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Sonntag, 8. April 1838

Paul erwachte, als es gerade dämmerte. Sein Kopf schmerzte. Er dachte darüber nach, was er in dieser Woche erreicht hatte, und fühlte sich trotz aller Erfolge niedergeschlagen und mutlos. Sein Rendezvous mit Anne London hatte zwar seinen männlichen Stolz befriedigt, ihm aber sonst nichts gegeben. Am liebsten hätte sie ihn auch noch in sein Zimmer begleitet, doch das hatte er verhindert, woraufhin sie beleidigt davongestürmt war. Wenn er Charmaine in dieser Nacht geliebt hätte, könnte er sie jetzt noch zufrieden im Arm halten und tief und fest schlafen.

Charmaine … hier lag der Grund für seine Kopfschmerzen und seine Niedergeschlagenheit. Er hätte sich nicht dazu drängen lassen dürfen, Anne London zum Ball zu führen, nachdem er Charmaine zuvor eingeladen hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte ihr sogar einen Heiratsantrag gemacht! Er hatte sie am Ballabend als seine zukünftige Frau vorstellen wollen, doch diese Gelegenheit war vertan. Wenn er seine Verlobung erst jetzt bekannt gab, konnte er sich nur noch blamieren. Er hörte das Getratsche bereits: Sie wissen schon, die Gouvernante. Nein, mit ihr war er nicht auf dem Ball. Er hat doch den ganzen Abend mit Anne London verbracht. Erinnern Sie sich? Genau, die junge Frau, die sich um seine Schwestern gekümmert hat und die später mit John zum Ball gekommen ist. Ist das nicht seltsam?

Verdammt! Die letzte Nacht war ein einziges Debakel. Sicher hatte John davon profitiert. Er konnte zwar nicht verstehen, was Charmaine an John so begeisterte, doch er hätte die Anzeichen erkennen können. Die ganze Woche über konnte man sie bereits sehen. Dennoch hatte ihn nichts mehr gekränkt, als Charmaine an Johns Arm auf dem Ball zu sehen. Dabei war es seine Schuld. Wenn er ihr den Antrag früher gemacht hätte, hätte Agatha nicht gewagt, sich einzumischen.

Er verließ das Bett, zog sich an und eilte ins Esszimmer. Um diese Zeit war sicher noch niemand unten, der ihm die Ruhe streitig machen konnte.

Doch zu seinem Pech stürmten die Zwillinge aus der Küche herein.

»Guten Morgen, Paul«, begrüßte ihn Jeannette. »War der Ball nicht wunderschön?«

»Wunderschön fürwahr«, brummte er.

»Hast du Mademoiselle Charmaine gesehen?«, fragte Yvette.

»Nein. Ist sie denn nicht bei euch?«

»Wir haben sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen. In ihrem Zimmer ist sie nicht, und ihr Bett ist auch schon gemacht. Deshalb dachten wir, dass sie hier unten ist, aber Cookie hat sie auch nicht gesehen.«

Paul wurde neugierig. Weit nach Mitternacht hatte John mit Charmaine den Ball verlassen. Welchen Grund konnte es geben, dass sie so früh am Morgen aufstand und ihr Bett machte? Aber selbst wenn es so gewesen war, warum hatte sie den Kindern nicht gesagt, wohin sie ging? Plötzlich war sein Misstrauen geweckt.

»Ich habe eine Idee! Wir fragen John, ob er weiß, wo Mademoiselle Ryan ist. Yvette, du bekommst fünf Dollar, wenn du ihn dazu bringst, seine Tür zu öffnen.«

Zweifelnd sah Yvette ihren Bruder an, aber eine solche Summe konnte sie nicht ausschlagen, ganz gleich, was er dafür verlangte. Sie hatte schon für sehr viel weniger Bezahlung viel riskiert. Als sie vor Johns Zimmer angekommen waren, nickte Paul ihr aufmunternd zu.

Als Charmaine erwachte, erhellte das erste Tageslicht den Raum. Sie lag mit angezogenen Knien auf der Seite. Johns Brust schmiegte sich an ihren Rücken, seine Beine hatte er unter ihre geschoben, und einer seiner Arme lag besitzergreifend über ihren Schultern. Sie fühlte seinen ruhigen Atem in ihrem Nacken und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Sie hatte nicht lange geschlafen, aber dafür wunderbar tief und fest. Jetzt gehörte sie zu John. Bitte, lieber Gott, mach, dass er auch zu mir gehört.

Als ob sie den Wunsch laut ausgesprochen hätte, bewegte er sich, und sein Arm umschlang sie fester. Er küsste ihren Hals, und sie ahnte, dass er lächelte. Sie verharrten noch einige Zeit in dieser träumerischen Ruhe, bis er sich schließlich auf den Rücken rollte. Als Charmaine sich umdrehte, um ihn anzusehen, rollte er ihr Kissen zusammen, stopfte es unter seinen Arm und nickte ihr zu. Sie hatte sich gerade an ihn geschmiegt, als es klopfte.

Erschrocken fuhr sie in die Höhe und zog das Laken bis über ihre Brüste empor. Als es wieder klopfte, legte John den Finger auf die Lippen. »Wer ist da?«, fragte er.

»Ich bin es, Johnny«, sagte Yvette in halblautem Flüsterton. »Darf ich reinkommen?«

»Was willst du?« Er stand auf und schlüpfte in seine Badehose. Als sich Charmaine in gespieltem Entsetzen abwandte, musste er sich das Lachen verkneifen.

»Jeannette und ich suchen Mademoiselle Charmaine.«

John half Charmaine in ihren Morgenmantel und führte sie geräuschlos ins Ankleidezimmer. »Bleib hier«, flüsterte er, während seine Lippen zart die ihren liebkosten, »und verlasse den Raum nicht ohne mich!«

Er nahm einige Sachen aus dem Schrank, packte seine Stiefel und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Dann schloss er die Tür.

»… aber dort ist sie auch nicht«, sagte Yvette, als er in seine Hose schlüpfte. »Hast du sie gesehen?« Die Stille hinter der Tür ärgerte sie. »Mach endlich auf!«

»Ich ziehe mich gerade an«, rief John. »Habt ihr schon unten gesucht?«

»Habe ich doch gesagt … sie ist nirgends. Mach auf!«

Er schlüpfte in sein Hemd. »Einen Moment. Ich komme ja schon.«

Yvette schnappte sich die Fünf-Dollar-Note und schob sie in die Tasche, bevor John öffnete. Er war erstaunt, auch seinen Bruder vorzufinden.

»Guten Morgen, Paul. Suchst du auch nach Charmaine?«, fragte er, während er die letzten Knöpfe schloss.

»Genau das.« Paul spähte über Johns Schulter in den leeren Raum. »Wir sind sehr besorgt. Wie es aussieht, hat sie letzte Nacht nicht in ihrem Bett geschlafen.«

»Und du vermutest, dass sie woanders geschlafen hat?«, fragte John sarkastisch und funkelte seinen Bruder an. »Ist das so?«

Paul sparte sich die Antwort.

John kehrte zu seinem Bett zurück. »Habt ihr schon in der Kapelle nachgesehen?« Er setzte sich und zog seine Stiefel an.

Yvette rümpfte ihr Näschen. »Für die Messe ist es doch noch viel zu früh.«

»Trotzdem würde ich dort nachsehen. Vielleicht hat sie sich über etwas aufgeregt und wollte allein sein.« Er drehte sich zu seinen Schwestern um. »Ihr solltet auch oben suchen. Vielleicht war es ihr ja zu laut, und sie hat irgendwo in den oberen Räumen geschlafen. Ach ja, Paul … du könntest auch im Bootshaus nachsehen.«

Paul runzelte die Stirn. John musste ihn letzte Nacht mit Anne beobachtet haben.

»Im Bootshaus?«, fragte Jeannette. »Was soll sie denn dort machen?«

»War nur so ein Gedanke.« Grinsend zuckte John die Schultern und ging dann mit schnellem Schritt davon.

Die Zwillinge rannten nach oben, wo die Dienstboten wohnten, doch Paul blieb noch einen Moment stehen und starrte unentschlossen auf den Türknauf. Vielleicht hatte sie sich im Ankleidezimmer versteckt? Er zögerte, aber dann entschied er sich dagegen. Falls Charmaine die letzten Stunden mit John verbracht hatte, würde er alles abstreiten. Und ihr traute er eine solche Dummheit, ehrlich gesagt, nicht zu.

Plötzlich verspürte er Hunger. Er ließ die Messe Messe sein und kehrte ins Esszimmer zurück, um zu frühstücken.

Keine halbe Stunde später kehrte John mit einem frischen Laken und Kleidern für Charmaine ins Ankleidezimmer zurück. Sie versuchte gerade, ihr Haar mit seinem Kamm zu entwirren. An eine Bürste hatte er nicht gedacht.

Sie fuhr herum, als er so plötzlich eintrat, und errötete bei der Erinnerung an die vergangene Nacht.

Sie war unglaublich schön. Johns Herz setzte einen Schlag lang aus. Er spürte, wie ihr schüchternes Lächeln ihn erregte … aber dafür war später noch Zeit genug. Der Gedanke, dass er von nun an unendlich viele Nächte mit dieser Frau verbringen würde, ließ ihn lächeln.

»Die Luft ist rein, my charm. Die Mädchen suchen im oberen Stockwerk, und ich finde dich unten in der Kapelle, wo du auf die Messe gewartet hast.«

Er überlegte, ob sie Pauls Stimme im Flur gehört hatte, fragte aber nicht, sondern umfasste ihr Kinn und küsste sie sanft auf die Lippen.

Sie dachte an die vergangene Nacht und musste sich an ihm festhalten, um nicht zu schwanken.

»Das war das lange Warten wert, my charm

Er kehrte ins Schlafzimmer zurück, damit sie sich in Ruhe anziehen konnte. Als sie fertig war, breitete er gerade das frische Laken über das befleckte. »Morgen verstehst du das«, erklärte er auf ihren fragenden Blick hin. Wortlos half sie ihm, das Bett zu machen.

»Jetzt komm«, sagte er. Vorsichtig spähte er nach allen Seiten, bevor er sie aus dem Zimmer führte. Rasch gingen sie ins Foyer hinunter und in den unaufgeräumten Ballsaal. Die Bediensteten waren bis spät in die Nacht beschäftigt gewesen und noch nicht zur Arbeit erschienen. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen.

»Es ist doch noch viel zu früh für die Messe«, sagte Charmaine, als John sie zur Kapelle führte. In diesem Moment schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, und sie blieb wie vom Blitz getroffen stehen.

»Was ist los?«, fragte John.

»Ich habe eine schwere Sünde begangen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Jedermann wird es wissen, wenn ich nicht zum Abendmahl gehe.«

»Sorge dich nicht.« Das klang zwar freundlich, oder wollte er sich nur über ihren Glauben lustig machen? Auf das, was jetzt kam, war sie jedenfalls nicht gefasst. »Wir sind nicht zur Messe hergekommen, Charmaine, sondern zu unserer Hochzeit. Das heißt … falls du mich überhaupt willst.«

Charmaine war sprachlos. Als sie in Johns Ankleidezimmer allein war, hatte sie die Wirklichkeit eingeholt. Sie hatte sich bitterste Vorwürfe gemacht, dass sie ihrer Lust gefolgt war. Zeitlebens war sie immer ein anständiges Mädchen gewesen! Selbst die Erinnerung an ihre Liebesnacht, an den wunderbaren Augenblick, als sie völlig eins waren, konnte den Vorwurf nicht mindern. Es stimmte. Sie hatte sich leichtsinnig an ihn verschenkt, denn bis zu diesem Moment hatte sie nicht gewusst, ob er sie genauso begehrte wie sie ihn.

»Ob ich dich haben will?«, fragte sie völlig entgeistert. »Soll das ein Scherz sein?« Doch ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, dass er es ernst meinte. Mit einem Freudenschrei warf sie sich in seine Arme. »Aber natürlich will ich dich!« Er hob sie hoch und wirbelte sie herum, und als er sie absetzte, zitterte sie am ganzen Körper, und ihre Wangen waren tränennass.

Zusammen betraten sie die Kapelle, wo Father Benito eine festliche Messe für die zahlreichen Gäste vorbereitete. John fasste Charmaine an der Hand und führte sie zum Altar. Als er den Grund ihres Kommens erklärte, widersprach der Priester sofort. Während der Fastenzeit könne er das Sakrament der Ehe nicht spenden. »Heute ist Passionssonntag. Das ist ganz unmöglich. Das nächste Problem ist die Beichte«, fuhr er fort. Bevor er weitersprechen konnte, wedelte ihm John mit einem Bündel Zehn-Dollar-Noten vor der Nase herum. Charmaine konnte kaum glauben, wie schnell der Priester zugriff, sich wortlos bekreuzigte und ihnen die Absolution erteilte.

In diesem Moment betraten Mercedes und George die Kapelle.

»Unsere Trauzeugen, my charm«, erklärte John.

Keine fünf Minuten später hatten sie das Eheversprechen abgelegt und waren Mann und Frau. Charmaine meinte zu träumen.

