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Kapitel sieben

Ich glaube, Bruder Peter hat das Tier für uns auf dem Markt in Street gekauft«, sagte Abt Sigward bedächtig. »Wir werden ihn fragen.« Er rief nach dem Mann, der noch immer die obere Weide mähte, und winkte ihm, zu ihnen herunterzukommen.

»Unsere Ställe sind in Flammen aufgegangen, müsst Ihr wissen«, erklärte er Adelia. »Alle unsere Pferde verbrannt.« Er legte eine Hand vor die Augen, als wollte er sie vor einem Anblick schützen, der zu schrecklich war, um ihn in der Erinnerung noch einmal zu durchleben. Alle anderen Mönche durchlief ein Schaudern. »Danach konnten wir uns bloß noch ein Maultier leisten.«

»Dieser Nichtsnutz«, murmelte Hilda. »Der ist schuld. Das waren Bruder Aloysius’ letzte Worte: ›Eustace, Eustace.‹ Hab ich selbst gehört, als ich Salbe auf seine schlimmen Brandwunden gestrichen hab.«

»So deutlich waren sie nicht«, wies der Abt sie geduldig zurecht. »Gott segne ihn, aber wir können uns nicht auf die wirren Worte eines Sterbenden verlassen.«

Offenbar ebenso wenig auf die Worte einer aufgebrachten Frau und ihrer vierjährigen Tochter. Die Mönche hielten Adelia für überspannt. Der Abt versuchte, sie zu beschwichtigen; die anderen waren nur daran interessiert, Master Mansurs fachkundige Meinung zu den Knochen zu hören.

Aber für Adelia konnten Arthur und Guinevere tot bleiben; ihr ging es jetzt um die Lebenden, und gebe Gott, dass Emma und die anderen tatsächlich noch unter den Lebenden weilten!

»Maultier ist Maultier«, sagte Bruder Aelwyn bissig. »Wer kann die Viecher denn schon unterscheiden?«

Ich nicht, dachte Adelia, der es schon schwerfiel, den Unterschied zwischen einem Schlachtross und einem Zelter zu erkennen. Aber Allie.

Sie war mit ihrer Tochter, Mansur und Gyltha hinauf zu der Weide gegangen und hatte sich von Allie die Besonderheiten zeigen lassen, die für das Kind einen griesgrämig dreinblickenden Vierhufer von allen anderen Pferden dieser Welt unterschied – und war zu der Überzeugung gelangt, dass Emma und die anderen überfallen und ausgeraubt worden waren und irgendwer ihre Habseligkeiten verkauft hatte.

»Wir müssen sie finden«, sagte Adelia. »Wir müssen sie finden.«

Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass die Vermissten irgendwo in der Nähe und in furchtbarer Not waren. Der Ruf einer Amsel war Emmas Stimme, die um ihr Leben flehte; das ferne Iieah, Iieah einer Kornweihe über dem Marschland war der Schrei des kleinen Pippy.

Sie waren den Hang wieder hinabgestiegen, und Adelia hatte die von ihren Offizien zurückkehrenden Mönche zur Rede gestellt und gefragt, wo sie das Tier gekauft hatten.

Es war natürlich möglich, wie der Abt feststellte, dass Emma die Maultiere verkauft und sich irgendwo hier in der Nähe niedergelassen hatte.

Adelia glaubte das nicht. Ihre Freundin hatte sich ganz sicher nicht in Wolvercote Manor niedergelassen, falls man der verwitweten Lady Wolvercote glaubte durfte. Außerdem hätte die Ankunft einer feinen Lady wie Emma hier in der Gegend die Einheimischen in helle Aufregung versetzt, doch offenbar hatte – zumindest hier in Glastonbury – niemand etwas gehört.

»Bruder Peter wird mehr wissen«, sagte Abt Sigward, erleichtert, als der Mann sich näherte. »Er kann die Angelegenheit gewiss klären.«

Bruder Peter war der nächste Schock. Er trug die Kutte eines Laienbruders, was ihn im Grunde lediglich als Arbeiter in einem Kloster auswies, aber in Größe, Augen- und Haarfarbe und Gesichtszügen ähnelte er dem Mann, den Adelia erst einen Tag zuvor in der Küche von Wolvercote Manor beim Brotbacken gesehen hatte, wie ein Ei dem anderen.

Nach einem Moment machte sie sich klar, dass er nicht der Bäcker sein konnte – der hatte keine Tonsur gehabt wie dieser Mann hier, obwohl das Haar ansonsten genau gleich war –, sondern sein Zwillingsbruder sein musste.

Als man ihm Fragen stellte, wurde er trotzig. »Was hab ich denn nun schon wieder falsch gemacht? Abt, ich hab Euch gesagt, dass wir irgendwas brauchen, um Pflug und Egge zu ziehen. ›Besorg was‹, habt Ihr gesagt, ›aber billig muss es sein!‹«

»Das ist wahr, das ist wahr«, sagte Abt Sigward. »Und es macht dir ja auch niemand einen Vorwurf, mein Sohn. Aber wo hast du das Tier erstanden?«

»In Street. Wo denn sonst? Hier gibt’s ja keinen Markt mehr. Habs in Street gekauft. Hab’s ausgesucht, weil’s stark ist, auch wenn’s Regenfäule hat.«

»Tang«, meldete Allie sich zu Wort. »Das hilft gegen Regenfäule.«

»Aha«, sagte Bruder Peter sarkastisch und betrachtete das Kind mit demselben Trotz, mit dem er alle anderen bedachte. »Ich hab ja auch die Zeit, einen Maultierarsch mit verdammtem Tang zu bestreichen, klar, jede Menge Zeit.«

»Aber wer hat Euch das Tier verkauft?«, fragte Adelia.

Es brachte nichts. Ein Maultierverkäufer, ein Mann, der von Markt zu Markt zog und alle paar Monate nach Street kam. Bruder Peter hatte mit ihm gefeilscht, den Preis so weit heruntergehandelt, dass die Abtei ihn zahlen konnte. »Hab ja nich gewusst, dass ich nach seinen verdammten Vorfahren fragen sollte.«

»Wann war das?«

»Vor fast einem Monat«, sagte Bruder Peter. »Am Tag des heiligen Bonifaz. Und jetzt, falls es nich noch mehr Fragen gibt, muss ich Gras mähen.«

Abt Sigward blickte Adelia fragend an, die daraufhin den Kopf schüttelte, und Bruder Peter stapfte von dannen.

»Leider ist er etwas ungeschliffen«, sagte der Abt, »aber ein guter Christ und ein fleißiger Arbeiter.«

Sie würde allein mit dem Mann reden müssen. Sie würde viele Dinge tun müssen – und zwar unauffällig. Der sonnige Tag hatte seine Unschuld verloren. Die Menschen der Abtei, der plappernde Bruder James, der feindselige Aelwyn, der beleibte Titus, sogar Hilda, ja sogar der liebenswürdige Abt hatten plötzlich etwas Unheimliches an sich. Sie erinnerte sich an Hauptmann Bolts Worte: »Irgendwas ist von hier verschwunden, und etwas anderes ist dafür gekommen.«

Sie riss sich zusammen und sagte: »Master Mansur benötigt mehr Zeit, ehe er sagen kann, was es mit den Knochen auf sich hat.« Dann verneigte sie sich vor dem Abt und ging weg.

 

Zunächst bekam sie beim Abendessen keinen Bissen herunter, obwohl Godwyn einen Wildbraten mit Wein und Pilzen geschmort hatte, bis das Fleisch sich vom Knochen löste.

An wen konnte sie sich um Hilfe wenden? An den Sheriff? Aber würde der ihre Sorge um Emma ernster nehmen, als die Mönche das getan hatten? Wahrscheinlich nicht. Erst musste sie mehr Beweise finden. Er würde sich der Erklärung anschließen, dass Emma sich das mit der Verabredung einfach nur anders überlegt und die Maultiere verkauft hatte.

Rowley?

Nein. Bitte, Gott, zwing mich nicht dazu! Wir sind getrennt, und daran wäre ich fast gestorben. Jetzt können Tage vergehen – na ja, immerhin Stunden –, ohne dass ich an ihn denke. Er denkt wahrscheinlich gar nicht mehr an mich. Zum Teufel mit dem Mann! Hätte es ihm denn wehgetan, wenigstens Allie zu sehen, während wir in Wales waren?

