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Kapitel neun

Adelia versuchte, in die Hand zu beißen, doch deren Besitzer ließ sich dadurch nicht beirren, während er sie auf einen sattellosen Pferderücken hob und hinter ihr aufstieg.

»Hört mit dem Gezappel auf, verflixt noch mal!«, sagte er. Vergeblich trat sie mit ihren nackten Füßen um sich. »Wir tun Euch schon nix.«

Das beruhigte sie nicht – es war keine beruhigende Stimme, und ihr Besitzer hielt sie zu fest umklammert –, aber nach einer Weile gab sie die Gegenwehr auf. Zum einen schmerzte ihr gezerrter Rücken, zum anderen war es sinnlos. Sie spürte, dass sie zu mehreren waren, wer auch immer sie sein mochten. Die unbeschlagenen Hufe der Reittiere waren nicht laut, aber das Getrappel ließ auf etliche Pferde schließen.

Vergewaltigung? Das war die größte und unmittelbarste Angst. Hatten sie sie dafür ausgesucht? Oder wären sie einfach in das Gasthaus gestürmt und hätten jede Frau mitgenommen, die sie gefunden hätten?

Wo auch immer sie hinwollten, es ging bergauf. Die Steigung drückte sie nach hinten gegen den streng riechenden Mantel ihres Entführers. Und es war alles ruhig, bis auf den Gesang von Nachtigallen und den vereinzelten Ruf einer Eule.

Die können alles mit mir machen. Gott steh mir bei. Wie soll Allie ohne mich zurechtkommen?

War Emma und den anderen das Gleiche widerfahren? Mansur? Es war sogar noch beängstigender, dass der Mann seine Hand von ihrem Mund nahm – er wusste, dass keine Hilfe kommen würde, selbst wenn sie schrie.

Sie versuchte, die Ruhe zu bewahren: »Warum macht ihr das?«

»Ihr sprecht doch das Gebrabbel von dem Braunkopf, oder? Wir verstehen kein Wort, was er sagt.«

Mansur. Die brachten sie zu Mansur, der so tat, als spräche er kein Englisch. Er musste in einer verzweifelten Lage sein, sonst hätte er versucht, die Männer daran zu hindern, sie zu holen. Immerhin bedeutete das, dass sie ihre Dienste wollten und nicht ihren Körper.

Adelias Herzschlag verlangsamte sich ein wenig. »Was wollt ihr?«

»Werdet Ihr schon sehen.«

»Nicht mit dieser verdammten Augenbinde. Nimm sie runter!«

»Ganz schön frech, was?« Wieder ertönte Gelächter, doch mit einem weiteren Ruck an ihren Haaren wurde der Knoten gelöst.

Mondlicht beschien Bäume und Unterholz, und als sie sich umschaute, sah sie einen steilen Hang, der sich in ein Tal und ins Marschland hinabsenkte. Sie konnte nicht sagen, auf welchem der Hügel rund um Glastonbury sie sich befanden. »Wo sind wir?«

»Tut nix zur Sache.«

Wo immer sie waren, sie hatten ihr Ziel erreicht. Sie wurde von einem, wie sie jetzt sah, Esel heruntergehoben – sie ritten alle auf Eseln, fünf Männer, die so zottelig aussahen und unangenehm rochen wie die Reittiere, die sie nun anpflockten.

Jemand zündete eine Laterne an. Adelia bekam einen Stoß und stolperte über unwegsamen Boden, bis sie im Licht der Laterne erkannte, dass sie vor einem Felsen standen, der fast wie ein in den Berg eingelassenes Erkerfenster wirkte, von oben durch die tief hängenden Zweige einer Erle verdeckt, die von einer rieselnden Quelle gespeist wurde – ein idyllisches Plätzchen, dessen Liebreiz jedoch von einem Geruch beeinträchtigt wurde, den Adelia nur allzu gut kannte.

Die Zweige wurden beiseitegeschoben. Im Eingang zu einer Höhle saßen drei Männer: Mansur, den ein Wächter mit einem Messer in Schach hielt – und Rhys der Barde.

Adelia hatte vergessen, dass Rhys nicht zum Gasthaus zurückgekommen war. Bei all der Aufregung hatte sie sogar vergessen, dass es ihn überhaupt gab. Sie hatte nur Augen für den Araber, und sie fiel förmlich auf ihn und plapperte auf Arabisch los. »Geht es dir gut? Haben sie dich verletzt? Wir waren völlig verzweifelt …«

Er war wütend, aber nicht auf seine Entführer. Er deutete auf Rhys. »Dieser Sohn einer Hure und eines Kamelhengstes. Ich hab mir nicht anmerken lassen, dass ich sie verstehe. Ich konnte nicht ahnen, dass er ihnen verraten würde, wo sie dich finden. Möge Schaitan seinen Schädel als Nachttopf benutzen …«

Noch nie hatte Adelia Mansur dermaßen fluchen gehört, obwohl sie froh darüber war, dass er überhaupt die Kraft dazu hatte. Im Vergleich zu ihm war der Verräter Rhys übler dran, arg ramponiert und den Tränen nahe. »Die haben mir meine Harfe weggenommen«, sagte er. »Sagt ihnen, sie sollen mir meine Harfe wiedergeben!«

Es war, als würde er um eine verlorene Gliedmaße flehen, und Adelia antwortete spontan: »Das werde ich«, obwohl ihre Aufmerksamkeit Mansur galt. »Bist du verletzt?«

»Ich bin wohlauf. Es sind unwissende Fellachen, aber ich glaube, sie führen nichts Übles im Schilde.«

»Was wollen sie denn von uns?«

Einer der Männer war zwischen sie getreten. »Hört mit dem Gebrabbel auf.« Ein schmutziger Finger wurde auf Mansur gerichtet. »Der is doch ein Merlin, nich? Ein Zauberer? Spricht mit den Toten, oder? Und die auch mit ihm?«

»Äh, in gewissen Grenzen«, antwortete Adelia vorsichtig.

»Dann sagt ihm, er soll mit dem hier reden!« Der Mann ging an ihnen vorbei tiefer in die Höhle und zog eine Schutzwand aus Weidenruten beiseite, die den Blick ins Innere versperrt hatte.

Der Verwesungsgestank verstärkte sich. Die Lampe wurde höher gehalten, damit sie sehen konnte, was dort lag. Es war eine verwesende Leiche.

»Er soll damit reden?«

»Genau. Fragt ihn, wo er gesteckt hat, was er getrieben hat, bevor er tot war.«

Großer Gott, hatten sie Mansur deshalb entführt? Weil sie seinen Ruf falsch gedeutet hatten? Glaubten diese Männer ernsthaft, dass er, dass überhaupt jemand mit einem Leichnam reden konnte?

Voller Staunen über die unendliche Leichtgläubigkeit der Unwissenden hob Adelia den Kopf und starrte den Mann an. Erstes Morgenlicht fiel auf ein Gesicht, von dem das Lampenlicht bislang nur Schatten gezeigt hatte. Sie erkannte es.

»Du bist der Bäcker«, sagte sie. »Du warst in Wolvercote Manor.« Sie sprang hastig auf. »Emma. Die Lady, die dorthin wollte. Meine Freundin. Du weißt, was mit ihr passiert ist. Ich hab dir angesehen, dass du es weißt.«

Allmählich kristallisierte sich ein Zusammenhang zwischen den Ereignissen heraus. Rhys hatte den Mann gefunden, mit ihm geredet und dabei anscheinend mehr Informationen preisgegeben, als er gewonnen hatte.

