Montag, 7. Mai 1838

Als Frederic bei den Tabakfeldern ankam, war John längst dort. Er wischte seine Hände mit einem Lappen ab und ging zu seinem Vater hinüber. »Was machst du denn hier?«, fragten beide wie aus einem Mund.

Frederic lachte, aber John antwortete als Erster. »Da Charmaine noch nicht gleich nach Richmond fahren möchte, will ich mich hier ein wenig nützlich machen. Und was führt dich hierher?«

Frederic band sein Pferd an einen Baum. »Inzwischen reite ich jeden Tag aus. Die Arbeit tut mir gut.«

John nickte verständnisvoll.

Frederic blickte über die Felder. »Ich denke darüber nach, das Land einfach umzupflügen. Die erste Tabakernte hat unsere Erwartungen ganz und gar nicht erfüllt. Pauls anfängliches Urteil war richtig. Die Felder müssen einige Zeit brachliegen. Später bauen wir dann wieder Zuckerrohr an.«

John runzelte die Stirn. »Soviel ich weiß, überschwemmt doch Espoirs Rekordernte die Märkte.«

»Das ist richtig. Paul hat wahrlich ganze Arbeit geleistet.«

»So gesehen wäre es doch schade um die Investition.« John deutete über die Felder. »Das erste Jahr war vielleicht unbefriedigend, aber Harold sagt, dass die Ackerflächen, die jetzt bepflanzt werden müssen, schon vier Jahre lang brach gelegen haben. Auf solchem Boden lassen sich gute Erträge erzielen. Außerdem kenne ich ein paar Tricks, die uns bei jeder Auktion ein paar Dollar Aufpreis bringen.«

Frederic war sofort Feuer und Flamme. »Und was genau schlägst du vor?«

»Erst einmal alles abbrennen, dann ein bisschen Holzkohle. Die verleiht dem Tabak ein rauchiges Aroma. Außerdem müssten wir eine Trockenscheune errichten, aber das sollte nicht allzu schwierig sein.«

»Dann lass uns gleich damit anfangen. Wo ist deiner Meinung nach der günstigste Standort?«

John war überrascht. Sein Vater zog sein Urteil in keiner Weise in Zweifel. Als sie sich auf den Weg machten, um einen geeigneten Ort für die Trockenscheune zu suchen, wurde ihm mit einem Mal bewusst, dass sie schon seit zehn Jahren nicht mehr gemeinsam gearbeitet hatten. Seit Colette vor zehn Jahren ihre Wahl getroffen hatte.

Samstag, 12. Mai 1838

Eines Abends saß Paul allein im Wohnraum seines neuen Hauses. Inzwischen war es einen Monat her, seit ihm das Leben, wie er es bisher gekannt hatte, unter den Händen zerronnen war. Auf die triumphale Eröffnung seiner Firma war vom ersten Augenblick an ein Schatten gefallen. Er dachte an den Streit bei Johns Ankunft, als sein Bruder aus dem Testament ihres Vaters gestrichen werden wollte und er die Wahrheit über seine Herkunft erfahren hatte. Agatha war seine Mutter. Selbst nach einem Monat wollte ihm das nicht in den Kopf. Jahrelang hatte er gefragt, wer ihn in die Obhut seines Vaters gegeben hatte, doch heute wünschte er, dass er es nie erfahren hätte.

Er hatte mehr erreicht, als er je für möglich gehalten hätte, und war nun sogar der Erbe des väterlichen Vermögens. Und doch stand er mit leeren Händen da. John war ehelich geboren, John hatte Charmaine, und John war Manns genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Wie hatte sein Bruder ihn vor Monaten genannt? Einen bemitleidenswerten Narren. Ja, das Mitleid war durchaus angebracht. Er hatte seinen Vater immer verehrt, aber hatte ihm das seinen Respekt eingetragen? Nein. Nur sein Geld … und das auch nur, weil John es abgelehnt hatte.

Dann war da noch Charmaine. In der Ballnacht hatte sie wunderschön ausgesehen. Doch er hatte sich von Agatha ablenken lassen und es als selbstverständlich betrachtet, dass Charmaine da war und nur auf ihn wartete. John dagegen war entschlossen genug, um einer leichtfertigen Versuchung zu widerstehen und sich das zu holen, was er wirklich begehrte. Sicher hatte Charmaine seine Zurückhaltung imponiert. Dagegen hatte sein unreifes Getändel mit Anne London nur bestätigt, dass er im Grunde doch der Frauenheld war, als den er sich Charmaine präsentiert hatte. Er rieb sich die Brauen und erinnerte sich, wie sie gegen seine Brust gehämmert und ihre Wut hinausgeschrien hatte. Er hätte sie lieben können, doch nun war sie für immer verloren.

John hatte lange nichts gehabt, und jetzt hatte er alles. Sogar die Liebe seines Vaters. Auch wenn Frederic noch so wütend war – letztlich liebte er doch nur seinen legitimen Sohn. Und seinen unehelichen Sohn? Frederic hatte Agatha Geld gegeben, damit sie das Kind, das er gar nicht haben wollte, irgendwo großzog. Nach all den Jahren begriff Paul zum ersten Mal, warum er nie gut genug gewesen war.

Scham und Selbstmitleid überkamen ihn. Wie oft hatte er Agatha verspottet … und doch hatte sie ihn immer vorgezogen. Sie hatte Schreckliches getan, trotzdem konnte er sich in sie hineinversetzen und ihr vergeben. Sein Vater hatte ihr übel mitgespielt, und er wollte zumindest dafür sorgen, dass sie nie wieder leiden musste.

Laute Stimmen in der Halle rissen ihn aus seinen Gedanken. Agatha schien mit jemandem zu sprechen. »Geh weg! Frederic liebt mich! Er kommt bald, und ich will nicht, dass er dich hier erwischt.«

Neugierig ging Paul zur Tür, doch Agatha starrte einfach nur ins Leere. »Agatha?« Das Wort »Mutter« kam ihm nicht über die Lippen. »Mit wem reden Sie denn da?«

Sie fuhr herum und lächelte ihn an. »Oh, Paul, da bist du ja«, hauchte sie. »Wann kommt dein Vater zurück?«

»Vater?« Ihm wurde ganz anders. »Vater kommt nicht zu uns, Agatha. Er lebt in seinem Haus auf Charmantes. Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»O doch, es geht mir gut. Aber Frederic kommt bald, und dann muss ich ihm alles erklären. Wenn er erst Bescheid weiß, wird er mich auch verstehen.«

»Warum ruhen Sie sich nicht ein wenig aus, Agatha. Ich rufe gern eines der Hausmädchen, damit sie Ihnen behilflich ist.«

»Nein, nein, ich möchte lieber wach sein, wenn dein Vater kommt.« Entschlossen betrat sie den Wohnraum.

In diesem Moment platzte Paul der Kragen. Sein Vater war für diese Situation verantwortlich und sollte ihm für seine Schandtaten Rede und Antwort stehen. Es wurde Zeit, dass er mit ihm sprach.

»Geht es dir jetzt besser?«, fragte John, nachdem Charmaine rechtzeitig die Toilette erreicht hatte. Die letzten zehn Tage waren sehr unschön gewesen.

»Das werden schreckliche neun Monate, fürchte ich.«

»Rose sagt, dass die Übelkeit nur einen Monat oder allerhöchstens zwei andauert.«

»Sie hat leicht reden!« Stöhnend ließ sich Charmaine aufs Bett plumpsen. Als er leise lachte, fauchte sie ihn an. »Lach du nur! Du hattest ja dein Vergnügen …«

»Mein Vergnügen, my charm?« Er sah, wie sie errötete. »Du wirst ja immer noch rot.«

»Hinaus!« Sie wies ihm die Tür.