Sie verspürte eine altvertraute Wut in sich aufwallen und zugleich die gleichermaßen ärgerliche Erkenntnis, wie unbegründet sie war. Mehrfach hatte er ihre Vereinbarung gebrochen, dass sie nichts miteinander zu tun haben sollten, indem er ihr Geld und für Allie ein Geschenk zum Geburtstag geschickt hatte. Aber das hatte für sie den Beigeschmack von Gaben an eine Mätresse und ihr Bastardkind gehabt – obwohl sie wusste, dass sie das nicht waren –, und sie hatte alles zurückgeschickt.

Trotzdem, zum Teufel mit ihm.

Es war fast eine Erleichterung, als sie sich in Erinnerung rief, dass es bis zu seiner angekündigten Ankunft in Somerset noch einige Tage dauern würde, sodass sie, selbst wenn sie seine Hilfe brauchte, ihn nicht darum bitten konnte.

Wie Beweise finden? Wie Beweise finden?

Es bestand keine Veranlassung, die Mönche zu verdächtigen – das Maultier war offensichtlich in gutem Glauben gekauft worden. Doch ein unerklärlicher Instinkt drängte sie, mehr über sie alle herauszufinden.

Nun, während sie und Mansur die Skelette untersuchten, hatte sie bestens Gelegenheit, das zu tun. Und sie könnte Gyltha auf Bruder Peter ansetzen … Ja, genau, das würde sie tun; Gyltha konnte Steine zum Reden bringen.

Vor allem jedoch galt es, die Nachbarschaft nach Informationen zu durchforsten. Sie selbst kam dafür nicht in Frage. Obwohl sie sich redlich Mühe gab, ihn loszuwerden, hatte sie noch immer leichte Anklänge eines ausländischen Akzents, und die Engländer mochten keine Ausländer.

Also wieder Gyltha? Nein, falls hier in der Gegend Menschen verschwanden, sollten Gyltha und Allie auf keinen Fall dazuzählen.

Ein Schmatzgeräusch riss sie aus ihren Gedanken. Es kam vom Ende des Tisches, wo Rhys der Barde sich mit solcher Inbrunst Wildragout in den Mund schaufelte, dass er sich die Kleidung vollkleckerte.

Rhys.

Adelia griff nach ihrem Löffel und begann zu essen.

 

»Eine verschwundene Lady, ja?«, sagte Rhys, und seine Glupschaugen wurden feucht. »Ein schönes Thema. Ach du verlornes Täubchen, manch Zähre fällt für dich, ohn dich ist leer das Leben …«

»Mach, dass er aufhört!«, zischelte Adelia.

Mansur riss ihm gerade noch rechtzeitig die Harfe aus der Hand.

Adelia schloss die Augen und öffnete sie dann wieder. »Wir wollen nicht, dass Ihr über sie wehklagt, Rhys«, sagte sie. »Wir wollen, dass Ihr sie findet.«

Um ungestört zu sein, hatten sie ihn in Allies und ihre Schlafkammer geführt, einen großen Raum mit Ulmenholzboden und einem kleinen Fenster, das auf die Straße ging.

Rhys rieb sich die Stelle am Kopf, wo Mansur ihn gestreift hatte. »Also wie eine Gralssuche?«

»Genau so.«

»Und wie soll ich das anstellen?«

»Haben wir dir doch schon gesagt, Junge«, sagte Gyltha geduldig und wischte ihm Ragout vom Hemd. »Du musst nur auf die hiesigen Märkte gehen und deine Lieder singen, wie ein … wie ein was?«

»Spielmann«, sagte Adelia.

»Genau. Hör zu, was die Menschen so reden, lass sie dir was erzählen. Lady Emma und ihre Leute sind irgendwo hier in der Gegend verschwunden. Da steckt was Übles dahinter, meinen wir, so ’ne große Reisegesellschaft muss doch irgendwelche Spuren hinterlassen haben – also steht zu vermuten, dass irgendwer irgendwas weiß.«

»Ich bin ein Barde, der Beste der Beirdd yr Uchelwyr, kein grölender Straßenmusikant«, sagte Rhys würdevoll. »Habe ich nicht schon in den erhabensten Hallen der Christenheit gesungen?«

Mansur atmete geräuschvoll aus. »Darf ich ihn umbringen?«

Aber Adelias Interesse war geweckt. »Ihr seid in Häuser geladen worden?«

»Ich hab die Ruhmestaten von Helden schon überall besungen, in Dinefwr, in Brycheiniog …«

»Könntet Ihr auch für Wolvercote Hall eine Einladung bekommen?«

»Ungastlich, die Lady. Hat gesagt, wir sollten nicht wiederkommen, oder?«

»Ja, das hat sie. Aber sie hat Euch nicht mit uns zusammen gesehen. Für sie wäret Ihr bloß ein fahrender Spielmann.«

»Vielleicht würde sie mich dann einlassen.«

»Ihr müsst es schaffen. Dorthin war Lady Emma nämlich unterwegs. Die Witwe Wolvercote hat gesagt, sie wäre nie angekommen, aber ich glaube, die Frau weiß mehr, als sie sagt, und ihre Diener waren bestimmt beteiligt, an was auch immer.«

Sie begann, Rhys die Verschwundenen zu beschreiben. Der Barde hörte sich ohne einen Einwurf an, welche Merkmale die Diener, das Kind und Master Roetger hatten, doch als er von Emmas Blondhaar erfuhr, ihrer Jugend und Schönheit und vor allem von der wunderbaren Singstimme, die sie hatte verstummen lassen, wurde er plötzlich von Leidenschaft beseelt.

»Die Lady ist mir ins Herz gedrungen wie Sonnenlicht durch Glas«, sagte er und breitete weit die Arme aus. »Von heute an bin ich der Kämpe und Beschützer der schönen Emma. Ich werde sie finden, und ich werde die Leichen ihrer Feinde den Raben zum Fraß vorwerfen.«

»Dann ran an den Speck!«, sagte Gyltha. »Braver Junge.«

Plötzlich stürzte sie quer durch den Raum, riss die Tür auf und spähte in den schmalen Gang, von dem auch die angrenzenden Kammern abgingen. »Verdammtes neugieriges Weib«, schrie sie hinaus.

»Hat Hilda gelauscht?«, fragte Adelia erschrocken.

»Hab sie nich gesehen«, gab Gyltha zu und schloss die Tür wieder. »Keiner mehr da. Aber irgendwer war da, weil die Dielen geknarrt haben. Wer soll’s denn sonst gewesen sein? Die steckt mir ihre Nase zu tief in unsere Angelegenheiten, jawohl.« Gylthas Verhältnis zu der Wirtin des »Pilgrim Inn« hatte sich nicht verbessert.

»Vielleicht Geister«, sagte Rhys. »In diesem Haus spukt es. Das spür ich.«

»Unsinn«, sagte Adelia. Sie hasste so ein Gerede.

Aber es war nicht zu bestreiten, dass es im Gasthaus unerklärliche Geräusche gab: Schritte im Dunkeln, knarzende Wendeltreppen, die niemand hochging, ein Ächzen in einem windstillen Kamin, Wispern aus leeren Räumen. Hätte reges Treiben geherrscht wie in den Tagen vor dem Brand, wäre dergleichen nicht aufgefallen, doch jetzt, wo das »Pilgrim Inn« nur fünf Gäste beherbergte, konnte es hier richtig unheimlich sein, vor allem nachts.

Die Magd Millie, ein bleiches, zartes Ding, machte die Sache auch nicht besser. Sie war stocktaub zur Welt gekommen und tat ihre Arbeit so lautlos, dass man im Dunkeln über sie stolperte.

Ihre Augen blickten kummervoll, und eine mitleidige Adelia fragte sich, wie es wohl war, Münder zu sehen, die sich bewegten, ohne hören zu können, was aus ihnen herauskam. Es muss irgendeine Möglichkeit geben, sich mit dem Mädchen zu verständigen, dachte sie – und die zu finden hatte sie mit auf die Liste ihrer Vorhaben gesetzt.

Am Abend saß Rhys noch lange im Hof des Gasthauses und begann, ein neues Lied zu dichten. »Ich würde über Tau oder raue Wüste wandern, um dich zu finden, du weißes Gespenst meiner Träume …«

»Emma ist kein Gespenst«, unterbrach ihn Adelia, die stehen geblieben war, um ihm zuzuhören, ehe sie nach oben ging.