»Kann Euch doch egal sein, wer ich bin. Sagt dem verdammten Zauberer, er soll endlich anfangen!«

»Erzähl mir von Lady Emma. Was ist mit ihr passiert?«

»Er zuerst.« Der Bäcker deutete mit einem Nicken auf das Ding in der Höhle. »Dann red ich vielleicht auch.«

Damit hatte der Mann zumindest zugegeben, dass er etwas wusste. Sie fragte: »Was wollt ihr wissen?«

»Was mit ihm passiert ist. Woran der arme Hund gestorben ist. Weil wir nämlich nich glauben, dass er das gemacht hat, was die sagen.«

»Was soll er denn gemacht haben?«

Der Bäcker schwang sein Messer in ihre Richtung. »Jetzt fragt ihn endlich, zum Donnerwetter! Sonst verarbeite ich euch alle drei zu Hackfleisch.«

»Was denn fragen?«

Aber Mansur hatte keine Zeit vertan. Unter dem Anschein, kein Englisch zu verstehen, hatte er die Gespräche seiner Entführer belauscht und so einiges herausgefunden. Auf Arabisch sagte er: »Der Tote ist dieser Eustace, der das Feuer in der Abtei gelegt haben soll.«

»Und was haben die mit ihm zu tun?«, fragte Adelia in derselben Sprache.

»Die werden für sein Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Vier von ihnen sind schon im Kerker und warten auf das nächste Assisengericht in Wells. Die anderen rechnen damit, dass sie jeden Moment verhaftet und wegen Brandstiftung angeklagt werden. Die gehören zu Eustace’ …« Mansur stockte, ehe er das nächste Wort auf Englisch sagte, weil es dafür keine arabische Entsprechung gab: »Zehnschaft.«

Der Bäcker war verblüfft, als er das Wort hörte. »Ha, woher weiß der braune Bursche denn von unserer Zehnschaft?«

»Ach, halt den Mund!«, sagte Adelia ärgerlich. Der Mann ging ihr allmählich auf die Nerven. »Ich vermute, Eustace hat ihm davon erzählt.«

In den Augen der Männer um sie herum glomm neuer Respekt auf. »Der is richtig gut, was?«, sagte einer von ihnen.

Zehnschaft. Ein Bestandteil des englischen Rechtssystems, mit dem die Ordnung aufrechterhalten werden sollte und das für Adelia bei ihrer Ankunft in diesem Land völlig neu gewesen war. Sinn und Zweck dieser Einrichtung war es, geltendes Recht durchzusetzen und das gemeine Volk – Klerus und Adel waren davon ausgenommen – im Zaum zu halten, indem jeder Mann über zwölf Jahre in eine solche Zehnschaft eingegliedert wurde und jeder von ihnen für jedwede Gesetzesübertretung geradestehen musste, die einer von ihnen begangen hatte.

Angehörige von Zehnschaften mussten in regelmäßigen Abständen überall im Land vor Gericht mit einem Eid bekräftigen, dass sie jeden ihrer neun Gefährten, der eine Straftat begangen hatte, seiner gerechten Strafe zuführen würden, dass sie für das Verhalten der anderen ebenso verantwortlich waren wie für ihr eigenes und dass sie jeden Übeltäter verfolgen würden, falls er nach vollbrachter Tat die Flucht ergriff. Die Strafe wurde je nach Schwere des Vergehens festgesetzt.

Dieses alte Gesetz wurzelte tief im angelsächsischen Brauchtum, und Adelia, die schon erlebt hatte, dass Unschuldige ihr Zuhause verloren, weil ein Mann aus ihrer Zehnschaft ein Verbrechen begangen hatte, hielt es für ungerecht. Das hatte sie auch Prior Geoffrey gesagt, doch der hatte bloß die Achseln gezuckt. »Im Großen und Ganzen ist es nutzbringend«, hatte er gesagt.

Offensichtlich erfüllte es auch hier seinen Zweck. Die fünf Männer – neun, wenn man die vier mitzählte, die bereits im Kerker saßen – waren vor dem Gesetz für den Leichnam in der Höhle mitverantwortlich. Falls sie nicht beweisen konnten, dass er keine Schuld an der Zerstörung der größten Abtei Englands trug, war ihre Strafe nicht auszudenken.

Dass sie zur Erreichung dieses löblichen Ziels Menschenraub begangen hatten, also eine Straftat, schien ihnen gar nicht in den Sinn gekommen zu sein.

»Wieso haltet ihr euren Freund nicht für den Brandstifter?«, fragte sie.

Der Bäcker schien zu denken, dass auch diese Frage von dem seligen Master Eustace geklärt werden könnte. Doch ein jüngerer Mann, der sich damit abgelenkt hatte, mit einer Hand unter der Tunika nervös seine Hoden zu kratzen, antwortete für ihn. »Weil der Nichtsnutz nie eine Laterne mit in die Abtei genommen hat, wenn er was zu trinken brauchte. Der war wie ein Fuchs, konnte im Dunkeln sehen.«

»Stimmt genau«, sagte ein anderer, der noch jünger war. »Kann sein, dass er hier und da mal was geklaut hat, vielleicht mal ’nen Schluck Wein …«

Der Bäcker schlug ihn. »Alf, du blöder Trottel, erzähl ihr doch so was nich!«

»Aber er hätte nie und nimmer Feuer gelegt«, beteuerte Alf.

»Diese Kerle sind nicht rechtschaffen«, sagte Mansur zu Adelia. »Ich hab ihnen zugehört. Kleine Gauner, Wilderer, alle miteinander, denen bislang noch keiner auf die Schliche gekommen ist. Die Höhle hier ist ihr Zufluchtsort, wenn es brenzlig wird. Anscheinend haben sie diesen Eustace gemocht, ihm Essen hierhergebracht und über seine Klauerei hinweggesehen, solange der Sheriff nichts davon erfuhr. Jetzt, wo ihm Brandstiftung zur Last gelegt wird, haben sie Angst davor, was mit ihnen passieren wird.«

»Also keine Verbrecher«, sagte Adelia. »Nur Verzweifelte.«

»Ja, aber verzweifelte Männer sind gefährliche Männer. Wir müssen vorsichtig sein.«

»Wie denn? Wie sollen wir das eine oder das andere beweisen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich auch nicht. Er sieht aus, als wäre er schon eine ganze Weile tot.«

»Über einen Monat. Die haben ihn hier ein oder zwei Tage nach dem Brand tot aufgefunden. Sie wussten nicht, was sie machen sollten. Dann hörten sie, dass bald ein Zauberer eintreffen würde, der versteht, was Knochen erzählen.«

»Du.«

»Ich. Sie haben auf mich gewartet. Der Körper ist verwest.«

»Na, was denn auch sonst?« In der sommerlichen Hitze musste die Verwesung rasch vorangeschritten sein. Die geflochtene Schutzwand, die hungrige Tiere abgehalten hatte, war für Fliegen kein Hindernis gewesen.

»Wollt ihr zwei den ganzen Tag lang rumbrabbeln?« Vor lauter Ungeduld schwang der Bäcker schon wieder sein Messer. »Ich stech euch ab, das schwör ich, ich reiß euch die Gedärme raus. Los, geht endlich da rein und sprecht mit dem armen Hund! Und du« – er wandte sich Rhys zu, dessen unaufhörliches Gejammer die Klangkulisse zu dem ganzen Wortwechsel gebildet hatte –, »hör endlich mit deiner Scheißharfe auf!«

Mansur und Adelia bückten sich und traten in die Höhle, die schön gewesen wäre ohne ihren Inhalt und den Gestank, der von der Erde darunter aufstieg, wo Verwesungssäfte versickert waren. Die aufgehende Sonne schien genau hinein – aha, dachte Adelia, wo auch immer wir sind, wir blicken direkt nach Osten – und erhellte das zarte Grün von Farnen, die auf Felsen wuchsen, ließ das kleine Wasserrinnsal glitzern, das vom Höhlendach tropfte und in einer Rinne nach draußen floss, wo es sich mit dem größeren Bach vereinte.