»Zuvor muss ich etwas mit dir besprechen.«

Sein ernster Ton beunruhigte sie.

»Ich bin jetzt schon sechs Wochen auf Charmantes, aber in Virginia und New York wartet sehr viel Arbeit auf mich. Ich würde dich und die Mädchen gern mitnehmen. Deshalb habe ich gestern mit Vater gesprochen. Mit seiner Erlaubnis dürfen die Zwillinge uns begleiten. Ich möchte dir auch gern unser Haus zeigen.«

Noch bevor er geendet hatte, erstarrte sie. Richmond … ihr früheres Zuhause … das gefiel ihr nicht. Andererseits könnte sie die Harringtons wiedersehen und ihnen voller Stolz ihren Mann präsentieren. Doch beim Gedanken an John Ryan kribbelten ihre Nackenhärchen. Er lief noch immer frei herum. Dagegen war Charmantes ein Paradies, wo sie keine Angst haben musste. »Ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Vermutlich wird mir die ganze Reise lang übel sein.«

»Also gut. Ein bisschen länger können wir die Reise noch aufschieben. Vielleicht hat Rose ja recht, und es geht dir bald besser. Vater freut sich auf jeden Fall. Inzwischen merkt er, wie viel Arbeit ihm Paul Tag für Tag abgenommen hat.«

»Ich hoffe nur, dass du dich nicht überarbeitest.« Sie schauderte bei der Erinnerung an Pauls lange Arbeitstage.

»Ich? Eher nicht. Aber jeden Tag ausreiten und picknicken können wir uns nicht mehr leisten.« Er sah sie an. »Was hältst du von einem kleinen Spaziergang? Ein bisschen Sonnenschein tut dir sicher gut.«

Charmaine war einverstanden, doch sie hatten das Foyer noch nicht erreicht, als Paul hereinstürmte. Er sah Charmaine finster an, und seinen Bruder grüßte er mit einem knappen »John!«.

»Hallo, Paul«, sagte dieser ebenso knapp und legte seiner Frau die Hand auf die Schulter. »Wir haben gute Neuigkeiten. Charmaine erwartet ein Kind.«

»Meinen Glückwunsch«, bellte Paul. Der Tag wurde noch schlimmer. »Wo ist Vater?«

»Mit Yvette und Jeannette in der Stadt. Das stimmt doch, nicht wahr, Charmaine?«

Sie sah zu Boden und murmelte nur. »Ja.«

Paul fluchte. Das bedeutete, dass er wieder den ganzen Weg zurückreiten musste. Ohne ein weiteres Wort stürzte er aus der Tür.

Aufmunternd drückte John Charmaines Schultern. »Du solltest ihm deinen Ärger nicht zeigen. Das freut ihn doch nur.«

Charmaine bekam eine Gänsehaut, und plötzlich wurde ihr ganz kalt. »John«, murmelte sie, ohne auf seine Worte zu achten, »würdest du mich bitte in die Stadt begleiten?«

»Und warum?«

»Ich habe ein schlechtes Gefühl, was Paul angeht.«

»Einverstanden.«

Sie bestand darauf, dass sie ritten, weil das schneller ging. Kaum zehn Minuten später waren sie unterwegs. Die Bedenken, dass der Ritt dem Kind schaden konnte, schob sie beiseite. Sie fühlte sich nicht anders als sonst, und in der letzten Zeit hatte sie Bewegung an der frischen Luft schätzen gelernt.

Sie fanden die beiden Mädchen im Laden. Paul hatten sie nicht gesehen, aber Frederic war zum Hafen gegangen. In einer halben Stunde wollten sie sich zum Lunch in der Bar treffen. Charmaine blieb bei den Kindern, und John versprach, nach einem Abstecher in den Hafen ebenfalls in die Bar zu kommen.

»Dann holt sie eben mit Netzen von Bord«, befahl Frederic. »Ich bleibe hier unten und sage, wann ihr den Baum absenken könnt.« Die Arbeiter eilten aufs Schiff und ließen ihn auf dem Kai zurück.

Frederic genoss den Tag. Er dankte dem Himmel, dass er sich immer besser fühlte und in seiner damaligen Verzweiflung nicht einfach gestorben war. Er hatte seinen Frieden mit John gefunden, auch wenn sich die Verletzungen nicht ungeschehen machen ließen. Auf jeden Fall wollte er sein Enkelkind mit großer Freude in der Familie willkommen heißen.

Seine Töchter wurden von Tag zu Tag hübscher, und in ein paar Jahren würden sich die jungen Männer die Hälse verrenken. Aus diesem Grund hatte er auch gerne zugestimmt, dass John die beiden nach Virginia mitnahm. Es war an der Zeit, dass sie die Welt außerhalb der Inseln entdeckten. Natürlich würde er seine Mädchen sehr vermissen, aber John hatte versprochen, häufig zu Besuch nach Charmantes zu kommen.

Trotz seines Konflikts mit Agatha und Pauls begründeter Wut war Frederic seit Jahren nicht mehr so zuversichtlich. Zu seinem großen Bedauern waren die Umstände von Pauls Geburt im Nachhinein nicht zu ändern, doch er hoffte sehr, dass er den Jungen zurückgewinnen konnte, wenn er erst mit John zu einem besseren Verhältnis gefunden hatte. Wenn jetzt noch Colette zu Hause auf ihn warten würde, wäre sein Leben vollkommen.

Der Ladebaum der Black Star hievte ein riesiges Netz, randvoll mit Getreidesäcken, vom Deck des Handelsschiffs in die Höhe. Das Schiff hatte eine stürmische Fahrt in rauer See hinter sich, wobei die Fässer im Laderaum kollidiert und zum Teil geplatzt waren. Die Mannschaft hatte alles Getreide, das noch zu retten war, in Säcke geschaufelt. Doch im Unterschied zu Fässern konnte man diese nicht einfach von Bord rollen, sondern man musste sich mit Netz und Ladebaum behelfen.

Frederic zuckte zusammen, als sich die Seile des Netzes ächzend spannten, und fragte sich, warum die Männer die Ladung nicht aufgeteilt hatten. Mit einem Mal geriet der Baum außer Kontrolle und schwang in einem Halbkreis über den Kai, bevor er in die Takelage des Vormasts krachte. Staubwolken stoben empor, als das Netz vor und zurück schaukelte und bei jedem Aufprall das Jutegewebe der Säcke weiter beschädigt wurde. Unter lauten Kommandos wurde das Netz langsam zurückgezogen, während das Getreide aus den zerstörten Säcken auf den Kai rieselte. Nach Frederics Überzeugung war das ausgebeulte Netz viel zu schwer. »Buck!«, schrie er. »Ihr müsst es …«

»Vater!« Mit zusammengebissenen Zähnen stürzte Paul auf seinen Vater zu.

»Paul! Ich wusste ja nicht, dass du …«

»Wir müssen reden«, schnitt Paul ihm ohne Gruß das Wort ab.

»Komm mit uns nach Hause. Dort können wir reden.«

»Ich habe keine Zeit, aber ich muss einige Dinge mit dir klären.«

Frederic nahm all seinen Mut zusammen. »Ich weiß, dass du wütend auf mich bist …«

»Gib dir keine Mühe!«

»Ich würde es dir gern erklären, aber nicht ausgerechnet jetzt.« Angesichts der gefährlichen Ladung über ihren Köpfen packte er Paul am Arm und zog ihn ein Stück zur Seite.