»Doch, genau wie Guinevere«, sagte Rhys. »Auch bei Arthurs Königin weiß keiner, was ihr widerfahren ist. Manche sagen, sie wurde wegen ihres Ehebruchs von Pferden in Stücke gerissen. Manche glauben, sie ist in den Nebeln von Avalon verschwunden. Weißes Gespenst, weiße Eule, das bedeutet der Name Guinevere nämlich. Nachtgespenst verloren in der Dunkelheit.«

»Tja, Emma hat ganz sicher keinen Ehebruch begangen«, sagte Adelia und dachte dann, wie dumm sich das anhörte. »Kommt bloß nicht zu spät zurück! Versprecht es!«

 

Ob es an Rhys lag, an der Angst um Emma oder an den Skeletten, jedenfalls begannen in dieser Nacht die Träume.

Adelia träumte normalerweise nicht, sondern schlief nachts den Schlaf der Gerechten, weil sie tagsüber so beschäftigt war. Doch in dieser Nacht träumte ihr, dass sie oberhalb der Abtei von Glastonbury auf halber Höhe des Hügels Tor stand, vor einer Höhle.

Es war nebelig. Eine Glocke hing in den Ästen eines Weißdornbaums gleich neben dem Eingang. Unwillkürlich hob sich ihre Hand zu der Glocke und berührte sie, sodass sie läutete.

Sie hörte das Echo durch den Nebel wabern. Eine Männerstimme drang aus den Tiefen der Höhle: »Ist es Tag?«

Selbst in ihrem Traum wusste sie aus Rhys’ Arthur-Liedern, wie ihre Antwort lauten musste: »Nein, schlaft weiter!« Denn sonst würde sie dasjenige oder denjenigen in der Höhle aufwecken. Doch obwohl sie den Mund öffnete, um zu antworten, brachte sie keinen Laut heraus. Der Nebel wirbelte und wurde dunkler; irgendjemand kam aus der Tiefe der Höhle auf sie zu.

Mühsam stieß sie hervor: »Emma? Bist du das, Emma?«

Doch dieselbe Stimme sagte: »Ich bin Guinevere. Helft mir! Ich bin verwundet.«

Ein schabendes Geräusch ertönte, und Adelia wusste, dass sich nur der obere Teil des Wesens, das sich Guinevere nannte, durch den Höhlengang auf sie zuschleppte, und sie wusste auch, dass sie den Anblick nicht ertragen konnte. Sie begann, in den Nebel zurückzuweichen, weg davon, hörte aber immer noch das Stöhnen des näher gleitenden Wesens.

Sie wachte in Schweiß gebadet auf.

»War das ein Wahrtraum?«, fragte Gyltha am nächsten Morgen interessiert. »Wie Jakob und die Leiter?«

»Nein, so war das nicht. Ich hatte bloß entsetzliche Angst … und Schuldgefühle. Was immer es war, es hat um Hilfe gefleht, und ich bin weggelaufen.«

Adelia nahm Träume nicht ernst, aber sie konnte den schrecklichen Vorwurf nicht abschütteln, mit dem dieser Traum sie umhüllt hatte. Sie sah irgendetwas nicht, das sie sehen sollte; sie missachtete etwas, das ihr offenbart worden war.

»Dann liegt’s am Käse«, sagte Gyltha mit Nachdruck. »Du solltest vor dem Schlafengehen nich so viel Käse essen – davon kriegst du Albträume.«

»Ich hab überhaupt keinen Käse gegessen. Oh Gott, Gyltha, wir müssen Emma finden!«

»Wir tun unser Bestes, Kindchen.«

Es war eine Wohltat, hinaus in den Sonnenschein zu treten und zur Abtei hinüberzutrotten, um mit der Arbeit an den Knochen zu beginnen. Godwyn würde Gyltha und Allie in seinem Boot mit auf den Brue nehmen, um Torfmoos zu suchen, mit dem sie Polycarps Kruppe behandeln wollten.

Rhys hatten sie aus dem Bett geholt und gen Wells und Wolvercote Hall losgeschickt. Er hatte es plötzlich mit der Angst zu tun bekommen. »Gefährlich, die Straße. Was, wenn Wegelagerer mich überfallen und ausrauben?«

»Was könnten die ihm denn rauben?«, hatte Mansur wissen wollen. Der Barde hatte seit Wales dieselbe Kleidung an, obwohl Gyltha ihn wiederholt angefleht hatte, sie für ihn waschen zu dürfen. Abgesehen von seiner Harfe, die er in einem schmutzigen Beutel bei sich trug, gab es nichts an ihm, was selbst den zuversichtlichsten Dieb in Versuchung geführt hätte. Schließlich konnten ihn ein paar Pennys, die Adelia ihm mitgab, damit er sie auf dem Markt in Wells ausgab, zum Gehen bewegen.

Hilda bestand darauf, die beiden Ermittler zur Abtei zu begleiten. Offenbar wollte sie unbedingt jedes eventuelle Gespräch der beiden mit Abt Sigward verfolgen, den sie ständig als »mein lieber Abt« bezeichnete.

Adelia fragte sich, ob Godwyn eifersüchtig war. Hilda schwärmte für den Mönch wie für niemanden sonst, und ganz sicher nicht für ihren Ehemann, mit dem sie herrisch umsprang. Ihre gereizte Stimme drang häufig aus der Küche bis nach oben. Aber das störte Godwyn offenbar nicht; er schien so zärtlich an seiner Frau zu hängen wie sie an dem Abt, vielleicht, dachte Adelia, weil Hildas Verehrung weniger sexueller Natur war als vielmehr die einer Gläubigen vor einem heiligen Schrein, dessen schwache Flamme sie nährte und schützte.

Sie gab es selbst zu. »Er ist ein Heiliger, mein lieber Abt«, sagte sie, als sie, ausgestattet mit einem weiteren Korb voller Lebensmittel für ihn, Adelia und Mansur über den leeren Markt begleitete. »Ich war früher als junges Ding seine Wirtschafterin, und keiner ahnt, wie tief die Güte dieses Mannes reicht. Gott hätte ihn uns weggenommen, wenn ich mich nicht um ihn gekümmert hätte.«

»War das, bevor er Mönch wurde?«, fragte Adelia.

Hilda wurde unvermittelt angriffslustig. »Warum wollt Ihr das wissen?«

Adelia zuckte die Achseln. Es war nur eine höfliche Nachfrage gewesen.

Nach einer Pause, als könnte sie unmöglich eine weitere Gelegenheit verstreichen lassen, seinen Ruhm zu singen, sagte die Wirtin plötzlich: »Damals war er reich. Ein Adeliger, reich wie ein König. Und ich hab das Haus für ihn geführt, jawohl, das hab ich. Seht Ihr die Insel da draußen?« Sie zeigte auf eine große Erhebung weit hinten im Marschland. »Die hat ihm gehört, jawohl, und noch viele tausend Morgen in ganz England. Hat alles verschenkt, jawohl, Gott segne ihn! Hat es Gott geschenkt und das Armutsgelübde abgelegt, weil er nun mal ein Heiliger ist.«

Vom Saulus zum Paulus? Das sanfte Gesicht des Abtes war das eines Mannes, der durch Feuer geläutert worden war.

»Hatte er Familie?«

Wieder zögerte Hilda. Dann sagte sie knapp: »Einen Sohn. Ist auf einem Kreuzzug gestorben.«

Das würde es erklären. Adelia konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als ein Kind zu verlieren. Das war ein Verlust, der einen entweder hilfesuchend zu Gott oder von ihm wegtreiben musste.

»Eine von den Inseln ist jetzt eine Leprakolonie«, sagte Hilda und deutete wieder Richtung See. »So gütig ist der Mann. Hat für mich und Godwyn das ›Pilgrim Inn‹ gekauft und den Leprakranken Land überlassen. Lazarus Island, so nennen wir es. Godwyn rudert ihn oft hinüber, damit er ihnen die Kommunion erteilen und Verpflegung bringen kann.«

Mansur schauderte. »Allah schütze den guten Mann!«, sagte er auf Arabisch. »Ich könnte das nicht.«

Auch Adelia fand das löblich. Sie teilte nicht Mansurs Furcht vor den Menschen mit einer Krankheit, die, wie sie von ihren Zieheltern gelernt hatte, nicht so ansteckend war, wie der allgemeine Abscheu die Leute glauben machte, obwohl dieser langsame Tod, der von den Spitzen der Gliedmaßen aus schleichend den ganzen Körper erfasste, schon schrecklich genug war. Aber sie konnte verstehen, warum das Gesetz strikt ihre Absonderung verlangte, um die Gesunden zu schützen. In diesem einen Punkt bewunderte sie die christliche Kirche – eine Institution, mit der sie gewöhnlich auf Kriegsfuß stand –, weil sie die Leprosorien eingerichtet hatte, Zufluchtsorte, wo die Patienten ärztliche und spirituelle Hilfe erhielten, ja sogar Achtung erfuhren, denn da sie schon zu Lebzeiten für ihre Sünden büßten, würde ihnen im Himmel rasche Erlösung zuteilwerden.

