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Sonntag, 18. März 1838
Richmond, Virginia

Seit ungefähr einem Monat hörte Father Michael Andrews jeden Sonntag von Paul Duvoisins großartigem Fest, das eine ganze Woche lang dauern sollte. Wenn sich die Gemeindemitglieder nach der Messe auf den Stufen vor St. Jude versammelten, war es das beliebteste Thema, und die Spannung stieg von Sonntag zu Sonntag.

Vor zwei Monaten hatte Michael John Duvoisin zuletzt zu Gesicht bekommen. Vor seiner Abreise nach New York hatte er Pauls Einweihungsfest mit keinem Wort erwähnt, und Michael hätte gern gewusst, ob er daran teilnehmen wollte. Letztes Jahr noch hätte John nicht im Traum daran gedacht, überhaupt nach Charmantes zu reisen. Doch nach seiner unerwarteten Reise im vergangenen Sommer schien immerhin eine gewisse Möglichkeit zu bestehen. Irgendetwas drängte Father Michael, genauer nachzufragen, und so machte er sich nach dem Dinner auf den Weg zu Johns Stadthaus. Der Butler teilte ihm mit, dass John zwar aus New York zurück sei, aber gleich nach der Ankunft auf die Plantage weitergereist sei, wo die Pflanzsaison soeben begonnen hatte. Vor Mitte April erwartete er ihn nicht zurück. Verdutzt stieg Michael wieder in seinen Wagen, doch er war kaum abgefahren, als er auch schon umkehrte und sich den Weg zur Plantage beschreiben ließ. Er wollte am nächsten Morgen in aller Früh aufbrechen. An Montagen war im Waisenhaus für gewöhnlich nicht viel los, sodass man auf seine Anwesenheit verzichten konnte.

Montag, 19. März 1838

Gegen vier Uhr nachmittags kam Father Michael im malerischen Farmhaus von Freedom an, doch außer den Bediensteten war niemand zu Hause. John war im Morgengrauen mit seinem Aufseher zu den Tabakfeldern aufgebrochen und wurde nicht vor der Abenddämmerung zurückerwartet. Ein Diener machte es ihm im Salon bequem und versorgte ihn mit Tee und Gebäck und einem Buch. Michael versuchte zu lesen, aber stattdessen begaben sich seine Gedanken auf Wanderschaft.

Es war einige Monate her, seit er Johns leutseliges Gehabe durchschaut und die Verzweiflung in seinen Augen gesehen hatte. Seitdem war Michael beunruhigt und fühlte sich an ihre erste Begegnung vor viereinhalb Jahren erinnert. Warum war der Mann nach Hause zurückgekehrt? An den einzigen Ort auf Erden, wohin er nie wieder hatte zurückkehren wollen? Gib ihm Zeit. Du hast ihm auch damals Zeit gegeben … und er hat geredet …

Michael schauderte unwillkürlich, als er an das Frühjahr 1834 zurückdachte. Sie kannten sich gerade sechs Monate, und John hatte Neuigkeiten von Charmantes erhalten. Beunruhigende Neuigkeiten. Er hatte es allein Marie Ryans Beharrlichkeit zu verdanken, dass er an jenem wunderschönen Frühlingstag zu Johns Stadthaus gefahren war und seine Beichte gehört hatte …

»Hat Marie Sie geschickt?«, hatte John ihn halb betrunken empfangen. »Das war das letzte Mal, dass ich einer Frau etwas anvertraut habe.«

»Sie hat überhaupt nichts gesagt, aber sie macht sich Sorgen.«

John schnaubte nur, aber so leicht war Michael nicht zu beeindrucken. »John … wann sagen Sie mir endlich, was geschehen ist? Vielleicht kann ich ja helfen.«

John trank einen Schluck und sah den Priester spöttisch an. »Ich will aber keine Beichte ablegen, Father

»Ich rede nicht von Beichte, sondern von einem Gespräch unter Freunden.«

John trank einen Schluck und starrte aus dem Fenster.

»Sie sind nicht der Einzige auf der Welt, der etwas getan hat, worauf er nicht stolz ist«, bemerkte Michael, als die Stille allzu bedrückend wurde.

»Ach wirklich?« Zweifelnd sah John ihn an. »Was könnten Sie denn schon Schlimmes getan haben? Vielleicht ab und zu am Messwein genippt?«

Der Sarkasmus entlockte Michael ein Lächeln. »Ich beichte nur, wenn Sie es auch tun.«

John zog eine Braue in die Höhe. »Das nenne ich einen Handel, Father.«

Michael erstarrte. Nie hätte er gedacht, dass John den Köder annehmen würde.

»Nun, Father?« John weidete sich an seiner Verlegenheit. »Ich warte …«

Michael räusperte sich. »Als ich sehr viel jünger war …«

John lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Nun?«

»Ich habe das Gelübde der Keuschheit verletzt … und zwar mit einer Frau, die ich sehr geliebt habe …«

Stille. »Ist das alles?« John schien enttäuscht.

»Ist das alles?«

John lachte leise und schüttelte den Kopf. »Wenigstens haben Sie eine Frau geliebt. Das macht neun Avemaria und drei Vaterunser.«

Michael schmunzelte, doch er war nicht bereit, John aus seiner Pflicht zu entlassen. »Jetzt sind Sie an der Reihe.«

John sah ihn durchdringend an und ließ mit einem Mal jede Zurückhaltung fahren. »Ich habe die Frau meines Vaters geliebt und ein Kind mit ihr gezeugt. Als ich meinem Vater die Augen geöffnet habe, hätten wir uns beinahe geprügelt, woraufhin er einen Anfall erlitt, der ihn zum Krüppel machte. Ich floh von der Insel und überließ Colette seinem Zorn. Ich hasste ihn so sehr, dass ich in Ihrer Kirche seinen Tod herbeigefleht habe, um mit ihr und meinem Kind allein zu sein …« Er schluckte hart und ließ ein bösartiges Auflachen hören. »Sagen Sie mir nur eines, Father: Geht es noch schlimmer?«

Aber Michael blickte hinter die Fassade. »Sie lieben diese Frau, nicht wahr?«

»Mehr als mein Leben«, gestand John freimütig und wandte sich ab, als ob er seinen Kummer dann besser beherrschen könne. »Mein Sohn wurde vor drei Wochen geboren … Pierre«, flüsterte er heiser. »Er heißt Pierre.« Nach einer langen Pause sah er über die Schulter zurück. »Sagen Sie, Father: Wird mir die Sünde vergeben werden, wenn ich es ertrage, den Jungen mein Leben lang nicht zu sehen?«

»Ihnen wurde längst vergeben, John.«

»Nein, Michael«, widersprach er heftig, fast zornig. »Man muss bereuen, wenn man Vergebung erlangen will. Doch ich bereue nichts. Colette hat mir gehört!«

In dieser Nacht hörte Michael die ganze Geschichte und verabschiedete sich erst in der Morgendämmerung. John hatte geschworen, nie nach Charmantes zurückzukehren und Colette so leben zu lassen, wie sie es entschieden hatte. Er war bestraft genug, wenn er seinen kleinen Sohn nie in den Armen halten durfte, und für die Welt würde Pierre Duvoisin immer sein jüngerer Bruder sein. So hatte Colette entschieden, und daran wollte er sich halten.

Trotzdem war John im letzten Sommer nach Charmantes zurückgekehrt. Warum?

Es dämmerte bereits, als Michael endlich das Jaulen der Hunde hörte. Er sah aus dem Fenster. Verschwitzt und verdreckt kam John in Begleitung eines anderen Mannes, vermutlich seines Aufsehers, auf das Haus zu. Zwei große Hunde sprangen um die beiden herum.

»Was, zum Teufel, führt Sie denn hierher in unsere Einsamkeit?« Johns schiefes Grinsen wurde breiter, als er mit ausgestreckter Hand auf Michael zuging. »Nein, lassen Sie mich raten … Der Papst hat endlich die Wahrheit über Sie erfahren, und jetzt suchen Sie eine neue Arbeit.«

»Die Wahrheit über mich?«, fragte Michael vorsichtig und schüttelte John die Hand.

»Geben Sie es doch endlich zu, Father: Mithilfe Ihrer priesterlichen Kräfte haben Sie Brot und Wein in Steak und Ale verwandelt. Wo bleibt das Abendessen?«

Michael stimmte in das Lachen des Aufsehers ein und sah erleichtert zum Himmel empor. Sie gingen in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, und John machte Brian mit Father Michael bekannt. »Aber jetzt im Ernst: Was führt Sie zu uns, Michael?«

Michael sah zu Brian hinüber, der den Wink sofort verstand und durch die Hintertür zu den Hütten hinüberging. Auch die Köchin, die ständig zwischen Küchenhaus und Küche gependelt war, verschwand, und John und Michael setzten sich mit ihren Gläsern an den Tisch.

»Meine Gemeindemitglieder reden in letzter Zeit nur noch von Ihrem Bruder«, begann er. »Offenbar soll die Eröffnung seines Unternehmens groß gefeiert werden.«

John zuckte die Schultern. »Seit einem Jahr kultiviert er die Nachbarinsel und hat inzwischen auch einen Hafen angelegt. Mein Vater hat ihm die Insel geschenkt. Ist das alles?«

»Ich will mich wirklich nicht einmischen, aber einige Gemeindemitglieder reisen demnächst nach Charmantes, um an dem Fest teilzunehmen. Fahren Sie denn nicht hin?«

John lehnte sich zurück. »Bisher habe ich keine Pläne.«

»Und warum nicht? Würde sich Ihr Bruder denn nicht über Ihre Unterstützung freuen?«

John kratzte sich am Kopf. »Haben Sie meinen Schwur völlig vergessen, Father?«

»Ich weiß, dass Sie im letzten Herbst dort waren«, sagte der Priester leise.

Überrascht sah John auf. »Ihr Butler hat es mir gesagt«, erklärte Michael.

Johns Kopf sank herab, als ihn die schmerzliche Erinnerung überkam, und sein Herz klopfte schneller.

»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was passiert ist? Warum sind Sie trotz Ihres Schwurs zurückgegangen?«

John rieb seine Stirn. Stille breitete sich aus, während er nach Worten suchte. »Colette hat mir geschrieben und mein Freund George … Er hat mir den Brief überbracht. Es war nicht einfach, mich zu finden. Ich war damals in New York, und er hat Wochen gebraucht, um mich ausfindig zu machen. Als ich in Charmantes ankam, war Colette tot.« Seine Kehle krampfte sich zusammen, sodass er kein Wort mehr herausbrachte.

Er liebt sie noch immer, dachte Michael bekümmert. Nach all den Jahren liebt er sie noch immer. »Und der Junge?«

»Den habe ich ebenfalls auf dem Gewissen …«, stieß John mit düsterer Miene hervor, bevor ihm die Stimme versagte. »Den habe ich ebenfalls getötet.« Als er sich wieder gefasst hatte, erzählte er Father Michael die ganze Geschichte.

»Das alles ist jetzt Vergangenheit«, versuchte Michael zu trösten. »Sie müssen nach vorn schauen.«

»Das weiß ich, und genau das tue ich.«

»Und warum fahren Sie dann nicht nach Charmantes? Sie sind doch bestimmt eingeladen worden, oder?«

»Sozusagen.«

»Sozusagen? Was bedeutet das?«

»Mein Vater hat mich eingeladen, was ebenso gut ist, als wenn Paul es getan hätte.«

»Ihr Vater hat Sie eingeladen?« Michael war überrascht. »Warum zögern Sie dann noch?«

Johns Schweigen war beredt genug.

»Sind Sie wütend auf Ihren Bruder?«

»Ganz im Gegenteil. Ich hoffe, dass seine Unternehmungen seine wildesten Träume noch übertreffen.«

»Also geht es um Ihren Vater«, schloss Michael. »Sie hassen ihn noch immer.«

John biss die Zähne aufeinander. »Ich fahre nicht hin, weil ich jedes Mal das Unglück förmlich anziehe. Es ist für alle Beteiligten am besten, wenn ich mich fernhalte.«

»Aber Ihr Vater hat Sie eingeladen. Das bedeutet doch, dass er Ihnen vergeben hat.«

»Das bedeutet nur«, zischte John ungehalten, »dass die Gäste uns als glückliche reiche Familie erleben sollen. Und das zum Nutzen meines Bruders.«

»Nein, John. Es bedeutet, dass er Ihnen vergeben hat. Das weiß ich. Und Sie wissen es auch, wie ich vermute. Ihr Vater hat Sie noch nie nach Charmantes eingeladen, nicht wahr?«

»Das ist richtig.«

»Wenn Sie jemals mit ihm ins Reine kommen wollen, müssen Sie hinfahren, solange er zur Verzeihung bereit ist«, flehte Michael. »Womöglich kommt diese Chance nie wieder.«

»Ich will seine Vergebung nicht«, entgegnete John scharf. »Und er will meine erst recht nicht.«

Die heftigen Worte offenbarten seine tiefe Bitterkeit. Betrübt schüttelte Michael den Kopf. »Vielleicht gibt es ja noch mehr, was Sie nicht begreifen, John. Kann es sein, dass Ihr Vater Colette auch geliebt hat?«

John schnaubte verächtlich. »Keine drei Monate nach ihrem Tod hat er meine Tante geheiratet. Sagen Sie mir, Michael: Ist das vielleicht Liebe?«

Michael seufzte. Diese traurige Geschichte wurde immer schlimmer. Doch er unterdrückte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag. »Selbst wenn Sie Ihrem Vater jetzt noch nicht vergeben können«, sagte er stattdessen, »sollten Sie seine Vergebung annehmen. Fahren Sie Ihrem Bruder zuliebe nach Charmantes – und auch Ihren Schwestern zuliebe. Ich wette, dass sie begeistert wären, Sie wiederzusehen.«

John überlegte. Er dachte an die Zeit auf der Insel und daran, wie reich sein Leben geworden war. Colettes Tod hatte ihn zutiefst getroffen, aber im Grunde nichts verändert, weil er sich längst mit einem Leben ohne sie abgefunden hatte. Selbst der Schmerz um Pierres Tod quälte ihn in letzter Zeit seltener. Da er die Existenz Gottes nicht völlig leugnete, tröstete ihn der Gedanke, dass Pierre jetzt wieder mit seiner Mutter vereint war. Er war entschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Charmaine hatte recht behalten. Inzwischen konnte er sogar lachen, wenn er sich erinnerte, wie Pierre ihm Sand auf den Kopf gestreut hatte. Natürlich wären Yvette und Jeannette überglücklich, ihn wiederzusehen. Und Charmaine vielleicht auch. Wenn er ehrlich war, so lockte ihn das Wiedersehen mit ihr mehr als alles andere. Vielleicht hatte er ja Glück, und sie war noch nicht mit Paul verheiratet.