Mit irrem Auflachen riss Paul sich los. »Du hattest zwanzig Jahre, um mir die Sache zu erklären! Und nun, da alles ans Licht gekommen ist, willst du noch mehr Zeit?«

»Ich wollte dir niemals wehtun, Paul! Du bist doch mein Sohn und wirst immer …«

»Wage nicht, es auszusprechen. Als ich deine Anerkennung und deine Liebe erringen wollte, was habe ich bekommen? Nur Gerede und sonst gar nichts!«

Als sein Vater ihn ratlos ansah, steigerte sich Paul immer weiter in seine Wut hinein. Der Mann hatte keine Ahnung, wie schlecht er sich als Kind und auch noch als Heranwachsender oft gefühlt hatte. »Es war natürlich einfacher, gar nicht hinzusehen, statt mir die Wahrheit zu sagen. ›Paul Duvoisin … der Bastard? Nein, er weiß nichts über seine Herkunft. Seine Mutter muss eine tolle Hure gewesen sein, wenn sein Vater sogar ihren Bastard unter seine Fittiche nimmt! Aber das Geld hilft ihm auch nicht … er ist und bleibt ein Bastard!‹ Das habe ich tagtäglich zu hören bekommen! Und warum? Nur weil mein hochnäsiger Vater meine Mutter nicht heiraten wollte. Er hat sie mit einem Beutel voller Geld fortgeschickt und stattdessen die Schwester geheiratet. Wie konntest du dich selbst all die Jahre ertragen, Vater? Mich zu sehen … und immer zu wissen, was du meiner Mutter angetan hast … was du mir angetan hast? Antworte! Hast du auf Vergebung gehofft, wenn du mich bei dir aufnimmst? Dass meine Geburt legitimer wird, wenn du mir weismachst, dass meine Mutter tot ist? Dass ich …«

Plötzlich hallte ein markerschütternder Schrei durch die Luft. Paul und Frederic blickten nach oben, als der Baum über sie hinwegschwang und sich eines der Hanfseile Strähne für Strähne auflöste. Das Netz brach, und eine Lawine von Getreidesäcken ergoss sich über den Kai. Einige platzten, während andere mit dumpfem Laut aufschlugen und zerplatzten und einen wahren Berg von Getreide anhäuften.

Charmaine und die Mädchen verließen mit einigen Päckchen den Laden und traten in den Sonnenschein hinaus. »Geht ihr beiden schon zur Bar voraus«, sagte Charmaine und übergab ihnen noch ihre Einkäufe. »Ich hole euren Vater und John im Hafen ab und komme dann nach.«

Frederic stürzte auf den Getreidehaufen zu. Keine Hand, keine Stiefel, keine Spur von Paul. Er warf den Stock beiseite und wühlte mit bloßen Händen im Getreide. Er schrie um Hilfe, schleuderte die schweren Säcke zur Seite und kämpfte gegen die Masse der Körner, die schneller nachrutschten, als er sie wegschaufeln konnte. Sicher war Paul bewusstlos … und würde ersticken. Er konnte nur beten, dass er nicht schon tot war. Er verfluchte seinen geschädigten Arm, der schwächer war als gedacht, und schrie erneut um Hilfe. Hörte denn niemand? Kam denn niemand? Mit einem Mal waren zwei Matrosen an seiner Seite und gruben ebenfalls wie die Wahnsinnigen.

John verspürte kurz nacheinander mehrere Erschütterungen auf den Planken des Boardwalks. Im selben Moment schoss ihm der Gedanke an Charmaines Vorahnung durch den Kopf, und er rannte los. In kürzester Zeit sah er die chaotische Szene vor sich. »Was ist passiert?«, hörte er George fragen. Und dann seinen Vater: »Paul … ist verschüttet!«

»Gütiger Himmel!« Als George sah, dass John angerannt kam, stieß er einen gellenden Schrei aus, dass allen in Hörweite das Blut in den Adern gerann. »Es ist Paul! Er ist lebendig begraben!« Mit diesen Worten sprang er mitten ins Chaos und grub wie ein Verrückter.

Hastig rissen die Männer die Säcke zur Seite, die zum Teil auf dem Kai zerplatzten oder unter gewaltigen Fontänen im Wasser landeten. Dennoch schien der Berg nicht kleiner zu werden.

»Läute die Alarmglocke im Versammlungshaus!«, rief John, als er sich umsah und Charmaine schon von Weitem erkannte.

Voller Angst machte sie kehrt und rannte los. Sie konnte sich nur an einen solchen Unfall erinnern. Damals hatten alle ohne größere Verletzungen überlebt. Rasch sprach sie ein stilles Gebet.

Paul atmete. Mit Gottes Hilfe legten sie seinen Kopf als Erstes frei und säuberten ihn vom Staub, bevor sie den restlichen Körper ausgruben.

»Paul, kannst du mich hören?«, rief Frederic flehentlich. Aber Paul war bewusstlos. »Verdammt, wo bleibt Blackford?!«, schimpfte er.

Die Umstehenden murmelten, bis Buck sich ein Herz fasste. »Er ist fort, Sir.«

»Fort?«

»Ja, Sir. Er hat Charmantes vor einem Monat verlassen. Aber wir haben nach Doc Hastings geschickt.«

Als Charmaine bei der Gruppe anlangte, schlug sie die Hand vor den Mund. »Ist er …«

»Er lebt«, sagte John erleichtert. »Wir warten auf den Arzt.«

»Oh, John, ich wusste, dass etwas passieren würde. Ich wusste es!«

Frederic humpelte ein Stück zur Seite und ließ sich am Rand des Kais auf einen Stapel Säcke fallen, und John fragte sich, wie viel dieser Mann in seinem Leben noch ertragen konnte. Immerhin musste er anerkennen, dass Frederic es bisher noch jedes Mal geschafft hatte.

Als Dr. Hastings kam, legte man Paul auf eine Art Trage. Einige Rippen waren gebrochen, wie der Arzt feststellte, aber die konnten bandagiert werden, sobald Paul zu Hause war.

Als man die Bahre in die Höhe hob, zupfte Charmaine ein paar Körner aus Pauls Haar. Eine unschuldige Geste, und doch war John irritiert. Als Paul leise stöhnte, sah John, wie ein erleichtertes Lächeln über Charmaines Gesicht huschte. Kurz bevor sich die Träger in Bewegung setzten, öffnete Paul die Augen und sah die Sorge auf den Gesichtern der Umstehenden. Er wollte sich aufsetzen.

»Liegen Sie ganz still«, mahnte Charmaine, während sie weitere Körner von seinem Hemd abstreifte.

Paul ergriff ihre Hand und drückte sie an die Lippen. Dann verlor er erneut das Bewusstsein, und seine Hand sank herab.

»Sei doch nicht so wütend, John!«, schimpfte Charmaine, als sie zusammen nach Hause ritten. »Paul war verletzt, und ich hatte einfach Angst um ihn.«

»Ich genauso, aber ich habe ihm nicht die Körner aus dem Haar geklaubt.«

Sie lachte. »Du bist ja eifersüchtig!«

Wortlos trieb John seinen Hengst zum Galopp, und Charmaine blieb zurück, um über seine schlechte Laune nachzudenken.