Dann war Abt Sigward also einer von denen, die großherzig mit Leprakranken umgingen. Adelia fasste immer mehr Zuneigung zu dem Mann. Zudem war er bereit, Mansur und ihr bei ihrer Ermittlung freie Hand zu lassen, was seine Ordensbrüder ihnen gewiss verwehrt hätten.

»Ich habe das Grab, in dem wir die Skelette gefunden haben, gegen einen gewissen Widerstand meiner Mitbrüder offen gelassen«, sagte er, nachdem er sie begrüßt hatte.

»Lasst die Toten ruhen, Father!«, warf Hilda flehentlich ein. »Das sind die Knochen von Arthur und Guinevere, das wisst Ihr. Lasst sie in Frieden ruhen!«

Der Abt tätschelte ihr die Schulter, hielt den Blick aber auf Adelia gerichtet, die nach einer kurzen vorgetäuschten Beratung mit dem Araber sagte: »Doktor Mansur dankt Ihnen, Mylord, und er wird sich diesen Dingen zu gegebener Zeit gern widmen, doch vorläufig möchte er sich auf die Skelette konzentrieren.«

»Und was können die ihm verraten?«

Wieder sprach Adelia auf Arabisch mit Mansur, und wieder erhielt sie eine Antwort: »Nicht viel, fürchte ich«, sagte sie wahrheitsgemäß zu Sigward. »Das Alter von Knochen zu bestimmen kann schwierig sein.«

»Selbst wenn es darum geht, die Möglichkeit auszuschließen, dass sie nicht die von Arthur und Guinevere sind?« Der Abt zwinkerte ihr zu. »Das ist doch das Ziel des Doktors, nicht wahr? Und das des Königs?«

Adelia lächelte ihn an. »Es ist ein Glücksspiel, Mylord.«

»Ah, Glücksspiel.« Das Gesicht des Abtes nahm einen gequälten Ausdruck an. »Glücksspiel war eine meiner Sünden, als ich noch weltlich lebte, und ist es noch immer, wenngleich Hochmut eine noch größere war – und ich bete, dass ein barmherziger Gott mir vergeben möge. Übrigens, Ihr müsst mich nicht mit ›Mylord‹ anreden; ich bin jetzt ein Dienender.«

»Er leuchtet, der Mann«, sagte Mansur, der zusah, wie Sigward sich entfernte und dabei Hilda sachte mitzog.

»Das tut er«, pflichtete Adelia ihm bei.

Sie gingen in die Hütte und starrten auf die beiden Skelette. Die Verstümmelung des weiblichen erinnerte Adelia schrecklich an ihren Albtraum.

»Was machen wir?«, fragte Mansur.

»Ich weiß es nicht. Wenn wir herausfinden könnten, wie alt sie sind … vielleicht wäre es sinnvoll, sie mit Knochen zu vergleichen, von denen wir wissen, dass sie alt sind.«

»Der Friedhof?«

»Der Friedhof.«

Nachdem sie sich umgeschaut hatten, ob irgendwer in der Nähe war, durchquerten sie das zerstörte Kirchenschiff und kletterten über die herumliegenden Steine seiner Südmauer, von der ein Teil noch hoch genug war, um den Blick auf das, was dahinter lag, zu versperren.

Das Feuer und bislang auch die Sense von Bruder Peter hatten die Begräbnisstätte der Abtei unberührt gelassen. Die Grabsteine standen so wohltuend ungeordnet kreuz und quer wie auf einem Kirchhof irgendwo auf dem Lande. Der Friedhof lag frei im morgendlichen Sonnenlicht, Schmetterlinge bereicherten die Farbenpracht der Wildblumen, und im Schatten einer jungen Eiche, die sich über die südliche Grenzmauer des Friedhofs neigte, schwirrten Bienen emsig zwischen einigen Glockenblumen umher.

Aber etwas ließ die Szenerie seltsam wirken, verlieh ihrer pastoralen Idylle ein fremdartiges Element, und das waren die Pyramiden. Adelia hatte angenommen, dass mit dieser Bezeichnung irgendwelche konischen Grabsteine gemeint waren, aber das hier waren richtige Pyramiden – sehr viel kleinere Versionen als die, die ihr Ziehvater während seines Aufenthaltes in Ägypten gezeichnet und ihr gezeigt hatte, aber dennoch zu groß und in eine wildere Umgebung, unter eine heißere Sonne gehörend als hier. Sie waren unenglisch, verstörend.

Und sie waren unterschiedlich – noch etwas, das dem Auge missfiel. Die Höhere maß gut fünfundzwanzig Fuß und türmte sich in fünf Steinlagen zum Gipfel auf, die andere erreichte nur rund achtzehn Fuß Höhe und bestand aus vier Lagen. Beide waren mit Schriftzeichen bedeckt, die Adelia nicht entziffern konnte – eher Runen denn eine herkömmliche Schrift, Botschaften aus einer dunkleren Zeit.

Zwischen den beiden erhob sich eine weitere Pyramide, ein unregelmäßiger Erdhaufen, der aus dem klaffenden Loch daneben ausgehoben worden war.

Adelia trat an den Rand. Die Grube war rechteckig, mindestens sechzehn Fuß tief und so breit, dass es an einer Wand möglich gewesen war, Stufen einzugraben. Die Mönche hatten sich große Mühe gegeben, um Arthurs Sarg zu finden.

»Sie müssen gebuddelt haben wie die Maulwürfe«, sagte Adelia, während sie nach unten spähte. Sie machte rasch einen Schritt zurück: Die Grube roch nach verseuchter Erde.

Mansur war schon auf dem Weg nach unten und inspizierte dabei die Seitenwände. Wo die Grabenden sich durch die Erde gearbeitet hatten, ragten Knochen heraus, ließen erkennen, dass mehr als eintausend Jahre lang eine Generation Mönche nach der anderen übereinander beerdigt worden war.

»Hier ist auch Holz«, rief er nach oben. »Manche wurden in Särgen bestattet, andere nur in ein Leichentuch gewickelt, glaube ich. Was willst du haben?«

Plötzlich wollte sie gar nichts mehr haben. »Mansur, wir sind Grabräuber.«

Ihr Ziehvater hatte, wie sie wusste, von dubiosen Männern dubiose Skelette gekauft, um seine Studenten Anatomie zu lehren, aber für welchen hehren Zweck entweihten sie diese Toten? Nicht für die Wissenschaft oder für medizinische Erkenntnisse, sondern nur damit eine Abtei Reichtümer anhäufen konnte und ein König seinen toten Arthur bekam.

»Wir sollten lieber die Finger davon lassen«, rief sie nach unten und hörte Mansur verärgert über ihren Wankelmut ausspucken.

Er kam wieder nach oben geklettert, aber als er die oberste Stufe erreichte, streckte er die offene Hand aus. Auf seiner Handfläche lag ein kleiner knubbeliger Knochen.

»Der muss alt sein, weil er ganz unten lag«, sagte er. »Ein Stück von einem Fuß, glaub ich. Nimm ihn!«

Es war tatsächlich das Endglied eines zweiten Zehs, und Adelia starrte eine Weile darauf und klopfte sich unschlüssig gegen die Zähne, ehe sie ihn schließlich rasch nahm. »Wir können ihn ja hinterher wieder zurücklegen«, sagte sie.

Schließlich würde das Wissen der Welt wirklich bereichert, wenn sie eine Methode zur Altersbestimmung von Knochen finden könnte. Trotzdem nahm sie ihr schlechtes Gewissen mit in die Hütte, und als Bruder James die beiden zwei Stunden später bei der Arbeit überraschte und auf die Unordnung, die sie angerichtet hatten, stierte, als hätten sie etwas Obszönes getan, plapperte Adelia mit gespielter Arglosigkeit los: »Wir haben Gebete gesprochen … Abt Sigward hat dem Doktor die Erlaubnis erteilt … Der König erwartet …«

Doch anscheinend durchlebte Bruder James auch Phasen der Ruhe, und das war eine von ihnen. Er blickte nur betrübt. »Möge Gott Euch Eure Taten vergeben!«, sagte er.

