rose dieselbe Stellung auf Wisteria Hill innehatte, das nur zwei Meilen entfernt lag.

Lily war ein hübsches Mädchen mit hellbrauner Haut, schlank und hochgewachsen, mit glattem Haar, dunklen Augen, sinnlichen Lippen und einer wohlgeformten Nase. Sie hatte Zwillinge, einen Sohn und eine Tochter, und einen Mann namens Henry, der jedoch vor dem Verkauf von Wisteria Hill an einen Baumwollfarmer in North Carolina verkauft worden war.

Henry war Mulatte, sodass Lilys Kinder fast hellhäutig waren und ein unbefangener Beobachter keine Abstammung als Schwarze vermutete. John wollte Henry zurückkaufen, um ihn auf Freedom zu beschäftigen, doch als verbohrter Südstaatler lehnte sein Besitzer alle Vorschläge ab. Henry war ein kräftiger Mann und leistete gute Arbeit. Außerdem verachtete sein heutiger Herr alle Plantagenbesitzer entlang der Staatsgrenze, die ihre Sklaven in die Freiheit entließen, und tobte allein bei dem Gedanken daran, dass auch nur ein einziger schwarzer Mann, noch dazu ein Mulatte, seine Freiheit erlangen könnte.

Lily war klar, dass sie Henry nie wiedersehen würde. Vor drei Jahren hatte sie zudem die Nachricht erhalten, dass er seit einem missglückten Ausbruchsversuch »verkrüppelt« sei. Drei Sklaven, die es bis nach Freedom geschafft hatten, hatten ihr einen Zettel von Henry in die Hand gedrückt. Man hatte ihn brutal verstümmelt und ihm die Zehen am rechten Fuß abgehackt, damit er nie wieder weglaufen konnte. Wohl oder übel musste sich Lily mit einem Leben ohne Henry abfinden.

Als John immer öfter nach New York reiste, bat sie ihn eines Tages, sie und die Kinder und ihre Schwester dorthin mitzunehmen. Sie wollte ganz von vorn beginnen und wirklich unabhängig sein. Ihre Kinder sollten frei aufwachsen und zur Schule gehen. Anfangs zögerte John, weil er während seiner häufigen Reisen seine Häuser bei den beiden Frauen in besten Händen wusste. Doch sie bettelten so lange, bis er sich überreden ließ und sie vor knapp drei Jahren nach New York brachte.

Er verhalf den beiden Schwestern zu einer Anstellung als Haushälterinnen bei gutsituierten New Yorker Geschäftsleuten. Außerdem fand er im südlichen Manhattan ein Häuschen für sie und bezahlte die Miete für das erste Jahr. Und er begleitete Lily, als sie ihre Kinder an der Public School anmeldete. Der Schulleiter hielt ihn für Lilys Mann und die Kinder somit für weiß. Als er John nach seinem Arbeitgeber fragte, gab dieser kurzerhand die Schifffahrtsgesellschaft Duvoisin an, was den Schulleiter zufriedenstellte und nicht einmal gelogen war. Auch ohne ihren geliebten Henry war Lilys Leben von nun an besser denn je.

Lily liebte Henry von Herzen und sehnte sich nach einem gemeinsamen Leben mit ihm. Aber ebenso liebte sie John. Sie liebte ihn, weil er sie respektvoll behandelte, und sie liebte ihn, weil sie ihm alles sagen konnte und er ein guter Zuhörer war. Sie konnte um Henry weinen und wusste, dass John sie verstand, weil er, wie sie vermutete, selbst eine Trennung von einem geliebten Menschen erlebt hatte. John war ein Freund ihrer Kinder und brachte sie oft zum Lachen. Außerdem liebte sie ihn, weil er sie nie unter Druck gesetzt hatte wie all die anderen weißen Männer zuvor … obgleich sie oft sein Bett geteilt hatte. Zuweilen hatte er sogar gescherzt, dass Henry, wenn er davon erfuhr, blitzartig alle Behinderungen überwinden und seiner Knechtschaft entkommen würde, um ihn zu töten.

Heute Nacht wollte sie ihn besuchen, damit er sie endlich von der nagenden Sehnsucht erlöste, die sie seit Februar mit sich herumtrug. Nach dem Abendessen würde sie die Kinder ihrer Schwester überlassen und zurückkommen.

John schlug den Kragen hoch und zog die Kappe tief in die Stirn, bevor er an der Tür der Vermieterin klopfte. Das Haus war in viele kleine Wohnungen unterteilt, die sich in mehreren Stockwerken übereinandertürmten. Der Eingangsflur war düster, was durch den einsetzenden Regen noch verstärkt wurde. Die meisten Hafenarbeiter waren längst zu Hause, und überall hörte man spielende Kinder, unterdrückte Stimmen und klapperndes Geschirr.

Die Hauswirtin öffnete die Tür. Sie war eine untersetzte Person in mittlerem Alter, deren strähniges, grau meliertes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war und ihr bis zur Taille reichte.

»Was wollen Sie?«, fragte sie kauend, bevor sie schluckte und ihren letzten Zahn sehen ließ.

»Ich bin auf der Suche nach Dr. Coleburn.«

»Haben Sie an seiner Tür geklopft?«

»Es hat niemand aufgemacht. Wann kommt er denn für gewöhnlich nach Hause?«

»Wer will das wissen?« Sie sah ihn abschätzend von oben bis unten an. Vermutlich hatte er seine Freundin geschwängert und brauchte die Hilfe des Doktors.