»Wohin hat all dieser Kummer denn geführt, John?«, fragte Michael in die Stille hinein. »Ist es nicht an der Zeit, ihn zu begraben? Offenbar möchte Ihre Familie das, also warum nicht auch Sie? Die Zukunft wird vielleicht strahlender, als Sie das für möglich halten.«

Mit einem Mal hatte John genug von dem Gerede. Aus Michaels Mund klang alles so einfach. Aber warum sollte er sich das wieder antun? »Ich denke darüber nach«, log er.

Um ihn nicht weiter zu bedrängen, stand Father Michael auf und ging ins Vestibül hinaus.

Missmutig folgte John ihm. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er den Priester zu seinem hastigen Aufbruch gedrängt hatte. »Sie wollen doch jetzt nicht nach Hause fahren? Die Sonne geht gleich unter.«

»Ich habe eine Laterne an meinem Wagen.« Michael schlüpfte in seinen Mantel. »Außerdem bin ich unterwegs an einem Gasthof vorbeigekommen. Falls nötig, kann ich dort anhalten. Ich muss auf jeden Fall nach Richmond zurück.«

John fürchtete, dass sein Freund im Begriff stand, sich sein eigenes Grab zu schaufeln. »Könnte eine kleine Spende Sie vielleicht davon abhalten?«

»Sie waren schon viel zu großzügig, John. Außerdem tut es mir gut, meinen Pflichten nachzukommen.«

»Ihren Pflichten nachzukommen oder sich umzubringen?«

Michael zog eine Braue in die Höhe. »Sehen Sie das so?«

»Ich bin überrascht, dass Marie nicht besser für Sie sorgt und Ihnen ein bisschen mehr Muße verordnet«, bemerkte John augenzwinkernd. Als der Priester leichenblass wurde, erschrak er zutiefst. »Michael?«

»Marie ist tot«, stieß der Priester hervor. »Ich dachte, dass Sie das wüssten, dass alle Welt es wüsste. Es ist schon zwei Jahre her.«

»Tot?« John war entsetzt. Bei seinen kurzen Besuchen im Waisenhaus hatte er nie nach ihr gefragt, weil er davon ausgegangen war, dass sie wohlauf war und es ihr gut ging. Zwei Jahre hatte er Marie nicht mehr gesehen! Er war wütend auf sich selbst. War er so sehr mit seinem eigenen Elend beschäftigt, dass er sogar seine Freunde vergaß? Marie war seine Retterin, seine Vertraute gewesen, die ihm in der schlimmsten Zeit seines Lebens nach Pierres Empfängnis und Geburt beigestanden hatte. »Tot«, wiederholte er tonlos, als die Wahrheit langsam in sein Bewusstsein drang. »Was ist geschehen?«

»Es war einfach entsetzlich …«, stammelte Michael.

John schüttelte den Kopf. Er wusste, dass dieser Mann, dieser wunderbare Mensch und Freund, Marie geliebt hatte. »Michael, es tut mir leid. Es tut mir entsetzlich leid.«

»Marie war eine ganz besondere Frau, John.«

»Ja, Michael, das war sie wirklich.«

In gemeinsamem Schweigen sannen sie über die Endgültigkeit des Todes nach. Plötzlich unterbrach John ihre kleine Andacht und ging in die Bibliothek, wo er in den Schubladen seines Schreibtischs herumkramte. Als er in die Halle zurückkehrte, hielt er einen Umschlag in der Hand.

»Seltsam. Vor vielen Jahren hat mir Marie dies hier gegeben.« Er sah Michael an. »Falls ihr etwas zustößt, sollte ich Ihnen diesen Umschlag aushändigen.« Er reichte ihn dem Priester.

Michael nahm ihn wie ein kostbares Geschenk entgegen.

»Wollen Sie ihn denn nicht öffnen?«

Michael erbrach das Siegel, nahm einen einzigen Bogen heraus und begann zu lesen. Als er fertig war, zitterten seine Hände. Mit Tränen in den Augen sah er John an. »Ich habe eine Tochter«, flüsterte er tonlos. »Guter Gott … eine Tochter.«

Aufseufzend barg er sein Gesicht in den Händen und sank in den nächstbesten Sessel. Endlich wusste er, warum Marie ihn vor zwanzig Jahren verlassen hatte. Er hatte ihrer einzigen Liebesnacht die Schuld dafür gegeben und fast sechs Jahre lang gebangt, was wohl aus Marie geworden war. Und sich geschämt und verachtet, weil er sie entehrt hatte. Als sie dann an einem bitterkalten Tag nach St. Jude zurückgekehrt war, hatte sie ein kleines Mädchen an der Hand … Sie war inzwischen verheiratet und glücklich, wie sie ihm erzählte. Da sie immer auf Abstand zu ihm bedacht war, glaubte er ihre Geschichte. Von da an war die Vergangenheit kein Thema mehr, aber er fragte sich manchmal, ob sie genauso oft daran zurückdachte wie er.

Plötzlich packte ihn die Wut: Wut auf sich selbst, auf das Priesteramt und Wut auf Gott. Er hätte seinem Amt den Rücken kehren sollen, sobald er wusste, dass er Marie liebte. Dann könnte sie heute noch leben!

»Ist alles in Ordnung?«, fragte John besorgt, als der Priester ihn nur anstarrte.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo meine Tochter jetzt ist«, sagte Michael, als die größte Wut verflogen war.

»Vielleicht hat Marie ja eine gute Familie gefunden, wo sie mit Brüdern und Schwestern aufwachsen kann.«

»Aber nein, John. Meine Tochter ist inzwischen eine junge Frau … ungefähr neunzehn oder zwanzig Jahre alt.«

Wieder war John überrascht.

»Ich kannte Marie schon viele Jahre«, erklärte Michael. »Sie ist als Waisenkind in St. Jude aufgewachsen. Als ich meine Stelle antrat, war sie das schönste Geschöpf, das man sich vorstellen kann. Sowohl innerlich als auch äußerlich. Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Aber ich habe Marie ehrlich geliebt. Ich liebe sie noch heute.«

»Das weiß ich. Warum also machen Sie sich Vorwürfe? Marie hat Sie doch auch geliebt.«

»Aber meine sogenannte Liebe hat sie in eine lieblose Ehe getrieben.«

»Ehe?« John war verwirrt. »Mir gegenüber hat sie keinen Ehemann erwähnt.«

»Im Waisenhaus hat sie nie über ihr Privatleben geredet«, flüsterte Michael. »Offenbar wollte sie mir die Bloßstellung ersparen. Außerdem wollte sie verhindern, dass ich mein Amt aufgebe, was ich vielleicht erwogen hätte, wenn ich von dem Kind gewusst hätte. Lieber hat sie sich selbst geopfert.«

Michael ließ den Brief auf den Schoß fallen und faltete die Hände. Tief in Gedanken versunken tippte er mit den Fingerspitzen gegen seine Lippen. »Was soll ich tun, John? Soll ich nach meiner Tochter suchen? Soll ich ihr sagen, dass ich ihr Vater bin? Ich weiß, dass sie den Mann verachtet hat, den sie für ihren Vater hielt.«

»Und woher wissen Sie das?«

»Von ihr selbst. Sie hat Sister Elizabeths Schule besucht, und ich habe ihr oft die Beichte abgenommen.«

»Zuerst einmal müssen Sie Ihre Tochter finden und sehen, wie es ihr geht«, meinte John. »Ob Sie ihr die Wahrheit sagen, können Sie später entscheiden.«

Michael nickte. »Sie haben recht, John. Genauso hätte Marie es gewollt.«

Plötzlich unterbrachen Hundegebell und lautes Klopfen ihre Unterhaltung. Als John verärgert die Tür aufriss, sah er sich einem Mann gegenüber, der unbeeindruckt vom Knurren der Hunde die Veranda betreten hatte. Fünf weitere Männer standen unten auf der Wiese. Die Pferde hatten sie an den Pfosten angebunden.

»Guten Abend, Mr Duvoisin. Wir müssen kurz mit Ihnen sprechen.«

»Und worüber?«, fragte John.

»Es geht um zwei entflohene Sklaven. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie sich im Schutz der Dunkelheit hier in der Gegend herumtreiben.«

Mit unbewegter Miene hörte John dem Mann zu. Als er nicht gleich reagierte, trat ein anderer vor und reichte John einen Zeitungsausschnitt. »Ein kräftiger Nigger und seine Frau. Vor zwei Nächten wurden sie dreißig Meilen südlich von hier gesichtet. Sehen Sie sich den Mann genau an, Mr Duvoisin. Ich wüsste gern, ob Sie einen Nigger gesehen haben, auf den die Beschreibung passt.«

Auf die Flüchtigen war eine Belohnung von hundertfünfzig Dollar ausgesetzt. Außerdem war das Datum der Flucht und der Staat vermerkt, aus dem sie geflohen waren, und der Name des Besitzers. Die Belohnung stieg mit der Entfernung, in der die Sklaven aufgegriffen wurden.

John zuckte die Schultern. »Für mich sehen sie alle gleich aus.« Er reichte den Zeitungsausschnitt an Michael weiter.

Die Männer murmelten beifällig, doch ihr Anführer blieb hart. »Uns ist bekannt, dass Sie Ihre Sklaven freigelassen haben und dass sie gegen Entlohnung für Sie arbeiten. Es drohen Ihnen harte Strafen, falls Ihre Nigger fremdes Eigentum verstecken. Am besten reden Sie mit ihnen.«

»Die Männer und Frauen auf dieser Plantage sind nicht dumm, Mr …« Er wartete geduldig auf den Namen.

»Reynolds.«

»Mr Reynolds.« John nickte dem Mann zu. »Meine Leute würden sofort ihre Arbeit verlieren. Im Gegensatz zu den Yankees werfe ich dem Süden nicht vor, dass er die Sklaverei noch immer duldet. Schließlich wurde das Vermögen meiner Familie hier im Süden begründet. Dass ich meine Sklaven freigelassen habe, war eine rein geschäftliche Entscheidung. Meiner Meinung nach arbeiten Menschen härter, wenn sie dafür entlohnt werden. Ich brauche keine Peitsche und muss auch keine kostspieligen Prämienjäger engagieren. Meine Arbeiter laufen mir nicht davon.«

Misstrauisch beäugten ihn die Männer, doch sie konnten dem nichts entgegenhalten.

»Trotzdem würden wir uns gern die Hütten ansehen.«

»Wie Sie wünschen.«

John trat von der Veranda hinunter und führte die Männer zu den bescheidenen Hütten hinter dem großen Haus. Als sie an Stuarts Hütte vorbeigingen, kam dieser heraus und nickte ihnen zu. »Mein Verwalter«, sagte John.

Angesichts der Fremden hörten die Kinder auf zu spielen. John ging auf eine der Hütten zu und klopfte. Brian öffnete sofort, was nur heißen konnte, dass er sie durchs Fenster beobachtet hatte.

»Brian, diese Männer suchen nach zwei geflohenen Sklaven aus North Carolina. Vor zwei Nächten hat man sie südlich von hier gesehen. Ist das so weit richtig, Gentlemen?« Sie nickten. »Haben Sie oder sonst jemand die beiden zu Gesicht bekommen?«

»Nein, Sir.«

»Leider reicht in diesem Fall Ihr Wort nicht. Ich fürchte, die Gentlemen werden nicht ruhen, bevor sie nicht Ihre Hütte durchsucht haben.«

Zustimmendes Gemurmel.

»Ja, Sir.« Brian trat zur Seite und ließ zwei der Männer eintreten.

Die anderen teilten sich paarweise auf und durchsuchten eine Hütte nach der anderen. Als sie mit leeren Händen zurückkamen, drehte sich Reynolds zu John um. »Wir bedauern die Störung, Mr Duvoisin.«

John lächelte nur. »Keine Ursache. Ich werde auf jeden Fall die Augen offen halten.«

Dann begleitete er die Männer zu ihren Pferden und ging zurück auf die Veranda. Während er ihnen nachsah, rieb er sich nachdenklich den Nacken. Als sie außer Sichtweite waren, kam Michael aus dem Haus. »Sind sie fort?«, fragte er besorgt.

Den Zeitungsausschnitt hielt er noch immer in der Hand.

»Ja. Darf ich den Ausschnitt haben? Ich sammle sie nämlich als Erinnerung an meine Arbeit und als Mahnung.«

Michael gab ihm den Ausschnitt, und John sagte: »Dann wollen wir mal sehen, ob sie es letzte Nacht bis nach Freedom geschafft haben.«

Michael lachte in sich hinein, während sie zu den Hütten zurückgingen. Mit erleichtertem Lächeln kam ihnen Stuart entgegen.

»Also sind sie hier?«, fragte John.

»Ja, seit der Morgendämmerung. Ich wusste allerdings nicht, dass Sie zu Hause waren.«

»Es ist ja nichts passiert«, beruhigte ihn John. »Sie haben wahrlich einen Glückstag erwischt. Da sie nur zu zweit sind, kann Father Michael sie gleich morgen früh mit seinem Wagen ins Waisenhaus mitnehmen.«

Michael nickte. Demnach musste er doch hier übernachten.

Zusammen schoben sie die schwere Kiste über zwei losen Dielenbrettern zur Seite, damit das Paar aus dem niedrigen Versteck unter Stuarts Hüttenboden herauskriechen konnte. Nettie gab ihnen zu essen und richtete ein Bett her, und kurz vor Tagesanbruch waren sie schon auf dem Weg nach Richmond. Da es keine Beschreibung von der schwangeren Frau gab, konnte sie als Michaels Haushälterin durchgehen und neben ihm sitzen. Ihr Mann dagegen musste zusammengekauert unter einer Decke hinter dem Sitz ausharren. Aber immer noch besser, als den ganzen Weg zu laufen.

John wünschte den beiden alles Gute und drückte der Frau noch ein paar Geldscheine in die Hand.