»Ich hoffe, das wird Er.«

Tatsächlich war der Knochen nutzlos gewesen. Adelia hatte einen Span davon abgeschabt und einen exakt ebenso großen Span von Arthurs Zeh – das Innere beider Späne hatte sich in nichts unterschieden.

Sie und Mansur hatten beide Späne zu Staub zermahlen und in die Schale der winzigen Waage gelegt, die sie mitgebracht hatte – wobei nur herauskam, dass sie gleich schwer waren. Sie hatten Teile der beiden Staubmengen in Wasser gegeben und dann Essig zugefügt, aber keinerlei Reaktion erhalten. Entweder waren die zwei Knochen gleich alt oder aber, und das war ihre Befürchtung, es gab keine Vergleichsmöglichkeit, um einen Unterschied festzustellen.

»Wisst Ihr«, sagte Bruder James, der noch bei ihnen verweilte und nach wie vor bekümmert war, »die Menschen brauchen König Arthur, sie brauchen ihren Traum von ihm. Ich brauche ihn.«

»Warum?«, fragte Adelia. »Warum braucht Ihr ihn?«

»Er hat sein Banner in den Kampf gegen die Barbarei geführt«, sagte Bruder James, »aber er muss zurückkehren, um den Krieg zu gewinnen. Es gibt noch immer Barbarei in der Welt. Niemand weiß das besser als ich.«

Er ging langsam davon.

»Keine schlechte Begründung«, sagte Mansur und sah ihm nach. »Alle sollten gegen das Böse kämpfen. Der Islam kämpft noch immer unter der Fahne des Propheten, Allah bewahre sie!«

»Aber nicht gut genug«, sagte Adelia. »Ein Traum ist als Begründung nicht genug. Ungeschönte Wahrheit, das ist die einzige Fahne, unter der es sich zu kämpfen lohnt.«

 

»Bruder James?«, sagte Hilda, als sie niedergeschlagen zurückgingen, um im Gasthaus zu Abend zu essen. »Der wird von Dämonen verfolgt, der Ärmste, aber meinem lieben Abt ist es gelungen, ihm die meisten auszutreiben.«

»Was für Dämonen?«

Hilda wusste es nicht. »Der ist schon zur Abtei gekommen, bevor der Abt und ich irgendwas damit zu tun hatten. Geschrien und gekreischt hat er, so wird erzählt.«

Gyltha war ergiebiger, nachdem Hilda aus dem Zimmer gegangen war. Sie und Allie hatten einen erfolgreichen Morgen damit zugebracht, sich von Godwyn durch die Sümpfe rudern zu lassen, und einen noch erfolgreicheren Nachmittag damit, sich mit Laienbruder Peter auf der Weide zu unterhalten, wo das Maultier Polycarp jetzt eine Packung Sphagnum-Moos auf der Kruppe trug.

Bruder Peters Frömmigkeit, so berichtete sie, hindere ihn nicht daran, unfreundlich über seine ranghöheren Brüder zu sprechen.

»Der mag sie nich besonders«, stellte Gyltha fest. »Meint, die behandeln ihn nicht anständig – alle außer dem Abt. Meint, der Abt achtet ihn.«

Wenn man Bruder Peter glauben durfte, war Bruder James vollkommen verrückt. »Er soll schutzsuchend in die Abtei gerannt sein, nachdem er im Streit seinem Vetter einen Arm abgehackt hat.«

»Großer Gott!«

»Das erzählt Peter zumindest. Und Bruder Aelwyn ist so ungenießbar wie ein Holzapfel, spitzzüngig, nie ist ihm was recht. Da war mal irgendwas in seiner Vergangenheit, aber was, weiß Peter nich. Und Bruder Titus ist ein fettes, faules Schwein.«

Oje. Das mochten ja die abfälligen Bemerkungen eines reizbaren, überarbeiteten Mannes sein, aber in einer solchen vergleichsweise kleinen Gemeinschaft von Männern, die zusammen einer strengen Disziplin mitsamt ihrer Forderung nach Keuschheit unterworfen waren, mussten die Einzelnen sich einfach gegenseitig auf die Nerven fallen.

Warum machten sie das? Was trieb sie dazu, das hinzunehmen? Jedermann glaubte, dass die meisten Nonnen und Mönche sich der heiligen Regel unterwerfen, weil sie den Ruf Gottes vernommen haben, und vielleicht traf das ja auch bei einigen wirklich zu. Doch für die anderen war es offensichtlich eine Flucht vor der unerträglichen Drangsal der Außenwelt. Vielleicht war klösterliche Strenge für Bruder Titus noch immer leichter zu ertragen, als sich selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Bruder James hatte also seinen Vetter angegriffen. Hatte er auch Guinevere mit einer Axt verstümmelt?

Bei Einbruch der Nacht war Rhys noch nicht zurück, was Mansur wütend machte. »Der liegt mit irgendeiner Frau im Bett, nichtsnutziger Schürzenjäger!«

Das erinnerte Adelia an etwas. »Hat Bruder Peter dir irgendwas über den nichtsnutzigen Eustace erzählt, den Hilda beschuldigt?«, fragte sie Gyltha. »Hat er das Feuer gelegt? Wer ist er?«

»Ach ja, das hab ich vergessen. Peter glaubt nich, dass er es war, aber die anderen geben Eustace die Schuld an dem Feuer. Sogar der Abt, aber der meint, es wär ein Unfall gewesen – aber so is er nun mal, nich? Redet über keinen ein schlechtes Wort, der Mann.«

»Gibt es irgendwelche Beweise, dass dieser Bursche das Feuer gelegt hat? Haben die Mönche denn nicht den Sheriff geholt?«

»Haben sie, aber sie meinen, dass der Bischof von Wells den Sheriff in der Hand hat, dass der Bischof mächtig froh war, dass Glastonbury niedergebrannt ist, und dass er Eustace vielleicht sogar dafür bezahlt hat, das Feuer zu legen. Zwischen Glastonbury und Wells hat’s schon immer Streit um irgendwelchen Grundbesitz gegeben, die hassen sich.«

Dasselbe hatte auch Hilda gesagt. Es fiel Adelia schwer, das zu glauben.

»Tja, also, dieser Eustace war der Falkner vom Bischof«, erklärte Gyltha ihr. »Hat seine Anstellung verloren, weil er getrunken hat, und is nach Glastonbury gekommen und hat um Brot gebettelt. Was er auch gekriegt hat, obwohl selbst der Abt ihn nach einer Weile wegschicken musste – er ist nämlich andauernd in die Krypta geschlichen, weil sie da den Abendmahlswein lagern. Dann is er in die Berge und hat da wie ein Wilder gelebt, aber die vermuten, dass er trotzdem irgendwie nachts in die Abtei eingedrungen is, weil das Weinfass immer leerer wurde. Und das Feuer hat in der Krypta angefangen. Und Bruder Titus hat in der Nacht gesehen, wie Eustace aus der Krypta gerannt kam.« Gyltha schüttelte verwundert den Kopf. »Schreckliche Sache, nicht? Ob mit Absicht oder nicht, aber da zerstört ein Einzelner eine herrliche Abtei und eine gute kleine Stadt. Und einer von den Mönchen ist gestorben, weißt du? Als er versucht hat, die Flammen in der Krypta zu löschen, zusammen mit Bruder Titus – ist aber dann an seinen Verbrennungen gestorben, der arme Kerl.«

Es war traurig; es war entsetzlich. Und Adelia schüttelte den Kopf. »Aber geschehen ist geschehen. Jetzt ist Emma unsere vordringlichste Aufgabe, und das alles hier hat nichts mit ihr zu tun.«

»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Gyltha. »Dieser Bruder Peter hat was Verschlagenes an sich. Der erzählt mir nicht alles.«

 

Diesmal stand Adelia in einer golden schimmernden Halle. Ritter in Silberharnischen streckten die Fingerspitzen nach schönen Ladys aus und bewegten sich anmutig zur Melodie eines unsichtbaren Harfenspielers. König Arthur erblickte Adelia, kam näher und neigte zur Begrüßung sein gekröntes Haupt. Er bot ihr seine Hand an. »Tanzt mit mir, Mistress!« Seine Stimme war so imposant und schön wie seine Gestalt.

»In einem Traum kann ich nicht tanzen«, erklärte Adelia ihm.

»Töricht seid Ihr, jawohl«, sagte Arthur.

