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Kapitel drei

Als die berittene Reisegesellschaft Cambridgeshire hinter sich ließ und den alten römischen Wegstein passierte, der verriet, dass sie jetzt in Hertfordshire waren, atmete Emma, Lady Wolvercote, auf. »Es ist doch recht … aufregend, in Begleitung einer gesuchten Verbrecherin zu sein.«

Sie lächelten einander an. »Das bist du immer noch«, erwiderte Adelia. »Ich könnte mir denken, die Macht eines bischöflichen Gerichts endet nicht an Grenzen.«

»Ich hoffe, das tut sie, wenn man den Bischof kennt.« Emma sagte das zögerlich. Adelia hatte den Mann, der heute Bischof von St. Albans war, nur allzu gut gekannt und ihm ein Kind geboren.

»Er ist jetzt ein Mann Gottes«, sagte Adelia. »Ich glaube kaum, dass er für mich gegen die Regeln verstoßen könnte. Oder würde.«

Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass das Thema damit beendet war. Und obwohl Emma darauf brannte, mehr zu erfahren, fragte sie nicht weiter. Schließlich stand sie in der Schuld dieser Frau, die König Henry das Versprechen abgerungen hatte, Emma nicht in eine zweite Ehe zu verkaufen, nachdem sie durch Entführung und Vergewaltigung zur ersten gezwungen worden war. Der Baron von Wolvercote war jetzt tot, möge er in der Hölle verfaulen, und hatte ihr seine Besitzungen und einen Sohn hinterlassen, den sie vergötterte, was sie angesichts der Umstände seiner Empfängnis selbst ein wenig erstaunte.

Normalerweise vergab oder verkaufte der König eine adelige Witwe an einen Mann, den er allein auswählte. Zudem hatte ihr Gatte sich an einer Rebellion gegen Henry Plantagenet beteiligt, und die Ländereien, die er Emma hinterlassen hatte, hätten durchaus auch an das königliche Schatzamt fallen können.

Dass keine dieser beiden Möglichkeiten wahr geworden war, hatte sie Adelia zu verdanken. Wolvercote war nicht gehängt worden, weil er ein Aufrührer war – Henry II. zog es vor, solche Männer gefügig zu machen, indem er Frieden mit ihnen schloss, sobald sie sich ergaben –, sondern weil er bei Nacht und Nebel den jungen Mann ermordet hatte, den Emma lieber mochte als ihn. Adelia hatte die Untat schließlich aufgedeckt und sie dem König zu Ohren gebracht. Dafür, Gott segne sie, hatte sie keinen Lohn für sich selbst verlangt, sondern nur Emmas Seelenfrieden. Henry, der normalerweise alles andere als großzügig war, wenn es um Geld ging, hatte seiner »Meisterin in der Kunst des Todes«, wie er Adelia nannte, diese Gunst gewährt, weil sie ihn darum gebeten hatte.

Emma warf einen staunenden Blick auf die neben ihr reitende Frau, die mit Königen gesellschaftlich verkehrte und einst mit einem zukünftigen Bischof mehr als nur gesellschaftlich verkehrt hatte. Sie sah so … unscheinbar aus. Emma, die ein Faible für feine Kleidung hatte, hätte Adelia furchtbar gern die unschöne Kappe abgenommen, die ihr dunkelblondes Haar bedeckte, und sie elegant ausstaffiert, damit ihre schlanke Gestalt zur Geltung kam. Denn diese war unter einem braunen und formlosen Gewand verborgen, das besser zu einem unbedeutenden Geistlichen gepasst hätte.

Sie wusste zwar, dass Adelia Wert darauf legte, in einer Menschenmenge nicht aufzufallen, aber in diesem Aufzug, dachte Emma, würde sie nicht mal in einer Ansammlung von Bäumen auffallen. Es war, als ritte eine Dienerin neben ihr – nein, denn selbst die Wolvercote-Diener waren mit ihrer farbenfrohen Livree besser gekleidet als diese seltsame Frau.

»Ist dir in diesem Gewand nicht warm?«, fragte Emma, denn die Sonne war selbst für Ende Mai außergewöhnlich heiß.

»Doch«, sagte Adelia und beließ es dabei.

Aber vielleicht war es ja gut so, dass die Augen aller, an denen sie vorbeikamen, von Emma auf ihrem hübschen weißen Zelter angezogen wurden und nicht von der kleinen, braun gekleideten Frau auf dem kleinen braunen Pony. Beim Abschied hatte Prior Geoffrey darauf bestanden, dass Adelia sich in Emmas Trosswagen versteckte, bis sie über die County-Grenze waren – und Mansur ebenso. So bekannt, wie die fremdartige und imposante, arabisch gekleidete Gestalt mit der auffälligen Kopfbedeckung war, hätte Mansur die Fliehenden sofort verraten, weil er Adelia nie weit von der Seite wich.

Dann jedoch verflog die Anspannung in der Sonne von Hertfordshire, ob berechtigt oder nicht, und sowohl Mansur als auch Adelia hatten den Wagen verlassen, um ihre Plätze im Sattel einzunehmen.

Die Reisegruppe war noch immer klein, in Anbetracht der ständigen Gefahr durch Wegelagerer, obschon es unter der Plantagenet-Herrschaft besser als früher um die Sicherheit bestellt war. Emma reiste mit einer Amme, einer Dienerin, zwei Reitknechten, einem Beichtvater und einem Ritter nebst seinem Knappen – einem Koloss von Ritter, der sogar noch größer war als Mansur und mit dem Nasalhelm, durch den sein ansonsten sanftes Gesicht furchterregend wirkte, keinerlei Zweifel daran aufkommen ließ, dass er das Schwert in der Scheide an seiner Seite auch zu nutzen wusste.