»Vielen Dank, Sir.« Sie ergriff seinen Arm und drückte ihn an ihr Herz. »Gott beschütze Sie und Ihre Familie.«

»Und Sie auch, Madam«, erwiderte er. Dann schüttelte er Michael die Hand. »Ich komme vorbei, sobald ich das nächste Mal in Richmond bin.«

Samstag, 24. März 1838
Charmantes

Charmaine seufzte erleichtert, als sie zusammen mit Mercedes Maddy Thompsons Cottage verließ. Vor zwei Wochen hatte sie sich noch den Kopf zerbrochen, was sie zum Ball tragen sollte, damit sich jedermann nach ihr umdrehte. Doch die Kleider in Maddys Laden waren alles andere als elegant. Vermutlich würden die vornehmen Ladys Roben aus London oder Paris tragen, hatte Paul gesagt und darauf bestanden, dass Charmaine sich auf seine Kosten ein entsprechendes Kleid besorgte. Zum Glück hatte Mercedes die rettende Idee. In den Heften auf Maddys Ladentheke waren zahllose modische Kleider abgebildet, sodass Charmaine nur noch unter den feinsten Stoffen wählen musste und Maddy, die früher als Näherin für einen Couturier in Charleston gearbeitet hatte, den Rest erledigen konnte. An den letzten beiden Samstagen hatte Charmaine wie eine Statue auf einem Hocker in Maddys Wohnzimmer gestanden und miterlebt, wie das Kleid allmählich Gestalt annahm. Noch eine letzte Anprobe, und es war fertig.

Die jungen Frauen überquerten die Straße, um zum Mietstall zu gelangen, wo sie ihre Pferde untergestellt hatten. Dabei entdeckten sie im Fenster der Bar ein großes Schild: IN DIESER WOCHE KEINE ZIMMER FÜR MATROSEN. Und darunter: Ersatzquartiere im Laden erfragen. Die einflussreichsten Gäste wohnten ohnehin in den Herrenhäusern auf Charmantes und Espoir, doch Frederic zahlte gut, damit Dulcie die Übrigen beherbergte. Anfang der Woche hatte man den Saloon geschrubbt und die Fensterläden gestrichen, und heute war der erste Stock an der Reihe. Alle Fenster standen weit offen, und im Hof waren sechs Frauen damit beschäftigt, die Laken zu waschen und zu bleichen. Überall wurde gewerkelt, und die ganze Stadt war auf den Beinen, um sich auf das Ereignis vorzubereiten.

Auf dem Rückweg zum Herrenhaus konnte Charmaine ihre Aufregung nicht länger bezähmen. »Ich danke Ihnen für alles und wünschte nur, Sie könnten auch dabei sein.«

Aber Mercedes wehrte ab. »Machen Sie sich um mich keine Gedanken. Sie werden sich einfach für uns beide amüsieren. Erst recht an Pauls Arm! Ich kann es noch immer nicht glauben. Eigentlich hätte ich erwartet, dass er Mrs London bittet. Letztes Jahr hat sie seinen Bruder nicht aus den Augen gelassen und hätte für diese Ehre sicher gemordet!«

Charmaine strahlte. Der Tag gefiel ihr immer besser.

Ihr Lächeln machte Mercedes neugierig. »Warum hat Paul gerade Sie gefragt?«

»Wir sind uns während der letzten fünf Monate ein ganzes Stück nähergekommen.«

»Näher?«

»Keine Sorge. Paul ist nur ein Freund. Ein guter Freund.«

»Nur ein Freund?« Mercedes sah Charmaine zweifelnd an. »Wissen Sie eigentlich, wie viele Mädchen Arm oder Bein opfern würden, um an Ihrer Stelle zu sein? Wie neidisch sie alle sind? Und Sie wollen mir weismachen, dass Paul und Sie nur gute Freunde sind? Mögen Sie ihn denn kein bisschen? Wenn er mich gefragt hätte, wäre ich bestimmt tot umgefallen oder wenigstens knallrot geworden!«

Charmaine lächelte, da sie sich an die ersten Tage auf Charmantes erinnerte, als sie ständig errötet war. Inzwischen hatte sie gelernt, sich nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen, und fragte sich manchmal, was sich verändert hatte.

Mercedes beugte sich nach vorn. »Nun?«

»Was ›nun‹?«

»Also gut … Sind Sie in ihn verliebt? Interessiert er sich für Sie?«

»Interessiert«, murmelte Charmaine. Sie sollten wissen, dass Paul nur ein Ziel hat … dass ihn nur eines interessiert … Warum fiel ihr das gerade jetzt ein? Sie lächelte. »Ja, er interessiert sich für mich.«

»Worauf warten Sie dann noch?«

»Was meinen Sie damit?«

»Schnappen Sie ihn sich! Lassen Sie ihn nicht entwischen! Erlauben Sie nicht, dass Mrs London ihn sich krallt! Eine solche Gelegenheit kommt nie wieder!«

Samstag, 31. März 1838

Der Tag des Balls rückte immer näher. Noch eine Woche! Seit Tagen war Travis Thornfield fast ununterbrochen am Hafen, um die Gäste zu empfangen und in ihre jeweiligen Unterkünfte zu bringen. Für alle, die mittlerweile auf der Insel angekommen waren, fand am morgigen Vormittag ein großer Empfang bei Dulcie statt, um die Woche mit Gesprächen und Verhandlungen zu eröffnen.

An diesem Morgen saßen Gäste und Familie eng gedrängt um den Frühstückstisch, und es herrschte eine angeregte Stimmung. Alle redeten durcheinander, während Frederic stumm und in sich gekehrt dabeisaß. Charmaine fragte sich, ob er wohl auch so niedergedrückt war wie sie. Dachte er an John? Oder daran, dass Colette und Pierre heute Geburtstag gehabt hätten? Dass Pierre heute vier Jahre alt geworden wäre und Colettes Todestag sich in einer Woche jährte? Ihr Herz war schwer, und sie seufzte.

Als ob Frederic ihre Gedanken gelesen hätte, wandte er sich an sie. »Sie wirken heute sehr nachdenklich, Charmaine. Fehlt Ihnen etwas?«

»Das Gleiche könnte ich von Ihnen sagen«, entgegnete sie. »Und vermutlich aus denselben Gründen.«

Sofort verstummte das Gerede, und aller Augen richteten sich auf sie.

»Welchen Gründen?«, fragte Agatha und beäugte Charmaine misstrauisch.

Frederic lächelte wehmütig. »Miss Ryan ist eine scharfsinnige Beobachterin.« Und dann: »Leider bin ich heute den ganzen Tag beschäftigt, sodass Sie sich um die Mädchen kümmern müssen. Vielleicht beflügelt ja ein gemeinsamer Ritt mit meinen Töchtern Ihre Lebensgeister.«

»Gewiss, Sir«, flüsterte Charmaine, obwohl sie wusste, dass nichts diese Traurigkeit vertreiben konnte.

Yvette und Jeannette stürmten überglücklich in die Küche, um Mercedes einzuladen. Als Anne protestieren wollte, fiel ihr Frederic ins Wort. »Sie werden sicher meiner Frau zur Seite stehen, nicht wahr, Mrs London?« Und auf ihr Nicken hin sagte er: »Also kann Miss Wells mit meinen Töchtern ausreiten, nicht wahr? Die Anweisungen meiner Frau beziehen sich doch allein auf das Hauspersonal.«

Um nicht allzu grausam zu erscheinen, lächelte Anne, aber später wollte sie mit Mercedes ein Hühnchen rupfen.

Auf dem Weg zur Weide bemerkte Jeannette in der Ferne eine Staubwolke und kniff die Lider zusammen. »Ein Reiter!«

Yvette blieb wie angewurzelt stehen und starrte die Straße entlang.

»Kannst du etwas erkennen?«, fragte Jeannette.

»Es ist Phantom!« Mit wildem Geschrei stürmte sie los.

Jeannette rannte ihr nach und erreichte gerade das Tor, als John hereinsprengte. »Johnny!«, quietschten die Mädchen und zerrten wie die Wilden an ihm. Mit einem Satz sprang er vom Pferd und schloss seine Schwestern laut lachend in die Arme. »O wie schön, dass du gekommen bist! Du musst Charmaine begrüßen! Und Papa auch!«

Ein Stallknecht rannte herbei und übernahm den Hengst. John warf sich den Seesack über die Schulter und ging zwischen den Mädchen zum Haus hinüber. Jeannette umschlang ihn, und Yvette strahlte ihn an wie ein Wunder, das sich in Luft auflösen könnte, sobald sie die Augen abwandte.

»Also, Mädchen, was ist mir inzwischen alles entgangen?« Er drückte Jeannettes Schulter.

»Papa macht am Samstag immer Ausflüge mit uns. Außerdem haben wir Kleider für den Ball bekommen!«

»Und ich führe die Bücher der Sägemühle!«, rief Yvette dazwischen.

»Wir waren auch in Espoir, und Mademoiselle Charmaine kann inzwischen gut reiten!«

John war froh. Dank der Begeisterung seiner Schwestern spürte er, dass er willkommen war, dass dies sein Zuhause war. Er zog die Mädchen an sich und fragte sich, wo Charmaine wohl steckte.

Charmaine verließ das Haus und befestigte im Gehen noch ihre Kappe. In derselben Sekunde begann ihr Herz zu rasen. Es war eindeutig John, der ihr da entgegenkam! Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß: die Kappe, die verwegen auf seinem Kopf thronte, das dunkle Haar, das ihm in die Stirn fiel, und dazu sein selbstbewusster Gang. Die Versuchung, einfach die Stufen hinunterzulaufen und ihn in die Arme zu schließen, war so mächtig, dass sie alle Kräfte aufbieten musste, um an Ort und Stelle stehen zu bleiben. Vor der Veranda sah John auf, und ihre Blicke begegneten einander.

Er nahm das Bild in sich auf. Das schlichte Reitkleid, die bebenden Finger, die noch immer die Schnalle an der Reitkappe schließen wollten, und die großen braunen Augen, die ihre Freude über das Wiedersehen verrieten. In diesem Moment war er überglücklich, dass er gekommen war. Ganz langsam atmete er ein und fühlte, wie sich seine Brust weitete. Er hatte Charmaine sehr vermisst. Mehr, als er erwartet hatte. Er merkte kaum, als Jeannette ins Haus rannte, um ihrem Vater die gute Nachricht zu überbringen.

»Sie sehen gut aus, Mademoiselle.«

Das Blut pochte ihr in den Ohren, und ihr Herz schlug heftig. Liebevoll sah er sie an, als er die Stufen heraufkam, und sein schiefes Lächeln war ihr ein Quell der Freude. »Es geht mir auch gut«, hauchte sie. »Und wie geht es Ihnen?«

»Ebenfalls gut … einfach gut.«

»Sie sind zum Fest gekommen?«, stellte sie eher fest, als dass sie fragte.

»Ja, mein Vater hat mich eingeladen. Offenbar möchte er gern einiges aus der Welt schaffen.« Dann wanderte sein Blick zu Mercedes, die zusammen mit Charmaine aus dem Haus gekommen war. »Guten Morgen, Miss Mercedes.«

Mercedes murmelte einen kurzen Gruß und sah zu Boden.

Ein Anflug von Eifersucht befiel Charmaine, aber dann fiel ihr wieder ein, dass Mercedes Mrs London diese Bekanntschaft verdankte. Erleichtert bemerkte sie, dass John nur leise lachte und sich wieder ihr zuwandte.

»Bleiben Sie länger hier?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Das kommt darauf an. Wie ich sehe, wollten Sie gerade ausreiten.«

Bevor Charmaine antworten konnte, öffnete sich die Tür erneut, und Frederic trat mit einem Lächeln zu ihnen. Seine Augen blitzten.

»Willkommen zu Hause, John.«

John nahm sich zusammen, um nicht zu Stein zu erstarren oder gar wegzulaufen.

»Komm ins Haus.« Sein Vater deutete zum Eingang. »Im Arbeitszimmer wartet eine kühle Limonade.«

Als die Zwillinge ihren Bruder ins Haus zerren wollten, ging Frederic dazwischen. »Wenn ich mich recht erinnere, wolltet ihr doch mit Miss Ryan und Miss Wells ausreiten. Ihr seht euren Bruder noch lange genug.«

»Na los, Mädchen«, rief Charmaine, »die Ponys warten schon, und wenn wir noch lange trödeln, wird es zu heiß.«

Widerstrebend gehorchten die Zwillinge und wandten dem geliebten Bruder den Rücken zu. Charmaine sah den Männern nach und bemerkte noch, dass Agatha im Foyer stand und ihrem Feind hasserfüllt entgegensah. Dann schloss sich die Tür.

Mercedes beugte sich ganz nahe zu Charmaine. »Sie sind in ihn verliebt«, murmelte sie an ihrem Ohr.

Erschrocken fuhr Charmaine herum. »So ein Unsinn!«

Aber Mercedes lachte. »Kein Wunder, dass Paul nur ein ›guter Freund‹ ist.«

Paul begrüßte John mit Handschlag und freute sich sichtlich. John schlang ihm den Arm um die Schultern. »Heute beginnt also deine große Woche, Paul. Bist du bereit?«

Paul war über Johns Liebenswürdigkeit überrascht. »Ich habe mich noch nie im Leben besser gefühlt.«

Anne kam die Treppe herunter, doch als sie John bemerkte, drehte sie betont verächtlich den Kopf zur Seite, was ihm sehr gelegen kam.

Alle zusammen betraten sie anschließend das Arbeitszimmer, wo Stephen Westphal sie schon erwartete. Er presste einen Stapel Papiere an seine Brust, während seine Blicke ängstlich zwischen Frederic und John hin und her huschten. Frederic nahm wieder hinter dem Schreibtisch Platz, und Paul und John setzten sich ihm gegenüber. Agatha ging zu den französischen Fenstertüren, und Anne setzte sich auf eine der Polsterbänke. Felicia brachte einen Krug Zitronenlimonade und füllte alle Gläser.

»Ich vermute, dass du an Bord von Pauls Schiff gekommen bist«, sagte Frederic. »Wie war die Überfahrt?«

»Die See war ruhig, doch dank des kräftigen Windes haben wir die Überfahrt in Rekordzeit zurückgelegt. Ein prächtiges Frachtschiff, Paul. Die provisorischen Kabinen waren äußerst bequem. Wenn deine Gäste ihre Unterkunft bei Dulcie sehen, rennen sie schnurstracks zum Schiff zurück und mieten sich beim Kapitän ein!« Agatha runzelte die Stirn, was Johns Spottlust nur steigerte. »Fürwahr ein prächtiges Schiff … wenn erst die Lecks gestopft sind. Aber solche Schönheitsfehler sind bei einer Jungfernfahrt ja ganz normal.«

Paul schien besorgt. »Lecks? Aber es sollte keine …«

»Nur ein Scherz, Paulie.« John lachte. »Alles war in bester Ordnung.«

Jetzt konnte auch Paul lachen. »Was gibt es Neues in den Staaten?«

»Kommt ganz darauf an, wo du dich befindest.«

»Warum fängst du nicht gleich mit New York an?«, meinte Agatha bissig.