»Und was machen wir jetzt, my charm?«, fragte John. »Die Messe beginnt erst in einer Stunde. Wir können uns doch nicht in alle Ewigkeit verstecken.«

»Stimmt. Wahrscheinlich suchen auch die Mädchen noch immer nach mir.«

»Warum gehst du nicht einfach ins Kinderzimmer, als ob nichts gewesen wäre?«, schlug John vor. Am liebsten hätte er sie natürlich in sein Zimmer mitgenommen, doch das musste bis zum Abend warten.

Auf dem Weg nach oben begegneten sie vereinzelten Gästen, die müde und unausgeschlafen umherirrten und keine Notiz von ihnen nahmen. Charmaine seufzte erleichtert, als sie den Flur vor dem Kinderzimmer erreichten. Hoffentlich musste sie Paul nicht so bald von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Doch genau in diesem Augenblick öffnete sich wie auf ein Stichwort seine Zimmertür.

»Also hast du sie gefunden?«, sagte er.

Charmaine fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Paul musterte sie abschätzend von Kopf bis Fuß, als ob er nach irgendwelchen Geheimnissen suchte. Sie fühlte sich schrecklich unbehaglich.

»Und zwar genau dort, wo ich vermutet habe«, antwortete John. »Sie hat in der Kapelle gebetet.«

Yvettes Stimme schallte durchs Treppenhaus. »Da sind Sie ja! Jeannette und ich haben Sie überall gesucht.«

»Wo waren Sie denn, Mademoiselle?«, fragte Jeannette. »Wir haben überall nach Ihnen gesucht.«

Charmaine sah von einem zum anderen und reagierte schnell auf Pauls prüfenden Blick. »Nach all der Aufregung konnte ich nicht schlafen.«

»Soll das heißen, dass Sie gar nicht im Bett waren?«, fragte er ungläubig.

Zu Johns Überraschung sah sie Paul geradewegs an. »Ich habe mich über etwas aufgeregt, das ich nachts vom Balkon aus gesehen habe.«

Paul schien beeindruckt.

Yvette war neugierig. »Und was war das?«

»Nichts Wichtiges.« Charmaine ermahnte die Mädchen, dass sie sich zur Messe ankleiden mussten.

Wenig später betrat sie die Kapelle ein zweites Mal, aber diesmal mit Yvette und Jeannette an der Hand. Außer ihnen war noch niemand da.

Nachdem sie ihre Gebete gesprochen hatten, erschien John. Yvette sah ihn als Erste. »Was machst du denn hier?«, flüsterte sie, als er Jeannette über seinen Schoß hinweg auf die andere Seite hob, damit er neben Charmaine sitzen konnte.

Er zwinkerte ihr zu. »Ich besuche die Messe.«

Charmaine staunte nicht schlecht. Vorhin hatte er sich verabschiedet, um zu baden und sich zu rasieren, und sie hatte erwartet, dass sie ihn erst beim Frühstück wiedersehen würde. Strahlend vor Stolz sah sie ihn an, weil er hier an ihrer Seite saß. Im Gegenzug hob er ihre Fingerspitzen an seine Lippen und küsste sie. Die Zwillinge warfen sich vielsagende Blicke zu und kicherten.

Charmaine konnte nur raten, was die anderen Mitglieder der Familie dachten, als sie John in der Kirchenbank sitzen sahen. Bescheiden hielt sie den Kopf gesenkt, doch John nickte allen freundlich zu, sobald sie in seine Richtung sahen. Frederic zog eine Braue in die Höhe, und Agatha runzelte die Stirn. Anne reckte die Nase in die Luft, Rose lächelte wissend, und Paul schmollte.

Als Father Benito vor den Altar trat, erhoben sich alle Anwesenden. »Diese Messe ist auf Bitten von Frederic Duvoisin und seiner Kinder dem Gedenken an Colette Duvoisin gewidmet«, erklärte er nach dem Eingangsgebet.

Von Schmerz überwältigt, schloss Charmaine die Augen. Es war jetzt genau ein Jahr her! Wie hatte sie das nur vergessen können? John drückte ihre Hand. Verstohlen sah sie zu ihm auf, doch als er lächelte, wurde ihr Herz leichter. Trotzdem konnte sie sich kaum auf die Messe konzentrieren, weil sie immerfort an das Glück der vergangenen Nacht denken musste. Als sie merkte, dass John sie ansah, errötete sie.

Während der Segnung überlegte sie, ob sie zum Abendmahl gehen sollte, doch als es so weit war, zog John sie einfach mit sich nach vorn. Sie konnte nicht protestieren, ohne dass jedermann aufmerksam geworden wäre. Also kniete sie neben John nieder. Mit großer Geste legte Father Benito John als Erstem die Hostie auf die Zunge. Nachdem auch Charmaine die Hostie empfangen hatte, standen sie auf und kehrten mit gesenktem Kopf zu ihrer Bank zurück. Dort kniete Charmaine noch einmal nieder und betete zu Gott, dass er ihre neue Familie segnete. Besonders ihren Mann. Verzeih, dass ich dein kostbares Geschenk in Sünde angenommen habe, aber ich liebe ihn so sehr.

Als sie John später fragte, warum er darauf bestanden hatte, dass sie zum Abendmahl gingen, lächelte er spöttisch. »Es gibt eine Menge schwere Sünden, my charm, aber die Liebe gehört nicht dazu.«

Am Ende der Zeremonie ergriff Father Benito noch einmal das Wort. »Eine gesegnete Heimkehr allen Gästen, die uns heute verlassen. Doch bevor Sie gehen, möchte John noch einige Worte sagen.«

Zur Überraschung aller erhob sich John und ging nach vorn. »Guten Morgen«, begrüßte er die Versammlung. »Da ihr alle hier versammelt seid, möchte ich die Gelegenheit nutzen und euch meine Frau vorstellen … die Frau, die ich liebe … Charmaine Duvoisin.«

Charmaines Herz vollführte einen Satz, als sie zum ersten Mal ihren neuen Namen hörte.

Johns Blicke ruhten auf den Zwillingen. »Wir wurden heute Morgen getraut, und wir möchten unser Glück mit euch allen teilen.«

Er machte Charmaine ein Zeichen, und trotz anfänglicher Schüchternheit erhob sie sich schließlich voller Stolz. Dann trat er zu ihr und ergriff ihren Arm. Irgendjemand klatschte Beifall, und die Zwillinge fielen begeistert ein.

»Oh, Jonny! Oh, Mademoiselle! Ist das wahr? Ist das wirklich wahr?«

»Ja, Jeannie, es ist wirklich wahr.«

Auf dem Weg nach draußen wurden sie immer wieder aufgehalten. Die Gäste traten einer nach dem anderen vor, um ihre Glückwünsche auszusprechen. Dann war die Reihe an der Familie. Rose drohte John mit dem Finger, aber dann schloss sie ihn herzlich in die Arme. Als George seine Großmutter aus der Kirche führte, versetzte er John einen herzhaften Schlag auf den Rücken. Mercedes fiel Charmaine um den Hals. Pauls Blick dagegen war so finster, dass es Charmaine schauderte. Er musste es ja früher oder später erfahren, warum also nicht gleich? Er sagte nichts, sondern starrte seinen Bruder nur unverwandt an, und John starrte ebenso unerschrocken zurück. Agatha gratulierte ihnen herzlich.

Frederic verließ als Letzter die Kapelle. Zu Charmaines Erstaunen ergriff John die ausgestreckte Hand seines Vaters. »Meinen Glückwunsch, John«, sagte er ergriffen. »Mögest du glücklich werden.«

»Ich habe die feste Absicht«, erwiderte John ohne jede Schärfe in der Stimme.

»Und Sie, Mrs Duvoisin, möchte ich ausdrücklich in der Familie willkommen heißen. Ich hoffe, Sie wissen, worauf Sie sich einlassen.«

»Ich denke schon«, sagte Charmaine bescheiden, während Frederic sich zu ihr vorbeugte, sie in die Arme nahm und seine Lippen ihre Wange streiften.

»Wie wäre es jetzt mit einem guten Frühstück?« Er gab den Weg frei und ließ John und Charmaine den Vortritt.

Die Zwillinge schlossen sich ihrem Vater an. »Ist das nicht wunderbar, Papa? Mademoiselle Charmaine gehört jetzt zur Familie! Haben wir dir nicht gesagt, dass alles gut wird, wenn du Johnny einlädst? Und wir haben recht behalten.«

»Das kann ich nur bestätigen«, sagte Frederic. »Kommt jetzt, ich sterbe vor Hunger! Mal sehen, was Fatima uns Gutes aufgetischt hat.«

Cookies Glückwunsch gefiel Charmaine am besten. »Ich wäre nur glücklicher, wenn Sie mich gewählt hätten, Master John!«, rief sie und konnte kaum die Tränen zurückhalten.

John umarmte Fatima überschwänglich.

»Sie sollten mich nicht küssen, Master John. Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben … Sie haben mich zum Weinen gebracht! Hinaus mit Ihnen … heben Sie Ihre Küsse für Miss Charmaine auf!«

Ob es Gerede wegen der heimlichen Hochzeit am frühen Morgen gab, konnte Charmaine nicht feststellen. Während des Tages erhielt sie ständig Glückwünsche, und John stellte sie überglücklich allen vor, die ihren Weg kreuzten.

Von Paul sah sie zum Glück so gut wie nichts. Unmittelbar nach dem Frühstück brach er mit zwei Gästen auf, und sie war erleichtert, weil sie sich schon jetzt vor der Konfrontation fürchtete.

Zum ersten Mal seit Jahren pflegten Frederic und John eine herzliche Unterhaltung. Charmaine schlug die Augen nieder, wenn die beiden sie über den Tisch hinweg ansahen, doch wenn sie Frederics Gedanken hätte lesen können, hätte sie sich vermutlich geschämt.

Frederics Gedanken kreisten um die überstürzte Heirat. Hatte John Charmaine in der vergangenen Nacht verführt? Ihr gerötetes Gesicht ließ das vermuten. Aber das war jetzt gleichgültig. John hatte eine gute Wahl getroffen. Frederic fühlte sich seinem Sohn so nahe wie lange nicht mehr. Offenbar hatte er Colette endgültig begraben und war bereit für Charmaines Liebe. Paul war verärgert, so viel stand fest. Doch wenn er dieselbe Liebe wie John empfunden hätte, hätte er sich Charmaine sicher nicht entgehen lassen. Er konnte nur hoffen, dass Paul diese Ehe respektierte und sich die traurige Geschichte nicht wiederholte.

Im Lauf des Tages verabschiedete sich der Großteil der Gäste. Sie mussten noch am Abend in die Quartiere auf der Falcon, der Raven und zwei weiteren von Pauls Schiffen zurückkehren, damit diese in der Morgendämmerung Segel setzen konnten.

Agatha seufzte zufrieden, als der letzte Wagen abgefahren war. Der Verlauf der Woche hatte die Anstrengungen gelohnt. Für sie war die Woche wichtig gewesen, denn sie hatte zum ersten Mal als Hausherrin auf Charmantes im Mittelpunkt gestanden. Johns Hochzeit mit der Gouvernante war der Zuckerguss auf dem Kuchen und nach der kleinen Auseinandersetzung mit Frederic Balsam für ihre Seele. Wenn John in den nächsten Tagen Charmantes verließ, würde ihn Charmaine Ryan begleiten. Womöglich nahmen sie sogar die Zwillinge mit. Und wenn Paul endgültig auf Espoir wohnte, hatte sie ihren Mann endlich ganz für sich allein und konnte die wunderbaren Zeiten wieder auferstehen lassen, bevor das grausame Schicksal ihn von ihrer Seite gerissen hatte. Es wurde Zeit, dass sie ihren Bruder besuchte und ihm die guten Neuigkeiten überbrachte …

Als es klopfte, rechnete Robert Blackford eigentlich nur mit einem verzweifelten Patienten. Umso überraschter war er, als seine Schwester vor der Tür stand.

»Oh, Robert«, jubelte sie noch auf der Schwelle, »heute waren mir die Götter wohlgesinnt!«

Als sie sich umwandte, um ihn mit einem breiten Lächeln zu begrüßen, war er längst in seinem Schlafzimmer verschwunden. Agatha folgte ihm. Irgendetwas stimmte nicht. Auf dem Fußende seines Betts stand ein weit geöffneter Koffer, und er packte.

Sie war überrascht. »Verreist du?«

»Ja, ich gehe fort.«

»Du gehst fort? Das ist nicht dein Ernst. Die letzten Tage waren nicht einfach, aber unsere Pläne …«

»Deine Pläne, liebe Schwester, nicht meine.«

»Was soll das heißen? Meine Pläne? Du hast doch alle Träume und Wünsche mit mir geteilt, nicht wahr?«

»Ja, deine Träume und deine Wünsche.«

»Aber, Robert«, flötete sie in süßlichem Ton, »was soll denn das heißen?«

»Auch ich habe meine Wünsche«, zischte er und suchte ihren Blick. »Ich dachte, das hättest du verstanden. Du hast mich im Glauben gelassen, dass ich dir etwas bedeute. Aber nachdem ich in der letzten Nacht beobachtet habe, wie sehr du deinen Mann anhimmelst, kam ich mir plötzlich nur dumm vor. Ich habe mich zu lange mit den Brocken zufriedengegeben, die du mir hingeworfen hast.«

Empört wollte sie widersprechen, aber Robert ließ sie nicht zu Wort kommen. »Frederic bietet uns Sicherheit«, äffte er sie mit Piepsstimme nach. »Ich muss nur zuerst das Unrecht ausgleichen, das an mir verübt wurde … und dann … und dann, Robert, werden wir beide zusammen sein.« Dann sprach er hart und klar weiter. »Du hattest nie die Absicht, Frederic zu verlassen. Selbst jetzt nicht, wo du deine Ziele erreicht hast. Und das nach allem, was er dir angetan hat. Du liebst ihn! Du hast ihn immer geliebt! Selbst als du ihn gehasst hast, hast du ihn geliebt.«

»Ja, ich liebe Frederic!«, schrie sie.