Als die Untersuchung beendet war und der Arzt dem Patienten Besuch erlaubte, war Frederic der Erste an Pauls Bett. Es hatte nicht viel gefehlt, und er hätte seinen ältesten Sohn verloren, dessen Liebe und Zuneigung er sich immer so sicher war. Die zweite Chance wollte er nicht ungenützt verstreichen lassen. Er beugte sich über das Bett. »Es tut mir leid, Paul«, flüsterte er.

Paul schloss die Augen, um den Schmerz auf den Zügen seines Vaters nicht sehen zu müssen. Er wusste inzwischen, was im Hafen geschehen war und wie sehr sich alle um seine Rettung bemüht hatten.

»Du hast uns einen riesengroßen Schrecken eingejagt, mein Sohn …« Frederic suchte nach Worten. «Ich weiß nicht, was ich getan hätte …« Seine Stimme versagte. »Du hast jedes Recht, mich zu hassen, Paul, aber ich liebe dich, und ich bin stolz und war immer stolz darauf, dich meinen Sohn zu nennen. Und falls du jemals daran gezweifelt hast, so bitte ich dich um Verzeihung. Ich habe mich zu sehr vor mir selbst geschämt, um dir die Wahrheit zu gestehen. Trotzdem hoffe ich inständig, dass du mir eines Tages vergeben kannst.«

Paul hielt die Augen geschlossen, weil seine Lider wie Feuer brannten. Er mühte sich, die Tränen zu unterdrücken, aber er konnte nicht verhindern, dass kleine Rinnsale in sein Haar sickerten. Seine Kehle war wie ausgedörrt, und Schlucken und Atmen schmerzten sehr. Vorsichtig öffnete er die Lider und erblickte das Spiegelbild seiner eigenen schmerzvollen Züge. Als Frederic sich zum Gehen anschickte, hielt Paul ihn mit krächzender Stimme auf. »Ich bin nicht mehr wütend auf dich … Vater.«

Im Spiegel ihres Frisiertisches beobachtete Charmaine ihren Mann. Seit sie nach Hause gekommen waren, hatte er keine zwei Worte mit ihr gewechselt. Sie fand seine mürrische Stimmung eher erheiternd und wollte ihn ein wenig necken.

»Wie geht es Paul?«, fragte sie.

Als John nur brummte, trat ein Funkeln in ihre Augen. Aber John sah nicht zu ihr hin, sondern setzte sich aufs Bett und zog seine Stiefel aus.

Charmaine machte eine ernste Miene und ging zu ihm hinüber. »Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich Paul pflege, bis er wieder ganz bei Kräften ist?« Mit diesen Worten bückte sie sich, zog ihm den zweiten Stiefel vom Fuß und warf ihn in die Ecke.

»Den Teufel wirst du tun!«, explodierte John und wollte aufspringen.

Aber sie stieß ihn zurück. Dann drückte sie ihn aufs Bett hinunter und kicherte. »Der große John Duvoisin, der alle Welt zum Narren hält, verträgt keinen Spaß!«

Als er die Brauen runzelte, glättete sie mit dem Finger seine Stirn und betrachtete seine Gesichtszüge. »Wenn du jetzt noch nicht weißt, dass mein Herz nur dir gehört, dann bist du ein Narr, Mr Duvoisin.«

Bevor er etwas sagen konnte, verschränkte sie die Hände hinter seinem Kopf und küsste ihn mit großer Leidenschaft.

Er umfing sie mit den Armen und rollte sie auf den Rücken. »Mein wildes, hemmungsloses Weib!«, stieß er hervor, bevor sich alle weiteren Gedanken verflüchtigten.

Samstag, 19. Mai 1838

Die nächsten beiden Tage war Paul damit beschäftigt, sich von dem Geruch des Getreides zu befreien, der in seine Haut, in sein Haar und seine Nase eingedrungen war. Seine Kehle war ausgedörrt, und er konnte gar nicht genug trinken, um den ständigen Durst zu löschen. Sein Körper schmerzte von Kopf bis Fuß, besonders die Brust. Dr. Hastings hatte die verletzten Rippen fachmännisch bandagiert, sodass er einen Halt hatte, aber dafür verzog er bei jeder noch so kleinen Bewegung schmerzhaft das Gesicht. Trotz allem war Paul glücklich, dass er noch am Leben war. Alle waren so sehr bemüht, es ihm bequem zu machen, dass er binnen kürzester Zeit ihrer Fürsorge überdrüssig war.

Charmaine nutzte die Zeit, um eine neue Freundschaft mit Paul zu begründen. Sie mochte ihn, auch wenn John das nicht ganz verstand, und bedauerte die Entfremdung. Paul war immer ihr Schutz, ihre Festung gewesen, und sie schämte sich ihrer hasserfüllten Worte.

Gegen Ende der Woche traf sie ihn einmal im Wohnraum an, als er in einem Sessel saß und Zeitung las. Bei ihrem Eintritt erhob er sich so schnell, wie der Verband um seine Rippen das zuließ.

»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte sie.

»Sehr viel besser, danke. Und Ihnen?« Er hatte gehört, dass ihr die morgendliche Übelkeit zusetzte. Trotzdem sah sie bezaubernd aus. Die Mutterschaft bekam ihr gut.

»Mir geht es bestens.«

Stille breitete sich aus. Ihr wurde mulmig zumute, als Paul immer näher kam, bis er nur noch einen Atemzug von ihr entfernt war. »Sie sind glücklich, nicht wahr?«, raunte er.

»O ja.« Sie seufzte. »Sehr sogar.«

»Ich hätte Sie genauso glücklich machen können.«

»Wenn ich Ihren Bruder nicht getroffen hätte, ganz sicher, Paul.«

Er nickte versonnen, als ihm klar wurde, was er verloren hatte. Charmaine gehörte jetzt zu John, und er tat gut daran, das zu respektieren. Mit einer zarten Bewegung strich er ihr eine Locke hinters Ohr.

Sie zuckte nicht zurück und hätte beinahe geweint. »Ich möchte gern, dass wir Freunde bleiben, Paul«, flüsterte sie.

»Ich werde immer für Sie da sein, Charmaine. Sie müssen mir nur sagen, was Sie brauchen.«

Freitag, 25. Mai 1838

John war aufgebracht. Schon den ganzen Nachmittag über hatte es in ihm gegärt, und nun musste es heraus.

Charmaine sprang auf, als er die Schlafzimmertür hinter sich zuwarf. »Was ist geschehen?«, fragte sie besorgt.

Er rannte ein paarmal hin und her und blieb unvermittelt stehen. »Ich bin außer mir!«

Offenbar hatte sein Zorn mit ihr zu tun, aber sie war ratlos, was ihn so aufgebracht haben könnte. »Und warum?«

Ihre Frage reizte ihn noch mehr. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Spiel nicht die Unschuldige!«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Allmählich ärgerte sie sein kindisches Benehmen. »Warum sagst du nicht einfach, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist?«

»Als ich heute Nachmittag aus dem Stall kam, habe ich gesehen, wie Paul dich umarmt hat. Ihr habt beide gelacht!«

Charmaine kicherte erleichtert, aber John fand das weniger lustig. »Findest du das witzig?«

»Überhaupt nicht, denn du hast dich getäuscht. Ich bin auf der obersten Stufe der Veranda gestolpert, weil ich Jeannette mit dem schweren Limonadentablett helfen wollte. Zum Glück war Paul da und hat mich aufgefangen. Weil das sicher komisch ausgesehen hat, musste ich lachen. Paul ging es genauso.«

Die Erklärung schien ihn nicht zu beruhigen. Charmaine wusste nicht, was sie noch sagen sollte. »Du regst dich doch nicht nur auf, weil ich gestolpert bin? Ich bitte dich, John! Die Zwillinge waren ebenfalls auf der Veranda. Ich bin einfach nur ausgerutscht!«

»Richtig«, murmelte er, »genauso fängt es an … mit einem harmlosen Ausrutscher.«

Sie runzelte die Stirn. »Was sagst du da? Hat deine Affäre mit Colette etwa auch so begonnen? Ist sie dir in die Arme gestolpert?«

Ihre rasche Auffassungsgabe behagte ihm gar nicht, und er wandte sich ab. Aber so schnell wurde er Charmaine nicht los. »Ich sage dir etwas, John Duvoisin!«, schimpfte sie. »Ich bin nicht Colette, und ich werde niemals zulassen, dass du uns vergleichst.«

»Charmaine …«, begann er in sanfterem Ton.