Misstrauisch sah John sie an. »Was genau möchten Sie denn wissen, Auntie?«

»Es geht nicht darum, was ich wissen möchte, sondern was dein Vater gern erfahren würde.«

Nervös wanderten Frederics Blicke zu Agatha.

Diese wandte sich an Westphal. »Na los, Stephen, warum erzählen Sie John nicht, was Sie über seine Geschäfte in New York erfahren haben?«

Westphal schnappte nach Luft. Eigentlich wollte Agatha die Neuigkeiten enthüllen, die er gesammelt hatte. Aber nun ruhte Frederics Blick auf ihm. Und diesen Blick kannte er nur zu gut. Ausflüchte gab es keine, denn Frederic würde nicht eher ruhen, bis er alles wusste. John sah ihn ebenfalls herausfordernd an, und Stephen wand sich verlegen, weil er es mit keinem der beiden Männer verderben wollte. »Vielleicht sollten wir das lieber ein andermal besprechen …«, stieß er hervor.

»O nein, das besprechen wir hier und jetzt.« Frederic überlegte kurz, Anne aus dem Zimmer zu schicken. Doch wozu? Ebenso gut konnte sie ihrem Vater oder Agatha die Geschichte entlocken, wenn sie sie nicht schon längst kannte.

Westphal räusperte sich. »Meine Bankfreunde haben einiges verlauten lassen …«

»Weiter«, drängte Frederic.

»Sie haben mitgeteilt, dass John Duvoisin im Norden in Kanal- und Eisenbahnprojekte investiert hat, und zwar mit Duvoisin-Vermögen von der Bank of Virginia.«

Erstaunt sah Paul seinen Bruder an. Westphal zögerte wieder.

Aber Frederic gab nicht nach. »Und?«

Westphal räusperte sich noch einmal. »Ich weiß außerdem aus sicherer Quelle, dass John sich für die Sklavenbefreiung einsetzt. Er hat Verbindungen zur Underground Railroad … und unterstützt die Sache auch finanziell.«

»Underground Railroad?«, fragte Frederic, dem der Begriff nicht geläufig war.

»Dies ist kein offizieller Begriff, sondern bezeichnet eine Untergrundbewegung, über die im Süden viel getuschelt wird.«

»Worum genau geht es dabei?«

»Um eine Vereinigung von Menschen aus dem Süden und dem Norden, die entlaufenen Sklaven Hilfe gewähren. Man munkelt, dass John dazugehört … und die Schiffe der Duvoisins nutzt, um Sklaven aus Richmond nach New York zu transportieren.«

Frederic fixierte seinen Sohn. »Ist das wahr, John?« Erinnerungen an die ersten Tage seiner Ehe mit Colette stiegen in ihm auf. Plötzlich war sie hier mitten unter ihnen, und er konnte sie an seiner Seite spüren.

»Spionierst du mir jetzt nach, Vater?«, fragte John leicht belustigt, doch sein Gesicht blieb ernst. »Hast du mich deshalb eingeladen? Ich bin noch keine fünf Minuten hier, und schon werde ich verhört. Warum diese Inquisition?«

»Stimmt es, dass du die Konten bei der Bank of Virginia aufgelöst hast?«

»Das ist richtig. Aber hat dein genialer Mr Westphal dir auch von der Bankenpanik im vergangenen Jahr berichtet? Dass Hunderte Farmer beim Zusammenbruch der Bank of the United States alles verloren haben? Nur du nicht, Vater. Und warum? Allein wegen der Investitionen im Norden, die ich vor der Krise in deinem Namen getätigt habe. Dein Mr Westphal hat nicht einmal begriffen, dass du dadurch reicher geworden bist. Er ist so damit beschäftigt, mich herabzusetzen, dass er nicht über seine Nasenspitze hinaussehen kann!«

»Seit wann investieren die Duvoisins in Eisenbahnlinien und Kanalprojekte?«, fragte Frederic.

»Ich war der Meinung, dass ich die Verantwortung auf dem Festland trage, oder nicht? Geschäft ist Geschäft, Vater. Was macht es da aus, ob du in Schiffe, Eisenbahnen oder Kanäle investierst? Sobald ich sichere Beteiligungen entdeckt habe, habe ich investiert … Übrigens auch mit meinem eigenen Geld.«

»Und warum hast du nicht im Süden investiert, wo wir unsere Wurzeln haben?«

»So, wie der Süden sich heute präsentiert, hat er keine Zukunft mehr. Wenn es nach mir ginge, würde ich alle deine Beteiligungen in den Norden verlegen.«

»Was hat es mit dieser Underground Railroad auf sich?«

»Die unterstütze ich«, erklärte John schlicht, »und zwar ausschließlich mit meinem Geld.«

Frederic seufzte. Vor zehn Jahren hatte er genau dieselbe Diskussion mit Colette geführt.

»Und benutzt du meine Schiffe zum Transport der Sklaven?«

»Hin und wieder.«

Frederics Zorn wuchs. »Wenn das ruchbar wird, schadet es meinen Investitionen und Geschäftsverbindungen in Virginia. Flüchtigen Sklaven zu helfen ist gegen das Gesetz! Stell dir nur vor, was passiert, wenn die Behörden herausbekommen, dass du sie hintergehst!«

Agatha lächelte verzückt. Endlich kam man zum Punkt.

»Du hast völlig recht«, erklärte John und freute sich, als sein Vater ihn verwirrt ansah. »Und ich habe die Lösung: Ich ziehe mich aus der Verwaltung deines Besitzes in Virginia zurück. Gleichzeitig verlange ich, dass du meinen Namen aus deinem Testament streichst.«

»John …«, stotterte Paul, »das kannst du doch nicht tun!«

»Und wie ich das kann.«

»Du benutzt also mein Vermögen, um mich zu strafen?«

»Du warst ein guter Lehrmeister, Vater.«

»Ich werde nicht darauf eingehen«, entschied Frederic.

Agatha trat einen Schritt nach vorn. »Aber warum denn nicht, Frederic?« Sie fürchtete, dass John den Vorschlag zurückziehen könnte, und deutete auf Paul. »Du kannst es schließlich in bessere … in kompetentere Hände legen.«

»Halt den Mund, Frau!«, herrschte Frederic sie an, bevor er sich wieder an John wandte. »Warum … warum tust du das alles«, fragte er in flehendem Ton.

»Weil der Preis für dein Vermögen Verbrechen, Elend und Tränen waren«, sagte John verächtlich. »Ich habe selbst großen Anteil daran und möchte das nicht länger verantworten.«

Mit offenem Mund starrte Frederic seinen Sohn an, Agatha strahlte, und Anne beugte sich nach vorn, damit ihr kein einziges Wort entging.

»Ich akzeptiere deinen Rücktritt als Geschäftsführer«, erklärte Frederic schließlich, »aber aus meinem Testament streiche ich dich nicht.«

»Wenn du meinen Namen nicht tilgst, werde ich an dem Tag, an dem du stirbst, jedes Frachtschiff und jeden Penny deines Vermögens der Underground Railway überschreiben. Das schwöre ich. Warum vererbst du nicht alles an Paul? Er verdient es mehr als ich.«

Unbehaglich sah Paul von einem zum anderen. »John …«, begann er, doch John wischte jeden Einwand beiseite und ließ seinen Vater nicht aus den Augen.

»John hat recht, Frederic«, flötete Agatha. »Du solltest seinen Vorschlag annehmen. Es ist das einzig Richtige. Du hast deinen besseren Sohn viel zu lange übersehen.«

»Agatha! Ich habe …«

»Endlich sind wir einmal einer Meinung, Auntie«, fiel John seinem Vater ins Wort. »Ich verstehe nur nicht, warum Sie sich so für meinen Bruder einsetzen. Er hasst Sie doch genauso wie ich. Man könnte ja glauben, dass Sie seine Mutter sind.«

Pauls Blick schoss von Agathas beleidigter Miene zum erstaunten Gesicht seines Vaters … dann zündete ein Funke in seinem Kopf.

»Dir bleibt keine andere Wahl, Frederic«, fuhr Agatha fort, »oder willst du zusehen, wie das Vermögen der Familie den Hunden zum Fraß vorgeworfen wird? Warum zögerst du?«

»Halt den Mund!«, bellte Frederic und sah John betrübt an. Der Graben zwischen ihnen wurde immer breiter.

John erstaunte das Bedauern, das er in den Augen seines Vaters las. Warum hatte ihn dieser Mann so oft missachtet und beinahe zugrunde gerichtet, wenn er sich doch in Wahrheit um ihn sorgte?

»Du lässt mir keine andere Wahl«, murmelte Frederic als müdes Echo von Agathas Worten.

»Keine Angst, Vater«, fuhr John sarkastisch fort. »Ich fordere auch etwas von dir.«

»Und was?«

»Das Sorgerecht für meine Schwestern nach deinem Tod. Die beiden bedeuten mir alles.«

Frederic schossen Tränen in die Augen, doch er verbarg sie, indem er sich mit der Hand über die Stirn fuhr. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, nickte er.

»Ich gehe davon aus, dass Edward Richecourt ebenfalls nach Charmantes kommt«, fuhr John fort. »Soll ich das Gespräch mit ihm vereinbaren, oder willst du das tun?«

»Ich kümmere mich selbst darum«, erwiderte Frederic mit rauer Stimme. Traurig sah er Paul an. Mit einem kurzen Nicken erhob sich John und verließ den Raum.

In derselben Sekunde fuhr Frederic zu Westphal herum. »Warum habe ich diese Informationen nicht früher erhalten?«

»Ich … ich …«, stotterte Westphal mit knallrotem Gesicht. Er wollte Agatha nicht hineinziehen, weil sie ihn für diesen Dienst gut bezahlt hatte.

»Ich bin dafür, dass wir unsere Angelegenheiten später bei Ihnen zu Hause besprechen, Stephen«, kam ihm Paul zu Hilfe.

»Sehr gern.« Erleichtert schob der Mann die Papiere in seine Mappe und hastete, von Anne gefolgt, davon.

Frederic konnte kaum an sich halten, bis sich die Tür endlich geschlossen hatte. »Ich habe dich gewarnt, Agatha, und doch stellst du dich immer wieder zwischen John und mich!«

Ihr Kinn sank herab, doch sie blieb stumm.

Paul trat zwischen die beiden. »Stimmt es, was John gesagt hat, Vater?«, fragte er. Dabei irrte sein Blick zwischen Frederic und Agatha hin und her, die einander feindselig anstarrten.

»Ist was wahr?«, fragte Frederic konfus.

»Was Agatha betrifft.«

Frederic ließ den Kopf sinken, doch Agatha lächelte siegesgewiss.

»Also sind Sie meine Mutter?«, stieß Paul ungläubig hervor, während sich die Erkenntnis bereits Bahn brach.

»Sag es ihm, Frederic«, drängte Agatha. »Ist es nicht an der Zeit, dass dein erwachsener Sohn die Wahrheit über uns erfährt?«

Frederic sah in Pauls gequältes Gesicht und wusste, wie betrogen der sich vorkam. »Ich muss dir das erklären, Paul. Es ist eine komplizierte Geschichte.«

»Dessen bin ich sicher«, schnaubte Paul. »Ein echtes Lügengebäude, das du da errichtet hast.« Er hob die Hand, um seinen Vater am Sprechen zu hindern. »Aber jetzt will ich nichts hören! Ich muss meine Gäste begrüßen und will mir die Woche nicht durch ekelhafte Geständnisse verderben lassen. Dafür habe ich zu hart gearbeitet!«

John betrat sein Zimmer und warf den Seesack aufs Bett. Er war direkt in die Falle gegangen! Mit hämmerndem Schädel überlegte er, einfach umzukehren und das erste Schiff nach Richmond zu besteigen. Doch er konnte Charmaine und seine Schwestern unmöglich so enttäuschen. Er setzte sich, massierte seine Schläfen und holte langsam Luft, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Er überdachte noch einmal jedes Wort und fragte sich, ob Westphal seinen Vater nicht genauso überrascht hatte wie ihn selbst. Genau genommen hatte Agatha den Banker zu dieser Äußerung gedrängt. Ja, Agatha hasste ihn, aber bis heute hatte er nicht gewusst, wie sehr. Seine Spottlust reizte sie zwar manchmal bis auf Blut, doch er bezweifelte, dass das allein ihr heutiges Vorgehen erklärte. Es musste noch einen anderen Grund geben. Nur welchen?

Als Anne London später am Abend mit ihrem Vater bei Tisch saß, verbot er ihr, auch nur ein Sterbenswörtchen von dem verlauten zu lassen, was sie am Nachmittag gehört hatte. Falls sie seine Position auf Charmantes gefährdete, war er entschlossen, ihre gut gehüteten Geheimnisse zu enthüllen.

Sonntag, 1. April 1838

Um vier Uhr morgens konnte Paul noch immer nicht einschlafen. Die Enthüllung des gestrigen Tages schien in der Nacht immer größer zu werden. Den Tag über war er seinem Vater aus dem Weg gegangen und hatte sogar eine geplante Besprechung mit zwei Tabakfarmern aus der Karibik abgesagt, weil er im Moment kein Interesse für Schiffe, Dampfantrieb oder Vertragsbedingungen aufbringen konnte. Mit einem Mal lag die Woche wie eine Last vor ihm. Er lief im Zimmer auf und ab, schlug sich die Faust in die Hand und rang mit der Wahrheit, die er verdauen und gleichzeitig von sich abschütteln musste, wenn die harte Arbeit nicht völlig umsonst gewesen sein sollte. Agatha war seine Mutter … seine Mutter, die angeblich tot war. Nach den Worten seines Vaters war sie tot! Es war unmöglich! Aber folgerichtig war es schon.

Wie war es überhaupt dazu gekommen? Hatte Agatha seinen Vater nach dem Tod seiner geliebten Elizabeth getröstet? Aber das konnte nicht sein. Angeblich war er ja älter als John. Oder war das auch gelogen? Wollte er es überhaupt wissen? Du willst es gar nicht wissen, redete er sich ein. Jedenfalls jetzt noch nicht. Schieb es weg. Lass dich nicht ablenken.

Er musste an die Luft. Er verließ sein Zimmer und ging zum Stall. Er sattelte Alabaster und ritt in scharfem Galopp in die Stadt. Dort stand er lange auf dem verlassenen Deck der Bastion, die John nach Charmantes gebracht hatte, und starrte über die Halbinsel auf den Ozean hinaus. Es regnete leicht. Du musst die Sache vergessen. Bis zum Ende dieser Woche musst du die Sache vergessen!