»Warum machst du mir dann etwas vor? Du hast mich immer nur benutzt. Das weiß ich jetzt. Ich sollte in deiner Nähe bleiben, damit du mich für deine Zwecke benutzen kannst.«

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Aber, Robert«, schnurrte sie, »das ist doch gar nicht wahr. Zu Anfang hast du doch sogar gern mitgemacht.«

»Ja. Weil ich dich geliebt habe … und weil ich den Mann verflucht habe, der dich beinahe zerstört hat!«

»Dafür werde ich dich auch immer lieben«, flüsterte sie und fuhr mit den Lippen über seine blässliche Wange. »Du bist doch mein Bruder.«

»Genug jetzt! Schluss mit den Spielchen!« Er schob sie zur Seite und nahm die nächsten Kleidungsstücke aus dem Schrank. »Du brauchst mich nicht länger. Und ich denke, dass ich inzwischen auch genug von dir habe. Zusammen mit den Gästen besteige ich morgen das Schiff nach Richmond und komme nicht mehr zurück.«

»Aber wie soll ich deine Abreise erklären?«

Mit schiefem Lächeln ließ er die Schlösser seines Koffers zuschnappen. »Du brauchst mich nicht, um auf die richtigen Ideen zu kommen, liebe Schwester. Schließlich ist das doppelte Spiel doch deine Spezialität.«

Sie bedrängte ihn nicht weiter und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen.

Durch einen Vorhangspalt sah Robert ihr nach und kämpfte mit den Tränen, als sie in die Kutsche stieg. Alle Hoffnung, dass sie ihn zum Bleiben überreden würde, schwand, als die Pferde anzogen.

Agatha Blackford, die zweite Hälfte seines Ichs, hatte ihn verlassen … für immer verlassen. Dabei hatte er sie nie wirklich besessen. Sein Leben lang hatte er sich eingeredet, dass sie ihn liebte und dass sie ihm eines Tages ganz gehören würde, sobald sie ihre Ziele erreicht hatte. Doch im innersten Herzen hatte er die Wahrheit immer gewusst. Er sank aufs Bett, barg den Kopf in den Händen … und blickte auf die dreißig Jahre zurück, die zu diesem schrecklichen Augenblick geführt hatten.

Schon als Kinder hatten Agatha und er einander immer sehr nahegestanden – zu nahe, nach Meinung seines Vaters. Aber ihre Mutter hatte diese »Liebe« noch gefördert. Schließlich waren sie Zwillinge. Lucy Blackford hatte ihre beiden älteren Kinder vergöttert und die fünf Jahre jüngere Elizabeth eher missachtet, weil sie der Augapfel des Vaters war. Auch hatte sie geflissentlich weggesehen, wenn das kindische Ding unter Robert und Agatha leiden musste.

Robert Blackford war Kaufmann am Mersey River im Herzen von Liverpool und ein halbwegs vermögender Mann, der es sich leisten konnte, seinen Sohn zum Medizinstudium nach Oxford zu schicken. Damals vermisste Robert seine Schwester sehr. Wenn er auch nur geahnt hätte, dass der reichste Lieferant seines Vaters, Frederic Duvoisin, inzwischen ein Auge auf Agatha geworfen hatte, wäre er sofort nach Hause zurückgekommen und hätte der Liebesgeschichte ein Ende gemacht. Selbst heute plagte ihn noch die Eifersucht, wenn er sich erinnerte, wie Agathas Augen bei der bloßen Erwähnung von Frederics Namen geleuchtet hatten.

»Sei doch nicht dumm, Robert«, hatte sie ihm gesagt. »Ich bin eine alte Jungfer, und die Leute reden schon über uns! Ich liebe diesen Mann nicht, und ich werde dich immer in meiner Nähe behalten. Aber die Heirat mit ihm wahrt den Schein und schenkt uns Sicherheit. Außerdem möchte ich vielleicht eines Tages Mutter werden.«

Einige Zeit später wurde bereits die Hochzeit geplant. Agatha glaubte, dass Frederic Duvoisin sie liebte, doch im Grunde wollte dieser nur sein geschäftliches Bündnis mit ihrem Vater festigen und ein Familienunternehmen begründen. Die beiden Männer hatten Robert in einem nächtlichen Gespräch die Vorteile aufgezeigt, die beide Seiten von diesem Handel erwarten durften. Frederic wollte die Waren importieren und Robert senior sich um die Verteilung und die Kunden kümmern.

»Umso besser, wenn Agatha glaubt, dass sie Frederic liebt«, sagte Robert senior beim Verlassen des Gasthauses, in dem Frederic Duvoisin nächtigte.

»Aber sie liebt ihn nicht, Vater«, widersprach Robert.

»Und woher willst du das wissen?«

»Sie hat es mir gesagt.«

»Aber sie ist eine Frau, Robert, und eine wunderschöne obendrein. Sie hat viele Liebhaber abgelehnt, doch jetzt wird es Zeit. Frederic und sie sind ein schönes Paar. Außerdem befördert eine Heirat das Geschäft. Wenn Agatha Frederics Frau ist, wird er keine anderen Händler in England beliefern. Eine medizinische Praxis ist ein zweifelhaftes Unterfangen. Dagegen ist unser Geschäft bestens eingeführt. Du hast also immer etwas, worauf du dich im Fall meines Todes stützen kannst. Schließlich müssen wir auch an Elizabeth denken.«

»Ich muss mich auf nichts stützen, Vater. Ich kann selbst für Agatha und mich sorgen. Aber wenn du dir um Elizabeth Gedanken machst, solltest du vielleicht sie mit Mr Duvoisin verheiraten. Es ist nicht zu übersehen, dass er von ihr angetan ist und sie auch von ihm.«

Als sein Vater schwieg, wusste Robert, dass auch ihm die Zuneigung zwischen den beiden nicht entgangen war. In diesem Moment verfiel er auf den Gedanken, die Hochzeit von Agatha und Frederic zu hintertreiben.

Nachdem das Datum festgesetzt war, lud Frederic die Familie ein, damit sie das Paradies kennenlernen konnte, wo Agatha in Zukunft leben würde. Sie waren fast fünf Monate unterwegs und verbrachten auch vierzehn Tage auf Charmantes. Agatha schwänzelte ständig um Frederic herum, der eifrig seine Rolle als zukünftiger Bräutigam spielte, nicht von ihrer Seite wich und aufmerksam jedem ihrer Worte lauschte.

Aber Robert beobachtete auch, wie Frederic Elizabeth ansah und wie seine junge Schwester reagierte. Irgendwann hatte er genug gesehen. In der Nacht vor ihrer Rückreise zur Hochzeit nach England passte Robert Elizabeth ab, als sie allein im Garten saß. Fast eine ganze Woche lang hatte er sich sorgfältig zurechtgelegt, was er sagen wollte. Letztlich machte ihm Frederic die Sache leicht, indem er erklärte, dass er nicht mit ihnen zurückfahren könne, da ihn Geschäfte nach Virginia und New York riefen und er mit einem anderen Schiff nachkommen wolle.

»Oh, Robert«, seufzte Elizabeth, als sie ihren Bruder kommen sah, »ich werde Charmantes vermissen! Die Insel ist so ganz anders als unser verregnetes England.«

»Bedauerst du, dass wir abreisen müssen oder dass Frederic uns nicht begleiten kann?«

»Weshalb fragst du mich das?«

»Ist das nicht offensichtlich? Du bist doch in ihn verliebt.«

Als sie verlegen hin und her rutschte, fuhr er fort: »Ich denke, dass es Frederic ebenso geht. Und du denkst das auch, nicht wahr?«

»Aber er liebt Agatha und wird sie heiraten!«

»Wahrlich eine Schande!«

»Was meinst du damit?«

»Agatha liebt ihn nicht. Sie heiratet ihn nur wegen Vater und um der geschäftlichen Verbindungen willen, die ihm diese Heirat eröffnet.«

»Du irrst dich«, widersprach Elizabeth. »Agatha liebt Frederic wirklich. Ich habe die beiden doch beobachtet. Sie hängt an jedem Wort, das aus seinem Mund kommt.«

»Wie eine gute Frau das auch tun sollte«, bemerkte er bitter.

Mit fragendem Blick sah Elizabeth ihn an, was seine Eifersucht noch anstachelte und ihm die nötige Kaltblütigkeit verlieh, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. »Sie hat mir selbst gesagt, dass sie ihn nicht liebt. Im Grunde möchte sie nicht einmal heiraten.«

Elizabeth schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben.«

Sein Zorn wuchs. Soll sie doch wissen, wie sich das anfühlt! Lass die Axt fallen! »Sieh doch dich an, Elizabeth! Du bist in Frederic verliebt und möchtest nicht wegfahren – und trotzdem bringen sie dich nach Hause, um dich mit diesem Fatzke Henry Davenport zu verheiraten.«

»Wie bitte?« Elizabeth erbleichte, und Robert jubelte innerlich. Offenbar verursachte ihr schon der Gedanke an diesen schrecklichen Menschen Übelkeit. Sie packte die Bank, als ob sie die Welt anhalten wollte. Kahlköpfig, fett und dreimal so alt wie sie! Henry Davenport hatte mehrmals um Elizabeths Hand angehalten, aber selbst Robert senior hatte sich vor ihm geekelt.

»Genauso ist es«, fuhr Robert fort und trieb damit den letzten Nagel in Elizabeths Sarg. Er kannte seine Schwester. Sie war sehr impulsiv und würde sich ihren Weg in die Freiheit schon suchen. »Am Vorabend unserer Abreise hat er Vater im Pub überredet, und Vater hat nachgegeben.«

Elizabeth schlug die Hand vor den Mund. »Das würde Vater niemals tun! Er weiß, dass ich diesen Mann verabscheue!«

»Das mag schon sein, aber Mr Davenport hat Mutter für seine Idee gewonnen, und die hat die Sache nicht ruhen lassen. Irgendwann konnte Vater das Genörgel nicht mehr hören und hat nachgegeben. Schade, dass ihr euch nicht versteht. Da Agatha nicht mehr lange zu Hause ist, will sie dich auch möglichst bald loswerden.«

»Nun gut.« Trotzig hob Elisabeth das Kinn. »Dann werde ich eben mit Vater sprechen und ihn …«

»Und wenn deine Bitte auf taube Ohren stößt? Vater muss mit dieser Frau leben. Letztlich setzt Mutter immer ihren Kopf durch.«

Langsam begriff Elizabeth die ganze Tragweite. Sie barg ihr Gesicht in den Händen und weinte. »Was soll ich nur tun, Robert? Was soll ich nur tun?«

»Ist ja gut«, tröstete er sie. Diese Angst nahm er ihr doch nur zu gern von den Schultern. »Weißt du … ich wüsste schon einen Weg.«

Verzagt sah sie auf. »Und welchen?«

»Du bleibst einfach hier!«

»Ich soll einfach hierbleiben? Aber …«

»Denk doch nur … du wärst allein mit Frederic, hättest ihn ganz für dich.«

»Einfach hierbleiben?«, murmelte sie wieder.

»Genau … wenn wir abreisen. Wenn Agatha fort ist, kannst du Frederics Gefühle vielleicht für dich gewinnen … und deine Schwester vor einer unglücklichen Zukunft bewahren.«

Robert beobachtete ihre nachdenkliche Miene und wusste, dass sie fieberhaft überlegte. »Und wenn er nichts für mich empfindet, ist mein Ruf ruiniert«, wandte sie ein.

»Das ist richtig. Aber selbst wenn nichts daraus wird … Mr Davenport zieht seinen Antrag auf jeden Fall zurück. Männer wie er heiraten keine Mädchen mit zweifelhaftem Ruf – ganz gleich, ob etwas daran ist oder nicht.«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Du hast recht«, sagte sie, doch im nächsten Moment war sie wieder ernst. Offenbar hatte sich ihr Gewissen gemeldet. »Und Agatha?«

»Ich würde sagen, dass du ihr einen großen Gefallen tust«, sagte er gleichmütig.