Er wandte sich von ihr ab und ging zu dem Thron am Kopfende der Halle, wo seine Königin saß. Er verneigte sich, und Guinevere stand auf, legte ihre Hand auf die des Königs und begann, mit ihm zu tanzen. Ihr Kleid war aus reinweißen Federn, die flatterten, wenn sie sich bewegte. Ganz gleich, wie sie und Arthur sich auch drehten und wendeten, ihr Gesicht blieb vor Adelia verborgen, die nur sehen konnte, dass ein roter Fleck allmählich die Federn tief im Rücken der Königin durchtränkte. Schon bald tropfte Blut herab und bildete Lachen auf dem Boden, aber sie tanzte weiter …

»Halt, halt!«, rief Adelia und war froh, dass sie durch irgendetwas geweckt wurde.

Ein Geräusch.

Noch immer zittrig, entzündete Adelia eine Kerze, schlang ein Tuch um sich und vergewisserte sich, dass Allie tief und fest schlief. Dann trat sie hinaus auf den Flur.

Die Nacht war schwül, und ein vergittertes Fenster über der Treppe war offen gelassen worden, damit ein wenig Luft hereinkam.

Ihr Fuß stieß gegen etwas Weiches. Als sie nach unten schaute, sah sie Millie die Magd auf einer Matte zusammengerollt auf dem Boden, die großen Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.

Auch Adelia hatte sich erschreckt, und ihr »Was machst du denn hier?« kam schneidender heraus, als sie beabsichtigt hatte. Doch dann fiel ihr ein, dass das arme Kind ohnehin nichts hören konnte, und ihr wurde zudem klar, dass sie den Schlaf des Mädchens gestört hatte.

»Hast du hier kein Bett?«, fragte sie überflüssigerweise. So niedrige Bedienstete wie Millie mussten sich einfach dort zum Schlafen hinlegen, wo sie konnten, meistens in der Küche, doch in einer Nacht wie dieser war es in der Küche des »Pilgrim Inn« gewiss noch unerträglich heiß von den Feuerstellen, über denen Godwyn geschwitzt hatte, und die Fenster blieben aus Angst vor Räubern geschlossen. Millie hatte sich das einzige kühle Plätzchen gesucht, das sie finden konnte – und selbst das war verboten, weil sie sich außer zum Putzen niemals in der Nähe der Gästezimmer blicken lassen durfte.

»Da müssen wir uns was Besseres einfallen lassen, nicht?« Adelia winkte dem Mädchen, mit in ihre Kammer zu kommen, wo ein zusätzliches Reisebett stand und es ein weiteres offenes Fenster gab. Sie legte beide Hände an eine Wange, um Schlaf zu signalisieren, doch Millie rührte sich nicht vom Fleck, ihr Blick noch ängstlicher als zuvor. Das war verboten.

»Himmelherrgott!«, sagte Adelia gereizt. Sie ging zu ihrem Bett, grapschte ein Kissen und eine überflüssige Decke, trug beides hinaus auf den Flur und breitete es auf dem Boden aus. Selbst jetzt musste das Mädchen noch ermuntert werden, bis es sich endlich darauflegte.

Noch immer drangen Geräusche aus dem Hof herauf, als würde ein Tier blindlings herumtappen, aber als Adelia die Treppe hinunterwollte, hielt Millie sie am Arm fest und schüttelte heftig den Kopf.

»Ich soll nicht da runter?«, fragte Adelia sie. Was ging hier nachts im »Pilgrim Inn« Furchtbares vor? Vor welchem Anblick wollte dieses arme Geschöpf sie bewahren?

Was auch immer es war, es wäre auf jeden Fall besser, als zu dem quälenden Traum zurückzukehren. Adelia brachte ein, wie sie hoffte, beruhigendes Nicken zustande und ging die Treppe hinunter. Schließlich würden Räuber ja wohl kaum so einen Radau schlagen.

Unten kauerte Godwyn mit gespitzten Ohren neben der Tür des Gasthofes. »Wer ist da draußen?«, fragte Adelia ihn.

»Ich weiß nicht, Mistress, und ich will es auch gar nicht wissen.«

Sie hörten ein Blöken, als etwas von außen gegen die Tür schlug.

»Ein Schaf?«, sagte Godwyn. »Wie kommt denn ein Schaf hierher?«

Auf einmal wusste sie es. »Macht die Tür auf!«, sagte sie. »Es ist Rhys.«

Godwyn war nicht überzeugt, daher musste sie die Riegel selbst zurückschieben. Prompt wurde sie nach hinten gestoßen, als die Tür nach innen schwang, weil der Barde mit seinem ganzen Gewicht dagegenfiel.

»Oh Gott, er ist verletzt.« Wegelagerer hatten ihn auf der gefährlichen Straße überfallen, hatten auf ihn eingedroschen, eingestochen, und es war ihre Schuld – sie hätte ihn nicht dorthin schicken sollen.

Godwyn schnupperte an dem sich windenden Bündel zu seinen Füßen. »Der ist nicht verletzt, Mistress, der ist besoffen.«

Und tatsächlich. Dass er es überhaupt geschafft hatte, nach Hause zu torkeln, blindlings und von Räubern unbemerkt, war der Beweis, dass Betrunkene einen besonderen Schutzengel hatten.

Godwyn wurde zurück ins Bett geschickt, und in der nächsten Stunde drehte der Barde, gestützt von Adelia, auf wackeligen Beinen zahllose Runden um den Ziehbrunnen im Hof; zweimal stieß sie ihn zu einem Strohhaufen, wo er sich übergeben konnte, und schöpfte aus dem Brunneneimer becherweise Wasser, das sie ihm jedes Mal einflößte, wenn er den Mund öffnete und singen wollte.

Schließlich, als sie beide am Ende ihrer Kräfte waren, führte sie ihn in die Scheune und drückte ihn auf einen Heuballen, um ihm so viele Informationen zu entlocken, wie sie konnte.

Er wirkte überaus stolz darauf, überhaupt zurückgekommen zu sein. »Ich soll nicht zu spät kommen, habt Ihr gesagt«, erklärte er. »Das hab ich mir gemerkt. Also bin ich zurückgekommen, und da bin ich nun. Räuber, pah, ich spuck auf die. Vor denen hat Rhys ap Griffudd ap Owein ap Gwilym doch keine Angst! Ich bin geflogen, wie Hermes der Götterbote, Beschützer der Dichter.« Er war auch gekrochen. Die Knie seines Gewandes waren durchgescheuert und ebenso wie seine Hände voller Pferdemist – der unter allen Gerüchen, die Rhys verströmte, noch der erträglichste war.

Als es Adelia endlich gelang, aus seiner unzusammenhängenden Geschichte klug zu werden, stellte sich heraus, dass er seine Sache tatsächlich sehr gut gemacht hatte. Er hatte sich nicht nur in den Gesindesaal von Wolvercote Manor einschleichen können, sondern auch ins Herz der Tochter des Torwächters, die seinem rätselhaften Charme erlegen war und mit der er später eine ergötzliche und schwungvolle Stunde in einem Heuschober verbracht hatte. »Reizvolles Ding, Maggie, oh ja, sehr reizvoll, sehr liebevoll.«

»Aber hat sie Euch irgendwas erzählt?«

»Oh ja, allerdings.«

Was ihm die Tochter des Torwächters im Heuschober erzählt hatte, war, dass vor gut einem Monat eine Lady mit Gefolge spätabends vor dem Tor von Wolvercote Manor aufgetaucht war und Einlass verlangt hatte mit der Behauptung, Lady Wolvercote zu sein, die ihre Besitzung besuchen wolle.