Zur selben Zeit lag Frederic im Bett und starrte zur Decke empor. Paul wusste es … endlich wusste er es. Vor diesem Tag hatte er sich gefürchtet. So viele Jahre lang hatte er Paul belogen. Als der Junge mit fünf Jahren herausfand, dass John und er nicht dieselbe Mutter hatten, hatte er ihm gesagt, dass seine Mutter ebenfalls gestorben sei. Es schien ihm die einfachste und schmerzloseste Lösung. Außerdem schützte er Agathas guten Ruf, die zu dieser Zeit verheiratet war. Obgleich Paul nie mehr nach seiner Mutter fragte, war Frederic oft unsicher, ob der Junge gern mehr erfahren hätte. Jetzt wusste er es. Pauls gequälter Gesichtsausdruck war Antwort genug. Wohin seine Unaufrichtigkeit wohl noch führte?

Und John. Das Fiasko heute Nachmittag bedeutete einen Schritt nach hinten und nicht, wie er gehofft hatte, nach vorn. Als sein Stellvertreter hatte John in den Staaten freie Hand. Doch Frederic war enttäuscht, dass er Einzelheiten über seine Geschäfte von Westphal erfahren musste. Deshalb hatte er die Fassung verloren. Dabei hatte er, was John anging, schon Schlimmeres erlebt. Die Investitionen entsprachen zwar nicht der Tradition der Familie, doch sie klangen vernünftig und bestärkten Frederic in seiner Überzeugung, dass das Vermögen der Duvoisins bei John in fähigen Händen lag. Was seine Unterstützung geflohener Sklaven anging, so hatte Frederic Bedenken. Doch nach einigem Nachdenken war ihm klar geworden, dass Johns Kreuzzug nichts mit Rache oder Vergeltung zu tun hatte. Es war schlicht eine Sache, an die er glaubte.

Frederic seufzte tief. Dank Agatha waren jetzt beide Söhne wütend auf ihn. Irgendwie musste er den Schaden reparieren. Zuerst wollte er mit John allein sprechen. Dann war Paul an der Reihe. Zum ersten Mal fiel es ihm schwer, dem Sohn gegenüberzutreten, der ihn all die Jahre verehrt hatte. Auf jeden Fall wollte er Pauls Wunsch respektieren und abwarten, bis die Woche vorüber war.

Als John im vergangenen Herbst nach Virginia zurückgekehrt war, hatten ihn trotz härtester Arbeit Schlaflosigkeit und Träume gequält. Nacht für Nacht entführte ihn sein Albtraum in entlegene Gegenden, wo er ziellos zwischen gesichtslosen Fremden durch unbekannte Straßen lief. Als er um die Ecke in eine verwahrloste Gasse einbog, sah er plötzlich Pierre, der verdreckt und mit zerrissenen Kleidern zwischen Karren und Tieren inmitten einer Menschenmenge stand und verzweifelt die Gesichter um ihn her musterte. John rannte zu ihm, wollte ihn retten, doch je schneller er rannte, desto mehr geriet Pierre außer Reichweite, bis ihn die drängenden Körper verschluckten und John angesichts seiner Machtlosigkeit erwachte.

Kurz vor Weihnachten blieben die Träume plötzlich aus. Dann, in der Nacht von Michaels Besuch auf Freedom, kehrten sie zurück und quälten ihn während der nächsten Nächte. Früher hatte er die Träume seinem Schuldbewusstsein angelastet, aber jetzt war es anders. Irgendetwas deutete auf Charmaine hin und brachte ihn zu der Vermutung, dass er zu früh abgereist war. Dass er seine Vergangenheit erst hinter sich lassen konnte, wenn er, aus welchem Grund auch immer, noch einmal nach Hause fuhr. Seltsam, dass er wieder ruhig schlief, sobald er sich zu dieser Reise entschlossen hatte. Nun ja, bis heute Abend …

Als er der Müdigkeit nachgab, überkamen ihn bizarre Bilder, und zum ersten Mal seit letztem Oktober erschien ihm Colette. Wie immer schickte sie als Vorboten einen zarten Duft, der den Weg ins Zimmer ihrer geheimen Begegnung öffnete. Die Vorhänge bauschten sich, als ein Windstoß die Glastüren aufspringen ließ. John drehte sich um, weil er sie nicht sehen wollte, aber da war die Luft bereits von ihrem Duft erfüllt, und ihr Schatten fiel auf die Schwelle. Er wollte nicht, dass sie zu ihm kam, aber sie schien ihn zu brauchen. Sie kam näher, und die blauen Augen sahen ihn flehentlich an. Als er die Hand hob, um ihre Haut zu berühren, packte sie ihn und zerrte ihn zu den Glastüren. Doch er stemmte sich mit aller Kraft dagegen und riss sich los. Als sie erneut nach ihm griff, schrie er laut auf, als ob er sich verbrannt hätte … und erwachte.

Blicklos starrte er zur Decke empor. Hatte er wirklich geschrien? Er legte den Arm über die Augen und spürte den Schweiß auf seiner Stirn. Das Laken war verschwitzt, und als er sich aufsetzte, drehte sich alles. Sein Magen rebellierte. Er ging zum Waschtisch, wusch Gesicht und Brust und stützte beide Hände auf den Tisch, um die Welt zum Stehen zu bringen.

Charmaine konnte ebenfalls nicht schlafen. Doch in den frühen Morgenstunden gab sie das Schäfchenzählen und Beten auf. Stattdessen schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und ging nach unten. Vielleicht half ein Buch aus der Bibliothek oder ein Glas warme Milch.

Im Haus war es totenstill, doch zu ihrer Überraschung saß John mit geschlossenen Augen am Schreibtisch. Die Lampen waren heruntergedreht, und sein Kopf war gegen die Lehne gesunken.

»John?«, flüsterte sie fast unhörbar. Und dann noch einmal »John?« Als er sich nicht regte, berührte sie seinen Arm.

Erschrocken riss er die Augen auf. »Na wunderbar! Vielen Dank, Miss Ryan«, brummte er. »Zum ersten Mal in dieser Nacht konnte ich schlafen, und da wecken Sie mich auf!«

»Es tut mir leid.« Sie war ehrlich betroffen.

John ließ den schmerzenden Kopf auf die Hände sinken und schloss die Augen wieder. In der bedrückenden Stille wandte sich Charmaine zum Gehen, doch seine Stimme hielt sie auf. »Warum sind Sie so früh schon wach?«

»In meinem Kopf hat sich alles gedreht, und ich konnte nicht schlafen. Passiert Ihnen das denn nie?«

Jetzt lächelte er. »Viel zu oft, fürchte ich, my charm

Sie wurde ruhiger, als sie die vertraute Anrede hörte.

»Und was hat Sie nicht schlafen lassen?«, fragte er.

»Ich fürchte, ich bin wegen der kommenden Woche und der vielen Leute nervös.«

»Sie werden das alles bestens schaffen«, versicherte er. »Kommen Sie auch zum großen Ball am Samstag?«

»O ja!« Ihre Augen leuchteten auf. »Maddy Thompson hat mir sogar ein wunderschönes Kleid genäht. Beim Anprobieren musste ich stundenlang stocksteif dastehen.«

Ihre Begeisterung war ansteckend und machte ihn vollends munter. Lächelnd stützte er sein Kinn auf eine Faust, und seine Augen glitzerten. »Begleiten Sie meine Schwestern, oder haben Sie schon einen Mann an Ihrer Seite?«

Sie zögerte. War das ein Angebot? Warum mag ich es ihm nicht sagen? »Paul hat mich eingeladen.« Plötzlich fühlte sie eine leichte Enttäuschung.

John verzog keine Miene. »Ich muss gestehen, ich bin überrascht. Ich dachte eigentlich, dass er die hübsche Lady London auffordern würde. Sie klebt ja förmlich an ihm. Freuen Sie sich schon?«

»O ja. Während der letzten Monate haben wir uns viel besser kennengelernt.«

John runzelte die Stirn.

»Ist daran etwas falsch?«

»Aber ganz und gar nicht. Hat mein Bruder denn noch andere Pläne mit Ihnen? Ich meine, nach dieser Woche?«

Sie wusste, worauf er anspielte, und schwieg.

»Sie wissen doch, dass Paul in Zukunft auf Espoir leben wird, nicht wahr? Sicher sehen Sie ihn dann viel seltener.«

Die Erkenntnis traf Charmaine wie ein Schlag. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, aber natürlich war es so. »Das wird die Zukunft zeigen«, meinte sie. »Das muss ich abwarten.«

»Was meinen Bruder angeht, so haben Sie schon Übung im Warten, nicht wahr?« Als sie sich entrüsten wollte, hakte er nach: »Machen Sie sich eigentlich immer noch Hoffnungen?«

»Sollte ich nicht?«, fragte sie geradeheraus. »Was raten Sie mir?«

John schwieg und schien zu überlegen. »Ich glaube nicht, dass mein Bruder für eine ernste Beziehung reif genug ist. Er muss sich erst noch selbst kennenlernen, und so lange wird er nicht zur Ehe bereit sein.«

»Was meinen Sie damit?« Vor allem die letzte Bemerkung hatte sie stutzig gemacht.

»Das ist doch klar. Aber ich kann es auch einfacher sagen: Er hatte Zeit genug, und doch hat er Ihnen noch immer keinen Heiratsantrag gemacht. Die romantische Ouvertüre könnte sich auch als schlichte Verführung entpuppen. Das ist meine ganz persönliche Meinung, aber die kennen Sie ja schon.«

»Sie könnten sich irren.«

»Das ist möglich.« Er dachte daran, dass sein Rat schon einmal auf taube Ohren getroffen war. Stille breitete sich aus. »Wie lange wollen Sie noch ›warten‹, bevor Sie der Sache überdrüssig werden?«, fragte er direkt.

»Paul ist schließlich nicht der Einzige«, entgegnete sie und kam sich plötzlich lächerlich vor.

»Ach nein? Wen gibt es denn noch? Haben Sie etwa jemanden heimlich hinter dem Rücken meines Bruders geküsst?«

»Er ist jedenfalls nicht der einzige Mann, den ich in meinem Leben geküsst habe!«, ereiferte sich Charmaine und errötete, als John genauso spöttisch grinste wie damals.

»Das ist doch immerhin ein Geständnis!« Ein teuflisches Funkeln trat in seine Augen. »Wen haben Sie denn sonst noch geküsst, my charm? Mir können Sie es doch sagen. Vielleicht Wade Remmen?«

»Ich habe Sie geküsst!« Sie ärgerte sich über sein schlechtes Gedächtnis und merkte zu spät, dass sie sich selbst ein Bein gestellt hatte.

Er lehnte sich zurück und lachte in sich hinein. »Ah, aber das zählt nicht … oder doch?«

»Aber natürlich tut es das!«, rief sie. »Ich meine … nein, es zählt natürlich nicht!«

Sein Grinsen wurde immer breiter. »Warum haben Sie es dann erwähnt?«

Als sie den Mund öffnete, winkte er ab. »Wir sollten diese Unterhaltung lieber beenden, bevor Sie sich über mich ärgern. Ich will die Woche nicht schon zu Beginn verderben.«

»Und wie steht es mit Ihnen?«, fragte sie etwas verstimmt.

»In welcher Beziehung?«

»Welche Lady führen Sie zum Ball?«

»Bisher habe ich noch keine Pläne. Aber wer weiß? Vielleicht ändert sich das ja noch.«

Sie wusste nicht genau, was das heißen sollte, und wurde ernst. »Bleiben Sie nach dem Fest noch hier?«

»Ich muss eigentlich nach Virginia zurück.«

»Sofort?«

»Nun ja. Vielleicht bleibe ich den Zwillingen zuliebe noch etwas länger … bestenfalls ein paar Tage.« Er stand auf. »Ich will versuchen, noch ein bisschen zu schlafen, bevor das Haus aufwacht. Gute Nacht, Charmaine.«

Nachdem er fort war, stand sie noch eine Weile mitten im Raum. Schließlich gab sie den Gedanken an ein Buch auf und ging nach oben, um sich anzuziehen. Schlafen konnte sie jetzt nicht mehr.

Die lange Reise und die Auseinandersetzung mit seinem Vater holten John ein, und er fiel in einen traumlosen Schlaf. Als er lange nach der Lunchzeit erwachte, waren alle anderen bereits zu den Eröffnungsfeierlichkeiten in die Stadt aufgebrochen. Ihn freute es, denn er wollte den Nachmittag für sich allein haben. Auf Charmantes waren die Erinnerungen an Pierre besonders stark. Nach dem Essen sattelte er Phantom und ritt zum Friedhof, um nachzudenken und den Toten die Ehre zu erweisen. Anschließend durchstreifte er den Nachmittag über die Insel, folgte alten Spuren und suchte erinnerungsträchtige Orte auf, um mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen.

Inzwischen war es Abend geworden, die Luft war warm und weich, und die Blätter raschelten in der österlichen Brise. Die Enten schnatterten leise, und das Mondlicht warf lange Schatten über die Wiese. Von Weitem trug der Wind die Stimmen aus dem Wohnraum herüber. Nachdem George und Mercedes zu einem Spaziergang aufgebrochen waren und Charmaine mit den Mädchen nach oben verschwunden war, hatte John die anderen sich selbst überlassen und war in die friedvolle Stille der Säulenhalle geflüchtet.

Charmaine ging auf den Wohnraum zu, als plötzlich Anne Londons künstliches Lachen ertönte. Sofort änderte sie die Richtung und ging stattdessen zur Haustür, um vor dem Zubettgehen noch ein wenig Abendluft zu genießen. Sie war überrascht, als sie John, die Ellenbogen auf den Knien, auf der obersten Stufe sitzen sah. Er drehte sich um, als er jemanden aus dem Haus kommen hörte.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Charmaine und wandte sich ab, obwohl sie sich am liebsten zu ihm gesetzt hätte. »Ich wusste nicht, dass Sie hier draußen sind.«

»Gehen Sie nicht weg«, rief er. »Ich habe nur die Stille genossen. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir.«

Das musste er ihr nicht zweimal sagen.

Sie strich ihre Röcke glatt. »Ich habe Sie heute gar nicht gesehen.«

»Ich habe lange geschlafen, weil mich die Müdigkeit nach der langen Reise eingeholt hat. Aber warum sind Sie noch nicht im Bett? Sie haben doch auch nicht viel geschlafen.«

»Ich bin noch nicht müde. Sicher kommt das erst, wenn die Woche vorüber ist.«

Lächelnd betrachtete John ihr Gesicht.