»Ein Patient.«

Sie beäugte ihn skeptisch.

Er zückte eine Dollarnote.

»Er kommt immer spät. Meistens nach neun. Am besten kommen Sie noch einmal wieder.« Sie schnappte sich die Banknote.

»Aber es regnet, und ich komme von weiter her. Kann ich vielleicht in seiner Wohnung warten?«

Trotz ihres misstrauischen Blicks lehnte sie seine Bitte nicht rundweg ab. »Wie viel ist Ihnen das wert?« Sie klapperte mit dem Schlüsselbund an ihrem Gürtel.

Wieder streckte John die Hand aus. Diesmal mit einer knisternden Fünf-Dollar-Note. Gierig riss die Frau die Augen auf. »Wie wäre es mit zweien?«

Als Frederic nach Hause kam, saß Michael am Kamin und las Zeitung. Draußen war es bereits dunkel, und alle Lampen brannten. Es war ein langer Tag gewesen, aber zum ersten Mal gab es so etwas wie Hoffnung.

Spät am Abend hatte die Heir im Hafen von New York festgemacht, und im ersten Morgengrauen saß Frederic bereits mit dem Kapitän beisammen. Während sein Sohn dem Priester Blackfords Praxis und sein Haus zeigte, klärte Frederic den Kapitän über das Geschehen auf der Insel auf und erörterte seine weiteren Pläne mit ihm. Als John und Michael in den Hafen zurückkehrten, war bereits ausgemacht, dass Will Jones auf jeden Fall unverzüglich nach Charmantes aufbrechen sollte, auch wenn sich keiner der drei innerhalb der nächsten drei Tage bei ihm meldete. Der Kapitän sollte Paul berichten, dass Frederic, John und Michael den gesuchten Blackford tatsächlich unter dem Namen Coleburn ausfindig gemacht und am sechsten Dezember versucht hätten, ihn festzunehmen. Frederic war zuversichtlich, dass sein Plan gelang. Trotzdem wollte er für den schlimmsten aller Fälle Vorsorge treffen.

Die Heir hatte auch einen Brief von Charmaine mitgebracht, und Frederic beobachtete, wie John den Umschlag ungeduldig aufriss. Den dritten, den er bisher erhalten hatte. Er freute sich über die Neuigkeiten, die Charmaine zu berichten hatte, und war sichtlich erleichtert, als er las, dass die Harringtons bis zur Geburt des Babys auf Charmantes bleiben wollten. Aber dann runzelte er die Stirn: Außer seinem ersten Brief hatte Charmaine keine weiteren Briefe mehr erhalten. Frederic beruhigte ihn. Spätestens morgen war ihre Mission erledigt. Dann konnten sie in See stechen und womöglich noch einen Monat vor der Geburt auf Charmantes ankommen.

Der restliche Vormittag war von Arbeit ausgefüllt. Frederic und John ließen die Fracht der Heir auf eines ihrer Schiffe umladen, das auf dem Weg nach Liverpool in New York angelegt hatte und nicht ganz ausgelastet war. Sie änderten die Frachtpapiere, soweit die Kapazitäten des Laderaums das zuließen, und halfen nach Kräften beim Umladen, da sie in der Kürze der Zeit nicht genügend Männer anwerben konnten. Dank dieser Maßnahme konnte die Heir direkt nach Charmantes segeln, und Zucker und Tabak gelangten trotzdem pünktlich nach Europa. Welch glückliche Fügung, dachte Frederic, da das nächste Schiff der Duvoisins erst in frühestens vierzehn Tagen in New York erwartet wurde.

Gegen Mittag waren so viele Männer an Bord, dass Michael sich überflüssig vorkam. Um nicht ständig im Weg zu stehen, verließ er das Schiff und vertrieb sich den Nachmittag mit einem langen Spaziergang und der Besichtigung vieler Kirchen und außergewöhnlicher Gebäude. Bisher hatte er noch nicht viel von der Stadt gesehen, also nutzte er die letzte Gelegenheit, bevor sie morgen nach Charmantes aufbrachen. Als gegen Abend Regen einsetzte, machte er sich auf den Heimweg.

Michael war seit fast zwei Stunden zu Hause, als Frederic das Haus betrat und seinen nassen Mantel im Foyer ausschüttelte, bevor er ihn auf einen Bügel hing. »Wo ist John?«, fragte Michael.

»Was soll das heißen? Wollten Sie sich denn nicht treffen? Als er vor ein paar Stunden das Büro des Schiffsagenten verließ, dachte ich …«

Ihre Blicke trafen sich, und Frederics Gesicht spiegelte seine tiefe Sorge wider. »Wie lautet Blackfords Adresse, Michael?«

»Dreizehn Stone Street«, antwortete der Priester … und hoffte inständig, dass John ihn nicht absichtlich in die Irre geführt hatte. »Gleich südlich der Wall Street.«

»Danke.«

»Ich komme mit.«

»Nein, Michael, warten Sie lieber hier auf mich … falls wir uns irren.«

Zweifelnd sah Michael ihn an. »Dann gehe ich kurz in die Praxis. Später treffen wir uns wieder hier.«

Frederic war einverstanden. Er humpelte so schnell nach oben, wie das steife Bein es zuließ, durchsuchte seinen Koffer und nahm Revolver und Patronen an sich, die er in der ersten Woche nach ihrer Ankunft gekauft hatte. Dann hastete er zurück nach unten, schlüpfte in seinen Mantel, lud den Revolver und versenkte die Waffe tief in einer Tasche. Er packte seinen Stock fester und wechselte noch einen kurzen Blick mit Michael, bevor sie zusammen das Haus verließen, zwei Wagen herbeiriefen und in unterschiedliche Richtungen davonfuhren.