»Trotzdem …« Elizabeth schien unentschlossen. »Es kommt mir wie Betrug vor. Was, wenn …«

Er ließ sie nicht aussprechen. »Die Entscheidung musst du selbst treffen. Das kann ich dir nicht abnehmen.«

»Aber … aber wie … wie soll ich es anstellen? Ich kann doch schlecht sagen, dass ich nicht mitfahre. Ich muss auf jeden Fall mit aufs Schiff.«

Na endlich! »Du hast das Problem erfasst …« Er tat, als ob er nachdenken müsse, obwohl sein Plan seit Tagen feststand. »Vor der Abfahrt herrscht immer ein großes Chaos. Ich kann Frederic und Vater ablenken, sodass du unbeobachtet von Bord verschwinden könntest. Mutter und Agatha werden in ihren Kabinen auspacken und annehmen, dass du in deiner Kabine bist.«

»Und wenn mich ein Matrose aufhält?«

»Dann sagst du einfach, dass du etwas im Wagen vergessen hast.«

»Und was, wenn Mutter und Vater entdecken, dass ich nicht an Bord bin? Sicher verlangen sie, dass das Schiff umkehrt.«

»Umso schneller musst du sein. Das Beste aus der Situation machen … keine Zeit verlieren

»Ich sollte Agatha einweihen.«

»Das kannst du gern tun. Aber sei sicher, dass sie mit Mutter redet!«, entgegnete er kalt, weil er mit diesem Einwand gerechnet hatte. »Du weißt, dass deine Schwester dich nicht leiden kann. Sie würde sich sogar die Nase abschneiden, wenn sie dich damit ärgern könnte.« Er lächelte, als sie eine Grimasse zog. Robert hatte recht. Agatha verachtete sie.

Robert hatte nie erfahren, wie genau die Sache abgelaufen war. Wie versprochen lenkte er seinen Vater und Frederic ab. Später, als das Schiff schon einige Zeit unterwegs war, kontrollierte er Elizabeths Kabine. Sie war leer. Und was das Interesse der Familie an seiner kleinen Schwester anlangte, sollte er ebenfalls recht behalten. Sie ließen sich die Mahlzeiten in die Kabine bringen, und so bemerkte niemand, dass Elizabeth gar nicht an Bord war.

Roberts zweite Aktion sollte sicherstellen, dass das Schiff nicht mehr umkehrte. Kurz vor der Morgendämmerung wuchtete er einen der Ballaststeine über die Reling, und fast gleichzeitig ertönte der Schrei »Mann über Bord!« aus den Rahen. Innerhalb der nächsten Stunde hatte man alle Passagiere ausfindig gemacht. Alle bis auf Elizabeth. Man setzte Boote aus, doch die Suche blieb ergebnislos. Man ging davon aus, dass Elizabeth den Sonnenaufgang an Deck bewundern wollte und dabei über die Reling gestürzt war. Man hielt eine Andacht ab, und den Rest der Reise verbrachte die Familie in Trauer. Nicht einmal Agatha schöpfte Verdacht … bis Frederic drei Monate später mit Elizabeth am Arm in Liverpool von Bord ging.

Nie hatte Robert Agatha so außer sich erlebt wie damals, als sie wie ein in die Enge getriebenes Tier getobt und um sich geschlagen hatte. Doch Frederic beeindruckte sie damit nicht. Er löste seine Verlobung mit Agatha und machte stattdessen Elizabeth einen Heiratsantrag. Als Robert senior Einspruch erhob, eröffnete ihm Frederic, dass er Elizabeth kompromittiert habe. Agatha schrie, dass er ihren Ruf genauso beschädigt habe, doch Frederic berief sich darauf, dass ihr Besuch auf Charmantes im Schutz der Familie stattgefunden habe. Niemand würde jemals von ihrem Abenteuer erfahren, solange sie den Mund hielt. Wütend schleuderte ihm Agatha an den Kopf, dass sie sein Kind erwartete. Frederic zögerte kurz, doch nach einem Blick auf ihre schlanke Gestalt nannte er sie eine Lügnerin. Agatha warf sich ihrem Vater zu Füßen und verlangte, dass er Frederic zur Rechenschaft zog, und brachte Robert senior in eine schwierige Lage. Log Agatha? Oder war seine geliebte Elizabeth schwanger? Auf keinen Fall wollte er seinen besten Geschäftspartner verlieren, ganz gleich, welche seiner Töchter Frederic heiratete.

Am Tag darauf versicherte sich Agatha Roberts Hilfe und besuchte Frederic in seinem Quartier. Wenn sie allein mit ihm sprach, konnte sie ihn ja vielleicht zurückgewinnen. Frederic war zwar zerknirscht, aber beirren ließ er sich nicht. Er liebte Elizabeth. Agatha erhielt eine beträchtliche Summe und das Versprechen, dass er für jedes Kind sorgen wollte, das sie in den nächsten fünf Monaten zur Welt brachte. Als sie sich ihm weinend zu Füßen warf, versprach er sogar, das Kind selbst aufzuziehen. Das aber lehnte sie ab und schwor, ihn ihr Leben lang dafür zu schmähen.

Zwei Wochen lang verharrte Agatha in Zorn und tiefer Verzweiflung und verweigerte jede Mahlzeit. Elizabeth wiederum beklagte die Rolle, die sie bei der Sache gespielt hatte. Und Robert wurde zum Vermittler, wann immer Elizabeth Frederic verlassen wollte, um Agatha glücklich zu machen.

Dann plötzlich erhellte ein kleiner Hoffnungsschimmer Agathas Verzweiflung. Elizabeth verschwand spurlos. Sie war ausgeritten, und Stunden später kam ihr Pferd allein zurück. Eine gewisse Hoffnung zeigte sich in ihrem Blick, als Tag für Tag verging und niemand, nicht einmal Frederic, eine Spur von Elizabeth fand. Eine ganze Woche verging, aber dann fand man sie. Halbtot und weggeworfen in einem Straßengraben. Agatha wartete mit angehaltenem Atem – und lächelte, als sie erfuhr, dass Elizabeth mehrmals von einer Bande von Verbrechern vergewaltigt worden war. Elizabeth war beschmutzt … und hatte genau das bekommen, was sie verdiente.

Doch an Frederics Haltung änderte das nichts. Er stand Elizabeth zur Seite und pflegte sie gesund. Angesichts ihrer Not beichtete er sogar seine Verfehlungen – seine Lust auf Agatha und auch das Kind, das Agatha vielleicht erwartete. Später vertraute Elizabeth Robert an, dass ihr Frederics Eingeständnis und sein Schwur, für ein mögliches Kind zu sorgen, die erniedrigende Situation sehr erleichtert hätten. Einige Wochen darauf heirateten Elizabeth und Frederic und kehrten in die Karibik zurück.

Agatha jedoch blieb ohne alle Illusionen zurück. Als sie tatsächlich ein Kind erwartete, tat ihre Familie alles, damit das skandalöse Geheimnis nicht bekannt wurde. Agatha selbst schottete sich gegen alles und jeden ab und sprach nicht einmal mit Robert, der ihr half, ihr Kind zur Welt zu bringen.

Nach langen Monaten der Apathie leuchtete der erste Anflug von Glück in Agathas Augen. Sie hatte ein wunderschönes Kind. Ein kleines Wunder inmitten all ihrer Angst. Manchmal presste sie den Kleinen so fest an sich, dass man ihn ihr kaum aus den Armen winden konnte. Bald war allen klar, dass sie nicht mehr ganz bei Sinnen war. Und ihre Eltern verschlimmerten die Sache noch, indem sie sich weigerten, das Kind auch nur anzusehen. Ein Bastard? Welche Schande! Dieses Kind durfte nicht länger unter ihrem Dach leben! Trotz Agathas Schreien brachte Robert das Kind fort. Seiner Meinung nach war es das Beste für alle, wenn er mit dem winzigen Bündel und einer Amme zum Vater des Kindes in die Karibik reiste. Wenn ich zurückkomme, liebste Agatha, werden wir zusammen sein, und ich werde dich Frederic vergessen lassen!

Doch es sollte anders kommen. Als Robert auf Charmantes eintraf, stand Elizabeth unmittelbar vor der Niederkunft. Das Paar nahm den kleinen Paul mit offenen Armen auf und bat Robert, auch bei Elizabeths Niederkunft zu helfen. Er wollte zwar möglichst schnell zu seiner Agatha zurück, aber er mochte Elizabeth die Bitte nicht abschlagen. Und so kam es, dass er in der schicksalsschweren Nacht auf Charmantes war, als ein neues Leben auf die Welt kam und ein anderes erlosch.

Robert tat, was in seiner Macht stand, um Elizabeths Leben zu retten. Gott weiß, dass er Frederic nicht zum Witwer machen wollte. Womöglich bereute der Mann erneut und heiratete Agatha doch noch. Die Geburt war eine Tortur. Das Kind lag quer, und die Blutung war nicht zum Stillstand zu bringen. Und so starb Elizabeth wenige Stunden später, während Frederic hilflos an ihrem Bett saß.

In den Stunden vor der Morgendämmerung, als sich Frederics Kummer in tödliche Wut verwandelte, fürchtete Robert um sein Leben. »Mann, Sie sind ja ein Metzger … ein Mörder! Agatha haben Sie ohne Gefahr entbunden, aber bei meiner Frau haben Sie versagt! Ich wünschte, es wäre umgekehrt gewesen.«

Obgleich Blackford vor Angst zitterte, verabscheute er Frederic mehr denn je. Wie konnte dieser Mann Agatha nur so kaltherzig den Tod wünschen? Es erleichterte ihn ein wenig, dass er den Vergewaltigern die Schuld zuschieben konnte. Und damit Frederics Angst bestärkte, dass das Kind nicht von ihm sei. »Ich habe getan, was in meiner Macht stand!«, sagte er. »Nach der Vergewaltigung war Elizabeth einfach noch nicht stark genug für eine Geburt.« Als Frederic die Stirn runzelte, fügte er hinzu: »Wahrscheinlich stammt das Kind auch von diesen Verbrechern.«

Frederic erbleichte und wandte sich ab. Doch im Lauf der nächsten Tage wandelte sich seine Wut in tiefe Trauer. Er bereute seinen unbeherrschten Ausbruch und entschuldigte sich bei Robert. Gleichzeitig lud er ihn ein, sich auf Charmantes als Arzt niederzulassen. Doch Robert lehnte ab, weil ihn seine geliebte Agatha in England erwartete. Als Frederic ihm einen Brief an sie mitgab, bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen. Frederic wollte die Dinge in Ordnung bringen: Er wollte Agatha heiraten und damit Pauls Geburt legitimieren.

Während der Rückreise überlegte Robert, was zu tun war, aber er kam zu keiner Entscheidung. Es spielte auch keine Rolle mehr. Robert Blackford senior hatte Agatha kurzerhand mit Thomas Ward, einem ihrer früheren Verehrer, verheiratet, der nichts von Agathas Niederkunft ahnte und überzeugt war, dass sie ihn liebte. Kraft- und mutlos hatte sich Agatha zum ersten Mal dem Willen ihrer Eltern gebeugt. Robert konnte nicht genau sagen, warum er ihr den Brief trotzdem gab, aber ihre Reaktion sprach für sich: Agatha schluchzte an seiner Schulter, und danach erlaubte sie ihm, sie die ganze Nacht hindurch zu lieben.

Als sie eng umschlungen ausruhten, sagte sie: »Wir sind nicht geschlagen, Robert. Im Gegenteil. Darauf werden wir aufbauen … du musst darauf aufbauen … Im Augenblick kann ich ja nicht bei meinem Sohn sein, du aber schon. Elizabeth soll für ihre Schuld bezahlen. Was wäre einfacher, als ihren Sohn leiden zu lassen? Fahre nach Charmantes und richte dir eine Praxis ein. Habe ein Auge auf Paul und gemahne Frederic stets daran, dass er sein Erstgeborener ist. Sein rechtmäßiger Erbe. Paul soll glänzen, während Elizabeths Sohn …«

Ungläubig starrte Robert in Agathas verzerrtes Gesicht. Er spürte, dass sie nicht mehr ganz zurechnungsfähig war, und aus tief empfundener Reue sagte er das, was sie hören wollte. »Für dich, meine Liebste, tue ich alles.«

»Ich liebe dich, Robert«, seufzte Agatha, »und ich werde dich immer lieben. Du bist der einzige Mensch, dem ich je etwas bedeutet habe. Eines Tages werde ich zu dir kommen, und dann werden wir für immer … zusammen sein …«

Ihre Worte griffen ihm ans Herz … und von da an bestimmte das leichtsinnig gegebene Versprechen sein Leben. Er kehrte in die Karibik zurück und erfüllte Jahr für Jahr seine Mission. Bis gestern. Gestern hatte er endlich die Wahrheit erkannt, die er so viele Jahre lang nicht hatte sehen wollen: Agatha war von Frederic besessen.

Robert seufzte tief und zerrte seinen Koffer zur Tür.

John schloss die Tür und sah seinen Vater an. Es behagte ihm nicht, dass sie ausgerechnet hier reden wollten, wo ihre schlimmsten Auseinandersetzungen stattgefunden hatten.

»Halte dich zurück«, hatte Charmaine ihn beschworen. »Dein Vater gibt sich die größte Mühe.« John tat ihr den Gefallen, ohne jedoch rechte Freude zu empfinden. Warum halten nur alle meine Frauen zu meinem Vater?

»Setz dich zu mir, John«, lud Frederic ihn ein.