»Nein! Ich will nichts mehr davon hören!« Sie rannte aus dem Zimmer und warf die Tür ins Schloss.

John seufzte. Er kam sich vor wie ein Idiot. Warum sollte sie sich wegen einer so harmlosen Szene schuldig fühlen? Ich muss lernen, ihr zu vertrauen, wenn unsere Ehe keine Farce werden soll!

Dann wurde ihm klar, dass sich sein Misstrauen nicht gegen Charmaine richtete, sondern gegen Paul, der Charmaine noch immer verehrte, obwohl sie jetzt verheiratet war. Er schämte sich seines dummen Benehmens, aber nicht Charmaine, sondern Colette gegenüber.

Pauls neue Haushälterin Grace war sehr erleichtert, als Paul endlich nach Espoir zurückkam. Obwohl der Haushalt nach dem Fest längst wieder in gewohnten Bahnen lief, konnte Agatha keine Ruhe finden. Sie geisterte durch die Räume und sprach mit sich selbst. Doch am meisten bestürzten Grace die Stimmen, die Agatha angeblich antworteten. Paul war kaum zu Hause, als die Frau ihm bereits die neueste Entwicklung berichtete.

Abends saß er mit einem Glas Brandy in der Bibliothek. Er fühlte sich wie neugeboren. Charmaine war endgültig verloren. Noch am Morgen hätte er sich fast mit seinem Bruder geprügelt. John hatte ihn im Stall abgepasst und behauptet, er habe Charmaine ungebührlich berührt. Dabei war sie nur gestolpert. Doch das Blut dröhnte ihm sofort wieder in den Ohren, wenn er daran dachte, wie er sie einen Augenblick länger im Arm gehalten hatte. Charmaine hatte vor Verlegenheit gelacht, und er vor Glück. John war völlig zu Recht so wütend geworden. Um solche Vorfälle zu vermeiden, wollte er sich in Zukunft von ihr fernhalten … und die meiste Zeit auf Espoir bleiben. Seufzend leerte er sein Glas und stand auf, um zu Bett zu gehen.

Stimmen in der Halle lockten ihn zur Tür. Agatha stand mitten im Foyer. Ihr Haar war zerzaust, der Morgenmantel war falsch geknöpft, und ihre Augen starrten ins Leere. Offenbar waren die Behauptungen seiner Haushälterin nicht aus der Luft gegriffen. Vor zwei Wochen hatte er Agathas Zustand noch ihrer schlimmen Lage zugeschrieben, doch jetzt war er ehrlich besorgt. Sie sprach nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen, die sie zu sehen glaubte: mit ihrem Bruder, mit Elizabeth und auch mit Colette, wie er vermutete.

»Agatha, was ist los?«

»Oh, Frederic!« Sie seufzte. »Da bist du ja! Ich höre ein Baby schreien, aber ich kann die Wiege nicht finden. Ich weiß nicht, wo Robert ihn hingebracht hat. Bitte, hilf mir, ihn zu suchen.«

»Agatha, ich bin es doch! Ihr Sohn … Paul.«

Sie achtete nicht auf ihn, sondern neigte den Kopf zur Seite, um besser hören zu können. »Hörst du das? Ich glaube, da weinen zwei Babys. Du hast Elizabeth doch nicht hergeholt, oder doch?«

»Agatha …«

»Ihr Bastard kommt mir nicht ins Haus!«

Erregt packte Paul Agatha an den Schultern und schüttelte sie so heftig, dass sie ihn ansehen musste. »Agatha! Mutter!«

Irgendetwas schien ihr zu dämmern. »Paul?«

»Ja, ich bin es. Ich fürchte, Sie schlafwandeln. Kommen Sie, ich bringe Sie wieder zu Bett.«

»Ich bin sehr müde«, murmelte sie. »Sag deinem Vater, dass ich in meinem Zimmer auf ihn warte.«

»Das mache ich, Mutter.«

John fand Charmaine in Pierres Bett, wo sie sich unter der Decke verkrochen hatte. Er hatte alle möglichen Verstecke im Haus abgesucht und kam sich ziemlich dumm vor. »Charmaine?«

Als sie nicht reagierte, nahm er sie auf die Arme und trug sie in ihr Zimmer. Charmaine murmelte im Schlaf und seufzte. Offenbar hatte sie sich in den Schlaf geweint. Er drückte sie an sich und küsste sie aufs Haar. Kurz vor ihrem Zimmer erwachte sie und sah zu ihm auf, als er sie aufs Bett legte.

»Es tut mir leid«, sagte er gepresst. »Ich werde …«

Sie verschloss ihm die Lippen mit dem Zeigefinger. Sie wollte Colettes Namen nicht mehr hören. John ergriff ihre Hand und küsste sie. Dann streckte er sich neben ihr aus und zog sie an sich. Charmaine spürte, wie sich seine Brust an ihrer Wange hob und senkte. Als sie den Arm um ihn schlang, hoffte er, dass ihm vergeben war.

»Ich habe dich gewählt und nicht deinen Bruder, und ich habe auf dich gewartet, obgleich Paul während deiner langen Abwesenheit immer an meiner Seite war. Warum also sollte ich mich ihm jetzt zuwenden? Ich liebe dich, John.«

Er küsste sie aufs Haar und lehnte sich mit geschlossenen Augen in die Kissen. Er glaubte ihr und schwor, die Eifersucht auf seinen Bruder endgültig zu begraben. Trotzdem war er froh, dass Paul wieder auf seine Insel zurückgekehrt war.

Auf Espoir stürzte sich Paul sofort in die Arbeit. Davon gab es genug, und wenn er in der Abenddämmerung nach Hause ritt, war er oft völlig erschöpft und zu nichts anderem mehr fähig, als zu schlafen. Wenn er sich nicht um die Zuckerpflanzungen kümmerte, so beaufsichtigte er den Verkauf der ersten Ernte. Es hatte fast zwölf Monate gedauert, bis das Zuckerrohr auf doppelte Mannshöhe gewachsen war. Die nächsten Felder hatte er zeitversetzt bepflanzt, um sich die Arbeit besser einteilen zu können. Denn mit der Ernte war der schlimmste Teil der Arbeit keineswegs getan. Sobald das Rohr geschlagen war, musste es verladen und zerkleinert werden. Anschließend wurden die Stücke gewässert und durch Walzen gequetscht, um die Melasse zu gewinnen, die im Lager in großen versiegelten Fässern auf den Abtransport wartete.

Paul verfügte über viele tüchtige Arbeitskräfte. Auf Anregung seines Vaters hin hatte er drei seiner besten Männer von Charmantes mitgenommen und sie mit der Leitung der einzelnen Produktionsphasen betraut. Andere Männer ohne eigene Familie waren ihm aus freien Stücken auf die aufstrebende Insel gefolgt, wo sie durch harte Arbeit voranzukommen und ein besseres Auskommen zu finden hofften.