Robert Blackford stieg die drei Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Das Geschrei eines Kindes und eines streitenden Paars hallte vom Stockwerk unter ihm empor, und im Flur stank es nach ranzigem Fett und Schimmel. Diese ärmlichen Mietshäuser boten zwar die nötige Anonymität, doch er entfloh dem Elend, sooft er nur konnte. Fast jeden Abend besuchte er die bessere Gegend nördlich der Stone Street, wo er sich den gepflegten Genüssen des Lebens hingab. Heute Abend zum Beispiel kehrte er von einem Dinner im Astor House Hotel zurück, und für morgen hatte er einen Besuch im Spielkasino geplant. Das Leben in New York gefiel ihm. Überhaupt war es sehr viel aufregender und besser, als er erwartet hatte … und das sogar ohne seine geliebte Agatha.

Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um, doch als er die Tür aufstoßen wollte, merkte er, dass er zu- statt aufgeschlossen hatte. Seltsam. Er schloss die Tür doch immer ab, wenn er das Haus verließ.

Er betrat die dunkle Wohnung und tastete nach der Lampe, die auf einem Tischchen stand. Dann fand er die Zündhölzer und entzündete einen Span. Als der Docht in der Lampe aufflammte, verbreitete sich ein warmer Lichtschein in dem kalten Raum. Er rieb seine Hände und beschloss, seinen Mantel anzubehalten. Nach dreißig Jahren in der Karibik konnte er sich einfach nicht an diese durchdringende Kälte gewöhnen.

Als er ein Feuer machen wollte, bemerkte er aus dem Augenwinkel den Schatten eines Mannes, der direkt neben dem Kamin auf einem Stuhl saß. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis er begriff … und schon fuhr er herum und rannte zur Tür.

Aber John war blitzschnell auf den Füßen und packte den wehenden Mantel. Blackford gelang es noch, die Tür zu öffnen, doch im nächsten Moment wurde er mit aller Macht ins Zimmer zurückgerissen. John würgte ihn und drehte ihm mit der anderen Hand seinen Arm so weit auf den Rücken, dass Blackford vor Schmerz jaulte.

»Es ist Zeit für die Abrechnung, Blackford«, raunte ihm John ins Ohr. Dabei stieß er ihn zu einem Holzzuber neben dem Kamin, in dem das Waschwasser vom Morgen kalt geworden war. Er zerrte den Arm weiter nach oben und trat Blackford gleichzeitig in die Kniekehlen, sodass dieser stöhnend neben dem Zuber auf die Knie fiel.

John tat es ihm nach. »Warum haben Sie das getan?«, herrschte er ihn an.

»Was denn? Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, ächzte Blackford. Er spürte, wie sich eine Hand um seinen Kopf legte. »Das Ganze muss ein Irrtum sein. Worum geht es denn? Können wir nicht vernünftig reden?«

»Sagen Sie mir nur, warum Sie es getan haben … und ich lasse Sie leben.«

»Ich weiß nicht einmal, wovon die Rede ist!«

»Warum leben Sie dann unter falschem Namen?«

»Bitte, John …«

Der Appell verhallte ungehört. John drückte Blackfords Kopf ungerührt immer tiefer über den Zuber. »Na, wie fühlt sich das an?«, schrie er. »Wie können Sie mit dem Wissen leben, was sie dem armen Pierre angetan haben?«

Robert wehrte sich verzweifelt, wollte den Kopf zur Seite drehen … aber zu spät. Sein Gesicht berührte das kalte Wasser, wurde untergetaucht und so eisern festgehalten, dass keine Gegenwehr möglich war. In seiner Not sammelte er alle Kräfte, um sich nach hinten zu werfen, aber umsonst. Erst nach einer halben Ewigkeit ließ John los. Spuckend und keuchend tauchte er aus dem Zuber empor.

John packte ihn fester und rammte ihm das Knie in den Rücken. »Also … warum haben Sie das getan?«

»Es war nicht meine Idee … meine Schwester ist schuld! Paul ist ihr Sohn! Er sollte alles erben.«

»Das reicht mir nicht, Blackford.«

Wieder drückte John den Kopf nach unten. »Wissen Sie, wie sich das anfühlt, Sie Satan?« Er schluchzte beinahe. »Hat es Ihnen Spaß gemacht, ein unschuldiges Kind zu ertränken? Hier! Fühlen Sie selbst, Sie Teufel!«

Diesmal tauchte er den Kopf tief ins Wasser und hielt ihn endlose Sekunden lang eisern fest. Luftblasen stiegen zur Oberfläche empor und zerplatzten so schnell, dass das Wasser über den Rand des Zubers spritzte. Blackfords Beine zuckten und zappelten über den glitschigen Boden, traten einen Stuhl um, während seine freie Hand nach allem griff, dessen er habhaft werden konnte. Als John endlich seinen Kopf losließ, tauchte er empor und schnappte keuchend nach Luft.

»Sagen Sie es mir jetzt?« Johns Finger krallten sich noch immer in Blackfords Haar. »Es ging nicht nur ums Erbe. Heraus mit der Sprache! Warum haben Sie es getan?«

»Ich habe meine Schwester sehr geliebt. Unser Vater hat ihr Leben ruiniert«, stieß er keuchend hervor, während ihm das Wasser aus den Haaren troff und übers Gesicht lief.