Höhlen wie diese waren typisch für die eigenartige Landschaft rund um Glastonbury. Die Abtei nahm sogar Geld von kranken Pilgern, die sich Heilung davon versprachen, das Wasser von angeblich heiligen Quellen zu trinken. Adelia hatte gehofft, eine davon besuchen zu können, wenn sie die Zeit dazu fand, um die Eigenschaften des heiligen Wassers zu überprüfen. Dieser versteckte Ort hier zählte jedoch nicht zu den geweihten Quellen – und der Augenblick war wahrlich nicht günstig.

Sie und Mansur knieten zu beiden Seiten des Patienten nieder, sahen sich einen Moment in die Augen und neigten dann den Kopf, um ihre Gebete zu sprechen. Was auch immer dieser Mann getan hatte, er hatte mit einem einsamen Tod dafür bezahlt.

»Geht da weg!«, befahl Adelia den Männern, die sich am Eingang drängten. »Der Doktor braucht mehr Licht. Bringt welches!«

Die Laterne wurde nach innen gereicht, und neugierige Köpfe schoben sich in den Höhleneingang, während die Körper folgsam draußen blieben.

Der Leichnam war noch bekleidet, wenn man blutige Lumpen als Kleidung gelten ließ. Die einzige nennenswerte Habe des Toten war eine kurze leere Scheide an einem Strick, der als Gürtel diente. Das dazugehörige Messer lag ein kleines Stück von der linken Hand entfernt. Die rechte Hand war in Blätter und Moos eingewickelt und befand sich in einem widerwärtigen Zustand.

Ein Murren ertönte vom Höhleneingang, als Mansur anfing, die Leiche zu entkleiden.

Adelia machte dem barsch ein Ende. »Seid still! Wollt ihr nun, dass der Doktor seine Arbeit tut oder nicht?« Sie interessierte sich jetzt nur noch für den Kadaver vor ihr, wehe demjenigen, der versuchte, ihre Konzentration zu stören.

Die Knochen hatten sich voneinander gelöst, und Mansur hob den Schädel hoch, sodass sie die Vorder- und Rückseite untersuchen konnten. Er wies keine Verletzung auf, anders als die Köpfe aus dem Sarg, der für Adelia noch immer Arthurs und Guineveres Sarg war.

Sie ließen den Körperteil mit der offensichtlichsten Verletzung – die rechte Hand – erst einmal außer Acht und suchten nach anderen Verwundungen.

Kiefer, Hals, Schulterblätter, Brustkorb, Rückgrat, Becken – alles unversehrt.

Oberschenkelknochen … »Hmm.« Adelia hob den Kopf. »Hat er gehinkt?« Die linke Kniescheibe wies eine alte Fraktur auf.

Im Eingang regte sich Begeisterung. »Is als kleiner Knirps mal vom Dach gefallen, danach hat er nie mehr richtig laufen gekonnt. Der erzählt Euch schon Sachen, was?«

Das musste aufhören. »Jetzt hört mir mal gut zu«, sagte Adelia. »Euer Eustace spricht nicht mit Master Mansur. Seine Seele ist dahin entschwunden, wo sie hinsollte. Der Doktor kann nur das lesen, was die Knochen ihm zeigen.«

»Ach so, lesen. Dann is das gar keine Zauberei?«

»Nein.«

Der Hodenkratzer sagte bewundernd: »Aber trotzdem, lesen …« Das war eine Fähigkeit, über die keiner von ihnen verfügte, und trotz ihrer Enttäuschung hielten sie diese Tätigkeit für erstaunlich.

Wadenbein, Schienbein.

Jetzt sahen sie sich die Arme an: Oberarmknochen, Speiche, Elle. Schließlich packten sie die Hand aus.

»Wie hat er seine Finger verloren?«, fragte Adelia.

Ein Chor der Überraschung antwortete ihr vom Eingang.

»Da weiß ich nichts von.«

»Welche Finger?«

»Als ich ihn das letzte Mal gesehen hab, hatte er noch alle.«

Sie machten Anstalten, in die Höhle zu drängen und nach den fehlenden Fingern zu suchen, als ob Eustace sie schlichtweg verlegt hätte und sie sie vielleicht irgendwo finden könnten.

»Zurück«, fauchte Adelia. »Wer von euch hat ihn zuletzt gesehen?«

»Das bin wohl ich«, sagte Alf. »Hab ihm ein Stück Wildfleisch zum Abendessen gebracht …«

Der Bäcker ohrfeigte ihn erneut. »Willst du uns die verdammten Forstwächter auf den Hals hetzen?«

Adelia war beunruhigt. Sie erfuhr viel zu viel von diesen Männern, und es wurde immer unwahrscheinlicher, dass sie Mansur und sie mit ihrem Wissen laufen lassen würden. Sie hatten Eustace Wildfleisch gebracht, aber sie hatten bestimmt nicht die Erlaubnis gehabt, den Hirsch zu töten, aus dem es herausgeschnitten worden war. Für jagdversessene Könige und Adelige war das Wildern von Rotwild so ziemlich das verwerflichste Verbrechen auf Gottes weiter Erde, und die Forstwächter, die Hüter ihrer Jagdreviere, konnten Gericht halten und einen Wilderer dazu verurteilen, dass ihm die Gliedmaßen abgeschnitten und zwischen den Bäumen des Forstes aufgehängt wurden, in dem er gewildert hatte.

»… und da hat er noch alle Finger gehabt«, sprach Alf trotzig weiter. »In der Nacht vor dem Feuer war das. Was hat er denn bloß mit ihnen angestellt?«

»Mmm.«

Mansur sagte leise auf Arabisch zu Adelia: »Hast du gesehen, was da hinten in der Höhle ist?« Er hielt die Laterne so, dass das Licht tief ins Innere reichte, wo es nicht auf eine Felswand fiel, sondern auf eine leicht konvexe Mauer aus dicht zusammengefügten Steinen.

Adelia spürte, wie ihr leicht übel wurde, als sie sich an eine ähnliche Mauer in Cambridge erinnerte, hinter der eine Sünderin lebendig eingeschlossen worden war, weil die Kirche es für angebracht gehalten hatte, die Frau zur Strafe einzumauern.

Schrill rief sie: »Was ist hinter den Steinen da hinten … möchte Master Mansur gern wissen.«

»Da habt Ihr Euch nicht drum zu kümmern«, rief der Bäcker zurück. »Geht Euch nix an.«

Aber die Stimme von Alf, Gott segne ihn, sagte: »Eustace’ Dad hat die Mauer nach dem Erdbeben wieder neu gebaut, stimmt doch, Will, oder? Die hält den Dämon drin.«

»Dämon?«

»Dahinter steckt ein fieser Dämon. Ist schreiend auf Eustace’ Dad losgegangen, als die Mauer beim Erdbeben eingestürzt ist, und Eustace’ Dad musste ihn wieder einsperren. Danach war er nich mehr derselbe, Eustace’ Dad, mein ich.«

»Davor war er auch schon nich ganz dicht«, meldete die Stimme des Hodenkratzers düster.

Mansur und Adelia wechselten Blicke. Schon wieder das Erdbeben. An jenem Tag vor zwanzig Jahren hatte es rings um Glastonbury nicht nur seismische Aktivitäten gegeben, sondern noch sehr viele andere.