»Aber der Torwächter kannte sie nicht, also rief er seine Lady Wolvercote zum Tor, und es entspann sich ein Streit, von dem Maggie aber nicht alles mitbekam, weil ihre Lady Wolvercote ihren Papa zum Herrenhaus schickte, um Waffenknechte zu holen, die der anderen Lady Wolvercote den Zugang verwehren sollten.«

»Emma war da, ich wusste es, ich wusste es. Aber wie ging es dann weiter?«

»Nun ja, das ist ein großes Rätsel. Maggie hat nämlich gesagt, ihr Papa wäre noch Tage später richtig beschämt gewesen wegen irgendwas, das passiert ist, als unsere arme Emma abgewiesen wurde.«

»Beschämt? Großer Gott, haben die Waffenknechte sie etwa getötet?«

»Nein, nein, das glaube ich nicht. Was hätten sie denn mit den Leichen machen sollen? Es gab nämlich keine Leichen in Wolvercote. Das hätte Maggie mitbekommen.«

»Aber irgendwas ist passiert. Also was?«

Rhys scharrte mit den Füßen. Er sank zusehends in sich zusammen. »Ja, also, wisst Ihr, da wurden Maggie und ich unterbrochen.«

Genauer gesagt, hatten sie just in dem Moment den Feldhüter von Wolvercote über die Wiese kommen sehen, auf der der Heuschober stand, und da nämlicher Feldhüter mit der hübschen Maggie verlobt war, hatte die junge Frau Rhys geraten, sich flugs zurückzuziehen – in doppelter Hinsicht. Was er auch getan hatte, um glücklicherweise ungesehen in die Gesindeküche zurückzukehren, wo er die Dienerschaft der verwitweten Lady Wolvercote erneut unterhielt, diesmal jedoch mit derberen Liedern. Sein dankbares Publikum ölte ihm die Kehle mit Krügen Ale aus den Kellern ihrer Ladyschaft, bis er schließlich vom Kämmerer ihrer Ladyschaft unsanft hinaus in die Nacht befördert wurde, einem Mann, der Musik nicht zu schätzen wusste, vor allem, wenn sie durch sein Schlafzimmerfenster drang und ihn aufweckte.

Rhys konnte sich nicht erinnern, wie er die sechs Meilen zurück bewältigt hatte, was wohl auch daran lag, dass die liebevolle und üppige Maggie ihm noch einen großen Krug Ale mit auf den Weg gegeben hatte.

»Und sonst habt Ihr nichts herausgefunden?«

Rhys schüttelte den Kopf.

»Verstehe.« Dann fragte Adelia: »Was ist mit dem Bäcker? Der Mann in der Küche? Habt Ihr mit dem reden können?«

»Der war nicht da. Ist ein Wanderhandwerker. War letztes Mal nur da, weil der Küchenbäcker krank war, versteht Ihr? Ansonsten zieht er mit seinem Brot von Markt zu Markt. Soll morgen auf dem Markt in Wells sein, sagt Maggie.«

»Heute«, entgegnete Adelia mit Nachdruck. »Heute wird er da sein. Es ist nach Mitternacht.«

Die großen Augen des Barden starrten sie an und flehten um Gnade. »Oh bitte, Mistress, habt Erbarmen, Ihr wollt doch wohl nicht …«

»Doch, ich will. Ihr werdet am Morgen in aller Frühe auf dem Markt in Wells singen und mit den Wanderbäckern reden.« Sie tätschelte seine Schulter. »Ich bin Euch wirklich dankbar, Master Rhys. Der König wird von Euren Leistungen hören.«

Falls das Lob dem Waliser neuen Schwung verleihen sollte, so schlug es fehl.

 

Als Mansur und Adelia sich am nächsten Tag mit Gyltha und Allie im Schlepptau – Polycarps Packung musste gewechselt werden – auf den Weg zur Abtei machten, brach ihnen schon nach nicht mal hundert Schritten der Schweiß aus.

Nach dem angenehmen Morgen brannte die Sonne schonungslos von einem Himmel, an dem kein Wölkchen zu sehen war, was die Angst vor einer Hitzewelle mit verdorrten Ernten und durstigem, sterbendem Vieh weckte und Adelia veranlasste, zum Gasthaus zurückzugehen, um die breitkrempigen Binsenhüte zu holen, die sie auf der Reise von Wales hierher für sich, Gyltha und Allie erstanden hatte.

Die einzige Möglichkeit, die ihnen jetzt noch blieb, um das Alter der Skelette zu bestimmen, war herauszufinden, wie alt der Sarg war, in dem man sie bestattet hatte, und Adelia fiel leider zu spät ein, dass sie Rhys noch eine Frage hätte stellen sollen. Die war ihr während des ansonsten selig traumlosen Schlafes gekommen, in den sie, wieder zurück im Bett, gesunken war. Doch beim Erwachen hatte sie sie vergessen, weil ihr andere Dinge durch den Kopf gingen.

Der Barde war bereits unter Ächzen und Klagen zum Markt in Wells aufgebrochen, aber vielleicht konnte ja Godwyn oder Hilda ihr eine Antwort geben.

Adelia steckte den Kopf in die Küche vom »Pilgrim Inn« und entschuldigte sich für die Störung. »Ich glaube, Master Rhys hat einmal erwähnt, dass es hier vor vielen Jahren ein Erdbeben gab, durch das auf dem Friedhof der Abtei ein tiefer Riss in der Erde entstand. Erinnert Ihr Euch vielleicht daran?«

Es war kein guter Zeitpunkt. Die Küche hatte noch die Hitze vom Vortag gespeichert, und obwohl die Fensterläden zum Schutz vor der Sonne geschlossen waren, hatten Fliegen einen Weg hereingefunden und sich auf den Schränken und den aufgehängten Fleischstücken niedergelassen.

Godwyn drehte sich nicht mal zu ihr um. Selbst in dem Dämmerlicht war zu erkennen, dass Hildas Gesicht gerötet war, als sie die Fliegenklatsche beiseitelegte und Adelia verärgert ansah. »Wie sollen wir das wissen? Wir waren damals noch gar nicht hier.«

»Richtig, stimmt. Wie dumm von mir. Äh, nicht nötig, ein Feuer zu machen. Wir essen heute Abend gern kalten Aufschnitt.«

»Den werdet Ihr auch bekommen«, sagte Hilda. Und bei den Temperaturen war ihr nachzusehen, dass sie es so bissig sagte.

Als Adelia wieder bei den anderen war und die Hüte verteilte, sagte sie zu Gyltha, dass sie auch Bruder Peter nach dem Erdspalt fragen könnten, falls sie ihn trafen.

»Wer wühlt denn in einem Friedhof herum?«, wollte Gyltha wissen.

»Es war ein tiefes Loch, Gyltha. Durch ein Erdbeben bewegt sich der Untergrund, sodass er aufreißt. Ich bin sicher, Rhys hat von einem Erdspalt gesprochen, als er uns und König Henry von der Vision seines Onkels Caradoc erzählte, zumindest glaube ich, dass ich sicher bin.«

Als sie das Abteigelände erreichten, sahen sie die Mönche aus der Küche des Abtes Richtung Kirchenruine gehen, um die Terz zu singen, die Hände unter ihrem Skapulier gefaltet.

Mansur und Adelia schlossen sich ihnen an, und Adelia trug dem Abt ihre Frage vor.

»Im Namen Gottes«, sagte Bruder Aelwyn wütend und wandte sich flehend an seinen Oberen, »werden wir jetzt sogar schon auf dem Weg zu den heiligen Offizien belästigt?«

»Antworte ihr, Aelwyn«, befahl ihm sein Abt.

Der Mönch wandte sich Adelia zu. »Ja, auf dem Friedhof hat sich ein Riss in der Erde aufgetan, na und?«

»Wie lange ist das her?«

»Das war vor zwanzig Jahren, am Tag nach dem Fest des heiligen Stephanus, um genau zu sein, aber was geht Euch das an, Mistress?«

»Klaffte der Riss zwischen den Pyramiden?«

»Ja.«

»Und wie tief war er?«

»Tief, tief, Weib. Wir haben ihn nicht extra ausgemessen, wir hatten anderes zu tun. Tief. Am nächsten Tag hat er sich jedenfalls wieder geschlossen.«

»Dann wart Ihr also damals schon hier?«, hakte Adelia nach.

Sie hatte Bruder Aelwyns kleinen Geduldsvorrat aufgebraucht, und nun antwortete statt seiner ein aufgeregter Bruder James. »Wir waren alle hier, nicht wahr, meine Brüder? Ach, nein, Abt, Ihr ja nicht, oder doch? Ihr seid erst später zu uns gekommen. Ich dachte, unser letztes Stündlein hätte geschlagen, Gott erbarme sich unser!« Tränen traten ihm in die Augen, als sein Blick über die verkohlten Hänge glitt. »Und jetzt hat es geschlagen.«

Abt Sigward legte einen Arm um James’ Schultern. »Mit der Gnade Gottes wird Glastonbury wieder auferstehen, mein Sohn. Lasst uns nun zum Gebet gehen!« Er nickte Adelia zu und führte seine Schäfchen dann zu der zerstörten Kirche.

Gyltha und Allie gingen den Hügel hinauf.

»Was hat es mit diesem Erdspalt auf sich?«, fragte Mansur.