»Das reicht mir nicht!«

Ein drittes Mal drückte John den Kopf langsam nach unten. Bis auf das verzweifelte Zappeln der Beine war es totenstill im Raum. Er drückte ihn tiefer und tiefer hinunter. »In Ordnung, John!«, stieß Blackford im letzten Moment hervor. Und dann flüsterte er kaum hörbar: »Ich war Agatha verfallen … Ich war ihr Geliebter und hätte alles für sie getan.«

John fühlte, wie ihm vor Entsetzen das Blut aus den Adern wich. Als sich der Griff seines Peinigers ein wenig lockerte, nutzte Blackford die Gelegenheit und warf sich nach hinten, woraufhin John aus dem Gleichgewicht geriet und auf dem nassen Boden ausglitt. Blackford rollte herum, um nach seinem Gegner zu greifen, aber da war John längst über ihm, packte ihn am Hals und presste ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Blackfords Kopf wurde gegen den Zuber gedrückt, während er nach Luft rang und sich seine Finger in panischer Angst in Johns Hände krallten. Aber der ließ sich nicht beirren und drückte unerbittlich zu.

Für Blackford gab es nur eine letzte Hoffnung. Er tastete nach dem Messer, das er zum Schutz gegen die Verbrecher, die in der Umgebung seiner Klinik herumlungerten, immer im Stiefel bei sich trug. Als seine Fingerspitzen den glatten Griff fühlten, krümmte er sich etwas mehr, bis er den Dolch aus der Scheide lösen konnte. In einer letzten Anstrengung zog er ihn heraus und bohrte ihn mit aller Kraft in die Flanke seines Widersachers.

John schrie laut auf und hielt sich die Seite, bevor er neben Blackford zu Boden sackte.

Robert bog den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und rang keuchend nach Luft. Sobald er wieder atmen konnte, tastete seine Hand nach dem Messer. Er musste John erledigen, musste ihm die Kehle aufschlitzen und flüchten.

Als er die Augen öffnete, fiel ein dunkler Schatten über ihn, und er blickte geradewegs in die Mündung von Frederic Duvoisins Revolver.

Frederic drehte das Gesicht zur Seite und zog den Abzug durch. Ein Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall. Erst dann sah Frederic auf die furchtbare Szene hinunter, warf seinen Stock zur Seite und sank neben John auf die Knie.

»Komm, John! Steh auf!« Frederic stieß ihn an. »Wir müssen verschwinden! Sofort!«

»Vater …« Stöhnend kam John auf die Knie.

Inzwischen roch es ekelerregend nach frischem Blut. Rasch schlang Frederic seinen Arm um Johns Mitte, kämpfte sich auf die Füße und zog John mit sich.

Jemand schrie. Frederic sah auf, während er die Pistole in den Falten seines Mantels verschwinden ließ. Eine junge Frau stand unter der Tür und starrte sie an. »Mörder!«, schrie sie. »Mörder! Polizei!«

Zusammen mit seinem Sohn humpelte Frederic direkt auf sie zu. »Gehen Sie aus dem Weg!«, herrschte er sie an. Als sie nicht gehorchte, richtete er die Waffe auf sie. Hastig gab sie den Weg frei, schrie aber hinter ihnen her. Unten im dunklen Treppenhaus waren weitere Stimmen zu hören.

Frederic zwang sich zur Ruhe. »Hör zu, John, wir müssen jetzt die Treppe hinuntergehen. Hilf mir.« Mit zitternder Hand ließ er ihn los. Dann sah er, dass seine Hand blutig war.

John umklammerte das Geländer und begann den Abstieg. Ein bohrender Schmerz, der in Brust und Bein ausstrahlte, brachte ihn beinahe um.

Frederic folgte ihm mit gezogenem Revolver.

Die ersten beiden Treppen schaffte John, indem er möglichst flach atmete, um dem Schmerz die Spitze zu nehmen. Aber auf den ersten Stufen der letzten Treppe gaben seine Knie nach. Er stürzte die Stufen hinunter und blieb am Fuß der Treppe liegen.

Frederic rannte ihm nach, so schnell er konnte. Als er den unteren Flur erreichte, öffnete die Hauswirtin einen Spaltbreit die Tür. Frederic beugte ein Knie, doch als zwei Männer näher kamen, erhob er sich sofort wieder. Er zückte die Pistole. »Steh auf, John!«, brüllte er, während er die beiden mit der Pistole auf Abstand hielt. »Du musst aufstehen!«

Der Befehl seines Vaters hallte wie durch einen Tunnel an Johns Ohr. Obgleich ihm beinahe die Sinne schwanden, zog er sich am Geländer in die Höhe.

Wieder legte Frederic den Arm um ihn, und John stützte sich so schwer auf seinen Vater, dass dieser fast sein ganzes Gewicht tragen musste. Schwankend legten sie den Weg bis zur Haustür zurück und weiter hinaus auf die Straße.

Zum Glück wartete der Mietwagen noch vor der Tür, da Frederic dem Fahrer den doppelten Lohn für den Rückweg versprochen hatte. Er schob seinen Sohn hinein, ließ sich auf den gegenüberliegenden Sitz fallen und befahl dem Fahrer, sich zu beeilen. Der alte Mann trieb die Pferde zu einem flotten Trab. Als sie einige Straßen weiter um die Ecke bogen, kamen ihnen zwei berittene Polizisten entgegen, die offenbar auf das Reihenhaus zusteuerten.