Der Bäcker schrie sie an, sie sollten endlich voranmachen, daher konnten sie im Augenblick nichts tun, um herauszufinden, was sich hinter der Mauer verbarg, aber Adelia nahm sich vor, wiederzukommen und der Sache auf den Grund zu gehen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Möglicherweise hatte es damit nichts auf sich. Aber vielleicht ja doch.

Jetzt aber hatte sie anderes zu tun. Auf ein Nicken von ihr hin nahm Mansur die Überreste von Eustace’ rechter Hand und trug sie nach draußen ins Freie, wo beide sie im Licht der Morgendämmerung, die einen weiteren heißen Tag verhieß, untersuchen konnten.

»Hmm.«

Das war eigenartig. Die ersten Glieder der mittleren Finger waren durchtrennt worden, sodass die oberen Glieder fehlten. Daumen und kleiner Finger waren unversehrt, wie zwei Bäume, die über die Stümpfe der anderen drei wachten, die gefällt worden waren.

War denn an jedem Leichnam in Glastonbury herumgehackt worden?

»Ein Schwertkampf?«, fragte Mansur.

»Mmm. Ich würde meinen, ein Schwert hätte, lang wie es ist, alle Finger abgetrennt. Es ist fast … Ich weiß nicht … Es ist fast, als hätte er die drei mittleren Finger hingehalten, damit sie abgeschlagen werden, und Daumen und kleinen Finger so weggebogen, dass die Klinge sie nicht trifft.«

Sie dachte nach. »Sprich du weiter!« Sie mussten unbedingt die Illusion aufrechterhalten, dass Mansur der führende Kopf war. Er beeindruckte diese Männer – sie nicht. Außerdem, sollten sie beide tatsächlich mit dem Leben davonkommen, wollte sie nicht, dass sich das Gerücht verbreitete, in Glastonbury treibe eine Hexe ihr Unwesen.

»Kannst du erkennen, was mit dem Mann passiert ist?«, fragte Mansur. »Denn wenn nicht … Sie haben uns schon zu viel verraten.«

»Ich weiß.« Sie wechselte ins Englische. »Der Doktor wünscht, Eustace’ Messer zu sehen.«

Die Männer überschlugen sich fast vor lauter Eifer, es ihm zu bringen. »Richtig schön scharf ist das«, sagte einer von ihnen. »Da hat unser Nichtsnutz immer dran rumgeschliffen.«

Sie reichten es Mansur, der es, während er weiterredete, so hielt, dass auch Adelia es sehen konnte. Die Klinge war scharf, keine Frage, aber in der Mitte war eine Scharte.

»Wann ist das passiert?«, fragte sie.

Alf öffnete den Mund und fing sich die nächste Ohrfeige von dem Bäcker ein – anscheinend war Eustace’ Messer bei irgendeiner ruchlosen Tat beschädigt worden. »Ist ein Jahr her«, erklärte der Bäcker, »da habt Ihr Euch nicht drum zu kümmern.«

Mit zusammengekniffenen Augen beugte Adelia sich tief über die Fingerstümpfe der Hand, froh, dass auch Mansur so tat, als untersuchte er sie. Sie bemerkte einen v-förmigen Splitter am Ansatz des zweiten Mittelfingerglieds, wo der Knochen nicht gänzlich durchtrennt, sondern offenbar von irgendetwas losgerissen worden war, das ihn festhielt. Gott, wie furchtbar. Der Schmerz …

»Ich denke, er hat das selbst getan«, sagte sie auf Arabisch. »Ich denke, Eustace hat sein Messer benutzt, um sich die eigenen Finger abzuschneiden.«

»Warum?«

Sie schloss die Augen und stellte sich im Geist eine ausgestreckte Hand vor, dann öffnete sie sie wieder und sah sich noch einmal eingehend die erhaltenen Knochen des kleinen Fingers an. Ja, an einer Seite war er über die gesamte Länge abgeschürft.

Mansur redete unentwegt weiter.

»Der Doktor wünscht zu wissen, wie Eustace über die Abteimauer gelangte, wenn er stehlen wollte«, sagte Adelia auf Englisch. »Die war doch vermutlich recht hoch. Ist er rübergeklettert?«

Der Bäcker polterte: »Wer sagt denn, dass er gestohlen hat?«

Aber Alf, der rettungslos wahrheitsliebende Alf, den die Lesefähigkeiten des Arabers inzwischen gänzlich in Bann geschlagen hatten, sagte: »Mit dem Bein? Der konnte kein bisschen klettern, unser Nichtsnutz. Der hat sich drunter durchgegraben, jawohl, wie ein verdammtes Kaninchen.«

Der Hodenkratzer fiel mit ein. »Mann, was hat der alte Bruder Christopher die Kaninchen gehasst. Die haben seinen Kopfsalat gefressen. Oh Mann, hat der die Karnickel gehasst, der alte Bruder Chris, aber eigentlich hat er ja alles gehasst. Der hat für so ziemlich alles Fallen gestellt – Füchse, Maulwürfe, Vögel … Nichtsnutz hat immer über die ganzen Fallen gemeckert. Die haben ihn gestört. Aber er hat gewusst, wo sie waren. Unser Nichtsnutz hat sich von keiner erwischen lassen.«

Adelia nickte. Kaninchen waren in England noch vergleichsweise neu. Die normannischen Herren hatten sie wegen ihres Fells und Fleisches ins Land gebracht, doch dann waren sie aus den Gehegen ausgebrochen, in denen sie gehalten wurden, und hatten sich rasch allerorts zu einer Plage für Gärtner entwickelt.

Und sie hatte noch etwas erfahren. Die Männer hier kannten sich gut aus mit den Abläufen in der Abtei und mit den Gewohnheiten der Mönche, die sie vor dem Brand bewirtschaftet und zu schützen versucht hatten. Andernfalls hätten sie wohl kaum das Wild der Abtei jagen und wie Eustace in ihren Gemäuern stehlen können.

Doch ihr Wissen konnten sie nur aus einer einzigen Quelle geschöpft haben, und diese Quelle war der Laienbruder Peter. Rhys konnte also vom Verdacht der Schwatzhaftigkeit freigesprochen werden. Peter und der Bäcker waren eng verwandt, woran die frappierende Ähnlichkeit zwischen ihnen keinen Zweifel ließ. Durch Peter hatten sie von Mansurs vermeintlichen Fähigkeiten im Umgang mit den Toten erfahren und ihn entführt, ohne an die Folgen zu denken. Als sie ihn nämlich nicht verstehen konnten, waren sie zurückgekehrt, um auch Adelia zu entführen, weil sie seine Sprache sprach.

»Zeigt uns die Stelle!«, sagte sie. »Master Mansur wünscht zu sehen, wo Eustace auf das Gelände der Abtei gelangt ist.«

»Und was soll das nützen?«, wollte der Bäcker wissen.

»Sehr viel.« Adelia zeigte auf Mansur. »Dieser große Knochenleser« – Betone weiter seine Fähigkeiten! – »glaubt nämlich, dass er vielleicht, nur vielleicht, bezeugen kann, dass euer Freund den Brand nicht gelegt hat. Aber zunächst verlangt er zweierlei. Erstens, dass ihr uns beide danach« – ihr fiel wieder Rhys ein, der noch immer traurig vor sich hin sang – »uns drei unversehrt gehen lasst. Zweitens, dass ihr uns erzählt, was ihr über unsere Freundin, Lady Emma, wisst.«

Ein älterer Mann, der bis dahin geschwiegen hatte, sagte: »Hör mal, Will, wir können sie nicht gehen lassen, die verraten uns bestimmt.«

Der Bäcker hieß also Will. Adelia behielt ihn im Auge. Weil er der Gescheiteste der Zehnschaft war, war er auch der Ängstlichste und somit der Gefährlichste. Aber gerade weil er der Gescheiteste war, musste ihm klar sein, dass sie eine Waffe in der Hand hielt, gegen die er mit keiner von seinen etwas ausrichten konnte: Falls sie und Mansur Eustace’ Unschuld beweisen konnten, dann mussten sie am Leben bleiben, um sie auch der Obrigkeit gegenüber zu beweisen.