Sie waren allein. »Hat sich Richecourt verspätet?«

»Nein. Ich wollte zuerst mit dir allein sprechen.«

John machte sich auf das Schlimmste gefasst. Sein Vater reichte ihm mehrere Papiere. »Ich denke, dass alles seine Richtigkeit hat«, sagte er, »aber bevor du es liest, möchte ich dir meine Entscheidungen erklären.«

»Deine Entscheidungen? Ich dachte, es sei alles entschieden?«

»Von deiner Seite vielleicht, aber nicht von meiner.«

John wollte protestieren, doch Frederic winkte ab. »Ich möchte nicht mit dir streiten. Ich bitte dich, hör dir an, was ich zu sagen habe. Falls du Einwände hast, können wir nachher darüber sprechen.«

John schüttelte nur den Kopf und ließ sich in einen Sessel fallen.

»Der erste Punkt betrifft das Sorgerecht für Yvette und Jeannette, das am Tag meines Todes auf dich übergeht. Das ist in meinen Augen nur vernünftig, besonders, seit du mit Charmaine verheiratet bist.«

Das waren die guten Nachrichten, dachte John, und jetzt kommen die schlechten.

»Was die Plantagen und Besitztümer in Richmond betrifft, so werde ich sie Yvette und Jeannette hinterlassen. Ich kenne deine Bedenken in Bezug auf einen bevorstehenden Bürgerkrieg, doch das Land existiert nun einmal. Die Mädchen sind in ein paar Jahren erwachsen, und wenn sie in die Gesellschaft eingeführt werden, was vermutlich in Richmond geschieht, kann der Besitz unter ihnen aufgeteilt werden. Allerdings muss ihn bis zu diesem Tag jemand verwalten. Ich bitte dich, die Interessen deiner Schwestern als ihr Vormund wahrzunehmen.«

»Nein.«

»Lass mich ausreden, John. Ich weiß, dass das Engagement für die Underground Railroad gefährlich ist, aber ich mache dir keinen Vorwurf, dass du zu deinen Idealen stehst. Im Gegenteil. Diesen Charakterzug respektiere ich sehr an dir.«

John hielt sich zurück. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er manipuliert werden sollte.

»Sicher geht es dabei um mehr, als nur um den Transport der Sklaven auf unseren Schiffen. Ich vermute, dass Freedom eine Station auf dem Weg in die Freiheit ist. Kann das System ohne deine Unterstützung weiter bestehen?«

Das hatte John bisher noch nicht überlegt. Im Grunde war er der Garant für Freedom. Kein neuer Verwalter konnte Brian und Stuart den Schutz bieten, wie er das tat. Zuletzt hatte er davon abgesehen, die Station nach Wisteria Hill zu verlegen, weil Freedom durch seine Lage am Appomattox River einen besseren Schutz bei der Verfolgung durch Hunde bot. »Was genau willst du mir sagen, Vater? Willst du wirklich, dass ich deine Plantage auch weiterhin als Station des Fluchtwegs betreibe?«

»Tu genau das, was dir richtig erscheint … bis deine Schwestern alt genug sind«, sagte Frederic schlicht. »Als letzter Punkt wäre da noch Charmantes«, fuhr er dann fort, als ob sie sich über den vorigen Punkt bereits einig wären.

Was kam jetzt?

»Bis heute Morgen wusste ich nicht, was ich damit tun sollte … Paul besitzt Espoir, und George soll Esprit bekommen, weil er sich das durch den treuen Einsatz für unsere Familie verdient hat. Charmantes werde ich deinen Kindern, meinen Enkelkindern, vermachen. Falls du die treuhänderische Verwaltung ablehnst, werde ich Paul damit betrauen, bis deine Söhne erwachsen sind.«

John fluchte verhalten. »Du willst noch immer alles bestimmen, nicht wahr?«

»Ich bin nicht überrascht, dass du so empfindest, John, aber das ist allein meine Schuld. Dir und deinen Kindern ein Stück meines Vermögens zu hinterlassen, ist außer dem Leben das Einzige, was ich euch geben kann. Ich wünschte, dass es anders wäre, und ich bedauere sehr, dass es für uns beide in manchen Punkten einfach zu spät ist.«

John wusste nicht, was er sagen sollte. Die Gefühle seines Vaters entwaffneten ihn, und sein Zorn schwand. So viele Jahre hatte er um die Anerkennung und Liebe seines Vaters gerungen. Doch nun, da sie greifbar waren, hatte er Hemmungen und wechselte lieber das Thema. »Was geschieht mit deinen Schiffen?«

»Wenn ich sterbe, wird Paul sie übernehmen, jedoch mit der Auflage, dass alle Transporte, die du benötigst, kostenfrei abgewickelt werden.«

John schnaubte. Wieder ein Punkt für ihn. Wenn er nicht auf Pauls Großzügigkeit angewiesen sein wollte, musste er sich einen neuen Geschäftspartner suchen. »Und deine Beteiligungen?«

»Die werden gleichmäßig zwischen Paul und dir geteilt.«

»Ich habe doch gesagt …«

»Tu, was du willst, aber das ist Ende der Woche erledigt. Ich habe mehr Geld als genug, um bis ans Ende meiner Tage zufrieden leben zu können. Ich will nicht, dass das Vermögen der Duvoisins unsere Beziehung noch länger belastet.« Er musste schlucken. »Ich habe dich eingeladen, um von vorn zu beginnen, mein Sohn. Die Sache mit Agatha und Stephen tut mir sehr leid. Agatha hat bekommen, was sie wollte, und jetzt ist auch noch Paul wütend auf mich.«

»Wütend?« John wunderte sich. »Auf dich? Wie das?«

»Er hat erfahren, dass Agatha seine Mutter ist.«

»Das ist nicht dein Ernst!« John lachte ungläubig, aber durch Frederics Bestätigung ergab der Irrsinn einen Sinn. Agatha hatte Paul als ihren Sohn stets bevorzugt.

»Ich kannte Agatha lange vor deiner Mutter. Ich habe ihr Treue geschworen, und dann haben wir uns geliebt. Für Agatha war es Liebe, aber für mich gab es eher geschäftliche Gründe. Dann habe ich deine Mutter kennengelernt und zum ersten Mal in meinem Leben erfahren, was Liebe ist. Zu Anfang habe ich mich an den Treueschwur gebunden gefühlt und meine Gefühle für deine Mutter ignoriert. Aber diese Liebe zu opfern war mir unmöglich. Also habe ich die Verlobung mit Agatha gelöst und stattdessen Elizabeth geheiratet, obgleich ich wusste, dass Agatha ein Kind von mir erwartete.«

John war entsetzt. »Kein Wunder, dass sie meine Mutter gehasst hat …«

»Und dich«, ergänzte Frederic.

»Also ist Paul doch älter als ich.«

»Genau drei Monate.«

Mit einer gewissen Wehmut erzählte Frederic die ganze Geschichte. Als er fertig war, holte John tief Luft. »Warum hast du denn Paul nie die Wahrheit gesagt?«

»Ich habe mich geschämt.«

John war erstaunt. In seinen Augen war sein Vater ein verbitterter Mann mit einem harten Herzen. »Und warum hast du mich als deinen Erben eingesetzt?«

»Weil du ehelich geboren bist, weil du Elizabeths Sohn bist, und weil ich dich, als du älter wurdest, nur so für meine Ablehnung in deiner Kindheit entschädigen konnte.«

Ungewohnte Worte, dachte John. »Und jetzt weiß Paul Bescheid und ist böse auf dich.«

»Genau. Aber seinen Gästen zuliebe hat er sich während der Woche zusammengenommen. Der Schaden ist angerichtet, aber früher oder später musste es ja gesagt werden.«

John nickte. Frederic deutete auf den Papierstapel. »Kannst du die Punkte so akzeptieren?«

John grinste. »Nicht wirklich, Vater, aber was würde das ändern?«

Yvette versuchte, das Gekicher im Flur zu überhören. Sie hatte versprochen, artig mit ihrer Schwester im Kinderzimmer zu warten, bis Charmaine oder John sie abholten. Dieser Morgen war der beste seit langem, aber am allerbesten war, dass John und Mademoiselle Charmaine jetzt verheiratet waren. John war nach unten gegangen, um etwas zu erledigen, und Charmaine hielt ein Schläfchen. Yvette saß mit dem Rücken zur Tür, die nur angelehnt war, und starrte geflissentlich in ein Buch. Als im Flur plötzlich jemand übermütig lachte, sah sie kurz zu Jeannette hinüber, doch die saß versunken an ihrem Pult und übte Schönschrift. Leise kroch Yvette auf allen vieren zur Tür und spähte durch den Spalt.

John griff nach Geoffrey Elliots Verträgen. Er hatte nur einen einzigen unterschrieben. Doch statt sie einfach zu verlängern, hatte Elliot sie neu verfasst, und nun waren sie fehlerhaft.

In der Halle lief er Travis über den Weg. »Ist Richecourt noch bei meinem Vater?«

»Nein, Master John. Ihr Vater war allein, als ich gerade bei ihm war.«

»Na, wunderbar«, brummte John unwirsch. »Dann muss ich ihm wohl oder übel nachreiten, wenn ich ihn noch erwischen will.«

»Musst du überhaupt nicht, Johnny«, rief Yvette von oben.

Er ging zur Treppe. »Hast du Mr Richecourt gesehen?«

»Vielleicht …«

John seufzte. »Also gut, wie viel?«

»Zehn Dollar.«

»Du bist ja verrückt.«

»Also gut, dann einen.«

»Das ist es nicht wert.«

«Oh, doch. Du wirst schon sehen.«

John neigte den Kopf, als ob er hinter ihrer Stirn lesen wollte. »Na gut … einen Dollar.«

»Und dazu die fünf, die ich heute früh von Paul bekommen habe. So viel habe ich noch nie an einem einzigen Tag verdient!«

Erstaunt sah John seine Schwester an, und dann dämmerte ihm, warum Paul sich heute Morgen so seltsam benommen hatte. Im Moment gab es jedoch Wichtigeres. »Also, wo ist er?«

Yvette verzog die Lippen zu einem Grinsen. »In Felicias Zimmer. Wann bekomme ich mein Geld?«

John stieß die Tür auf … und erblickte Edward Richecourt auf allen vieren über dem Hausmädchen. Sein blanker Allerwertester ragte aus einem See von Decken, Laken und Kleidungsstücken empor, und seine baumelnde Männlichkeit war allen Blicken preisgegeben. Entsetzt tauchte Richecourt unter die Decken und zog sie bis ans Kinn empor.

»Heilige Kokosnuss, Pitchfork!«

»Es ist nicht so … wie Sie denken …«, stotterte der Anwalt mit flammend rotem Gesicht.

»Es liegt mir fern, irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen.« John grinste. »Für eine rechtliche Beratung kann man so oder so bezahlen. Ah, wusste ich doch, dass ich eines Tages Ihr Horn zu Gesicht bekommen würde, Pitchie.«

»Ich habe keine Hörner!«

»Da wird Felicia aber enttäuscht sein.«

»Es ist unhöflich, einfach so hereinzuplatzen«, brummte Richecourt. »Gibt es etwas Wichtiges?«

»Ich habe Juniors Verträge gelesen.« John hob die Papiere in die Höhe. »Sie wollen sie vermutlich noch durchsehen, bevor Sie sie weitergeben. Es sind einige Nachbesserungen nötig.«

»Geben Sie her.« Richecourt streckte den Arm aus.

»Holen Sie sie doch!«

Der Anwalt funkelte ihn an. »Legen Sie sie auf die Kommode. Ich sehe sie später durch.«

»Das geht nicht. Wir müssen noch ein paar Notizen durchsprechen.« John grinste und wedelte herausfordernd mit den Papieren.

Felicia schmiegte sich eng an Richecourt und kicherte.

Der Anwalt sah sich suchend nach seinen Kleidern um, doch die lagen auf einem kleinen Haufen neben Johns Füßen. Nach kurzem Zögern schwang Richecourt die haarigen Beine über die Bettkante und packte das Laken. Er zog es so lange mit sich, wie der Stoff reichte, und streckte die Hand aus, aber John hielt die Papiere noch ein Stück weiter nach hinten. Verzweifelt tat der Anwalt noch drei Schritte, wobei das Tuch von ihm abfiel und wabbelige Arme und ein rundes Bäuchlein enthüllte.

Ungläubig musterte John seine Figur und dann Felicia. »Ganz schön unter Niveau, was du dir da gegen meinen Bruder eingetauscht hast, findest du nicht?«

»Geben Sie mir die Papiere!«, bellte Edward. Er riss John die Verträge aus der Hand und bedeckte seine Scham damit.

»Aber, aber, Junior wäre entsetzt, wenn er wüsste, dass seine Verträge als Feigenblatt dienen, um eine verschrumpelte – ich meine, verbotene – Frucht zu verhüllen.«

»Hinaus! Hinaus mit Ihnen!«

Trotz ihres Schläfchens war Charmaine nach dem Dinner so müde, dass ihre Lider brannten. Auch die Zwillinge waren am Ende ihrer Kräfte. Sie scheuchte die Mädchen nach oben, während John, Mercedes und George im Wohnraum Verlobung feierten. Überrascht fuhr sie herum, als plötzlich Paul ins Kinderzimmer trat.