»Wie war das Gespräch mit Ihrem Vater?« Diese Frage hatte Charmaine am Abend zuvor vergessen.

»Nicht besonders gut. Westphal hat eine lange Liste meiner Verfehlungen präsentiert, woraufhin mein Vater und ich uns sofort gestritten haben. Ich begreife wirklich nicht, warum er mich eingeladen hat.«

»Ihr Vater hat Westphal nicht um diese Liste gebeten«, bemerkte Charmaine. »Sondern Agatha.«

»Wirklich?« John war überrascht, dass sie zu demselben Schluss gekommen war.

»Westphal hat auch über mich Informationen eingeholt«, sagte sie. »Er hat die Geschichte meines Vaters ausgeforscht, als Agatha meine Entlassung erreichen wollte. Zu meinem Glück hat die Sache weder Paul noch Colette interessiert.«

Als sie Colette erwähnte, zeigte John keine Regung. »Und zum Glück für die Kinder«, ergänzte er.

»Nicht auszudenken, wenn es anders gekommen wäre. Agatha ruht nicht, bevor sie nicht alle vertrieben hat, die sie nicht leiden kann. Ich möchte wetten, dass sie diesen Streit ebenso vom Zaun gebrochen hat wie den im vergangenen Oktober. Ihr Vater wollte die Mädchen zu keiner Zeit ins Internat schicken. Aber sie ließ sie in dem Glauben, weil sie wusste, dass Yvette sofort zu Ihnen rennen würde. Ich kann Agatha nicht ausstehen, und ich verstehe nicht, warum Ihr Vater sie geheiratet hat.«

»Er wollte Colette bestrafen.«

Charmaine schwieg so lange, bis er sie fragend ansah. »Das glaube ich nicht«, sagte sie mit aller Vorsicht. Sie wusste, dass sie sich auf gefährliches Gebiet vorwagte. »Ihr Vater hat Colette geliebt.«

John gab nur einen spöttischen Laut von sich, damit sie weiterredete. »Ich weiß nicht, ob ich die Beziehung zwischen Ihrem Vater und Colette ganz verstehe, aber ich weiß, dass er sie geliebt hat.« Sie zögerte kurz. »Colette hat mir selbst gesagt, dass sie ihn liebt.«

»Das ist doch nur natürlich. Schließlich musste der Schein gewahrt werden.«

»Vielleicht.« Da John den Gedanken nicht zulassen wollte, verfolgte Charmaine ihn auch nicht weiter. »Jedenfalls hat Ihr Vater Sie nicht in böser Absicht nach Charmantes eingeladen. Im Gegenteil. Ich weiß, dass er das Geschehene sehr bedauert. Seit Sie fortgegangen sind, hat er sich sehr verändert. Er hat sein Schneckenhaus verlassen und kümmert sich wieder um seine Geschäfte und unternimmt Ausflüge mit seinen Mädchen.«

»Gestern war davon aber nichts zu spüren.«

»Vielleicht kam die Sache für ihn ja überraschend.« Sie seufzte. »Er hat Sie eingeladen, weil er sich mit Ihnen aussöhnen möchte. Dessen bin ich mir sicher.«

John überlegte. Dasselbe hatte Father Michael gesagt. »Ich will Ihnen gern glauben, my charm, aber der Anfang ist jedenfalls gründlich misslungen.«

»Das kann man wohl sagen. Aber alte Gewohnheiten sterben eben langsam. Geben Sie ihm noch eine Chance.« Um die Stimmung ein wenig zu lockern, wechselte sie das Thema. »Was sind denn Ihre jüngsten Verfehlungen?«

»Die Liste ist lang, my charm.« Er lachte in sich hinein. »Ich möchte Sie ungern langweilen.«

»Dann erzählen Sie mir doch von Ihrem Leben in Virginia. Darüber reden Sie nie.«

»Das ist nicht besonders aufregend. Ich pendle fast nur zwischen Richmond und der Plantage hin und her.«

»Leben Sie gern in Virginia?«

»Ich hasse die Sklaverei, die Klassengesellschaft und erst recht die Spielchen, die man spielen muss, wenn man überleben möchte. Aber es gibt dort einige Menschen, die sich auf mich verlassen, und das macht es lohnenswert.«

»Was würden Sie denn lieber tun?«

»Ich würde viel lieber in New York leben, Piano spielen und komponieren. Aber damit lässt sich kein Geld verdienen, und ich liebe das Geld viel zu sehr, als dass ich ohne es auskommen könnte.«

Charmaine lachte. »Sie haben ja keine Ahnung, wie wahr das ist. Sie waren niemals arm, aber ich schon. Einen Weg zurück gibt es da nicht!«

Jetzt musste auch er lachen. »Was gefällt Ihnen am Leben in New York so gut?«, fragte sie einige Augenblicke später.

»In Kürze wird New York der Nabel der Welt sein. Größer als London. Größer als Paris. Wer ehrgeizig ist, bekommt seine Chance. Das Einzige, was einen aufhalten kann, ist man selbst. In New York kann man von vorn anfangen.«

»Fahren Sie deshalb so oft hin? Wollen Sie neu anfangen?«

»Mag sein. Im Moment pendle ich zwischen zwei Welten.«

»Ich würde New York gern einmal sehen«, erklärte sie mit Entschiedenheit und sah John an.

Ihre Blicke trafen sich. »Und ich würde es Ihnen gern zeigen.«

Sie konnte den Blick nicht abwenden und fühlte, wie sich ihr Magen verkrampfte, ihr Puls schneller ging und ihr Herz pochte. Langsam, fast unmerklich, beugte sich John näher zu ihr.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Paul trat auf die Veranda. »Da sind Sie ja! Jeannette hat schlecht geträumt und ruft nach Ihnen.«

Errötend sprang Charmaine auf und eilte an Paul vorbei ins Haus, ohne ihn anzusehen. Er sah ihr nach, aber als er sich zu John umdrehte, hatte sich dieser wieder der Wiese zugewandt und schien an Charmaine nicht weiter interessiert.

Montag, 2. April 1838

»Nein, nein, John«, erklärte Paul, »keine Schaufelräder. Die europäischen Ingenieure haben eine Art Schiffsschraube in Korkenzieherform entwickelt. Damit wollen sie den Atlantik in der halben Zeit überqueren.«

»Seit es Lokomotiven gibt, halte ich alles für möglich«, sagte John.

»Ist dir klar, was das für uns bedeutet?«

Charmaine lauschte fasziniert. Die Mädchen spielten im Freien. Um sie im Blick zu behalten, schlenderte sie zu den französischen Terrassentüren hinüber.

Als Nächstes fragte Paul seinen Bruder über die Gäste aus New York aus und wie er sie am besten davon überzeugen könne, sich in Zukunft seiner Schiffsflotte zu bedienen. Sie erwarteten die Rechtsanwälte der Familie. Vermutlich waren es die beiden würdigen Gentlemen, die soeben vor dem Haus aus dem Wagen stiegen, dachte Charmaine.

Der eine war ein mittelgroßer Gentleman in mittlerem Alter, in dessen Haar und Bart sich erste silbrige Fäden zeigten. Der Jüngere dagegen war ein kleiner Mann mit blauen Augen, aristokratisch gebogener Nase, ausgeprägtem Kinn und fettigen blonden Haaren.

»Hallo, Mr Pitchfork«, rief John und ging dem Älteren mit ausgestreckter Hand entgegen, als George die beiden Männer in den Wohnraum führte. »Wie schön, dass Sie endlich hier sind.«

Der Mann zog eine Grimasse, sein Partner kicherte in sich hinein, und George lachte lauthals los. »Sie dürfen gern meinen Namen benutzen, John. Richecourt … Edward Richecourt. Wie lange wollen Sie noch auf dem alten Witz herumreiten?«

»Bis Sie sich nicht mehr darüber ärgern«, erwiderte John.

Wieder prustete George los, und der junge Anwalt schloss sich ihm an. Er war John Duvoisin bisher noch nicht begegnet, doch offenbar stimmte, was er über den beißenden Witz dieses Mannes gehört hatte.

John kratzte sich am Kopf und betrachtete Richecourts Begleiter. »Und wer ist unser junger Freund, Pitchie?«

»Das ist mein vielversprechender Assistent«, antwortete Richecourt ernst. »Geoffrey Elliot III

Interessiert musterte John den jungen Mann. »Was, es gibt sogar drei von Ihnen?«

Schmunzelnd reichte Elliot John die Hand. »Mein Vater war Geoffrey Elliot II

»Ah, das erklärt die Sache …« John zuckte die Schultern. »Sind Sie der Elliot, der zwei Schiffsladungen Zucker hier auf Charmantes angeliefert hat, als mein Exportagent im Januar krank war?« Geflissentlich ignorierte er die gerunzelte Stirn seines Bruders.

»Ja, genau der bin ich.«

»Und woher stammte der Zucker, Geoff? Was glauben Sie?«

Der junge Mann war sichtlich verwirrt, als John seine Hand ergriff und sie schüttelte. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr Idiot. Wahrlich vielversprechend, was, Junior?«

Elliot zog ein beleidigtes Gesicht. »Ich bin immerhin Rechtsanwalt mit einem Abschluss von … ich habe … ich habe …«

Wieder das teuflische Funkeln. »Ja … ja … ja?«

»Ich warne Sie, Mr Duvoisin!«, schimpfte Elliot. »Ich bin nicht Mr Richecourt und lasse mich nicht verunglimpfen. Noch ein Mal … und ich werde Sie verklagen!«

»Mr Idiot, ich zweifle nicht an Ihrer Fähigkeit, mich zu verklagen, aber ich sorge mich um Ihre Fähigkeit zu denken. Nicht dass Sie explodieren, wenn Sie zu lange grübeln. Sagen Sie, ejakulieren Sie eigentlich, wenn Sie mastur…«

»Wir haben verstanden, John«, fuhr Paul ihn an, ohne Elliot oder den vor Vergnügen jaulenden George anzusehen. »Willkommen auf Charmantes, Mr Richecourt«, begrüßte er seinen Gast, als er sich gefasst hatte und wieder sprechen konnte. »Setzen Sie sich und machen Sie es sich bequem. Ich lasse gleich Erfrischungen bringen. Ohne Zweifel sind Sie müde von der Reise.«

Als Paul nach dem Glockenzug griff, funkelte er John wütend an. Doch der grinste nur. Mit hochrotem Kopf sah George zu seinem Freund hinüber, wagte aber nicht, den Mund aufzumachen, um nicht genauso abgefertigt zu werden.

John ist selten so gut in Form, dachte Charmaine und fragte sich, warum er Mr Richecourt als Mr Pitchfork bezeichnete. Dafür musste es einen Grund geben.

Anschließend fasste Richecourt zusammen, welche Geschäfte er während der Woche besprechen wollte. Dann richtete er das Wort an John, der auf einem Sessel lümmelte und in einer Zeitschrift blätterte. »Geoffrey hat auf Bitten Ihres Maklers einige wichtige Verträge vorbereitet.«

»Ach ja?«

Geoffrey Elliot hatte sich inzwischen wieder beruhigt. »Das ist richtig, und ich werde sie persönlich nach Richmond bringen. Mr Bradley möchte die Verträge gern unter Dach und Fach haben, bevor andere Ihnen zuvorkommen und die Preise womöglich unterbieten.« Er entnahm seinem Koffer einen Stapel Papiere, einen Federkiel und ein Tintenfass. »Bitte sehr, Mr Duvoisin. Ich zeige Ihnen, wo Sie unterschreiben müssen.«

»Geben Sie mir die Verträge einfach, Geffey. Ich möchte sie zuvor durchlesen.«

»Ich versichere, dass alles seine Ordnung hat.« Er tauchte die Feder ein und reichte sie John. »Erlauben Sie …«

»Nichts da, Geffey, ich will die Verträge zuerst lesen. Sonst müssen wir womöglich Damenunterwäsche nach West Point verschiffen statt Tabak nach Europa.«

Elliots Gesicht lief rot an.

In diesem Augenblick stürmten die Zwillinge auf die Veranda und baten Charmaine, mit ihnen in die Stadt zu fahren und ihre Kleider abzuholen. Als sie nickte, bemerkte sie Geoffrey Elliots interessierten Blick. »Aber nur mit dem Wagen.«

Yvette nickte. »Kommst du auch mit, Johnny?«

»Gern.« Er war froh, den aufdringlichen Geoffrey Elliot III. loszuwerden. »Darf ich die Kleider auch sehen, oder versteckt ihr sie bis zum Samstag?«

»Dir zeigen wir sie!«, rief Jeannette. »Sie kommen aus Paris! Unsere Stiefmutter hat sie im Herbst bestellt, aber wir sind inzwischen größer geworden. Mrs Thompson musste sie ändern. Ich kann gar nicht abwarten, meines anzuprobieren!«

»Und was ist mit Mademoiselle Charmaine? Probiert sie ihr Kleid auch an?«

Pauls Blick schoss zu Charmaine. Er hatte bisher auch noch nichts von den Kleidern gesehen.

»Warum interessiert dich das?«, fragte Yvette.

»Ich bin gespannt, ob es mir gefällt«, antwortete John.

Pauls Miene verfinsterte sich, und Charmaines Wangen brannten, aber sie schwieg beharrlich. John lachte leise in sich hinein. »Ich sage Gerald Bescheid, dass er den Wagen anspannt.« Mit diesen Worten warf er die Zeitschrift auf den Tisch und erhob sich.

»Aber, Mr Duvoisin, die Verträge?«

»Machen Sie sich nur nicht in die Hose, Geffey«, rief John über die Schulter zurück und war bereits aus der Tür.

Beunruhigt sah Paul ihnen nach. Charmaine schien glücklich zu sein. Diesen Gesichtsausdruck hatte er schon mehrmals in dieser Woche gesehen, und er gefiel ihm nicht. Er gefiel ihm ganz und gar nicht.

Als John die Treppe hinauflief, hörte er schon von Weitem die Stimmen seiner Schwestern. Er ging zur Tür, um ihnen gute Nacht zu sagen, und war überrascht, dass sein Vater auf Jeannettes Bett saß und den beiden die Geschichte ihres Großvaters und Gentleman-Piraten Jean Duvoisin II. erzählte. Offenbar brachte Frederic die Mädchen ins Bett. Ob er sich wirklich verändert hatte?

»Hat Jean Duvoisin II. tatsächlich Schiffe und Schätze geraubt?«, fragte Jeannette.