»Wer würde euch schon glauben?«, fragte sie.

Die Antwort lautete: niemand. Laien, die einem Gericht Beweise vorlegten? Männer, die nicht beredt waren und einen zweifelhaften Ruf genossen, ein schwierig darzulegender Fall, ohne sachkundige Zeugen, die aufgerufen werden konnten? Ein ungeduldiger Richter – und alle Assisenrichter waren ungeduldig, weil sie zu viele Fälle in zu kurzer Zeit verhandeln mussten – würde ihnen gar nicht zuhören.

Adelia wusste das. Will der Bäcker wusste das.

Sie wartete.

Er sagte, und zum ersten Mal klang sein Tonfall versöhnlich: »Und Ihr werdet uns nicht verraten … Ich mein, das mit dem Wildfleisch und so, und wie wir Euch hierher, ähm, eingeladen haben?«

»Nein«, sagte sie. Und sie meinte es ehrlich. Bislang hatten sie weder Mansur noch ihr, noch Rhys wirklich etwas zuleide getan, und mit Menschen, die so arm an Bildung und Habe waren, empfand sie Mitleid. Nach Lage der Dinge würden sie für Eustace’ Diebeszüge in die Abtei bestraft werden – aber das war nichts im Vergleich zu der Sünde, sie in Brand gesteckt zu haben.

»Schwört Ihr?«, fragte Will.

»Worauf?«

Und auch das war rührend. Es gab keine Bibel, kein Gebetsbuch, dergleichen hatten diese Männer nur in einer Kirche zu Gesicht bekommen. Doch für sie war diese geheime Quelle hier ebenso unerklärlich und magisch wie die anderen, die durch die Abtei berühmt gemacht worden waren.

»Das is nämlich Arthurs Quelle«, erklärte Alf ihr. »Eustace’ Dad hat sie gefunden, aber der ist gestorben, und außer uns kennt die keiner. Nichtsnutz hat’s uns erzählt, nicht wahr, Freunde? Einmal in der Nacht hat er Arthur daraus trinken sehen. Gekniet hat er, und seine königliche Krone hat im Licht gestrahlt.«

»Nichtsnutz hat jede Menge Sachen gesehen«, knurrte Will. »Zum Beispiel auch lila Schlangen.«

Also knieten Mansur und Adelia und Rhys nieder, hielten die hohlen Hände unter die glitzernde Wasserspirale und tranken davon, schworen auf den tapferen König Arthur, dass sie, falls sie beweisen konnten, dass Eustace kein Brandstifter gewesen war, sonst nichts verraten würden, was sie während ihres Aufenthaltes bei der Zehnschaft erfahren hatten.

Dann schwor die Zehnschaft, einer nach dem anderen, dass sie, falls der gute Doktor und seine Helferin beweisen konnten, dass Eustace kein Brandstifter gewesen war, besagtem Doktor und besagter Helferin nicht die Kehle durchschneiden würden.

»Und mir auch nicht«, beharrte Rhys.

Und dem Barden auch nicht.

»Und ihr gebt mir meine Harfe zurück?«

Und die Zehnschaft würde ihm seine verdammte Harfe zurückgeben.

Alles ganz reizend mit der Sonne, die ihnen auf den Hinterkopf schien, und dem Zirpen von Heuschrecken, das in einen geflügelten Chor einfiel …

Aber was, dachte Adelia, wenn ich nichts beweisen kann?

Die Gefangenen der Zehnschaft waren über Umwege zur Höhle gebracht worden; die Abtei war tatsächlich leicht zu Fuß zu erreichen, und es wurde erörtert, ob man die Esel hierlassen und den Hügel hinuntergehen sollte.

Der helle Klang eines Jagdhorns in der Ferne entschied die Sache. »Saukerle«, sagte Will. »Die suchen nach Euch.«

Rowley. Er hatte einen Suchtrupp zusammengestellt, der die Gegend nach ihr durchkämmte.

Plötzlich wollte sie nicht gefunden werden. Noch nicht. Sie hatte Arbeit zu erledigen, ein Rätsel zu lösen. Sie war eine Totenleserin, und ein Leichnam hatte zu ihr gesprochen.

Will sprach den Hodenkratzer an. »Wie viele, Toki? Wo?«

Die Zehnschaft wurde ganz still, damit Toki Ausschau halten und lauschen konnte. Adelia lauschte mit ihm, hörte aber nur eine Amsel und das Sprudeln der Quelle.

Langsam, aber wie verrückt kratzend, drehte Toki sich um einhundertachtzig Grad von Osten nach Westen. »Ich schätze fünfzehn Pferde«, sagte er. »Keine Hunde. Wie viele zu Fuß, weiß ich nicht. Die suchen den Wearyall ab.«

»Wie lange noch, bis sie hier sind?«

Toki zuckte die Achseln. »Kommt drauf an, wo sie als Nächstes hinwollen. Vielleicht hierher. Vielleicht zum St. Edmund, vielleicht zum Chalice.«

Das waren zusammen mit dem Wearyall die Hügel um Glastonbury; per Ausschlussverfahren konnte Adelia somit folgern, dass sie auf dem Tor waren, diesem seltsamen Kegel, dem heiligsten aller Hügel, die sich aus dem Flachland um die Abtei erhoben.

Verdammt! Sie wollte sich nicht den ganzen Tag in einer Höhle verstecken, bis der Suchtrupp wieder verschwunden war, vor allem nicht mit Eustace darin. Aber sie hatte nicht mit der Erfahrung der Zehnschaft gerechnet. Die Männer waren an Verfolgung gewöhnt; sie mochten ja in vielerlei Hinsicht unwissend sein, aber sie besaßen Fähigkeiten, die sie ihnen niemals zugetraut hätte.

»Dann schnell«, sagte Will. Er wandte sich ihr zu. »Kopf runter! Ein Schrei, und Ihr seid tot. Sagt das dem Braunkopf.« Er wirbelte herum und herrschte Rhys an. »Ein Mucks von dir, und ich brech dir und deiner Scheißharfe den Hals.«

Die Esel wurden in die Höhle gebracht und der Eingang mit Zweigen getarnt. Es wurde beschlossen, hinunter zum Fuß des Hügels zu gehen, da die Deckung dort besser wäre.

Der Abstieg begann. Adelia sollte ihn als einen der schönsten Augenblicke ihres Lebens in Erinnerung behalten.

Mädchen hatten kaum Gelegenheit, richtig Kind zu sein. Ihr Auftrag lautete, möglichst schnell zu einer Frau mit weiblichen Fertigkeiten heranzuwachsen. In Adelias Fall hatte es bedeutet, erst Ärztin und dann Anatomin zu werden. Sie war nicht zu der Ausbildung gezwungen worden – ihre Zieheltern hatten versucht, ihr irgendeinen kurzweiligen Zeitvertreib nahezubringen, aber sie hatte sich nicht beirren lassen; sie wollte studieren.

Und jetzt wurde ihr hier beim Abstieg vom heiligen Glastonbury Tor zum ersten Mal ein ganz besonderes Geschenk zuteil, sie erlebte die Kindheit eines ganz normalen Jungen vom Lande, der auf Bäume geklettert war und Vogelnester geplündert hatte, der Äpfel aus Nachbargärten geklaut und sich vor einem erbosten Wildhüter versteckt hatte. Oder vielleicht wurde sie, da ihr ja doch Schlimmeres drohte als nur eine strafende Ohrfeige, zu einem Soldaten in Feindesland, der sich im Schutze des Waldes nach Hause durchzuschlagen versucht.