»Yvette, Jeannette, ich möchte mit Charmaine reden … allein. Und wenn ihr wisst, was gut für euch ist, dann rennt ihr jetzt nicht gleich zu John.«

Seine finstere Miene jagte den Mädchen Furcht ein. Verstört sahen sie Charmaine an.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte diese. »Bitte wartet nebenan im Spielzimmer auf mich.«

Charmaine machte sich auf das Schlimmste gefasst, und zugleich freute sie sich darauf, wenn die Aussprache endlich überstanden war.

»Was ist letzte Nacht geschehen?«, fragte Paul.

Sein ruhiger Ton überraschte sie. Vielleicht wurde es ja gar nicht so schlimm.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Es ging ihn nichts an, dass sie die Stunden nach dem Ball in den Armen seines Bruders verbracht hatte.

»Das wissen Sie genau«, donnerte er los. »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung. Ich dachte, dass Sie die ganze Zeit auf einen Heiratsantrag gewartet hätten!«

Charmaine senkte den Kopf. »Das dachte ich auch.«

»Dachte? Ja, wussten Sie es denn nicht?« Er ereiferte sich immer mehr. »Sie haben so viele Wochen mit mir verbracht, haben sich von mir küssen lassen und mich in dem Glauben bestärkt, dass Sie mich ebenso begehrten, dass Sie aber aus moralischen Gründen erst mein Versprechen hören wollten, bevor Sie das Bett mit mir teilten. Und was tun Sie? Kaum dass ich mich erklärt habe, heiraten Sie stattdessen meinen Bruder! Wollten Sie mich zum Narren halten? Oder was?«

»Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen.« Sie hoffte nur, dass ihre Antwort den Graben zwischen den Brüdern nicht noch vergrößerte. »Als ich auf den Balkon ging, habe ich Sie und Anne London unten auf der Wiese gesehen.«

Paul hielt die Luft an. »Und sofort haben Sie sich in die Arme meines Bruders geflüchtet. War es so?«

»Nein!« Es war verletzend, wie leichtfertig er über seine Affäre hinwegging und lieber sie beschuldigte.

Doch Paul war mit der Antwort zufrieden. John hätte sich bestimmt damit gebrüstet, dass er Charmaine erobert hätte. Nein, er hatte lediglich ihre Enttäuschung über den untreuen Verlobten ausgenutzt. »Machen Sie sich nichts vor, Charmaine. John wird Sie niemals glücklich machen.«

»Aber Sie schon?«

»Ich war immer ehrlich zu Ihnen. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, und Sie haben sich mir so oft verweigert … Die letzte Nacht hat keine Bedeutung.«

»Wie können Sie das sagen? Wie können Sie mir so etwas sagen?«

»Aber, Charmaine. Was Männer betrifft, sind Sie wirklich naiv. Glauben Sie etwa, dass John seit dem vergangenen Herbst keine Frau mehr im Bett hatte?«

»Er hat mir auch keinen Heiratsantrag gemacht, sondern Sie! Wenn Sie nicht einmal in der Verlobungszeit treu sein können, wie dann in einer Ehe?« John war gestern allein in seinem Zimmer und hat sich nicht mit der Nächstbesten ins Bett gelegt.

»Dann ist Ihnen nicht zu helfen! Sie sind jedenfalls die erste und einzige Frau, die ich jemals geliebt habe. John dagegen wird Colette niemals vergessen. Sie wissen das genauso gut wie ich.«

»Sie irren sich!«

»Ach, wirklich?« Es ärgerte ihn, dass sie ihm den Rücken zukehrte. Doch als er merkte, dass sie weinte, wurde er weich. »Kommen Sie, Charmaine, wir machen es einfach ungeschehen«, sagte er in schmeichelndem Ton. »Wir müssen nur Father Benito finden. Solange eine Ehe nicht vollzogen ist, kann man sie annullieren.«

»Nein!« Schluchzend entwand sie sich den Armen, die sich um ihre Schultern legen wollten. »Ich liebe John … und nicht Sie!«

Sein bekümmerter Blick stimmte sie sanfter. »Ich dachte wirklich, ich liebte Sie, Paul. Doch als John in Virginia war, habe ich ihn unendlich vermisst. Wenn er nicht wiedergekommen wäre, hätte ich gewusst, dass ich ihm nichts bedeute. Aber er ist gekommen … und er liebt mich auch. Er liebt mich wirklich! Als ich Sie mit Anne auf der Wiese sah, hätte ich eigentlich gekränkt sein müssen, aber es hat mir nicht einmal wehgetan. Doch wenn John an Ihrer Stelle gewesen wäre, hätte ich mich in den Schlaf geweint.«

Die Sätze schnitten tief in seine Seele. Er konnte seine Wut kaum beherrschen. »Sie lügen!«

»Nein, Paul. Ich will Ihnen wirklich nicht wehtun, aber ich liebe John.«

Doch er hörte ihr gar nicht zu. »Sie sagen, Sie hätten mich mit Anne gesehen und es hätte Sie nicht berührt. Und dann findet John Sie heute Morgen betend in der Kapelle und sagt, Sie seien ganz durcheinander …« Er verstummte, während seine Gedanken eines zum anderen fügten. Dann starrte er sie an. »Sie haben die Nacht mit ihm verbracht, nicht wahr?«

Ihr Schweigen war Antwort genug.

»Sie kleine Närrin! Sie haben das Glück, das wir hätten teilen können, einfach weggeworfen! John wusste, wie anfällig und beeinflussbar Sie sind. Sehen Sie denn nicht, dass er Sie nur benutzt, um mir wehzutun?«

Sie schüttelte nur stumm den Kopf, doch Paul wollte sie genauso verletzen, wie sie das mit ihm gemacht hatte. »Wussten Sie eigentlich, dass John vor der Abreise vorgeschlagen hat, dass ich Sie heiraten soll?« Er lächelte über ihr verblüfftes Gesicht. »Es ist wahr! Sie können ihn gern fragen. Er liebt Sie nicht, Charmaine. Er benutzt Sie nur, und wenn er genug hat …«

»Hören Sie auf!«, schrie sie. »Ich hasse Sie! Verschwinden Sie endlich!«

Als er sich nicht vom Fleck rührte, stürzte sie sich auf ihn und trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. »Gehen Sie endlich! Hören Sie denn nicht? Gehen Sie!«

Frederic hörte das Geschrei und stieß die Tür zum Kinderzimmer auf. Charmaine war in Tränen aufgelöst. »Was geht hier vor?«

Paul fuhr herum. »Ich wollte gerade gehen.«

»Das halte ich auch für besser.« Frederic hielt Paul am Arm fest, als dieser sich an ihm vorbeidrängen wollte.

»Charmaine ist jetzt Johns Frau«, sagte er. »Vergiss das nicht.«

Paul hasste es, wie ein kleines Kind getadelt zu werden, und riss sich los. Frederic sah ihm nach, bis er den Raum verlassen hatte.

Charmaine rang um Fassung und wischte sich die Tränen ab. »Ich musste ja mit ihm reden, aber es war schrecklich. Ich habe ihn sehr verletzt.«

»Mag sein.« Frederic hob ihr Kinn mit einem Finger an, damit sie ihn ansehen musste. »Ich würde es allerdings eher als verletzten Stolz bezeichnen.«

»Ich wünschte, es wäre so einfach.«

»Lieben Sie John, Charmaine?«

»Von ganzem Herzen.«

»Das ist gut. John braucht diese Liebe, und ich glaube, dass er Sie genauso liebt. Im Lauf seines Lebens hat er viele harte Schläge einstecken müssen, aber durch Sie strahlt seine Zukunft plötzlich wieder hell. Diese Heirat hat mich sehr glücklich gemacht.«

John war außer sich, als er seinen Vater bei Charmaine antraf. Ganz offensichtlich hatte sie geweint. »Was geht hier vor?«

Erleichtert eilte Charmaine auf ihn zu. »Paul und ich hatten eine kleine Auseinandersetzung, aber dein Vater hat sie beendet.«

Johns Blick verdunkelte sich, aber er sagte nichts dazu. Nachdem Frederic ihnen eine gute Nacht gewünscht hatte, legte er den Arm um Charmaines Schultern und führte sie in sein Ankleidezimmer, wo ein heißes Bad für sie bereitstand. In der Hoffnung, dass das Wasser Pauls bittere Worte tilgen würde, legte sie den Kopf auf den Rand und schloss ihre brennenden Lider.

John verschwand für kurze Zeit, um seine Schwestern ins Bett zu bringen. Als er zurückkam, setzte er sich zu ihr auf den Wannenrand. Verlegen rutschte Charmaine tiefer ins Wasser, um ihre Brüste zu verbergen. Doch John war mit seinen Gedanken sehr weit weg. »Willst du mir nicht verraten, was Paul gesagt hat? Ich weiß, dass du geweint hast.«

Sie schloss die Augen. »Es war schrecklich«, flüsterte sie. »Aber ich habe nichts anderes erwartet.«

»Das tut mir leid, my charm. Ich hätte es dir gern erspart. Doch als Paul heute Morgen verschwand, habe ich nichts Böses mehr erwartet.«

»Wenn es heute nicht dazu gekommen wäre, dann womöglich morgen.« Doch nur heute hätte Paul ihre Hochzeitsnacht noch verhindern können.

»Hat er dich verletzt?«

»Nur mit Worten, aber ich habe ihn auch nicht geschont. Was er gesagt hat, ist unwichtig. Ich will nicht, dass das zwischen uns steht.«

»Aber mir ist es wichtig. Wir müssen uns gegenseitig verstehen, wenn unsere Ehe Bestand haben soll. Was hat er gesagt?«

Sie sah ihn einen Augenblick lang an. »Er hat mich eine Närrin genannt … dass du mich nie so lieben würdest, wie er das tut … dass dein Herz nur …«

»Colette gehört«, vollendete er.

»Ja«, flüsterte sie.

»Verdammt!« Er fluchte, aber zu Charmaines Kummer bestritt er es nicht. Als sie zu ihm aufsah, schwammen ihre Augen in Tränen. »Das glaubst du ihm doch nicht, oder? Das darfst du einfach nicht glauben.«

»Ich glaube es ja nicht. Ich will es nicht glauben.«

»Ich liebe dich, Charmaine, und nur dich allein. Colette ist tot. Es stimmt, dass ich Colette geliebt habe. Aber ich hatte mich lange vor meiner Rückkehr im August für ein Leben ohne sie entschieden. Die Liebe, die Colette und ich einst geteilt haben, hat mich zu einem besseren Menschen gemacht und mich gelehrt, was im Leben wichtig ist. Ich lasse nicht zu, dass ich dich verliere, da ich endlich weiß, dass du meine Gefühle erwiderst.«

»Hast du vor deiner Rückkehr nach Virginia Paul geraten, mich zu heiraten?«, fragte sie, obwohl sie sich vor der Antwort fürchtete.

Nachdenklich ruhte sein Blick auf ihr. »Das war vor Pierres Tod. Damals habe ich begriffen, dass ich Charmantes verlassen musste. Ich habe dich sehr gemocht, aber ich hatte Angst, meinen Schwestern Schmerz zuzufügen … oder dir. Nach Pierres Tod haben sich alle diese Ängste bestätigt. Ich bin fortgegangen, weil ich allen Unglück gebracht habe … meinem Vater, Paul und meinen Schwestern … und vor allem dir … und Pierre! Die Folgen waren entsetzlich. So wollte ich nicht länger leben. Ich wollte niemandem das antun, was mein Vater mir angetan hatte. So scheinheilig wollte ich nicht sein.«

»Und warum bist du zurückgekommen?«

»Ein Freund hat mir zu dieser Reise geraten und mich überzeugt. Außerdem hatte ich große Sehnsucht nach meinen Schwestern … und nach dir.«

»Wärst du auch ohne Einladung gekommen?«

»Vermutlich nicht. Wie gesagt, ich wollte mich aus dem Leben auf Charmantes heraushalten. Ich habe dich vermisst, aber dass ich dich liebe, wurde mir erst bewusst, als ich dich vor einer Woche vor dem Haus stehen sah. Ich war überrascht, dass Paul dich nicht längst geheiratet hatte. Und froh

»Und hast du dich aus allem herausgehalten?«

»Nicht, als ich dich zum Ball geholt habe. Ich war wütend darüber, wie Paul dich behandelt hat. Er hatte sechs lange Monate Zeit, um dich für sich zu gewinnen, und doch hat er sich die Gelegenheit entgehen lassen!«

»Und nach dem Ball?«

»Als du in der Nacht zu mir gekommen bist, habe ich dich gefragt, ob du es aus freien Stücken tust. Nennt man das Einmischung?«

Röte stieg ihr in die Wangen. »Nein.«

Forschend sah er sie an. »Und du, Charmaine? Bist du nur gekommen, weil du Paul und Anne zusammen gesehen hast?«

»So etwas fragt ein selbstsicherer John Duvoisin?«, neckte sie ihn. Doch sein ernstes Gesicht machte deutlich, dass er genauso verletzlich war wie sie. »Nein, John. Der Anblick der beiden hat mich nicht berührt. Ich bin gekommen, weil ich dich liebe. Das habe ich zum ersten Mal begriffen, als Paul mir den Antrag gemacht hat. Doch wie hätte ich es ihm sagen sollen? Oder gar dir? Als ich sah, wie er mit Anne zum Bootshaus ging, war plötzlich alles klar. Dass er zum Bootshaus ging, machte mir nichts aus. Doch wenn du an seiner Stelle gewesen wärst, hätte es mir das Herz gebrochen. Ich will nicht, dass du jemals wieder weggehst. Ich liebe dich.«

Johns Herz jubelte, doch als er sich zu ihr beugte, um sie zu küssen, legte sie ihm den Zeigefinger auf die Lippen.