»Das müssen wir erst noch herausfinden«, sagte Adelia.

Sie schob ihn in die Hütte und zeigte auf den Sarg zwischen den beiden Katafalken. »Sieh dir das an! Er ist noch immer in ziemlich gutem Zustand, aber sie mussten sechzehn Fuß tief graben, um ihn zu finden, was bedeutet, dass er sehr alt sein muss, so alt wie alles andere in der Grube. Aber er ist nicht zerfallen. Du hast gesagt, dass da unten noch andere Särge sind, und ich möchte den hier mit denen vergleichen. Ich denke, der Zustand des Holzes ermöglicht uns eine grobe, sehr grobe zeitliche Einordnung.«

»Und wenn sich herausstellt, dass der hier jünger ist als die anderen?«

Adelia grinste ihn an. »Dann kann er nur sechzehn Fuß tief in die Erde gelassen worden sein, als dieser Erdspalt sich auftat, vor zwanzig Jahren.«

»Und damit wäre er nicht der von Arthur.«

»Genau.«

Mansur saugte Luft durch die Zähne ein. »Das wird den Mönchen nicht gefallen – ebenso wenig wie dem König.«

Und urplötzlich wollte Adelia nicht mehr herausfinden, wie alt dieser Sarg war, um diesen armen Knochen nicht die Ehre verweigern zu müssen, Arthurs und Guineveres Namen zu tragen.

Das Ganze war nicht einfach nur eine Frage der Wahrheitsfindung, es war überlebensgroß geworden, es erdrückte sie. Die Zukunft einer prächtigen Abtei, die frommen Männer, die da draußen sangen, der Wiederaufbau einer ganzen Stadt, das Wohl des Gasthauses, der Traum so vieler Menschen – all diese Erwartungen waren mit ihrer Entscheidung verknüpft.

Oh Gott, bürde mir das nicht auf! Ich will nicht die Scharfrichterin der Hoffnung sein.

Aber sie war Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar, eine Medica der Medizinschule von Salerno, und wenn sie keine Wahrheitssucherin war, dann war sie gar nichts.

Zähneknirschend sagte sie: »Fangen wir an!«

Es hatte keinen Sinn, ein Stück vom Sarg abzusägen, solange sie kein Holz hatte, womit sie es vergleichen konnte. Sie verließen die Hütte und gingen geduckt hinter den Trümmern der Kirche vorbei, hinter denen die Mönche dort, wo einmal der Chor gewesen war, gerade Psalm 119 sangen.

Meine Seele verfließt vor Gram; stärke mich nach Deinem Wort.

Halte fern von mir den Weg der Lüge und gib mir in Gnaden Dein Gesetz.

Adelia konnte sie nicht sehen.

Der große Teil der Mauer, der zwischen der Kirche und dem Friedhof erhalten geblieben war, dämpfte die Stimmen der Mönche, die bald durch das Summen von Bienen übertönt wurden. Die beiden Pyramiden und der Haufen ausgehobener Erde zwischen ihnen kamen ihr jetzt weniger befremdend vor, vielleicht weil sie sie schon einmal gesehen hatte.

Mansur begann, ein Seil abzuwickeln, das er verborgen unter seinem Gewand um die Taille getragen hatte. »Ich habe diesen Godwyn darum gebeten«, sagte er. »Ich fürchte nämlich, die Stufen hinunter in die Grube könnten bröckeln.«

Adelia lächelte ihn an. Er hatte es mitgebracht, weil er wusste, dass sie diesmal darauf bestehen würde, mit ihm zusammen in das Loch zu steigen.

Gyltha und Allie kamen wieder den Hang herab. »Viel zu heiß«, sagte Gyltha. »Ich bring Madam zurück nach Hause, ehe sie verbrutzelt.«

»Wie geht’s Polycarp?«, erkundigte Adelia sich bei Allie.

Die Wangen ihrer Tochter waren hochrot, vor Hitze und vor Freude. »Besser. Sogar Bruder Peter hat gesagt, es geht ihm anscheinend besser, obwohl er das nicht gern zugegeben hat, nicht, Gyltha? Er ist ziemlich grob, aber er mag Polycarp.«

»Und ich hab den elenden Sauhu…«, begann Gyltha, dann setzte sie mit Rücksicht auf Allie noch mal neu an: »Ich hab ihn nach dem Erdspalt gefragt. Er war damals noch ein Junge, aber er schätzt, das Loch war sechzehn, siebzehn Fuß tief, ehe es wieder zuging.«

Sie schaute argwöhnisch zu Mansur hinüber, der dabei war, das Seil um eine der Pyramiden zu binden, und blickte dann auf den Erdhaufen, der einen Schatten auf die benachbarte Grube warf. »Ihr zwei denkt doch wohl hoffentlich nicht daran, runter in dieses verdammte Riesenloch zu klettern. So Löcher sind was Böses. Da kommen nämlich Dämonen raus.«

»Ach, geht nach Hause! Mansur passt schon auf, dass uns nichts zustößt.« Liebevoll sah Adelia den beiden nach, die eine groß, die andere klein, wie zwei ungleiche wandelnde Pilze mit ihren weiten Hüten.

Mansur warf das lose Ende des Seils in die Grube, aber selbst jetzt noch wollte er, dass sie oben blieb. »Es ist nicht angenehm da unten.«

»Du hast es geschafft, also schaff ich es auch.« Sie wollte sich selbst dort unten umsehen, und nachdem er hinabgestiegen war, folgte sie ihm.

Die Treppe in der Seitenwand begann tatsächlich zu bröckeln, aber sie war gekonnt angelegt worden, und solange sie rückwärts hinunterstieg und sich am Seil festhielt, immer erst mit dem einen Fuß und dann mit dem anderen die nächste Stufe ertastend, hielt sie ihr Gewicht gut aus.

Der aufgehäufte Aushub über ihnen verschluckte das meiste Licht. Der Geruch nach Erdreich wurde von einem weniger angenehmen überlagert. Knochenstücke ragten weißgrau aus den Grubenwänden; Holz war als braune Flecken erkennbar. Sie stieg durch Jahrhunderte in die Vergangenheit hinab, passierte die Ebene, in der die sterblichen Überreste der großen Äbte von Glastonbury ruhten. Tiefer, tiefer, vorbei an den Knochen von Männern, die dem gestrengen heiligen Dunstan gedient hatten. Noch eine Schicht, und sie hatte die Ruhestätten der Mönche erreicht, die den Invasionen der Wikinger widerstanden und das Wissen der Christenheit vor ihren Raubzügen bewahrt hatten.

Dort fanden sie durch Gottes Führung eine alte Kirche, von der gesagt ward, dass Christi Jünger Hände sie erbaut und Gott selbst sie zur Erlösung der Sünden bereitet hatte, und der himmlische Bauherr höchstselbst zeigte ihre Weihe durch mannigfache wundersame Taten und mannigfache Wunderheilungen.

Das hatte der Historiker William von Malmesbury niedergeschrieben.

Und jetzt, da Adelias Füße den Boden der Grube berührten, wer konnte da sagen, ob sie nicht vielleicht im Grab eines dieser frühen Nachfolger stand, zu denen auch Josef von Arimathäa gehörte, dessen Hände Jesu Leib vom Kreuz genommen hatten.

Sie fröstelte.

Mansurs Stimme drang durch das Halbdunkel. »Kannst du irgendwas von einem Sarg sehen?«

Sie standen mit dem Rücken zueinander, weit genug entfernt, um sich nicht zu berühren, doch der Duft der Kräuter, mit denen der Araber seine Gewänder aufbewahrte, hob den üblen Geruch auf, der sie beide umgab, und sie war froh, dass Mansur da war.

»Ich glaube ja«, sagte sie. Das Licht reichte gerade eben aus, um einen leichten Farbunterschied in der dunklen Erde vor ihr zu erkennen. Sie hob die Hand und ertastete einen kleinen Vorsprung, der etwas härter war als das Erdreich ringsherum, doch als sie daran zog, löste sich nur ein kleines Stück von einem größeren Teil, mit dem es verbunden gewesen war. »Kannst du noch mehr sehen? Es wäre gut, wenn wir mehr als nur ein Stück hätten.«

Himmel, es war fürchterlich hier unten.

Um sich damit zu trösten, dass über ihnen noch immer frische Luft und Leben war, blickte sie nach oben – und sah, wie das Tageslicht plötzlich ausgelöscht wurde, weil Erdmassen in die Grube gestürzt kamen, um sie zu begraben.