Was auch immer, sie fand es herrlich.

Zu Anfang bewegten sich alle schnell, huschten von Baum zu Baum, für den Fall, dass irgendwer im Suchtrupp ebenso gute Augen und Ohren hatte wie Toki. Die Jagdhörner klangen jetzt lauter. Adelia konnte Stimmen hören, die ihren Namen riefen und durch die warme Luft immer näher kamen.

Nachdem er den Wearyall Hill abgesucht hatte, führte Rowley seine Männer nun geradewegs auf den Hügel zu.

»Auf den Bauch, Jungs!«, sagte Will leise. Und Adelia fragte er: »Werdet Ihr uns verraten?«

»Nein.«

Nur für alle Fälle blieb er dicht bei ihr, das Messer in der Hand. Zwei der anderen Männer gesellten sich zu Mansur und Rhys, bereit, sie zum Schweigen zu bringen, falls sie einen Laut von sich gaben.

Der Suchtrupp war klugerweise direkt zur Kuppe des Hügels geritten und fing nun an, ihn in großen Spiralen nach unten hin abzusuchen.

Die Zehnschaft und ihre Gefangenen suchten sich Deckung, krochen weiter, spürten die Erschütterungen der trommelnden Pferdehufe an Händen und Knien.

Es war wundervoll; es war ein Spiel, es war das Spiel schlechthin. Es war Leben auf einer primitiven Stufe, auf der eine Spezies durch Geschick und Furcht überlebt hatte. Denn während sie weiterkrochen, ging etwas von der Panik der Zehnschaft auf Adelia über, die Angst vor Entdeckung prickelte ihr im Rücken, als hinge ihr Leben ebenso wie das der Männer davon ab, verborgen zu bleiben, während sie zugleich von dem Glück eines wilden Geschöpfes beseelt war, das seinen Lebensraum nutzte. Sie war ein Wiesel, das behände durch duftendes Gras huschte; sie war eine Schlange mit warmer Erde unter dem Bauch. Ein Büschel von hohem Blutweiderich lockte als Versteck, ein Stechginsterstrauch wurde mit Verachtung gestraft.

Als der Suchtrupp näher kam, wurde sie zur Gesetzlosen unter Gesetzlosen, die Zähne gebleckt, als hielte sie ein Messer dazwischen. Sie hatte nie Verstecken gespielt, doch tief ins Dunkel einer morschen hohlen Eiche gedrückt sah sie zu, wie Rowley kaum mehr als fünf Schritte von ihr entfernt vorbeiritt und ihren Namen schrie – und sie wollte ihm ebenso wenig zurufen, wie ein Eber in seinem Schlupfwinkel geschnaubt hätte, um die Hunde auf sich aufmerksam zu machen.

Als er vorbei war, blickte sie nach oben, wo Will quer über einem Ast lag. Ihre Blicke trafen sich mit gegenseitigem Respekt, und sie wusste, dass er sie nun, ganz gleich, was geschehen würde, nicht mehr töten konnte, genau wie er wusste, dass sie ihn nicht verraten würde. Sie waren wilde Kreaturen, und gemeinsam hatten sie die Jäger überlistet.

Auf einem Felsvorsprung mit Blick auf die Abtei und das Marschland beobachtete die Zehnschaft – denn jetzt gehörten sie alle dazu –, wie ihre Verfolger weiter Richtung Chalice Hill ritten.

»Rasten wir ein bisschen«, sagte Will und deutete mit einem Nicken auf die Abtei, von der leise ein Choral herüberwehte. »Die müssten jeden Moment mit der Terz fertig sein.«

Es war also die dritte Stunde des Tageslichts, hundertachtzig Minuten nachdem Adelia in Eustace’ Höhle geführt worden war, und auf jede einzelne davon würde sie mit wilder Freude zurückblicken.

Während sie wartete, flach auf den Boden gedrückt, mit Will auf der einen und Alf auf der anderen Seite, zog sich das Primitive langsam aus ihr zurück, und mit schmerzlichem Bedauern nahm sie wieder Geist und Gestalt von Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar an, Medica der Medizinschule von Salerno, Totenleserin und Ermittlerin für König Henry II. von England, besorgte Freundin einer Vermissten, Geliebte eines Mannes, der Gott und seinen König mehr liebte als sie …

»Da kommen sie, seht!«, sagte Will, als vier schwarze, käferähnliche Figuren aus den Ruinen der Kirche traten. »Scheiße, ich hab vergessen, dass wir heute den dritten Freitag im Monat haben.«

Denn die Käfer kehrten nicht zur Küche des Abtes zurück. Einer von ihnen ging zur Anlegestelle der Abtei, wo die unverkennbare Gestalt von Godwyn ihn in einem Ruderboot erwartete. »Die wollen nach Lazarus«, sagte Will. »Der alte Abt bringt den Aussätzigen die Kommunion.«

»Na, um mich scheinen die sich ja keine großen Sorgen zu machen«, sagte Adelia leicht verschnupft ob der gelassenen Reaktion der Abtei angesichts ihres und Mansurs Verschwinden.

»Zuverlässig wie die Sonne. Alle vier Wochen fährt er rüber und kümmert sich um die Seelen von den Aussätzigen, da hält ihn nix von ab.«

»Ein echter Heiliger ist das«, sagte Alf. »Ich würd da nich für Geld und gute Worte hinfahren.«

»Lepra ist gar nicht so kontagiös«, murmelte Adelia.

»Hä?«

»Man kann sich mit der Krankheit nicht so leicht anstecken.«

»Ich riskier’s jedenfalls nicht, so viel ist mal sicher.«

»Mir tun die armen Teufel leid«, sagte Toki. »Wenn ich mir vorstelle, ich würde auf ’nem Klumpen Matsch verfaulen und dürfte nicht runter …«

»Aber können sie nicht zu Fuß da weg?«, wollte Adelia wissen. Von oben sah das Mosaik aus Riedgras, Schilf und bewaldetem Marschland mit seinen unterschiedlichen Grüntönen, das die niedrigen Höcker der Insel umgab, einigermaßen fest aus, und die Bäche und Tümpel, in denen sich das metallische Blau des Himmels spiegelte, konnten doch bestimmt durchschwommen oder durchwatet werden.

»Dürfen sie nicht«, erklärte Toki ihr. »Ist verboten. Und sie haben auch kein Boot.«

Sie erfuhr, dass Abt Sigward und Godwyn, wenn sie die arme Gemeinde besuchten, ihren Kahn am Landungssteg der Insel mit einem Vorhängeschloss sichern mussten, zu dem nur sie den Schlüssel hatten.

»Und zu Fuß ging’s auch nicht«, sagte Will. »In den Avalon-Sümpfen spazierst du nicht rum, wenn du nicht hier geboren bist. Und selbst dann lässt du’s besser bleiben. Da draußen gibt’s nämlich Moorteufel, die packen dich an den Beinen und ziehen dich runter, und du weißt nie, wo sie lauern, weil sie nämlich ständig woanders sind und einfach plötzlich irgendwo aufkreuzen, diese verdammten Moorteufel.«

»Aber ich hab doch schon Leute auf Stelzen gesehen …«

Stelzenläufer, so erfuhr Adelia, gingen jedoch nie so weit raus, weil sie um die Gefahr wussten. Die Bewohner von Lazarus Island hatten jedenfalls durch leidvolle Erfahrung gelernt, keinen Fluchtversuch zu unternehmen.