»Eines noch.«

»Ja?«

»Hast du wirklich eine Geliebte in New York?«

Mit unschuldiger Miene zog er eine Braue hoch, aber gleich darauf grinste er. »Von heute an nicht mehr.«

Sie erschauerte, weil das Wasser allmählich kühler wurde. »Komm, lass mich dich waschen.«

Er rollte die Ärmel auf und tauchte den Schwamm ins Wasser, doch bevor sie ihn packen konnte, brachte er ihn außer Reichweite. Sie errötete, als er eines ihrer Beine aus dem Wasser hob und genüsslich die Zehen, den Knöchel und die Schenkel wusch. Als er mit dem zweiten Bein begann, spürte sie, wie ihre Anspannung langsam wich. Dann trat er hinter sie und rieb zärtlich ihre Schultern und Arme, bevor er sie ein wenig nach vorn beugte und ihr den Rücken wusch. Als sie seine Lippen an ihrem Hals spürte, erschauerte sie. Er ließ den Schwamm los, und dann glitten seine Hände über ihre Arme, umfassten ihre Brüste und erregten ihre Brustwarzen. Aufstöhnend schloss Charmaine die Augen und schwelgte in dem leidenschaftlichen Aufruhr, den seine Hände in ihr hervorriefen, als sie über ihren Bauch und weiter zu den weichen Innenseiten ihrer Schenkel glitten.

Als sie es nicht länger aushielt, schob sie sich hoch und stieg aus der Wanne. John zog das Badetuch vom Stuhl und legte es ihr von hinten um die Schultern. Als er sie von Kopf bis Fuß trocken rieb und nicht den kleinsten Winkel aussparte, bebte sie am ganzen Körper. Zum Schluss drehte er sie um und zog sie mit dem Tuch in seine Arme und küsste sie. Ohne jede Hemmung glitten seine Hände über ihre Haut, fanden zwischen ihre Schenkel und streichelten sie hingebungsvoll, bis sie vor Sehnsucht zu vergehen meinte. Als er innehielt, weil sie haltlos zitterte, flehte sie nur: »Hör ja nicht auf!«

In einer blitzschnellen Bewegung riss er sich die Kleider vom Leib und zog sie zum Bett. »Ich liebe dich«, flüsterte er, als er sie umarmte.

Sie lächelte. »Ich weiß.« Dann überließ sie sich voller Wonne seinen Zärtlichkeiten … auch wenn nichts an das erste Mal heranreichen konnte, wie sie meinte. Doch zu ihrer großen Überraschung überzeugte er sie schnell vom Gegenteil.

Montag, 9. April 1838

Als sie am Morgen erwachten, hielten sie einander noch immer umschlungen. Sehr viel später standen sie auf. Rasch zog John das saubere Laken vom fleckigen herunter und grinste.

»Sollen sie denken, was sie wollen.«

Charmaine war verlegen. »Mir wäre es lieber, wenn das niemand sieht.«

»Dann gäbe es erst recht Grund für Geflüster, my charm. Du bist jetzt meine Frau, und ich will, dass dir jeder mit Respekt begegnet.« Vorsichtig spähte er hinaus, und als weit und breit niemand zu sehen war, brachte er das saubere Laken rasch wieder in die Wäschekammer.

Als er zurückkam, lächelte sie ihm voll Liebe entgegen. »John?«

»Ja?«

»Ich habe dir noch gar nicht für gestern gedankt: Wie du mich behandelt hast, deine Fürsorge, später dann die Trauung und die Messe und zum Schluss deine wundervollen Worte …« Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Stimme wurde rau. »Du überraschst mich immer wieder. Es war ein unvergesslicher Tag für mich.«

Er seufzte zufrieden, aber sein Schweigen spornte sie nur weiter an. »Aber dein Liebesspiel hat alles übertroffen.«

Er grinste über das ganze Gesicht. »Es ist schon ein Weilchen her, seit ich dir gesagt habe, dass ich dich niemals beim ersten Versuch scheitern lassen würde. Erinnerst du dich, my charm? Damit haben wir dem Passionssonntag eine völlig neue Bedeutung verliehen!«

Sie kamen gerade ins Esszimmer, als George Anne London die Meinung sagte. »Ich fürchte, Sie müssen Ihre Koffer selbst packen, Mrs London. Ich erlaube keinesfalls, dass meine zukünftige Frau noch länger für Sie arbeitet. Das wäre unter ihrer Würde.« Empört rauschte Mrs London hinaus.

Grinsend deutete John auf George, auf sich selbst und auf Pauls leeren Stuhl. »Jetzt hasst sie uns alle drei.«

Nach dem Frühstück kniff er Charmaine liebevoll in die Wange und verabschiedete sich ins Arbeitszimmer, wo Paul um diese Zeit für gewöhnlich am Schreibtisch zu finden war. Als er die Tür hinter sich schloss, sah Paul von seinen Papieren auf.

»Wir müssen reden.«

Sein Bruder lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Ich höre.«

Ohne lange herumzureden, packte John den Stier bei den Hörnern. »Ich möchte, dass du Charmaine in Zukunft in Ruhe lässt.«

»So wie du?«

John schwieg.

Paul reagierte verärgert. »Mit anderen Worten: Das Spiel ist vorbei, und du hast gewonnen. Ist das so?«

»Es war schon lange kein Spiel mehr. Wenn du das begriffen hättest, wäre Charmaine vielleicht heute deine Frau. Doch es ist anders gekommen. Charmaine ist jetzt meine Frau, und du wirst sie als solche respektieren. Also lass sie in Ruhe und rede ihr kein schlechtes Gewissen ein, wenn in Wahrheit du nicht gewollt hast.«

Paul schnaubte. »Was ich zu Charmaine gesagt habe, geht nur uns beide etwas an.«

»Nein, Paul, du hast ihr Vorwürfe gemacht, die auch mich betreffen. Ich weiß, dass du aufgeregt warst, aber du hast gesagt, was du wolltest, und musst es nicht mehr wiederholen.«

»Da redet der Richtige«, empörte sich Paul. »Nachdem Vater Colette geheiratet hat, hast du ihr ständig zugesetzt … Selbst noch in der Nacht, als die Zwillinge auf die Welt kamen!«

»Colette hat damit nichts zu tun«, antwortete John ruhig. Er ließ sich nicht provozieren. »Wenn du Charmaines Gefühle beeinflussen willst, indem du ständig von Colette sprichst, so wirst du keinen Erfolg haben. Charmaine weiß, dass Colette ein Teil meiner Vergangenheit ist … und dass meine Liebe ganz allein ihr gehört.«

»Du bist dir deiner Sache sehr sicher, John. Doch sollte deine Liebe jemals wanken, bin ich sofort zur Stelle.«

Agatha stand im Foyer und betrachtete das große Porträt von Colette Duvoisin. Während der vergangenen Woche war fast jeder beim Betreten des Hauses für einige Augenblicke sprachlos stehen geblieben. Agatha erinnerte sich an begeisterte Bemerkungen und Fragen. Oh, ist sie nicht atemberaubend schön! Wer ist sie? Wieder spürte sie die bittere Galle in ihrem Hals. Mit verkniffenem Lächeln hatte sie Colettes Namen genannt und sich dann auf die nächste Kränkung gefasst gemacht: erstaunte Blicke und ein kaum wahrnehmbares Nicken, während die Besucher schnell die zweite Mrs Duvoisin mit der dritten verglichen. Nein, einer solchen Schmähung wollte sie sich nie wieder aussetzen.

Sie musterte ihre Gegnerin, die sie noch im Tod verfolgte. Du kleine Hure … den Vater und den Sohn! Warum fallen die Männer nur immer wieder auf solche Frauen herein? Die meergrünen Augen starrten von der Wand auf sie herunter. Verurteile, wen immer du willst. Mich wirst du von heute an nicht mehr quälen. Es wurde Zeit, dass das Bild der Dargestellten folgte und endgültig verschwand.

Sie klingelte nach Travis. »Ich will, dass dieses Bild verschwindet«, bedeutete sie ihm mit herrischer Geste, »und zwar sofort.«

Der Butler zögerte. Das Bild hing seit fast einer Dekade im Foyer. Außerdem wusste Travis, dass der Hausherr in Bezug auf Miss Colette sehr empfindlich reagierte.

»Sofort!«, schrie Agatha. »Ich sagte, sofort!«

Frederic wurde durch das laute Geschrei aufmerksam und kam herunter. »Was gibt es?«, fragte er scharf.

»Sieh nur, Frederic«, sagte Agatha, »das Bild sollte schon seit Längerem abgehängt werden. Schließlich …«

»Lassen Sie die Finger davon!«, herrschte Frederic den Butler an, während er seine Frau am Arm packte und in die Bibliothek zog.

Dort trafen sie auf Paul und John, doch bevor Frederic die beiden zum Verlassen des Raums auffordern konnte, entwand sich Agatha seinem Griff und verbündete sich mit ihrem Sohn. »Sag deinem Vater, dass ich jetzt Herrin dieses Hauses bin.«

Paul runzelte die Stirn und wandte den Blick ab.

»Ich habe einen großen Fehler gemacht, Agatha«, sagte Frederic.

Im ersten Moment war sie zufrieden, doch als er fortfuhr, packte sie das Entsetzen.

»Vor einem Jahr wollte ich wiedergutmachen, was ich dir vor vielen Jahren angetan habe. Doch ich habe die Situation nur verschlimmert. Wenn ich dich geheiratet hätte, als Paul noch klein war, hätte sich unser Leben vielleicht anders entwickelt. Doch inzwischen haben wir uns so verändert, dass wir das Theater nicht länger fortsetzen sollten.«

»Theater? Du nennst unsere Ehe ein Theater?«

»Hör mir zu, Agatha. In der Nacht nach dem Ball habe ich dir klar und deutlich gesagt, dass ich dich nicht liebe. Ich habe inzwischen Richecourt angewiesen, die entsprechenden Dokumente aufzusetzen, um …«

In diesem Moment war es um Agathas Fassung geschehen. Sie ließ ihrem lange unterdrückten Zorn freien Lauf und fiel ihrem Mann ins Wort. »Jetzt bin ich an der Reihe: Du hast mein Leben auf dem Gewissen, Frederic. Du hast mir einen Heiratsantrag gemacht, und ich habe dich geliebt, an dich geglaubt und dir alles gegeben. Wir beide waren verlobt, doch stattdessen hast du Elizabeth genommen! Zuerst für dein Bett und danach für den Altar! Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du mich verlassen, obwohl du wusstest, dass ich dein Kind erwartete? Wie war dir das möglich?«

Paul wurde leichenblass. Offenbar hatte ihm Frederic noch nicht die ganze Geschichte erzählt, dachte John.

»Hast du eine Ahnung, wie ich mich gefühlt habe, als man mir das Kind aus den Armen riss? Nur weil es ein Bastard war? Weil ich meinen Eltern Schande gemacht habe?« Tränen strömten ihr über die Wangen. »Weißt du, wie es ist, eine Hure genannt zu werden, nur weil ich dich geliebt habe? Elizabeth, deine kostbare Elizabeth, wusste genau, dass es mir das Herz brechen würde, aber sie hat dich mir trotzdem gestohlen! Ich hoffe zu Gott, dass sie in der Hölle schmort!«

»Es reicht!«, brüllte Frederic mit glasigem Blick. »All der Schmerz, den du erlitten hast, war allein meine Schuld. Elizabeth hatte damit nichts zu tun.«

Agatha fasste sich ein wenig und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Nimm sie nur in Schutz, Frederic. Aber ich weiß genau, was sie getan hat. Sie war die Hure, denn als sie dein Bett geteilt hat, hattest du ihr noch nicht einmal einen Antrag gemacht.«

»Verdammt sollst du sein, Weib!«, zischte Frederic in größtem Zorn.