Obgleich der Betrieb inzwischen weitgehend ohne ihn lief, half die Arbeit Paul dabei zu vergessen. Außerdem beflügelten sein Fleiß und sein Ehrgeiz die anderen, die härter arbeiteten als je zuvor. Nach drei Monaten konnte Paul zum ersten Mal tief durchatmen. Die ersten drei Schiffsladungen hatten inzwischen den Hafen verlassen, und das trotz der Regenperiode im Mai und Juni. Fürwahr kein schlechtes Ergebnis … und doch standen sie erst am Anfang.

Ende Juli veranstaltete Paul ein Fest und zahlte seinen Arbeitern eine Belohnung aus. Da sie bisher überwiegend in Zelten hausten, ermunterte er sie, in der Nähe des Hafens einfache Holzhäuser zu errichten, und stellte ihnen das nötige Bauholz zum Selbstkostenpreis zur Verfügung.

Trotz der vielen Arbeit kümmerte sich Paul noch Tag für Tag um Agatha. Eine Zeit lang schien es ihr besser zu gehen, doch sobald er einen Besuch versäumte, folgte sofort die nächste beunruhigende Nachricht seiner Haushälterin. Es war immer dasselbe: Agatha hörte Stimmen. Für gewöhnlich führte sie die Unterhaltung allein, doch immer mal wieder hörte Grace auf der anderen Seite des Raums auch leises Geflüster. Lachend tat Paul ihre Vermutungen als abergläubisch ab, bis Grace eines Tages genug von den beängstigenden Vorfällen hatte und ihren Dienst quittierte.

Samstag, 10. Juni 1838

Glückstrahlend betrat Mercedes die Kapelle.

George wartete am Altar und zitterte vor Aufregung. Als Verstärkung hatte er zwar Paul und John an seiner Seite, aber ihre Neckereien verfehlten die beruhigende Wirkung. Es sei nie zu spät zur Flucht, meinte Paul. Ob er wirklich auf so gute Jahre als Junggeselle verzichten wolle? Keine nächtlichen Besäufnisse bei Dulcie’s, kein Flirt mit den Barmädchen und erst recht kein Schäkern mit den hübschen Mädchen mehr, die es auf ihn abgesehen hatten. »Und dein Geld kannst du von jetzt an auch nicht mehr sparen«, fügte John hinzu.

Als Mercedes hinter den Zwillingen zum Altar ging, strahlte George über das ganze Gesicht. Dieses Lächeln würde er nie mehr verlieren, dachte Charmaine. Neben Freunden und Bekannten waren auch Wade Remmen und die Brownings zur Hochzeit geladen. John und Charmaine standen als Trauzeugen direkt neben dem Altar, und nach der Zeremonie waren sie die Letzten in der Reihe, die den Neuvermählten Glück wünschten. Charmaine küsste Mercedes auf beide Wangen und schloss George in die Arme.

Beim Empfang auf der Veranda kam Caroline Browning auf Charmaine zu. »Meine liebe Charmaine, Sie sehen wirklich wunderbar aus!«

»Es geht mir auch ausgezeichnet«, entgegnete Charmaine mit einer gewissen Zurückhaltung.

»Harold und ich freuen uns so sehr mit Ihnen. Ich wusste, ich würde recht behalten, als ich meine Schwester davon überzeugt habe, Sie hierher nach Charmantes zu schicken! Sehen Sie sich nur den prächtigen Gentleman an, den Sie geheiratet haben!«

Charmaine war verblüfft. Sie erinnerte sich nur zu gut an Carolines beißende Kommentare über die jungen Duvoisins. »Ich hatte wirklich großes Glück, Mrs Browning.«

»Die Ehe bekommt Ihnen, wie man sieht.« In dieser Art ging es weiter, während sie Charmaine von Kopf bis Fuß musterte.

»Auch von mir nur die besten Wünsche, Charmaine«, sagte Harold Browning, als er sich zu ihnen gesellte. »Wie klug von John, Sie zur Frau zu wählen!«

»Das will ich meinen!« Caroline klatschte in die Hände. »Rufen Sie ihn doch her, damit wir ihm ebenfalls gratulieren können!«

Widerstrebend erfüllte Charmaine ihren Wunsch.

John entschuldigte sich bei Mercedes und George und kam zu ihnen.

»Willkommen in unserer Familie«, schnurrte Caroline.

»In Ihrer Familie?«

»Aber ja! Charmaine ist meiner Schwester so lieb wie eine Tochter. Für uns gehört sie zur Familie, John. Ich darf Sie doch John nennen, ja?«

»Zumindest hieß ich heute Morgen noch so.«

Charmaine bemerkte das Funkeln in seinen Augen, doch Caroline entging es.

»Ich habe Ihrer Frau gerade gesagt, dass sie ohne mich nie von dieser Stellung erfahren hätte. Mit etwas Überredungskunst konnte ich meine Schwester davon überzeugen, dass Charmantes genau das Richtige für Charmaine war.«

»Ich danke Ihnen sehr, dass Sie Schicksal gespielt haben, Mrs Browning.«

»Seien Sie doch nicht so förmlich, John. Nennen Sie mich einfach Caroline.«

Harold zupfte unbehaglich an seinem Kragen, während seine Frau weiterplapperte. »Auch ich habe Ihnen zu danken, John. Gwendolyn schreibt, dass ihr der ehrenwerte Mr Elliot den Hof macht. Wenn Sie nicht gewesen wären …«

»Oh, bedanken Sie sich nicht bei mir.« John wedelte mit der Hand. »Das war sozusagen Schicksal … ich meine … die beiden mussten einander einfach begegnen!«

»Trotzdem danke ich Ihnen, denn genau das hat meiner Gwendolyn immer gefehlt … Ein gut aussehender junger Mann, der ihr den Hof macht …«

Rose rief zum Glück kurz darauf die Gäste zusammen, um den Kuchen anzuschneiden. Charmaine und John spazierten hinter den Brownings her zu der kleinen Gruppe hinüber, die sich um Fatimas Wunderwerk versammelt hatte.

»Was meinst du, was sie verlangt?«, murmelte John, als Caroline und ihr Mann außer Hörweite waren. »Ein Schiff, eine Plantage oder Geld?«

Kichernd drückte Charmaine ihren Mann an sich.

Während der nächsten Monate ging John seinem Vater unermüdlich zur Hand. Abends speiste die Familie für gewöhnlich gemeinsam und versammelte sich anschließend im Wohnraum, wo John und George den Mädchen das Schachspiel beibrachten, und, nachdem Yvette lange genug gebettelt hatte, auch das Pokern. »Ich verspreche, dass ich nur noch zu Hause spiele«, sagte sie und sah ihren Vater mit ihren blauen Augen so flehentlich an, dass Frederic einfach nachgeben musste. Zur Verwunderung aller benötigten die Mädchen jedoch so gut wie keine Hilfe mehr.

Zwar wurde Charmaine morgens immer noch übel, aber nicht mehr so schlimm wie zu Beginn ihrer Schwangerschaft. Trotzdem drängte John sie nicht weiter zur Abreise. Charmaine schien mit dem Leben zufrieden zu sein … und zu seiner Überraschung war er es auch. Er genoss die Tage auf der Insel, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Ehe sie sich versahen, wurde aus dem Juli August, und John konnte kaum fassen, wie sehr sich sein Leben in kaum einem Jahr verändert hatte.