»Hat schon mehr als ein Aussätziger versucht, da wegzukommen, und keinen hat man je wiedergesehen.«

Jene Käfer, bei denen es sich um die Brüder Aelwyn, James und Titus handelte, bewegten sich hin und her, erledigten irgendwelche Arbeiten, fingen mit dem Netz Forellen für den Fischeintopf aus dem Teich – schließlich war Freitag, und da gab es Fisch.

Die Zehnschaft wartete auf ihrem Felsvorsprung mit der Geduld von Tieren darauf, dass die Mönche sich in die Küche des Abtes zurückzogen, und während sie die Männer beobachteten, fiel so manche Bemerkung über sie.

»Der alte Titus wartet bestimmt schon aufs Essen, der verfressene Hund.«

»Und auf sein Ale. Der Abt hat den armen Nichtsnutz weggejagt, weil er getrunken hat, dabei hat er keine Ahnung, was Titus so in sich reinschüttet, wenn er nich hinsieht. Der hätte Nichtsnutz doch glatt untern Tisch saufen können.«

»Seht euch den alten James an, wie er da rumwerkelt! Wetten, dass er dabei vor sich hin brabbelt? Total verrückt is der, und gemeingefährlich, wenn ihm was gegen den Strich geht.«

Will stupste Adelia an. »Ich wette, Ihr wisst nich, warum Bruder Aelwyn nich gewollt hat, dass Ihr und der Braunkopf Euch da auf dem Friedhof umseht.«

»Stimmt. Warum denn?«

»Weil er da zwei Neugeborene begraben hat.«

»Neugeborene?«

Will grinste. »Neugeborene. Oh ja, früher gab’s da so einige Frauengeschichten, erzählen die Leute, auch wenn die Mönche doch eigentlich alle keusch sein sollten. Und eine von den Frauen hat Zwillinge gekriegt, von dem alten Aelwyn nämlich. Die hat sie dann vor das Abteitor gelegt. Hat einen ziemlichen Aufstand deshalb gegeben. Und dann mussten sie sie auf dem Friedhof von den Mönchen beerdigen.«

»Großer Gott, wie sind die Kinder gestorben?«

Will räumte, wenn auch widerwillig, ein, dass die Zwillinge, soweit man wusste, eines natürlichen Todes gestorben waren.

Während Adelia ihnen zuhörte, wurde die gewaltige Brandnarbe, die sich über die Abtei breitete, für sie mehr und mehr zu einem Schandfleck, der Schwächen und Elend der Menschen symbolisierte.

Über Abt Sigward indes gab es nur Gutes zu hören. »Nach seiner Wahl war Schluss mit den Weibergeschichten«, erzählte Will ihr. »Kein übler Bursche, für einen Mönch.«

»Kann mir gar nich vorstellen, dass einer ein Leben in Reichtum einfach so aufgibt, nur um Tag für Tag zu beten«, sagte Toki ungläubig.

»Der hat das zum Andenken an seinen Sohn gemacht, der im Kampf gegen die verfluchten Sarazenen gestorben ist«, sagte Alf. »Das hat Sigward völlig fertiggemacht. Versteh nich, wieso er nie wen losgeschickt hat, um den Leichnam von seinem Sohn zu holen. Sir Gervase drüben aus Street, der ist zurückgebracht worden und liegt jetzt da in der Kirche, die Arme gekreuzt und mit Schwert und allem Drum und Dran.«

»Vielleicht haben ihn die braunen Hundsfotte zu übel zerhackt, sodass nix mehr da war, was man zurückholen konnte. Oder vielleicht hat er keine Freunde gehabt, die ihn nach Hause bringen konnten. Ist vielleicht als Held gestorben, aber gelebt hat er nich so. War ein schmächtiges kleines Kerlchen, der Junge. Hilda hat ihn nich besonders gemocht, hat gesagt, er wär ein Milchgesicht, er hat dauernd geheult und gejammert, ihm wär zu kalt.«

»Dann war so’n Kreuzzug genau das Richtige für ihn«, sagte Will. »Da isses doch furchtbar heiß, oder?«

»Ungefähr so heiß wie hier«, antwortete Adelia ihm. Sie pflückte ein Ampferblatt für ihren unbedeckten Kopf, um sich keinen Sonnenstich zu holen, und ein anderes, um die Fliegen von ihrem verschwitzten Gesicht wegzufächeln. »Wollen diese verflixten Mönche denn überhaupt nicht mehr zum Essen gehen?«

»Mal angenommen, der Braunkopf beweist, dass Nichtsnutz es nich war, und wir können den armen Kerl beerdigen«, sagte Toki zu Will. »Wo sollen wir dann sein Messer hinwerfen?«

»In den Fluss, wohin sonst?«

»Welchen?«

Will zuckte die Achseln. »In den Brue, würd ich sagen. Nichtsnutz hat immer gern im Brue gefischt. Und wenn ihr mich fragt, hat da auch König Arthur sein Excalibur reingeschmissen. Nichtsnutz würde bestimmt wollen, dass sein altes Messer auch da landet.«

»Ihr wollt sein Messer in den Fluss werfen?«, fragte Adelia.

»Müssen wir«, sagte Will knapp.

»Wieso?«

»Weil’s wieder zurückmuss.«

Das fand sie interessant. In ihren geliebten Sümpfen verfingen sich die Angelschnüre der Fischer oft an verrosteten Waffen. Sie wurden stets mit einem Gebet und großer Ehrfurcht wieder zurück ins Wasser geworfen. Die Männer gehorchten damit einer Legende aus dem Nebel der Zeiten, schon fast einem Instinkt, wonach Schwert und Schild eines großen Kriegers, und seien sie auch noch so kostbar, wieder an das Mysterium zurückgegeben werden mussten, das ihnen Macht verliehen hatte. Ihr Ziehvater hatte diese Sitte bei seinen Reisen überall im Osten vorgefunden. »Ein sehr altes Ritual«, hatte er ihr erklärt, »eine Opfergabe an die Götter zum Schutz der Seele des toten Besitzers.«

Ja natürlich, jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie hatte gehört, wie Rhys davon sang, dass Excalibur zurück in den See geworfen wurde, aus dem es einst ein Frauenarm herausgestreckt hatte. Die Sitte hatte also noch Bestand. Heidnisch, aber dennoch schön.

Endlich lag das Abteigelände verlassen vor ihnen. Die Zehnschaft schlich sich den Hang hinab, wobei sie möglichst in Deckung blieb, und näherte sich den Überresten der Abteimauer.

Will zeigte auf eine Stelle mit schwarz verbranntem Geröll. »Da is Nichtsnutz immer unter der Mauer durch, gleich da, aber das Loch kann man nich sehen, weil bei dem Brand die Steine draufgefallen sind.«

»Dann räumt sie weg«, wies Adelia ihn an. »Der Doktor möchte den Tunnel sehen.«

Und Adelia wurde klar, dass sie dieses eine Mal nicht auf Mansurs Autorität zurückgreifen musste. Diese Männer gehörten einer niedrigen gesellschaftlichen Schicht an, in der die Frauen nicht nur als Eheweib angesehen wurden, sondern auch selbst Arbeiten verrichteten, die ihren Familien das Überleben sicherten. Es war selbstverständlich, dass sie Seite an Seite mit den Männern auf dem Feld schufteten, Ale brauten, Wäsche wuschen, Waren auf dem Markt verkauften, vielleicht sogar stahlen, auf jeden Fall jedoch Geld verdienten, das ihnen eigenes Ansehen verschaffte. Nur die Oberschicht, wo Ladys gänzlich von ihren Ehemännern abhängig waren, konnte es sich leisten, Frauen als minderwertig zu betrachten. Jetzt, da die Zehnschaft sie, Adelia, als vertrauenswürdig eingestuft hatte, fiel es den Mitgliedern nicht schwer, sich von einer Frau etwas sagen zu lassen. Dennoch, es war besser, die Täuschung beizubehalten. Einer von ihnen könnte sich verplappern und sie verraten.