John stöhnte, und sein Kopf sank zurück. Frederic rutschte auf die andere Seite hinüber und nahm seinen Sohn in die Arme. John kippte ruckartig nach vorn, aber gleich darauf brach er auf dem Schoß seines Vaters zusammen und zitterte unkontrollierbar. Seine Kleidung war von Blut durchweicht.

»Halte durch, John«, flüsterte Frederic beschwörend und hüllte ihn in seinen Mantel. Seine Angst wuchs. »Wie konnte er das nur tun, Vater?« Tränen schwangen in Johns Stimme mit, und sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Wie konnte er meinen kleinen Sohn töten?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte Frederic und zog seinen Mantel noch enger um ihn. »Ich weiß es nicht.«

»Ist er tot?«

»Ja, er ist tot.«

John sah zu seinem Vater auf. Er hatte die Antwort nicht gehört, weil die Welt um ihn herum ständig verschwamm. »Ist er tot?«

»Ja, John. Er ist tot.«

John schloss die Augen. »Charmaine …«

»Halte durch, John. Halte einfach nur durch. Es wird alles gut. Ich rufe einen Arzt.« Wie versteinert starrte er auf das Blut an seinen Händen, auf seinen blutigen Mantel, und hatte Angst, dass sein Sohn in seinen Armen sterben könnte.

Als der Wagen vor dem Stadthaus hielt, wollte der Fahrer ins Innere des Wagens blicken. Aber Frederic wusste das zu verhindern.

Michael hatte den Wagen gehört und kam heraus. Er war vor zehn Minuten zurückgekommen, da die Praxis um diese Zeit geschlossen war. Frederic war bereits ausgestiegen, und sein Blick bedeutete Michael, den Mund zu halten.

Wie ausgemacht drückte Frederic dem Fahrer den doppelten Lohn in die Hand. »Wenn Sie den Mund halten, bekommen Sie morgen noch einmal das Doppelte.« Der Mann nickte nur und wartete, bis Frederic und Michael den bewusstlosen John aus dem Wagen gehoben hatten. Sie legten seine Arme über ihre Schultern und schleppten ihn gemeinsam hinauf in sein Schlafzimmer.

»Was ist geschehen?« Angesichts des blutdurchtränkten Mantels war Michael sehr besorgt, aber wirklich entsetzt war er, als Frederic John den Mantel auszog und das blutige Hemd zum Vorschein kam.

»Es hat ein Handgemenge gegeben.« Frederic riss das Hemd auf und presste ein Taschentuch auf die Wunde. »Blackford hat ihn mit dem Messer verletzt.«

»Lebt er noch?« Besorgt legte Michael die flache Hand auf Johns Brustkorb, um den Herzschlag zu fühlen.

»Ja, aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Er braucht unbedingt einen Arzt, damit er nicht verblutet. Ich mache mich sofort auf die Suche. Schließen Sie die Tür hinter mir ab und löschen Sie die Lampen.«

»Warum denn das?«

»Blackford ist tot. Es gab Zeugen. Die Polizei wird nach uns suchen.«

Voller Abscheu sah Michael ihn an. »Hat John …«

»Nein. Ich habe es getan.«

Sie erstarrten, als es an der Haustür klopfte.

»Verdammt!« Auf Zehenspitzen trat Frederic ans Fenster. Zu seiner Erleichterung erkannte er eine Frau, die im Regen auf Einlass wartete. »Vermutlich nur eine neugierige Nachbarin. Können Sie die Frau abwimmeln, Michael?«

Michael eilte nach unten. Gütiger Gott, wie bin ich nur da hineingeraten? Einem Mörder zu helfen? Welche Lügen muss ich mir jetzt ausdenken? Er schloss die Augen und sprach ein stilles Gebet. Dann öffnete er die Tür … und staunte nicht schlecht, als er eine Frau erblickte, die er aus Richmond kannte. Als John vor ungefähr drei Jahren sie und ihre Familie nach New York mitnahm, hatten sie sich kennengelernt. »Lily?«

»Father Andrews? Was machen Sie denn hier?«

»Kommen Sie herein. Kommen Sie. Rasch.« Mit einladender Geste trat er zur Seite und bat sie ins Haus.

»Wo ist John?« Lily war beunruhigt, als sie merkte, wie bleich und nervös der Priester war.

»Er wurde verletzt.«

»Verletzt?« Erschrocken sah sie Michael an. »Wie denn? Wo ist er?«

»Oben.«

Lily stürmte die Treppe hinauf und in Johns Schlafzimmer, wo sie mit Frederic zusammenstieß. Er hielt sie am Arm fest. »Wer sind Sie?«, fragte er, während sie verzweifelt zu John hinübersah.

Michael folgte ihr.

»Himmel, lassen Sie mich doch los!«

»Wer sind Sie?«, wiederholte Frederic.