»Er hat es zumindest behauptet.« Frederic lachte leise. »Aber vielleicht hat er auch mir zuliebe ein bisschen übertrieben. Wahrscheinlich hat er nur weggeschaut, wenn die Piraten in den Buchten seiner Inseln geankert haben. Sie hatten einen sicheren Hafen, und im Gegenzug haben sie seine Schiffe verschont.«

Frederic hob den Kopf und bemerkte John, der reglos unter der Tür stand. Seit Samstagnachmittag hatten sie kein Wort mehr gewechselt. Das durfte nicht so bleiben. Die Erinnerung an die Auseinandersetzung schmerzte ihn noch immer. Wenn die Missstimmung die Woche über anhielt, würde John womöglich gleich nach Pauls Ball nach Virginia zurückfahren.

»Komm herein, John«, ermunterte er ihn lächelnd. »Ich habe deinen Schwestern gerade von ihrem Großvater erzählt.«

»Er war ein echter Pirat!«, rief Yvette.

John zögerte einen Moment, aber dann setzte er sich auf das Fußende von Yvettes Bett. »Das hat man mir auch erzählt«, sagte er schmunzelnd.

Frederics Augen funkelten. »Und jetzt tritt euer Bruder in seine Fußstapfen«, erklärte er mit bedeutungsvollem Blick auf John, was ihm nur fragende Gesichter eintrug.

»Wirklich?«, fragte Yvette.

»Zuerst einmal trägt er seinen Namen, denn Jean heißt bei uns John.«

»Aber Johnny ist doch kein Pirat!«, widersprach Jeannette.

»Nun ja … in gewisser Weise schon.« Er sah, wie sein Sohn eine Braue in die Höhe zog.

»Aber Johnny schmuggelt doch keine Diamanten und kein Gold!« Yvette war überzeugt, dass ihr Vater ihnen nur Märchen erzählte. »Er ist doch schon reich!«

»Man kann auch andere Dinge als Schätze schmuggeln, mein Kind, aber die Geschichte heben wir für einen anderen Abend auf. Es wird Zeit, dass ihr schlaft.«

Trotz ihrer Proteste erhob er sich, wobei er sich schwer auf seinen Stock stützte. Dann löschte er die Lampen und gab den Mädchen einen Gutenachtkuss.

Als John zu seinem Zimmer gehen wollte, hielt Frederic ihn auf. »Wie ich gehört habe, kommen auch Makler und Agenten aus Boston und New York, um auf deine Anregung hin mit Paul zu verhandeln.«

John nickte. »Das ist richtig.«

»Wärst du gewillt, dich beim Ball ihrer anzunehmen, da du die Gentlemen am besten kennst? Angesichts der Spannungen in den Staaten würde ich sie gern mit dir zusammen an einen Tisch setzen, um keine Unstimmigkeiten aufkommen zu lassen.«

»Das ist ein guter Gedanke.«

Als Frederic sich nicht rührte, war John klar, dass sein Vater noch nicht fertig war. Und so war es. »Ich freue mich ausdrücklich, dass du gekommen bist«, sagte Frederic ernst. »Ich möchte dir sagen, dass ich dich weder ausgeforscht noch Westphal um Informationen gebeten habe. Ich wurde davon genauso überrascht wie du.«

»Offenbar war meine Tante umso eifriger. Das überrascht mich nicht. Sie hat mich schon immer gehasst. Heute habe ich das vielleicht verdient, aber als Kind sicher nicht!«

Frederic nickte. Er überlegte kurz, ob er John bitten sollte, seine Entscheidung in Bezug auf das Testament noch einmal zu überdenken, aber dann scheute er davor zurück. Der Entschluss seines Sohnes stand fest. Daran wollte er nicht rütteln. Er wandte sich zum Gehen. »Gute Nacht, John.«

»Gute Nacht, Vater.«

Dienstag, 3. April 1838

Am nächsten Morgen war John zeitig auf den Beinen, aber nicht zeitig genug, denn das Kinderzimmer war leer. Er wollte schon gehen, trat dann aber ein.

Im Gegensatz zum Abend zuvor herrschte absolute Stille. Er war allein. Allein mit seinen Erinnerungen. Er strich über das Kissen auf Pierres Bett und dachte an das letzte Mal, als er hier gesessen hatte.

Charmaine stand bereits mitten im Zimmer, bevor sie John bemerkte. Erschrocken fuhr er in die Höhe. Dann wandte er sich ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Sie wollte schon zu ihm laufen und ihn trösten, doch sie wusste, dass er seinen Kummer lieber in sich verschloss und nicht daran rühren mochte. Manchmal ist es leichter zu weinen, als zu lachen. In diesem Moment verstand sie ihn nur zu gut.

»Die Mädchen und ich wollen einen kleinen Spaziergang machen. Möchten Sie nicht mitkommen?«

»Nein, Charmaine«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich möchte heute lieber allein sein.«

Sie zögerte kurz, ging dann aber hinaus und überließ ihn seiner Trauer.

Mittwoch, 4. April 1838

Charmaine platzte in die Bibliothek und blieb wie angewurzelt stehen, als sie sich inmitten einer Besprechung zwischen John, Edward Richecourt, Geoffrey Elliot und einem anderen Mann wiederfand, den sie nicht kannte. Die Männer verstummten und musterten sie verlegen. Charmaine sah zu John hinüber, der hinter dem Schreibtisch saß, die Beine lässig übereinandergeschlagen hatte und Jeannettes Katze streichelte. Er sah ärgerlich aus. Vermutlich ärgerte er sich über sie, weil sie einfach hereingeplatzt war.

»Ich … entschuldige mich«, stotterte sie. Sie wich zurück und tastete hinter ihrem Rücken nach dem Türknauf.

»Wo sind meine Schwestern, Miss Ryan?« Johns barscher Ton erschreckte sie noch mehr als seine ärgerliche Miene.

»Sie sind bei Ihrem Vater, und ich habe frei.«

»Sie haben nichts zu tun, wollten Sie vermutlich sagen«, fuhr er ebenso herrisch fort.

»Ja.« War dies eine geheime Zusammenkunft?

»Fürs Nichtstun werden Sie nicht bezahlt, Miss Ryan. Ich habe eine Aufgabe für Sie.«

Charmaine war sprachlos. War dies die neue Agatha in Verkleidung, oder wollte er nur vor den Anwälten angeben?

»Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich.« Als er sich vorbeugte, um einen Stuhl an den Schreibtisch zu ziehen, sprang die Katze von seinem Schoß herunter. »Hier sind Papier und Feder. Notieren Sie einfach, worüber wir sprechen.«

Das konnte nicht sein Ernst sein! Sie wusste nicht, ob sie sich ärgern oder lachen sollte.

»Na los, Miss Ryan«, sagte John. »Die Zeit drängt.«

Er meinte es wirklich ernst! Verblüfft setzte sie sich, doch als sie zur Feder griff, ärgerte sie sich insgeheim. So ein Angeber!

John stellte ihr den Unbekannten als Carlton Blake vor. Der Mann sah gut aus, war ungefähr so alt wie John und nickte ihr freundlich zu. Vermutlich kannten sich die beiden aus den Staaten.

Dann nahm Edward Richecourt die Diskussion wieder auf. Gebannt lauschte Charmaine den Angaben über Zahlen, Preise, Exporte, Lieferungen, Forderungen, Verträge und Handelswege und gewann immer mehr Spaß an dem Einblick in die Geschäfte der Duvoisins. Sie gab sich große Mühe, alles gewissenhaft zu notieren, doch ihre Feder konnte mit dem Tempo, in dem die verschiedenen Vorschläge besprochen wurden, kaum Schritt halten. Als John ebenfalls zur Feder griff, fragte sie sich, wozu er sie eigentlich brauchte.

Als Carlton Blake auf den Schiffstransport über den Erie-Kanal in den Mittleren Westen zu sprechen kam, bemerkte Charmaine, dass John sie ansah. Zu ihrer Überraschung lächelte er jedoch, als er das Papier zu sich herüberzog, den Kopf auf Zeigefinger und Daumen stützte und ihre Notizen überflog. Er legte ihren Bogen unter den, auf dem er selbst geschrieben hatte, und schob beides zurück. Sie entzifferte das Gekrakel. Wie lange dauert es wohl, bis Geffey wieder nach den Verträgen fragt? Ihr Blick wanderte zu Geoffrey Elliot und dann zu John, der Mr Blakes Vortrag mit ausdrucksloser Miene lauschte. Dann die nächste Zeile: Mr Blake ist hingerissen von Ihnen, my charm. Vielleicht sollte ich doch lieber keine Geschäfte mit ihm machen. Charmaine lächelte John an, doch er blieb ernst, als ob er sehen wollte, wer zuerst lachen musste. Als sie ein leises Glucksen verspürte, schaute sie wieder aufs Papier hinunter. Mr Pitchfork muss pinkeln, aber er verkneift es sich, weil er nicht um eine Pause bitten mag. Der Anwalt rutschte tatsächlich nervös in seinem Sessel herum. Charmaine kicherte unbeherrscht, woraufhin die Männer sie mit stoischen Blicken musterten. Verlegen senkte sie den Blick.

»Was ist denn so lustig, Miss Ryan?« Mit herausforderndem Blick lehnte John sich zurück. »Wollen Sie uns nicht daran teilhaben lassen?«

»Es ist nur Ihre Handschrift«, erwiderte sie und hob das Blatt in die Höhe, als ob sie es Carlton Blake reichen wollte. »Sicher stimmen Ihre Gäste mir zu.«

»Das ist unnötig.« Eilig entriss er ihr das Papier, und gleichzeitig zollte ihr sein Blick unverhohlene Bewunderung. »Die kennen das Gekrakel schon. Können wir fortfahren?«

»Selbstverständlich. Ich bitte um Entschuldigung.«

Sie bekam ihr Papier zurück, und John wandte sich wieder seinen Gesprächspartnern zu. Als sie verstohlen hinübersah, bemerkte sie, dass er nur einen Satz notiert hatte und das Geschriebene nur für ihre Augen bestimmt war. Falls ich meine Geschäfte mit diesen Gentlemen heute abschließen kann, lade ich Sie und die Mädchen morgen zu einem Ausflug ein.

Donnerstag, 5. April 1838

Leider verplapperte sich Yvette beim Frühstück, sodass sich Geoffrey Elliot sofort selbst zum Picknick einlud. Edward Richecourt und seine Frau Ellen schlossen sich an, und als Nächste bemerkte Anne, dass sich Paul zu Beginn der Woche völlig verausgabt habe und dringend einen Ausflug brauche. Sie selbst benötige die Dienste ihrer Zofe. Je länger das Frühstück dauerte, desto größer wurde die Gesellschaft.

Punkt elf Uhr traf man sich an der Koppel, wo die Pferde gesattelt wurden. Als Gerald Champion aus dem Stall führte, wollte Geoffrey die Zügel übernehmen.

»Tut mir leid«, sagte George, »aber den reitet heute Mercedes.«

»Aber, Mr Richards.« Geoffrey war entsetzt. »Können Sie das verantworten? Eine so junge Lady auf einem solchen Pferd! Ich bin wenigstens ein erfahrener Reiter.«

»Das ist Mercedes auch«, widersprach George, während sich Mercedes in den Sattel schwang. »Sie schafft das schon.«

Geoffrey gab erst auf, als Gerald Phantom an den Zaun band. John entging sein Interesse nicht. »Das vergessen Sie lieber gleich, Geffey. Fang beißt nämlich.«

»Fang?« Der Anwalt war verwirrt. »Das ist wirklich ein seltsamer Name.«

Schmunzelnd warf John seiner kichernden Schwester einen Blick zu. »So seltsam nun auch wieder nicht, aber das erkläre ich Ihnen später … das heißt, wenn Sie mutig genug sind, in Fangs Maul zu schauen. Hier bringt Ihnen Bud einen sanften Wallach.«

Geoffrey Elliot war beleidigt, äußerte sich aber nicht zu dem Tier, das für gewöhnlich vor die Kutschen gespannt wurde, und nahm die Zügel.

Charmaine war soeben aufgestiegen, als lautes Wiehern sie herumfahren ließ. Der alte Wallach rannte mit verrutschtem Sattel im Kreis herum, während Elliot mit einem Bein über dem Rücken des Tiers hing und sich an Zügel und Sattel klammerte. Der andere Fuß steckte noch im Steigbügel. Der Wallach bockte, um die hinderliche Last loszuwerden, dass die Kiesel nur so umherflogen.

Paul starrte mit offenem Mund auf die Szene und lachte, dass er sich die Tränen mit dem Ärmel abwischen musste. Die Zwillinge und George taten es ihm gleich, nur John schwieg und konnte nicht glauben, was er sah.

Als das Tier erneut bockte, sprang George nach vorn und ergriff die Zügel, worauf sich der Wallach rasch beruhigte. Nur die Ohren lagen noch flach am Kopf.

»Lassen Sie los!«, rief George. Doch der Anwalt starrte nur mit hochrotem Kopf zu ihm empor. »Lassen Sie Sattel und Zügel los!«

Zögernd gehorchte Geoffrey und plumpste wie ein Sack Kartoffeln auf den Boden. Verärgert zerrte er seinen Fuß aus dem Steigbügel. Dann stand er auf und klopfte sich den Staub aus den Kleidern.

»Ich dachte, Sie seien ein erfahrener Reiter«, bemerkte George, als er den Sattel wieder auf den Rücken des Wallachs schob. »Oder war das eines Ihrer Kunststücke?«

John lachte. »Guter Witz, George.«

»Das ist überhaupt nicht lustig!«, schimpfte Geoffrey empört. »Ein Missgeschick kann schließlich jedem passieren. Ich versichere, dass ich weiß, was ich tue.«

»Warum haben Sie dann den Sattelgurt nicht festgezogen?«, fragte George.

»Das ist doch Aufgabe der Stalljungen.«

»Das stimmt, aber trotzdem überprüft jeder erfahrene Reiter den Sitz seines Sattels.«

»Lass ihn in Ruhe, George«, sagte John mit schiefem Grinsen. »Er würde sowieso nie zugeben, dass er eigentlich im Damensattel reiten wollte.«

Eine Stunde später versammelte sich die Gesellschaft zum Picknick an einem weiten Strand am westlichen Ufer. Paul jammerte, dass er den Tag vergeudete. »Ich hätte lieber meinen Gästen die Insel zeigen sollen.«

»Wie oft müssen sie Espoir denn sehen, um zu begreifen, dass du auf bestem Weg zum geschäftlichen Erfolg bist?«, spottete John.

»Ich rede nicht von Espoir, sondern von Charmantes.«

»Aber mir haben Sie die Insel doch gezeigt«, meldete sich Anne London zu Wort. »Zähle ich denn gar nicht?«

Paul lächelte höflich. »Ich rede von den Plantagen«, erklärte er und begriff zum ersten Mal, dass er seine zehnjährige Erfahrung nicht richtig vermittelt hatte.