Mühsam wurden die Steine beiseitegeräumt, und darunter kam eine Vertiefung im Boden zum Vorschein, durch die der verstorbene Eustace einst unter der Mauer hindurchgerobbt war. »Das ging so.« Alf legte sich flach auf den Boden und wollte Master Mansur und seiner Übersetzerin das Hindurchkriechen veranschaulichen, nur für den Fall, dass ihnen der Ablauf nicht ganz klar war.

Adelia hielt ihn auf. »Nicht! Der Doktor glaubt, auf der anderen Seite könnte eine Falle sein.«

»Quatsch, der gute Nichtsnutz hatte keine Probleme mit Fallen.«

»Ich denke, mit dieser hatte er welche«, sagte Adelia. Sie schob Alf beiseite und nahm seinen Platz ein. »Ich brauche einen Stock.«

Ein Stock wurde geholt, Adelia hockte sich in die Vertiefung und schob den Stock behutsam unter der Mauer durch, um in der Asche und dem frisch nachgewachsenen Unkraut herumzustochern.

Ein Klirren war zu hören.

Und da war sie. Keine Schlinge, die sich um Hals oder Bein irgendeines Schädlings zuziehen sollte, sondern eine Schnappfalle, von der Hitze verbogen, aber noch immer als das schreckliche Ding erkennbar, das sie war, und noch immer mit der Kette verbunden, die in einem Mauerstein verankert war.

Bruder Christopher hatte die Geduld mit dem nächtlichen Kaninchen in Menschengestalt verloren, das unverdrossen an den Vorräten der Abtei nagte, und um es endlich zu fangen, hatte er sich über das Gebot hinweggesetzt, dass die Kirche kein Blut vergießen darf.

Die Zehnschaft war entsetzt. »Wenn dieser Schweinehund von Mönch zurückkommt, bring ich ihn um«, sagte Will.

»Weshalb hat er das gemacht?«, wollte Alf wissen. »Nichtsnutz hat doch keinem ein Haar gekrümmt, bloß mal ein Schlückchen Wein stibitzt, um in Stimmung zu kommen, und dann und wann ’ne Steckrübe oder ’nen Kopf Salat. Verdammt, die reichste Abtei der Welt, die hätte sich doch wohl ein bisschen Nächstenliebe leisten können, oder?«

Der Meinung war Bruder Christopher nicht gewesen. Daher hatte er vor Eustace’ Schlupfloch eine Falle gelegt, die aus zwei mit Zähnen versehenen Eisenbügeln bestand und durch eine gespannte Feder ausgelöst wurde. Als Eustace sich durch den Tunnel ziehen wollte, war er mit einer Hand auf den Auslöser geraten, die bösartigen Zähne waren zusammengeschlagen und hatten ihm die Finger eingeklemmt.

Es war nicht so eine Menschenfalle, wie sie Adelia einst gesehen hatte und die jemand anderen zwischen den erbarmungslosen Zähnen hielt – ein Bild, das sie noch immer versuchte, aus ihrer Erinnerung zu tilgen; diese hier war kleiner, aber sie hatte sich auf ihre Weise als ebenso tödlich erwiesen.

Im Geist hörte sie den Knall, als die Falle zuschnappte, sah Eustace, wie er vergeblich versuchte, seine Finger aus der Umklammerung zu reißen …

»Aber das beweist noch gar nix«, sagte Will nach kurzem Überlegen. »Die werden behaupten, er is irgendwo anders reingekommen, hat das Feuer gelegt und is beim Rauskriechen in die Falle gegangen.«

»Das sieht der Doktor anders«, sagte Adelia und nickte Mansur zu, der ebenfalls nickte. »Eustace hat sich mit seinem eigenen Messer selbst die Finger abgeschnitten. Das hätte er wohl kaum getan, wenn nicht sein Leben davon abgehangen hätte, oder?«

Die Zehnschaft nickte einhellig. Kein Mann trennt sich freiwillig von den Fingern seiner rechten Hand, es sei denn, er ist in allergrößter Not. Eustace hätte gewartet, bis irgendwer ihn befreite, und die Strafe in Kauf genommen, die unter einem barmherzigen Abt wahrscheinlich nicht allzu hart ausgefallen wäre.

»Genau«, fuhr Adelia fort. »Eustace musste sich selbst befreien. Er ist durch den Tunnel gekrochen, um ein paar Sachen zu stehlen. Seht hier …« Wieder benutzte sie den Stock, um damit im Unkraut herumzustochern. Sie fand den Beweis, von dem sie wusste, dass er da sein musste, und wäre fast vor Erleichterung, ihn gefunden zu haben, in die Knie gegangen. »Seht!« Sie legte drei verkohlte Knöchelchen frei. »Das sind seine Finger.«

Sie begriffen noch immer nicht.

Sie sagte: »Die Finger liegen auf der Seite der Abtei, zeigen in ihre Richtung. Wenn … Nicht anfassen, Alf, die sind genau da, wo sie liegen, unser Beweis … Versteht ihr denn nicht? Wenn Eustace auf dem Rückweg von der Krypta gewesen wäre, dann hätten sie auf der anderen Seite der Falle liegen müssen. Die hat ihn erwischt, als er in die Abtei wollte. Ich denke, der Doktor denkt, dass das Feuer schon ausgebrochen war und sich auf die Mauer zu ausbreitete. Wenn er sich nicht die Finger abgeschnitten hätte, wäre er bei lebendigem Leibe verbrannt.«

Wieder sah sie Eustace vor ihrem geistigen Auge, hilflos, wie Flammen durchs Gras auf sein Gesicht zuzüngelten, wie er verzweifelt mit dem Messer durch eigene Knorpel und Knochen sägte, um freizukommen, wie er das Fleisch seines kleinen Fingers aus den Zähnen der Falle riss, die dessen erstes Glied seitlich erwischt hatte. Sie sah, wie er Moos und Gras um die schreckliche Wunde wickelte und den Hügel hinaufstolperte, um dort langsam an Blutverlust oder Blutvergiftung zu sterben, während er Gott oder vielleicht auch Arthur um Hilfe anflehte, die nie kam.

»Der arme alte Nichtsnutz«, sagte Alf leise.

»Und Ihr beweist seine Unschuld für uns?«, fragte Will.

»Ja«, antwortete Adelia. »Ich werde das alles dem Bischof von St. Albans erzählen, und er wird es dem Sheriff sagen.«

Sie ging im Kopf noch einmal die Beweiskette durch, drückte das Unkraut beiseite, sodass die Lage der verbrannten Fingerknochen noch deutlicher zu sehen war.

Mansur stieß einen Ruf aus.

Sie drehte sich erschrocken um.

Die Zehnschaft war weg. Dort, wo die Männer noch vor Sekunden gestanden hatten, waren jetzt nur noch verbrannte Steine und der Anstieg eines Hügels zu sehen. Es war, als wären sie in der Sonne zerschmolzen.

»Kommt zurück, kommt zurück!«, schrie Adelia. »Ihr habt mir noch nichts über Emma erzählt.« Aber ihr Ruf verhallte wirkungslos, schreckte nur einen Schwarm Grasmücken aus dem Unterholz auf.

Der einzige Beweis dafür, dass die Zehnschaft je existiert hatte, war die Harfe, die sicher in Rhys’ Armen ruhte.