Richmond

Father Michael stand im Salon der Harringtons und rang nervös die Hände. In der letzten Woche hatte er mehrmals geübt, was er sagen wollte. Dennoch raste sein Puls. Loretta erschien und war ebenso überrascht wie zuvor ihre Haushälterin. »Was führt Sie zu uns, Father Michael?«

»Eigentlich hatte ich gehofft, Sie an den letzten beiden Sonntagen nach der Messe zu treffen.«

»Joshua hat sich während der letzten Wochen nicht wohlgefühlt. Aber inzwischen geht es ihm wieder besser.«

Michael schmunzelte. »Deswegen bin ich aber nicht hier. Vielmehr sorge ich mich um Charmaine Ryan. Ich habe sie schon lange nicht mehr in der Messe gesehen. Dabei hatte ich Marie versprochen, mich um sie zu kümmern!«

»Charmaine?«, fragte Loretta. Sie war zutiefst verwirrt. »Aber, aber, Father Michael! Charmaine lebt doch schon seit mehr als einem Jahr auf den Westindischen Inseln.«

»Auf den Westindischen Inseln?«

»Ganz richtig. Sie arbeitet bei den Duvoisins«, fuhr sie fort. »Wie Sie wissen, besitzt die Familie noch einen Wohnsitz auf Charmantes. Frederic Duvoisin und seine Frau haben vor gut einem Jahr eine Gouvernante für ihre drei Kinder gesucht. Charmaine hat damals die Stelle bekommen.«

»Als Gouvernante, sagen Sie?«

Sein banger Ton und der besorgte Gesichtsausdruck machten Loretta Angst. »Es geht ihr bestens, Father. Meine Schwester und mein Schwager leben auf Charmantes. Durch sie haben wir damals von der Stelle erfahren. Es tut mir sehr leid, Father, aber von Ihrer Sorge um Charmaine ahnte ich ja nichts. Hätte ich das gewusst …«

»Nein, nein«, wehrte der Priester ab und mühte sich, seine Gefühle zu verbergen. »Bei meinem Arbeitspensum im Waisenhaus kommt manches zu kurz. Über ein Jahr, sagen Sie?«

»Ja. Nach dem Tod ihrer Mutter war Charmaine oft sehr verzweifelt. Unter anderem auch weil ihr Vater nie gefasst wurde. In meinen Augen waren die große Entfernung und neue Gesichter die beste Voraussetzung für einen Neuanfang, wenn man so will.«

»Da haben Sie zweifellos recht. Ist sie denn glücklich?«

Loretta seufzte. »Im vergangenen Jahr hat die Familie zwei schreckliche Tragödien erleben müssen. Natürlich hat Charmaine das sehr berührt, aber alles in allem ist sie glücklich.«

»Wenn Sie ihr das nächste Mal schreiben, dann sagen Sie ihr doch bitte, dass ich nach ihr gefragt habe.«

»Das tue ich gern, Father.«

Auf dem Weg zurück ins Waisenhaus überschlugen sich die Gedanken in Michaels Kopf. Charmaine lebte bei den Duvoisins! Sie hatte zwei Menschen sterben sehen: den kleinen Jungen vor sechs Monaten und zuvor seine Mutter. Sicher hatte sie allen Schmerz noch einmal durchlebt. Und John … Sie musste ihn kennen und er sie! Für den Rest des Tages konnte Father Michael an nichts anderes mehr denken.

Loretta blieb ratlos zurück. Warum kam Father Michael erst jetzt zu ihnen, wenn er Marie doch versprochen hatte, sich um ihre Tochter zu kümmern? Und warum nahm ihn das offensichtlich so mit? Ja, dachte Loretta, das war wirklich seltsam!