Freitag, 24. August 1838

Agatha starrte blicklos quer durch ihren hübschen Salon. Paul erfüllte ihr jeden Wunsch, doch sie wollte nur Frederic. Wie kann ich dich überzeugen, dass ich das alles nur aus Liebe getan habe? Sie verfluchte Elizabeth, ihre Eltern, ihre Ehe mit Thomas Ward und Colette und nun auch noch dieses Unglück! An alledem war nur Elizabeth schuld. Alles drehte sich um sie und endete mit ihr! Elizabeth, Elizabeth, Elizabeth! Wie ich dich hasse!

Im Grunde war ihr Leben mit Thomas Ward nicht anders als ihr jetziges gewesen. Als Offizier der britischen Marine und Sohn einer halbwegs wohlhabenden Familie sollte Thomas junior eines schönen Tages das Geld seines Vaters erben, denn Commodore Thomas Wakefield Ward war nicht gewillt, seinen fünf Töchtern auch nur einen Penny zu hinterlassen. Thomas verehrte Agatha schon lange, bevor sie Frederic kennenlernte, und machte ihr eifrig den Hof, wann immer seine Fregatte im Hafen anlegte. Da er sich während Agathas Schwangerschaft auf See befand, hatte er keine Ahnung, welch gut aussehender Frauenheld inzwischen ihr Herz erobert hatte. Die Ehe mit Thomas Ward bewahrte Agathas guten Ruf und bescherte ihr zugleich ein bequemes Leben an der Seite eines Mannes, der ihr zutiefst ergeben war. Doch ihr Herz war wie tot. Und während sie seine Zärtlichkeiten reglos erduldete, wunderte sich Thomas Ward über die melancholische Stimmung seiner Frau.

Auch das Verhältnis zu ihren Eltern war weiterhin gestört. Selbst als Robert den unehelichen Jungen fortgebracht hatte, würdigten sie ihre Tochter keines Blicks. Es dauerte nicht lang, bis Agathas Verzweiflung in Hass umschlug. Damals hielt nur Sarah Coleburn, ihre Großmutter mütterlicherseits, zu ihr. Sie riet ihr auch zu, Thomas Wards Heiratsantrag anzunehmen.

»Du hast viel durchgemacht, Agatha, und solltest deine Lehren daraus ziehen. Thomas ist ein anständiger Mann. Als seine Frau wird es dir an nichts fehlen, und eines Tages, so Gott will, wirst du als seine Witwe sein Vermögen erben. Oder willst du etwa dein Leben lang auf die Gnade deiner Eltern angewiesen sein?«

An Thomas Wards Arm verließ Agatha ohne jedes Bedauern ihr Zuhause. Ihre Eltern waren erleichtert und ließen auch keine Reue erkennen, als Robert nach Elizabeths Tod mit einem Brief von Frederic nach Liverpool zurückkam. Als Agatha las, dass Frederic sie heiraten wollte, hasste sie ihre Eltern umso mehr. Wenn die sie nicht aus dem Haus getrieben hätten, hätte sie den Mann heiraten können, den sie liebte.

Von da an betrachtete sie ihr Leben als verflucht. Als sie Frederics Antrag in Händen hielt, war sie bereits seit sechs Monaten verheiratet und, was noch keiner wusste, wieder schwanger. Doch dieser Brief besiegelte das Schicksal ihres ungeborenen Kindes. Sie weinte sich an Roberts Schulter aus und bestand darauf, dass er wieder nach Charmantes fuhr und an ihrer Stelle über Paul wachte. Um ihrer Rache willen küsste und liebte sie ihren Bruder und verhieß ihm für die Zukunft unendliche Leidenschaft.

Am Tag seiner Abreise führte sie eine Fehlgeburt herbei, damit sie, falls Thomas bei einem seiner Einsätze ums Leben kam, für Frederic frei war und ihrem Herzen folgen konnte. Dabei wäre sie um ein Haar verblutet. Thomas wurde vom Dienst befreit, und als er sie fast einen Monat lang aufopfernd pflegte, wuchs Agatha dieser mitfühlende Mensch ganz unvorhergesehen ans Herz. Während sie sich langsam erholte, fand sie sich täglich mehr mit einem Leben ohne Frederic ab. So wie Paul schien auch er ihr auf ewig verloren.

»Wir werden wieder Kinder bekommen«, hatte Thomas gesagt und in ihren Armen Zuflucht gesucht. Aber die Monate wurden zu Jahren, und Agatha wurde nicht wieder schwanger. Es blieb ihr Geheimnis, dass sie sich mit dem spitzen Zweig unheilbar verletzt hatte, mit dem sie das Leben ihres ungeborenen Kindes auslöschte.

»Ich sorge mich um dich, meine Liebste«, sagte Thomas während der nächsten Jahre öfter. »Mein Vater will, dass ein Enkel seinen Namen trägt. Er droht, den Sohn meiner Schwester als Erben einzusetzen, sollte ich ohne männliche Nachkommen sterben. Um dir diese Versorgung zu sichern, sollten wir vielleicht doch einen Arzt aufsuchen und sehen, was man tun kann …«

Agatha erschrak. Aus Angst, dass man den Grund für ihre Unfruchtbarkeit entdecken könnte, vertröstete sie ihren Mann. Zuvor wolle sie die Sache mit ihrem Bruder besprechen. »Bei deinem nächsten Einsatz fahre ich nach Charmantes. Ich bin sicher, dass Robert Rat weiß.«

Das war im Sommer 1813. Paul war gerade fünf Jahre alt geworden und schon ein kleiner Mann. Was Agathas Empfang auf Charmantes betraf, so war ihre Sorge völlig unbegründet. Frederic hieß sie in seinem Haus willkommen und bestand darauf, dass sie so lange blieb, wie sie das wünschte.

Er sah auch noch so beeindruckend gut aus wie früher, sodass sie große Mühe hatte, ihn auf Abstand zu halten und seiner Anziehungskraft zu widerstehen. Eigentlich hätte sie Frederic hassen müssen, da er ihr Paul gestohlen hatte und sie niemals mehr Mutterfreuden erleben konnte. Doch wenn sie eines Tages nicht mehr war, würden sich nur Paul und seine möglichen Kinder an sie erinnern. So wurde Paul zu ihrer Obsession.

Außer Paul gab es noch Robert, der in einem fort jammerte. Da er seine Schwester unverändert aufdringlich verehrte, erlaubte sie ihm hin und wieder, sie zu lieben. Er vergalt ihr diese Gunst, indem er Johns Abstammung anzweifelte und Paul als Frederics Fleisch und Blut nach Kräften in den Vordergrund rückte. Frederic fiel lange Zeit auf die Lüge herein und betete Paul an, während er für John nur Hohn und Spott übrighatte. Aber trotzdem war Agatha nicht zufrieden. Solange Paul nicht zum rechtmäßigen Erben des Familienvermögens erklärt war, würde sie keine Ruhe geben.