John lachte leise. »Die Tabakfelder darfst du ihnen aber nicht zeigen, sonst springen sie sofort in den Hafen und schwimmen nach Hause! Ein Tabakfarmer bist du wirklich nicht. Die Felder hätten zwischendurch brachliegen müssen.«

Paul brummte nur.

Nach dem Essen baten Yvette und Jeannette, auf Abenteuer losziehen zu dürfen. Offenbar waren nur John und Charmaine bereit, sie zu begleiten, und so verließen sie die Gesellschaft und ritten in nördlicher Richtung zu einigen Höhlen, die John als Junge entdeckt hatte.

»Das gefällt mir schon besser«, sagte John. »Das Picknick war genauso schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe. Nur Auntie hat noch gefehlt.«

Yvette runzelte die Stirn, weil ihr Bruder sie an etwas erinnert hatte. »Weißt du was, Johnny. Auntie Agatha führt irgendetwas im Schilde.«

Johns Neugier war geweckt. »Was genau meinst du damit?«

»Ich habe sie beobachtet.«

»Beobachtet?« Charmaine wurde misstrauisch. Seit Pierres Tod hatte Yvette ihre eigenmächtigen Unternehmungen eigentlich aufgegeben.

»Na ja …« In Charmaines Gegenwart mochte Yvette nicht reden. »Es ist nur ein Verdacht. Manchmal benimmt sich Auntie eben komisch. Das ist alles.«

Als der Strand felsiger wurde und die ersten Klippen aufragten, waren sie am Ziel. Es herrschte gerade Ebbe, sodass John eine Besichtigung vorschlug. Charmaine wollte lieber auf dem sandigen Strand auf sie warten.

»Jetzt aber heraus mit der Sprache«, sagte John, als sie außer Hörweite waren. »Was hat Auntie Komisches gemacht?«

»Zuerst musst du versprechen, Mademoiselle Charmaine nichts zu verraten.«

»Am Samstag fährt Auntie immer mit der Kutsche weg«, begann Yvette nach Johns feierlichem Schwur. »Und zwar allein. Ohne Kutscher. Das fand ich komisch. Ich habe mich also krank gestellt, und als Papa mit Jeannette in die Stadt gefahren ist, habe ich Auntie auf Spook verfolgt. Sie hat Father Benito in seinem kleinen Haus im Wald besucht. Durchs Fenster habe ich gesehen, wie sie ihm einen Beutel gegeben hat. Einen Beutel voller Schmuck, glaube ich.«

John sah Yvette zweifelnd an. »Und was hat sie gesagt?«

»Das Fenster war leider zu.« Sie ärgerte sich, weil sie ihm nicht mehr berichten konnte. »Du glaubst mir doch, oder?«

John wusste nicht recht, was er von der Sache halten sollte. »Du musst mir versprechen, dass du Auntie nie wieder verfolgst. Hast du mich verstanden? Wenn sie dich erwischt, bekommst du sonst Schwierigkeiten mit Vater.«

»In Ordnung«, brummte Yvette und schmollte.

»Warum nennen Sie Mr Richecourt eigentlich Mr Pitchfork?«, fragte Charmaine, als sie zum Strand zurückkehrten.

»Sie sind der erste Mensch, der mich das fragt, my charm

»Und?«

Er grinste. »Eines Abends kam ich zufällig in Mr Richecourts Büro und habe ihn in verfänglicher Situation mit einer Frau überrascht, die nicht seine Frau war.«

»Und?«, fragte Charmaine trotz geröteter Wangen.

»Er wurde rot, noch röter als Sie, und ich habe mir vorgestellt, dass ihm kleine Hörnchen wachsen … ›Sie kleines Teufelchen‹, habe ich zu ihm gesagt. ›Von heute an werde ich Sie Mr Pitchfork nennen‹. Das ist alles. Zum Glück sind Sie die Erste, die mehr hinter dem Spitznamen vermutet, als auf den ersten Blick zu erkennen ist.«

Als sie zur Gesellschaft zurückkehrten, stritten Paul und George, wer von ihnen John die Neuigkeit mitteilen sollte. »Welche Neuigkeit?«, fragte John stirnrunzelnd.

»Geoffrey ist weggeritten … und zwar auf Phantom. Nach dem Scherz mit ›Fang‹ muss er sich vermutlich beweisen, dass er reiten kann. Er hat darauf bestanden.«

Fluchend warf John die Hände in die Luft. »Er wird sich den Hals brechen.«

»Dann musst du zumindest keine Verträge unterschreiben.« George lachte.

»Wir suchen ihn besser, bevor er meinem Hengst den Hals bricht«, sagte John.

»Darf ich einen Vorschlag machen?«, meldete sich Edward Richecourt zu Wort.

Spöttisch sahen Paul, George und John ihn an. »Nur zu, Pitchie.«

»Vielleicht übertreiben Sie Ihre Sorge ja «, sagte er höflich. »Geoffrey wird Ihren Hengst in bestem Zustand zurückbringen. Er ist tatsächlich ein begabter Reiter.«

»Er ist so begnadet wie das Hinterteil eines Pferds, wenn Sie mich fragen«, gab John zurück.

»Dann lassen Sie mich einen weiteren Vorschlag machen.« Richecourt war an Geduld nicht zu übertreffen. »In diesem Fall sollten wir eine Suchmannschaft bilden.«

John war einverstanden. »Eine glänzende Idee, Mr Richecourt.«

»Danke, John«, erwiderte der Mann bescheiden. »Wusste ich doch, dass selbst Ihnen hin und wieder ein Kompliment über die Lippen kommt.«

»Und ein ehrliches obendrein«, meinte John trocken. »Da die Suchmannschaft Ihre Idee war, sollten Sie zurückreiten und die Pferdeknechte alarmieren. Trauen Sie sich das zu?«

Richecourt erklärte sich bereit, und John beschrieb ihm eine Abkürzung zum Herrenhaus. Er müsse etwa vierhundert Yards senkrecht in den Wald reiten und dann bei der hohen Sabalpalme links abbiegen. Immer geradeaus sollte er den Besitz in etwa fünfzehn Minuten erreichen. Richecourt wiederholte alles und machte sich sofort auf den Weg.

George und Paul sahen einander an.

»Diese Abkürzung kenne ich überhaupt nicht«, wunderte sich George. »Eine große Sabalpalme? Überhaupt verstehe ich nicht, wie er auf diesem Weg zum Haus zurückfinden soll.«

»Wird er auch nicht«, flüsterte John so leise, damit Richecourts Frau ihn nicht hörte. »Du kennst doch den alten Wallach. Wenn der Hunger verspürt, findet er ganz allein nach Hause. Wenigstens bleiben uns den Nachmittag über weitere Vorschläge erspart.«

Eine halbe Stunde später fanden sie Geoffrey Elliot auf einem Waldpfad. Phantom war im Galopp über einen gefällten Baum gesprungen und hatte Geffey in hohem Bogen abgeworfen. Der Hengst war gestürzt und wieherte vor Schmerzen, doch nach Mercedes’ Meinung hatte er nur Abschürfungen erlitten, aber nichts gebrochen. Geoffreys Stöhnen hallte dagegen meilenweit durch den Wald.

Vorwurfsvoll sah George auf ihn hinunter. »Wie kann man nur so dumm sein? Wissen Sie denn nicht, wie wertvoll dieses Tier ist?«

Es kostete einige Mühe, Phantom wieder auf die Füße zu stellen. George besorgte dasselbe mit Geoffrey, und dann hinkten sie gemeinsam zum Herrenhaus zurück. George schlug vor, nach Martin zu schicken, doch Mercedes überzeugte John, dass sie seinen Hengst gesund pflegen konnte, wie sie das bei ihrem Vater gelernt hatte.

Auf dem Weg zum Dinner wurden Charmaine und die Zwillinge Zeuge, wie Dr. Blackford den schwer lädierten Geoffrey Elliot im Wohnraum verarztete. Er saß im Lehnstuhl neben dem Kamin, und das zerzauste Haar war mit Blättern und kleinen Zweigen gespickt. Sein Gesicht war geschwollen und das gestärkte Hemd bis zur Unkenntlichkeit verdreckt und mit Blutspritzern übersät. Das rechte Hosenbein war zur Hälfte aufgerissen.

»Was ist passiert?«, fragte Charmaine, als der Arzt dem Mann trotz lauter Schmerzensschreie den Ärmel herunterzog.

»Er hat sich den Arm gebrochen«, antwortete Blackford.

»Aber warum? Was ist passiert?«

»Das verdammte Biest hat mich abgeworfen!«, schimpfte Geoffrey.

»Wenigstens sind Sie nicht ernsthaft verletzt«, tröstete ihn Charmaine und sah die Zwillinge tadelnd an, damit sie ihr Gekicher unterdrückten.

»Nicht ernsthaft verletzt!«, protestierte Geoffrey. »Ich hatte noch nie solche Schmerzen! Und die anderen sind alle draußen bei dem heimtückischen Biest! Man könnte glauben, dass er und nicht ich sich beinahe den Hals gebrochen hätte!«

John, George und Mercedes kamen erst spät aus dem Stall ins Haus. Als sie am Esstisch Platz genommen hatten, erschien ein völlig erschöpfter Edward Richecourt unter der Tür zum Foyer.

»Wo waren Sie denn so lange, Pitchie?«, fragte John. »Wollten Sie nicht eine Suchmannschaft zusammenstellen? Jetzt wollten wir schon nach Ihnen suchen!«

»Ich fürchte, ich habe mich verirrt. Komme ich zu spät zum Dinner?«

Freitag, 6. April 1838

»Das war’s, Charmaine.« Lächelnd steckte Mercedes die letzte Nadel fest. »Nach dem Lunch erledigen wir den Rest.«

Charmaine kletterte vom Stuhl herunter und freute sich auf die kleine Pause. Zum Glück war John mit den Zwillingen schwimmen gegangen, damit sie nicht vor Langeweile umkamen.

»Ich möchte gern, dass du dir die Sitzordnung noch einmal ansiehst, bevor ich sie den Mädchen übergebe«, sagte Agatha zu Paul, als Mercedes und Charmaine ins Esszimmer kamen.

»Wo darf ich denn sitzen?« Kokett lächelte Anne Paul zu.

»Am Kopf der Tafel natürlich, direkt neben Paul«, antwortete Agatha. »Schließlich sind Sie ein besonderer Gast und auf Pauls ausdrückliche Einladung hier. Es wird ihm eine Ehre sein, Sie zu Tisch zu führen.«

»Phantastisch!«, jubelte Anne, während Paul Agatha verwundert ansah.

»Agatha …«, begann er. Dann besann er sich und sah hilfesuchend zu seinem Vater hinüber. Doch Frederic war mit seiner Zeitung beschäftigt und hatte überhaupt nicht zugehört.

Um ihre Enttäuschung zu verbergen, lief Charmaine in die Küche. Sie spürte, dass Paul und Mercedes ihr nachsahen, doch sie wollte sich nicht umdrehen. Sie verzichtete auf den Lunch und lief stattdessen über die Küchentreppe nach oben in ihr Zimmer. Das neue Kleid lag ausgebreitet auf dem Bett. Um nicht loszuheulen, nahm sie Nadel und Faden und machte sich wieder an die Arbeit. Alle ihre Träume waren zunichtegemacht, und wieder war die schreckliche Agatha an allem schuld.

Als es klopfte, zog sie eine Grimasse. Aber nach dem zweiten Klopfen öffnete sie und stand einem wütenden Paul gegenüber.

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Charmaine?«, fragte er und deutete auf den Korridor. Charmaine verließ ihr Zimmer, doch als sie aus dem Treppenhaus die Stimmen anderer Gäste hörten, zog Paul sie zur Hintertreppe. »Kommen Sie, im Garten können wir ungestörter reden.«

Er schwieg, bis sie fast die Mitte des Gartens erreicht hatten. »Es tut mir leid, was beim Lunch passiert ist«, sagte er dann und verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Ich hatte keine Ahnung von Agathas Plänen.«

Charmaine versuchte tapfer, ihre Traurigkeit zu verbergen. »Vielleicht könnten Sie Anne ja sagen, dass es sich um ein Missverständnis handelt.«

Pauls Miene verdüsterte sich. »Ich fürchte, das gehört sich nicht. Anne wäre sicher zutiefst beleidigt und gekränkt. Die übrigen Gäste könnten sich von der schlechten Stimmung anstecken lassen, und dann wäre alles verdorben.«

Charmaine rang sich ein zaghaftes »Ich verstehe« ab und senkte den Kopf.

»Charmaine.« Paul ergriff ihre beiden Hände. »Das alles tut mir wirklich sehr leid. Ehrlich.« Als sie schwieg, fühlte er sich entsetzlich hilflos. Er wollte sie unbedingt trösten. »Ich habe mich so sehr darauf gefreut, Sie zu Tisch zu führen, aber ich werde das wiedergutmachen.«

Verwirrt und verletzt zugleich sah sie zu ihm auf.

»Charmaine …«, murmelte er. Er suchte nach den richtigen Worten. Dann begann er noch einmal, obwohl er sich vor dem fürchtete, was er sagen wollte … und doch schien es genau der richtige Zeitpunkt zu sein. »Morgen beim Ball wird Anne mich begleiten, aber Sie will ich für immer an meiner Seite haben. Wollen Sie mich heiraten?«

Charmaine fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. In den letzten Monaten hatte sie zwar viel Zeit mit Paul verbracht, aber doch nie mit so etwas gerechnet. Sie stand wie erstarrt da, so unglaublich war dieser Vorschlag. Und das Herzklopfen, das sie hätte empfinden müssen, wollte sich auch nicht einstellen. Sie war völlig durcheinander.

Charmaines Schweigen verunsicherte Paul zutiefst, denn eigentlich hatte er mit einem begeisterten »Ja« gerechnet. Warum sagt sie denn nichts? »Nun, Charmaine, wie Sie sehen, warte ich voller Ungeduld. Wie lautet denn Ihre Antwort?«

»Ich … ich muss darüber nachdenken«, sagte sie leise und errötete.

»Nun gut«, murmelte er und dachte nur: Jetzt ist sie mir böse. »Dann will ich Sie nicht drängen und Ihnen noch etwas Zeit lassen.«

Als sie nichts darauf erwiderte, machte Paul kehrt und verließ rasch den Garten. Es schmerzte ihn gewaltig, dass er auf seinen mutigen Schritt nur diese unverbindliche Antwort bekommen hatte.