»Eine Freundin!« Sie machte sich los. »John hat mich aus Virginia hierher nach New York gebracht. Und wer sind Sie?«

»Sein Vater.«

Überrascht sah sie ihn an, und als er sie losließ, trat sie sofort zum Bett und ergriff Johns kalte Hand. »John! Mein Gott, John, kannst du mich hören?« Sie hob die Hand an ihre Lippen und küsste sie. »Guter Gott!« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn. »So viel Blut! Wach auf, John! Bitte!«

Sie sah sich kurz über die Schulter um. »Er ist völlig durchweicht. Wir müssen ihm die Sachen ausziehen und ihn wärmen. Und das viele Blut … dieses Taschentuch nützt nichts!« Sie fing an, ihm das Hemd auszuziehen. »Holen Sie saubere Handtücher.«

»Sofort, Miss.« Frederic wunderte sich darüber, wie sie sich benahm. Offenbar waren John und sie mehr als nur Freunde. »Kennen Sie einen Arzt, der uns helfen kann? Er muss sofort kommen, aber wir kennen die Stadt nicht gut genug …«

»Ja, ich kenne einen.«

»Könnten Sie ihn noch heute Nacht herbringen?«

»Ich denke schon.«

»Dann fahren Sie bitte mit Father Michael los und holen ihn!«, bat Frederic. Er übergab Michael seine Brieftasche. »Nehmen Sie, was immer nötig ist, Michael, nur bringen Sie den Arzt so schnell wie möglich her!«

Frederic begleitete beide nach unten. Ohne ein weiteres Wort verschwanden Lily und Michael in der Dunkelheit. Frederic schloss die Haustür ab und löschte die Lampen. Dann kehrte er in Johns Zimmer zurück, zog die Vorhänge zu und ließ nur eine einzige Kerze auf dem Boden brennen, bevor er sich wieder um seinen Sohn kümmerte.

Nach ungefähr einer Stunde hörte er Hufgeklapper auf der Straße, und Männerstimmen schallten ins Schlafzimmer herauf. Es wurde energisch geklopft. Frederic blies die Kerze aus. Als sich das Klopfen wiederholte, spähte er vorsichtig durch den Vorhangspalt. Zwei Uniformierte mit Gummiknüppeln standen vor der Haustür. Wahrscheinlich hatte der Fahrer seinen Mund nicht gehalten. Er betete, dass sie sich nicht gewaltsam Einlass verschafften. Als die Polizisten erneut klopften, sorgte sich Frederic, dass Michael und Lily zurückkommen könnten, solange die Polizei noch vor dem Haus stand. In diesem Moment näherte sich ein Wagen, wurde etwas langsamer, aber gleich darauf fuhr er im selben Tempo weiter und bog nach einigen Blocks ab. Die Polizisten sahen am Haus empor und gingen einige Male auf und ab. Schließlich stiegen sie schulterzuckend auf ihre Pferde und verschwanden in der Dunkelheit. Nicht lange danach kehrte der Wagen zurück, der einige Minuten zuvor am Haus vorbeigefahren war, und Lily, Michael und ein Fremder eilten ins Haus.

Als Dr. Hastings den Patienten verließ und sich zum letzten Mal die Hände in einer Schüssel wusch, eilte Lily wieder an Johns Seite. Der Arzt griff nach einem Handtuch und nach seiner Tasche und bedeutete Frederic, ihm zu folgen.

Beim Schein der Kerze, die Frederic trug, stiegen sie die Treppe hinunter, wo Michael im dunklen Foyer Wache hielt, falls die Polizisten zurückkamen.

»Zum Glück war er ohnmächtig«, sagte der Arzt. »Eine so tiefe Wunde zu nähen wäre sonst zu schmerzhaft.«

»Wird er es überstehen?«, fragte Frederic.

»Er hat sehr viel Blut verloren. Im Moment ist die Blutung gestillt. Ich denke nicht, dass weitere Organe verletzt sind. Sonst hätte er das nicht überlebt.«

Frederic seufzte dankbar und erleichtert.

Aber der Arzt war noch nicht ganz fertig. »Allerdings macht mir die linke Lunge Sorgen. Es ist möglich, dass sie bei dem Stich verletzt wurde. Die Gefahr einer Infektion ist nicht ausgeschlossen. Das habe ich im Jahr 1812 bei Verwundeten öfter erlebt. Eine solche Infektion breitet sich im Körper aus und kann tödlich sein. Wahrscheinlich bekommt Ihr Sohn in den nächsten Tagen hohes Fieber.«

Frederic war sehr besorgt. »Was können wir tun?«

»Sie können nur das Fieber bekämpfen. Halten Sie stets eine Wanne voll Wasser und Eis bereit. Wenn das Fieber steigt, tauchen Sie ihn ins eiskalte Wasser. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Mehr bleibt nicht zu tun. Nur warten. Es hängt alles davon ab, wie stark Ihr Sohn ist. Der Blutverlust macht die Sache allerdings nicht einfacher.«

Verzweifelt schloss Frederic die Augen. Er hatte gehofft, die Stadt gleich morgen früh an Bord der Heir verlassen zu können, doch das war jetzt zu gefährlich. »Was kostet es mich, damit die Sache unter uns bleibt, Doktor?«

»Nichts«, antwortete Dr. Hastings schlicht. »Ihr Sohn ist ein guter Mann, Mr Duvoisin. Er hat meinem Neffen beim Aufbau seiner Praxis geholfen, und zwar auf Ihrer Insel. Ich hoffe sehr, dass er wieder ganz gesund wird.« Er nahm seinen Mantel vom Haken und schlüpfte hinein. »Schicken Sie nach mir, wann immer Sie mich brauchen.«

»Wir müssen ihn von hier fortbringen«, erklärte Frederic, nachdem der Arzt gegangen war. »Die Polizei kommt bestimmt wieder.«

»Sie können in meinem Häuschen wohnen«, bot Lily an. »Es ist zwar klein, aber wir schaffen schon Platz.«

Frederic war einverstanden, und wieder verschwanden Lily und Michael in der Dunkelheit, um einen von Lilys Freunden um Hilfe zu bitten. Er besaß einen Mietstall und konnte einen Wagen zur Verfügung stellen, um John zu transportieren.