Als sie Charmantes verließ, nahm sie drei Dinge mit. Erstens das Wissen: Seiner Vergangenheit konnte keiner entfliehen. Wenn sie das nächste Mal nach Charmantes kam, würde sie Frederic verführen. Zweitens die Erkenntnis: Thomas zu verlassen kam nicht infrage. Sarah Coleburn hatte recht: Eines Tages war ihr Mann reich, vorausgesetzt, er überlebte seinen Vater, und wenn sie an seiner Seite blieb, würde sie daran teilhaben. Frederic war zwar für immer in ihrem Herzen, aber sie hatte auf bittere Art gelernt, nicht auf diese Liebe zu vertrauen. Frederic hatte sie benutzt und fortgejagt, als sie am verwundbarsten gewesen war. Verliebt und schwanger … und allein. Selbst wenn sie morgen Witwe wurde, konnte sie nicht unbedingt auf einen weiteren Antrag hoffen. Schließlich hatte ihm nur sein schlechtes Gewissen den vorigen diktiert. Drittens die Gewissheit: Sie wollte nie mehr im Leben mittellos dastehen. Die Zeit war auf ihrer Seite. Da Elizabeth tot und John von Frederic schlecht gelitten war, konnte sie in Ruhe abwarten, bis ihre Zeit gekommen war.

Vom nächsten Sommer an lebte Agatha praktisch zwei Leben: das eine als Frau eines angesehenen britischen Offiziers in England, und ein anderes als verführerische Geliebte, sobald ihr Mann britischen Boden verließ. Sie fuhr so oft wie möglich nach Charmantes, und Frederic und sie liebten einander wieder so innig wie früher. Von Mal zu Mal fiel es Agatha schwerer, ihn zu verlassen. Der Zustand des Commodore verschlechterte sich allmählich, und irgendwann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Thomas seinen Vater beerben würde. Wenn er selbst zu Tode kam, war sie endlich eine reiche und unabhängige Frau, was sie nach all dem Leid und der großen Opfer auch verdient hatte. So ging Jahr um Jahr ins Land, bis dieses Arrangement eines Tages jäh und unerwartet beendet wurde.

Im Frühjahr 1829 wurde Agatha bei ihrer Ankunft auf der Insel plötzlich mit Colette Duvoisin bekannt gemacht. Während Paul in Paris studierte, war sie fast vier Jahre lang nicht nach Charmantes gereist und umso entsetzter, als Frederic plötzlich eine vierunddreißig Jahre jüngere Frau geheiratet hatte. Eine Blitzhochzeit, wie alle sagten. Doch Robert mutmaßte etwas anderes, da Colette ursprünglich an Johns Arm nach Charmantes gekommen war. Aber Agatha hörte ihm nicht zu. Sie erschauderte, wenn sie an die Begrüßung dachte und an Frederics wilde Liebe für seine junge Frau, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Er beachtete Agatha kaum … dabei brannte sie vor Hass. Elizabeth war zurückgekehrt, und die Schlacht um Frederic war aufs Neue entbrannt.

Agatha besprach sich mit Robert, doch der zuckte nur die Schultern. »Er ist jetzt mit ihr verheiratet. Dagegen kannst du nichts ausrichten.«

»Wirklich nicht? Siehst du denn nicht, dass sie eine Wiedergeburt von Elizabeth ist?«

Er lachte ungläubig. »Mach dich nicht lächerlich!«

»Doch, Robert. Colette ist Elizabeth, und Frederic sieht das auch so. Das erkenne ich an seinen Augen! Sie ist zurückgekommen, um …«

»Um was, Agatha?«

»Um mich … und Paul auszustechen … und das Verhältnis zwischen John und Frederic zu kitten!«

»Du irrst dich, meine Liebe, du irrst dich sogar sehr.«

»Begreifst du es denn nicht? John hat ihm seine Elizabeth gestohlen, und jetzt hat er sie ihm zurückgebracht!«

Robert lachte lauthals. »Johns und Frederics fragwürdiges Verhältnis ist soeben endgültig zerbrochen. John hasst seinen Vater und hat Charmantes für immer verlassen. Wenn du Frederic so sehr hasst, wie du sagst, dann müsstest du jetzt eigentlich zufrieden sein. Wenn du Colette als Keil zwischen den beiden Männern benutzt, könnte Frederic womöglich John enterben, und somit würde sein Vermögen an Paul fallen. Die Chancen dafür stehen jedenfalls besser als für deine anderen Intrigen.«

Zutiefst deprimiert kehrte Agatha nach England zurück, und Thomas konnte sich ihre gedrückte Stimmung nicht erklären. Der Tod seines Vaters und die Versorgung seiner Mutter nahmen ihn so sehr in Anspruch, dass Agatha Zeit und Muße fand, um dieses neue Missgeschick gründlich zu überdenken.

Als sie einige Zeit später erfuhr, dass die Dinge zwischen Frederic und Colette nicht zum Besten standen, besserte sich ihre Stimmung zusehends. Während der Wehen hat sie wieder und wieder nach John gerufen, obwohl Frederic an ihrem Bett saß, hatte Robert geschrieben.

Sie begriff schnell, welche Möglichkeiten in der Erkundung des intimen Verhältnisses der beiden schlummerten, aber dazu musste sie zuerst in Frederics Bett zurückkehren. Und das war einfacher als erwartet. Robert bereitete den Boden, indem er bei jeder sich bietenden Gelegenheit sein Mantra vor dem Paar wiederholte: Keine weiteren Schwangerschaften mehr.

Bei ihrem nächsten Besuch auf Charmantes stellte Agatha fest, dass die beiden nicht mehr miteinander schliefen. Aber das Rätsel ließ sich nicht völlig lösen. Frederic gelüstete es sichtlich nach seiner jungen Frau, und Agathas Gespür sagte ihr, dass auch Colette ihren Mann begehrte. Und doch hielten sie sich voneinander fern. Aber warum? War das alles wirklich Johns Schuld?

Agatha nutzte Frederics Verzweiflung und verführte ihn, bevor er später in Colettes Bett zurückkehrte. Danach folgte die Affäre der jungen Frau mit John, und Frederic zog sich zurück und berührte seine Frau kein einziges Mal mehr.

Agatha überlegte, an welchem Punkt sie versagt hatte. Irgendwie hatte Elizabeth trotz allem gewonnen. Zuerst im Tod, dann im Leben und nun erneut im Tod. Sie rieb sich die Stirn. Ihr Kopf schmerzte so unendlich, dass sie um ihren Verstand fürchtete. Sie schloss die Augen … und sah, wie sich die karamellbraunen Augen ihrer Schwester meerblau verfärbten und sie höhnisch anstarrten.

Ich bin noch nicht besiegt, Elizabeth. Frederic hat mir zuerst gehört, und ich habe sein Bett öfter geteilt als du und Colette zusammen! Er wird begreifen, dass ich alles nur für ihn, für unseren Sohn und für unsere unvergängliche Liebe getan habe.

Samstag, 25. August 1838

Paul hatte ein leichtes Abendessen zu sich genommen und sich gerade in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, als plötzlich die Tür aufflog. Im schwachen Licht der Lampe erkannte er die Silhouette seiner Mutter.

»Frederic?«, fragte Agatha mit sanfter Stimme. »Bist du das?«

Als sie näher kam, fiel das Licht auf ihr Gesicht. Ihre Wangen waren bleich, und ihre Augen blickten leer und suchend um sich, als ob er gar nicht da wäre.

Paul stand auf. Um einen guten Eindruck zu machen, schob sich Agatha das zerzauste Haar aus der Stirn und strich ihren Hausmantel glatt.

»Da bist du ja endlich, Frederic.«

»Nein, Agatha. Ich bin es … Paul.«

»Ich muss mit dir reden, Frederic … muss dir alles erklären, damit du mich verstehst …«

»Agatha, Sie schlafen ja noch. Erlauben Sie, dass ich …«

»… ich kann dir alles erklären. Wenn du alles weißt, wirst du mich auch wieder lieben …«