»Das bin ich doch längst!«, verkündete sie mit erhobenem Kopf. »Erinnerst du dich an das Geld, das du mir nachgeworfen hast?« Als Frederic verwirrt die Stirn runzelte, fuhr sie fort: »Du wolltest damit für mein Kind sorgen. Erinnerst du dich? Sag deinem Sohn, dass du dich erinnerst!« Ihr Blick richtete sich auf Paul. »Dein Vater hatte überhaupt nicht die Absicht, dich als sein eigen Fleisch und Blut großzuziehen. Er wollte mich abfinden … und uns in England zurücklassen, damit er uns … dich nie mehr sehen musste.« Sie wandte sich wieder an ihren Mann. »Ich habe das Geld genommen, Frederic, das ist richtig, und ich habe es investiert.«

»Es investiert?«

»Ich habe einige Männer bestochen. Einer so wohlgefüllten Börse konnten sie nicht widerstehen.«

Frederic spürte, wie ihm das Blut aus allen Gliedern wich. »Was sagst du da?«

»Auch ich kann grausam sein.« Wie irre sah sie ihn an. »Es war mir eine große Genugtuung, dass Elizabeth wieder und wieder vergewaltigt wurde. Die Verbrecher haben dein Geld nur zu gern genommen. Wenn sie ihr doch auch nur das Leben genommen hätten!«

In haltloser Wut stürzte sich Frederic auf Agatha und legte ihr die Hände um den Hals, bevor überhaupt jemand reagieren konnte. Paul schrie laut auf und packte Frederics Handgelenke, und John riss Agatha zurück. Sobald die beiden getrennt waren, sank Frederic kraftlos auf einen Stuhl und barg seinen Kopf in den Händen. Agatha brach auf dem Sofa zusammen und schluchzte herzerweichend.

»Es tut mir sehr leid, Frederic, aber ich liebe dich!«

»Hinaus mit dir! Hinaus … und komm mir nie wieder unter die Augen!«

»Aber, Frederic! Ich bin doch deine Frau!«

»Gewesen!«, schnarrte er mit versteinertem Gesicht.

»Aber, Frederic! Ich liebe dich doch! Ich liebe dich wirklich!« Als alle Beteuerungen nichts ausrichteten, sah sie flehentlich zu Paul. »Ich habe es doch nur für dich getan …«

Voller Mitgefühl ging Paul zum Sofa hinüber. Er wusste, dass sein Vater seine Meinung nicht ändern würde. Er legte den Arm um Agathas Schultern und half ihr hoch. »Kommen Sie, Agatha. Auf Espoir werden Sie es gut haben.«

»Aber ich bin die Herrin dieses Hauses!«, erklärte sie mit seltsam starrer Miene. »Frederic braucht mich doch. Er weiß nicht, was er sagt, und er wird seinen Fehler einsehen …« Die Worte verklangen, als Paul sie aus dem Zimmer führte.

John schüttelte nur den Kopf und setzte sich in einen Sessel. »Geht es dir gut?«, fragte er seinen Vater und war überrascht, wie viel Anteilnahme er ihm entgegenbrachte.

»Guter Gott!«, stöhnte Frederic. »Ich habe so unendlich viel falsch gemacht!«

»Aus tief empfundenen Wünschen wird oft tödlicher Hass«, murmelte John.

»Agatha hat jedes Recht, mich zu hassen.«

»Und auch meine Mutter.« Mit einem Mal begriff er, warum Agatha ihn all die Jahre gehasst hatte.

»Elizabeth trifft an alledem keine Schuld«, erklärte Frederic ein weiteres Mal. »Sie hat mich bezaubert, als meine Affäre mit Agatha gerade begonnen hatte. Aber Elizabeth hat erst als meine Geliebte von dieser Affäre erfahren.« Er senkte den Kopf. »Dass Agatha ihrer Schwester den Tod gewünscht und ihr diese Verbrecher auf den Hals geschickt hat … sie sogar dafür bezahlt hat …« Angesichts dieser so unvorstellbaren Grausamkeit versagte ihm die Stimme. Offenbar hatte er Agatha zeitlebens unterschätzt. »Sie hat mehr Unheil angerichtet, als man sich vorstellen kann. Zehn Jahre lang hielt ich dich für einen Sprössling dieser Verbrecher und glaubte felsenfest, dass die Vergewaltigung Elizabeths Tod verursacht hätte. Blackford hat mir das eingeredet, aber vermutlich wollte er nur seine Schwester rächen.«

John konnte das alles nicht fassen.

»Das soll beileibe keine Entschuldigung sein.« Frederic rieb sich die Stirn. »Du warst damals noch ein Baby. Es hätte mir nichts ausmachen dürfen, aber ich habe Elizabeth so sehr vermisst und einen Sündenbock gesucht.« Die Minuten dehnten sich, bis er endlich wieder sprach. »Was ist nur mit mir los? Werde ich jemals eine richtige Entscheidung treffen? Wann findet meine Familie endlich ihren Frieden?«

Diese Fragen konnte John seinem Vater nicht beantworten. Dazu hatte er sie sich oft genug selbst gestellt und sich verflucht, wenn er genau die Menschen verletzte, die ihm am nächsten standen. Zum ersten Mal verstand er seinen Vater besser, und der Gedanke, wie ähnlich sie einander waren, behagte ihm gar nicht.

»Aber wir wollen auch mit!«, protestierte Yvette lauthals, als sie feststellen musste, dass sie und ihre Schwester nicht zum Picknick des jungen Paars eingeladen waren.

»Aber Charmaine und ich möchten gern allein sein«, sagte John.

»Ich weiß, was das heißt! Ihr wollt euch küssen.«

»Ganz genau.« Er grinste, und Yvette schmollte.

Charmaines Wangen waren feuerrot, und John lachte in sich hinein. »Sie wissen, dass wir uns geküsst haben, my charm

»Genau. In deinem Schlafzimmer«, sagte Yvette, »aber das muss doch am Tag nicht so weitergehen, oder?« Sie sah ihre Schwester an. »Ich fand es besser, als sie noch nicht verheiratet waren.«

»Ich habe eine Idee«, sagte John. »Euer Vater war heute Morgen sehr niedergeschlagen. Ich denke, dass er ein wenig Gesellschaft brauchen könnte. Wenn ihr ihn aufheitert, dürft ihr morgen zum Picknick mitkommen. Wie hört sich das an?«

»Immerhin besser als nichts«, brummte Yvette.

John lächelte, und die Mädchen machten sich auf die Suche nach ihrem Vater.

Charmaine genoss es, John einen Tag ganz für sich allein zu haben. Er erzählte ihr vom Testament seines Vaters und von Agathas Auftritt. »Pauls Mutter, es ist nicht zu glauben«, murmelte er. »Wie oft haben wir gerätselt, wer wohl seine Mutter ist. Aber auf Agatha ist keiner gekommen.«

Charmaine war sehr erleichtert, dass die Frau nicht mehr im Haus wohnte.

»Das bedeutet, dass du nun die Herrin des Hauses bist«, bemerkte John. »Sozusagen Mrs Faradays Chefin.«

Charmaine lächelte. Bisher hatte sie noch niemandem Befehle erteilt.

»Du solltest dich auch entsprechend kleiden. Die schlichte Gouvernantenuniform hat meiner Meinung nach ausgedient. Morgen suchen wir dir im Laden eine passende Garderobe aus.«

»Ich möchte aber keine auffälligeren Kleider tragen als bisher.«

»Keine Sorge. Mandy hat Kataloge genug. Da werden wir schon das Richtige finden. Das ist mein Hochzeitsgeschenk.« Damit küsste er sie lange und genüsslich.

Als sie nach Hause zurückkehrten, hatten die Zwillinge ein Geschenk für sie beide vorbereitet. »Es ist ein wunderschönes Geschenk!«, empfing sie Jeannette bereits auf der Veranda.

»Oh, ja!«, rief Yvette und drängte sie zur Treppe. »Das schönste Geschenk, was sich nur denken lässt.«

»Und das uns auch gefällt«, ergänzte Jeannette und fing sich einen strafenden Blick ihrer Schwester ein.

»Die Spannung bringt mich fast um«, bemerkte John, als sie vor Charmaines Tür warten mussten.

Als die Mädchen endlich die Tür öffneten, erblickten sie an der Wand, die ans Kinderzimmer grenzte, Johns riesigen Kleiderschrank. »Wie habt ihr denn den hierhergebracht?«, fragte John überrascht.

»Joseph hat uns geholfen, ihn über den Balkon zu schieben, damit niemand etwas merkt.«

John runzelte die Stirn. »Und warum?«

Yvette kicherte unter seinem strengen Blick. »Das ist doch Teil des Geschenks, Dummkopf!«

»Ist das nicht wundervoll, Mademoiselle?« Jeannette war begeistert. »So sind Sie immer noch nahe bei uns und Johnny jetzt auch!«

»Stimmt«, fiel Yvette ein. »Außerdem können wir Ihnen jeden Morgen Frühstück bringen, und Sie können uns beim Gewitter Gesellschaft leisten …«

»Verdammt, Kinder! Glaubt ihr nicht, dass ihr ein bisschen zu weit geht?« Sein finsteres Gesicht brachte Jeannette dazu, sich hinter Charmaines Röcke zu flüchten. Die Tränen standen ihr in den Augen.

Yvette ließ sich nicht so leicht beeindrucken. »Ein feiner Bruder bist du! Wir haben uns den ganzen Nachmittag damit abgemüht! Von mir bekommst du kein Geschenk mehr! Das schwöre ich!«

Finster sahen sie einander an. Dann zog John am Klingelzug. Als Travis erschien, gab er ihm den Auftrag, an der Verbindungstür zum Kinderzimmer einen Riegel anzubringen. Dann fragte er nach George.

»Er befindet sich zusammen mit Miss Wells im Wohnzimmer«, antwortete Travis.

»Würden Sie ihn bitte heraufschicken?«

Als Travis ging, sah Jeannette ihren Bruder bekümmert an. »Ich dachte, du würdest dich über unser Geschenk freuen. Wir könnten so viel Spaß haben!«

So viel Unschuld ließ John verstummen. Yvette dagegen traute er durchaus auch andere Absichten zu.

Kurz darauf erschien George. »Du brauchst Hilfe?«

»Genau. Ich möchte das Bett ins Ankleidezimmer schieben. Yvette hat beschlossen, dass sie uns dieses Schlafzimmer zur Hochzeit schenken möchte.«

George lachte verstohlen. »Wie gemütlich.«

»Übertreibst du nicht ein bisschen?«, warf Charmaine ein.

Ungläubig starrte John sie an. »Spätestens wenn wir eines schönen Tages morgens ›beschäftigt‹ sind, wirst du für den Riegel dankbar sein, my charm

Charmaine errötete. »Ich rede nicht von dem Schloss. Ich überlege nur, warum du das Bett nach nebenan räumen willst.«

»Warum fragst du Yvette nicht, wie viele Gläser sie schon im Kinderzimmer gehortet hat?«

Nachdem das Bett umgeräumt worden war, seufzte Charmaine erleichtert. Es hatte ihr nicht wirklich behagt, mit John in einem Raum zu schlafen, den er vermutlich mit Colette geteilt hatte und der traurige Erinnerungen an Pierres Tod barg. In ihrem neuen Zuhause würden jetzt neue, eigene Erinnerungen wachsen.

John trat hinter sie. Er musste genau gespürt haben, was sie bewegte. »So ist es gut, my charm. In dem anderen Zimmer hätte ich ohnehin nicht gern geschlafen.«

Edward Richecourt drehte sein Gesicht in den Wind und sah mit tiefem Seufzer zu Helen hinüber, die mit ein paar Freundinnen an der Reling stand und den neuesten Klatsch besprach. Wenn das Schiff einmal zu heftig schaukelte, griffen die Ladys nach der Reling oder dem nächstbesten Arm, um nicht die Balance zu verlieren. Helen … Damals war Helen die Schönste von ganz Richmond, doch inzwischen waren sie beide gealtert. Helen allerdings mehr als er selbst.

Helen Larabbie zu heiraten war nur folgerichtig. Sie war die Älteste von drei Mädchen, deren Vater eine angesehene Kanzlei in Richmond besaß. Als der junge und ehrgeizige Edward Helen den Hof machte, hätte der alte Neil nicht begeisterter sein können. Die beiden Männer verstanden und vertrauten einander persönlich und geschäftlich aufs Beste, sodass die Kanzlei an die nächste Generation übergehen konnte, zumal einer der beiden Enkel, die Edward und Helen dem alten Neil beschert hatten, bereits Jura studierte. Neil erwartete von seinem Schwiegersohn lediglich, dass er den guten Ruf der Firma bewahrte und seine Tochter glücklich machte.

Was seine Affären anging, so war Edward sehr diskret. Wem schadete das schon? Helen begeisterten die ehelichen Pflichten nur wenig, und er fand Entspannung bei jungen Dingern, für die er ein erfolgreicher, weltgewandter Mann war.

John Duvoisins Triumph … erwies sich womöglich als Edwards Waterloo! Der alte Neil Larabbie hatte vermutlich noch zehn Jahre vor sich. Zehn lange Jahre! Du lieber Himmel! Was, wenn ihm Edwards Abenteuer mit dem Hausmädchen hinterbracht wurde? Was, wenn Helen es herausfand? Er durfte gar nicht darüber nachdenken, dass sein Schicksal erneut von dem verhassten John Duvoisin abhing. Ob John Larabbie einweihte? Dabei hatte er sein Abenteuer nicht einmal genießen können. John hatte ihn buchstäblich mit heruntergelassener Hose erwischt! Letztes Mal hatte John ihm die Einzelheiten über Pauls Geschäftspläne abgerungen. Doch im Moment schien er sich nicht weiter dafür zu interessieren. Er konnte nur beten, dass er bald etwas Interessantes erfuhr, das er John für sein Schweigen anbieten konnte. Davon hing seine Zukunft ab.