Als der Morgen dämmerte, hatten sie John bereits in einem der beiden Schlafzimmer untergebracht. Lilys Kinder und Rose waren ins kleine Wohnzimmer gezogen, damit Frederic und Michael das andere Schlafzimmerchen für sich hatten.

Michael konnte sogar noch zwei Stunden schlafen, bevor er sich auf die Suche nach Stangeneis machte. In einer Taverne unweit von Lilys Haus erfuhr er die Adresse eines Händlers, und im Lauf des Nachmittags hielt ein Lieferwagen vor dem Haus, und die Nachbarn blieben neugierig stehen, um beim Entladen des massiven Eisblocks zuzusehen. Man hatte ihn aus einem See oben im Norden, in Rockland County, herausgesägt, auf einem Floß den Hudson River hinabtransportiert, und nun ruhte er auf einem Holzgestell im Hinterhof und war mit einem Stück Sackleinen zugedeckt. Zum Glück war es kalt und schneite sogar hin und wieder, sodass nicht zu befürchten war, dass das Eis vorzeitig schmolz.

Freitag, 7. Dezember 1838

Früh am Morgen erhob sich Frederic von seiner Nachtwache an Johns Bett und begrüßte mit einem Nicken Michael, der sich an Johns Bett setzte. Als er den kleinen Wohnraum betrat, knotete Lily gerade die Schuhbänder ihrer Tochter zu, während ihr Zwillingsbruder schon ungeduldig wartete.

»Ich kann das selbst, Ma!«, beschwerte sich die Kleine. »Wir kommen zu spät.«

Lily zog die Mäntel zurecht und schob die Kinder aus der Tür. »Und dass ihr nach der Schule nicht trödelt!«

»Wir kommen doch immer sofort nach Hause!«

Seufzend wandte sich Lily um und war überrascht, als Frederic hinter ihr stand.

»Sie lieben Ihre Kinder sehr, nicht wahr?«

Sie lächelte. »Das tue ich. Sie sind mein ganzer Stolz und meine Freude. Wie geht es John?«

»Unverändert. Er schläft, aber er hat kein Fieber.«

»Gut.« Sie trat an den Herd. »Rose ist bereits zur Arbeit gegangen. Kann ich Ihnen etwas zu essen machen?«

Frederic bedankte sich für das Angebot. »Im Moment bin ich nicht hungrig. Aber ich würde gern einen Augenblick mit Ihnen reden, falls Sie es einrichten können.«

»Der Tag gehört mir. Rose wird mich entschuldigen.«

Sie lud Frederic mit einer Handbewegung ein, sich zu ihr zu setzen. Er gehorchte und rieb sich verlegen die Brauen, weil er nicht wusste, wie er das Thema ansprechen sollte.

»Sie sind eine beeindruckende Frau, Miss Clayton, und ich kann Ihnen gar nicht genug für Ihre Gastfreundschaft danken … und für alles, was Sie für meinen Sohn getan haben.«

Lily lächelte. »Außerdem bin ich ein Mischling, Mr Duvoisin.« Sie lachte leise über sein erstauntes Gesicht. »Sie sind überrascht?«

»Ja.«

»Keine Sorge. John ist nicht der Vater meiner Kinder. Ich war Sklavin auf Wisteria Hill. Als John die Plantage kaufte, wurden wir, also meine Kinder, Rose und ich, Johns Eigentum … Aber nicht für lange. Ihr Sohn ist ein guter Mensch, Sir. Ein wirklich ehrenhafter Mann. Ohne seine Hilfe hätte ich es nie hierher in den Norden geschafft, und meine Kinder wären heute noch ungebildet und nicht besser dran als Sklaven.«

»Was wurde aus dem Vater der Kinder?«

Lily senkte den Kopf. Sie spürte einen Kloß im Hals und konnte kaum weitersprechen. »Mein Mann … ist noch immer Sklave. Vor fünf Jahren wurde er an einen Farmer im Süden verkauft. Ich werde ihn nie wiedersehen.«

Er hörte die tiefe Verzweiflung in ihrer Stimme und wusste alles. »Sie lieben Ihren Mann, nicht wahr?«

»Von ganzem Herzen.«

»Ihrem ganzen Herzen?«

»Ja.«

Stille senkte sich über den Raum, und Frederic fragte sich, wo Johns Platz in diesem Bild war. Offenbar hegte diese Frau tiefere Gefühle für seinen Sohn. Oder füllte er nur eine Lücke in diesem Leben … war Trost in bedrückender Einsamkeit? Unwillkürlich musste er an Hannah Fields denken. Hannah hatte nicht nur eine Lücke gefüllt. Vor allem hatte sie die Härte des Sklavendaseins am eigenen Leib erlebt und war in dieselbe Stadt geflüchtet. Ob sie und Nicholas noch hier lebten?

»Ich weiß, was Sie bedrückt, Sir«, sagte Lily.

Frederic kehrte in die Gegenwart zurück. »Wirklich?«

»John war für mich da, als ich ihn am nötigsten gebraucht habe«, entgegnete sie leise. »Ich liebe ihn ebenso, wie ich Henry liebe, und das wird sich nicht ändern.«

Er lachte spöttisch, woraufhin Lily die Stirn runzelte.

»Offensichtlich glauben Sie mir nicht.«

»Verzeihen Sie, Mrs Clayton, wie können Sie schwören, Ihren Mann zu lieben, wenn Sie auch einen anderen Mann lieben?«

»Ist es denn so schwer zu verstehen, dass eine Frau zwei Männer lieben kann?« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Es ist möglich, glauben Sie mir. Ich habe zwei Herzen in meiner Brust. Das erste Herz wurde vor fünf Jahren gebrochen, und das zweite bricht in diesem Augenblick.«

Frederic war verblüfft und zutiefst bewegt. Unwillkürlich musste er an Colette denken … und in diesem Augenblick war ihm alles klar. Kristallklar. »John ist inzwischen verheiratet«, sagte er leise, »und ein Sohn oder eine Tochter ist unterwegs.«

Lily schwieg einen langen Augenblick. Ihre Trauer war nicht zu übersehen. »Dann bete ich, dass er glücklich wird«, flüsterte sie schließlich. »Er verdient es. Aber zuvor bete ich um seine Genesung.«

Frederic nickte. Dann stand er auf und zog sich zurück, um zu schlafen.

Der zweite Tag verlief so ruhig wie der erste. John war noch immer bewusstlos und stöhnte nur hin und wieder. Ab und zu flatterten seine Lider, und er murmelte unzusammenhängende Wörter, bevor er die Augen wieder schloss.

Am Abend zeigten sich erste Anzeichen des Fiebers. John erschauerte trotz der Decken, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Lily wechselte unablässig die Kompressen, aber trotzdem stieg das Fieber gegen Morgen heftig an. John zitterte so sehr, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Er wehrte die Kompressen ab und zerrte die Decken höher hinauf, um sich zu wärmen, doch Lily entwand sie ihm immer wieder. Frederic und Michael bereiteten das Eisbad vor. Dann zogen sie John aus und tauchten ihn ins eiskalte Wasser. Er schrie vor Schmerz und wehrte sich gegen die Arme, die ihn festhielten. Aber das Bad zeigte Wirkung. Sobald sie ihn ins Bett legten, schlief er friedvoll ein. Doch einige Stunden später stieg das Fieber erneut. John halluzinierte, stieß wirre Sätze aus, durchlebte den Kampf gegen Blackford ein weiteres Mal und rief laut nach Charmaine. Frederic und Michael badeten ihn ein zweites Mal, und wieder gelang es ihnen, das Fieber zu senken.

Samstag, 8. Dezember 1838

Frederic fuhr im Sessel auf, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Jalousie drangen und ihn weckten. Er starrte auf John hinunter, der leblos im Bett lag. Hastig sprang er auf, ergriff seine Hand … und atmete erleichtert auf. Johns Haut war kühl, aber nicht kalt, wie er zuerst gefürchtet hatte. Trotzdem reagierte er weder auf Stimmen noch auf Berührungen. Sein Gesicht war bleich, und sein Atem ging flach.

Lily rannte ein zweites Mal zu Dr. Hastings. Eine Stunde später untersuchte dieser den Patienten und verließ danach kopfschüttelnd das Krankenzimmer. »Es tut mir leid … ich wünschte, ich könnte mehr tun.«

Michael sah den Schmerz in Frederics Augen und empfand großes Mitleid mit ihm. Ein solch tapferer Versuch … und nun das. Er sah auf das geisterblasse Gesicht seines Freundes hinunter. So blass, wie er es oft bei der Letzten Ölung sah. Das Gesicht eines Toten. Er dachte an seine Tochter, die nicht da war, um sich von ihrem geliebten Mann zu verabschieden.

Tränen stiegen ihm in die Augen, während er leise ein Gebet für einen Sterbenden murmelte. »St. Jude Thaddeus, du Helfer der Hilflosen, bitte für uns …«

Spät in der Nacht

Mit gesenktem Kopf saß Frederic neben dem leblosen Körper seines Sohnes. Er hob Johns Hand an seine Lippen und murmelte ein inbrünstiges Gebet. »Gnädiger Gott, ich bitte dich. Nimm ihn mir nicht … nicht gerade jetzt!« Er presste die Finger an seinen Mund, als ob er ihnen etwas von seiner Lebenskraft einhauchen könne. »Ich habe Charmaine versprochen, dich nach Hause zu bringen. Aber doch nicht so. Gnädiger Gott, doch nicht so!« Er barg seinen Kopf in den Laken und brach in Tränen aus.

John blickte auf die seltsame Szene hinunter. Sein Vater betete über seinem Körper, aber die Not des Mannes spürte er nicht. Er empfand nur eine gewisse Leichtigkeit. Träume ich? Irgendjemand rief seinen Namen, aber der Ruf kam nicht von unten, sondern von oben, irgendwo hinter ihm. Als er sich langsam umdrehte, öffnete sich die Zimmerdecke. Mit einem Mal war alles in helles Licht getaucht. Aus der Ferne kam ihm eine Frau entgegen, die er vor der Helligkeit nur als Silhouette wahrnahm. Er beschattete seine Augen, um sie besser sehen zu können. Wieder rief sie seinen Namen, aber die Stimme war ihm fremd. Ihr Haar war von einem goldenen Braun, und ihre Augen leuchteten wie Honig. Sie war wunderschön, und irgendetwas an ihrem Gang erinnerte ihn an Colette. Mit einem Mal wusste er, dass es seine Mutter war.

»John«, hauchte die Stimme, »ich habe mich so danach gesehnt, dich endlich zu sehen.«

Die Entfernung zwischen ihnen war unendlich, und doch schwoll sein Herz vor Glück, als ob sie ihm ganz nahe wäre. Er sah ein letztes Mal auf seinen Vater hinunter, bevor er sich ihr zuwandte.