»Master Roetger«, hatte Emma gesagt, als sie ihn vorstellte. »Er ist Deutscher. Mein Kämpe.« Sie meinte das wortwörtlich, denn Emma bereiste die von ihrem Mann hinterlassenen Ländereien, um sicherzustellen, dass die Lehnsmänner und Pächter ihren zwei Jahre alten Sohn als Erben anerkannten – was nicht immer von Erfolg gekrönt war. Ihre erzwungene Ehe mit Wolvercote war so plötzlich und vor so wenigen Zeugen geschlossen worden, dass angesichts des komplizierten feudalen Pachtsystems mehr als ein Lord den Anspruch des kleinen Philip, des neuen Baron Wolvercote, auf Erlöse aus dem Land anfocht, das sie von seinem Vater erhalten hatten. So hatte sich beispielsweise ein älterer Cousin geweigert, die Pachteinnahmen für tausend Morgen Land in Yorkshire an ein Kind zu entrichten, das er als Bastard und Usurpator bezeichnete.

»Dem hat der Gott der Schlacht gezeigt, wem das Land gehört«, sagte Emma mit racheschnaubender Genugtuung. »Master Roetger hat seinen Kämpen im Handumdrehen außer Gefecht gesetzt.«

So wurden derlei Dinge in England geregelt, wie Adelia, die Ausländerin, gelernt hatte. Gerichtskampf. Ein judicium Dei. Da der Allmächtige wusste, wem das umstrittene Land wirklich gehörte, fochten die Disputanten – oder häufiger ihre Kämpen – einen gerichtlichen Zweikampf unter Seinen unsichtbaren, aber alles sehenden Augen aus, damit Er zeigen konnte, welche Partei rechtmäßigen Anspruch darauf hatte, indem Er deren Kämpfer gewinnen ließ.

»Gott ist auf unserer Seite«, sagte Emma, »und wird es auch in Aylesbury wieder sein.«

»Noch ein Kampf?«

»Er hatte eine verheiratete Schwester«, erklärte Emma – sie sprach den Namen ihres toten Mannes niemals aus, wenn es nicht unbedingt nötig war. »Eine Witwe, deren Kinder vor ihr starben, sodass sie ein hübsches Stück Land bei Tring geerbt hat, das rechtmäßig meinem Kleinen zusteht. Ihr Schwager ficht unseren Anspruch an, aber dieser Sir Gerald ist ein elender Knauser. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er viel Geld für ihren Kämpen ausgibt.«

»Und Master Roetger ist teuer?«, erkundigte sich Adelia.

»Fürwahr. Ich musste ihn aus Deutschland kommen lassen. Wir brauchten den Besten.«

»Aber damit überlässt du schwerlich Gott die Entscheidung, oder?«

»Ach, Gott hätte so oder so für uns entschieden.« Emma blickte nach unten auf den mit Samt ausgeschlagenen Korb, in dem Baron Wolvercote reiste, der gerade genüsslich am Daumen lutschte. »Nicht wahr, Pippy? Nicht wahr, mein Schätzchen? Gott schützt doch immer die Unschuldigen.«

Dich hat Er nicht beschützt, dachte Adelia. Niemand hätte unschuldiger sein können als das fröhliche junge Mädchen, das in dem Kloster aufwuchs, in dem Adelia ihr erstmals begegnet war, demselben Kloster, in das Wolvercote und seine Männer eingedrungen waren, um sie zu verschleppen.

Aber Adelia wies Emma nicht auf die Unlogik ihrer Behauptung hin – es hätte nichts genützt. Das Mädchen hatte sich zwangsläufig verändert. Wolvercote hatte sie nicht mal um ihrer selbst willen begehrt, sondern wegen der Truhen voller Geld, die sie von ihrem Vater, dem Weinhändler, erben würde.

Die Emma von heute besaß noch immer die Selbstsicherheit, die das Gold ihres Vaters ihr geschenkt hatte, aber sie war versessen auf den unverhofften Besitz von Grund und Boden in verschiedenen Teilen des Landes, mit Herrenhäusern, Mühlen, Flüssen, Wäldern und saftigen Viehweiden, die ihr Vergewaltiger besessen hatte und die ihrer Ansicht nach jetzt ihr Sohn haben sollte, komme, was da wolle. Sie hatte eine neue Härte an sich, einen verbissenen Zug um den jungen Mund, eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben anderer, die stark an den Mann erinnerte, der sie missbraucht hatte.

Noch schlimmer war, dass sie ihre Singstimme verloren hatte. Durch sie war Adelia in der Abtei von Godstow erstmals auf Emma aufmerksam geworden – ein klarer Sopran, der die Wechselgesänge des Nonnenchors so herrlich anführte, dass Adelia, die eigentlich nicht viel für Musik übrig hatte, völlig verzaubert war und sich allein dadurch, dass sie ihn hörte, dem Himmel näher wähnte.

Doch als sie Emma jetzt bat, etwas zu singen, weigerte die sich. »Ich habe kein Lied mehr in mir.«

Sie waren zwar Freundinnen, doch Adelia vermutete, dass Emma sie nicht bloß aus Zuneigung gebeten hatte, sie auf der Reise zu begleiten. Der kleine Pippy war vorzeitig zur Welt gekommen und noch immer untergewichtig für sein Alter. Seine Mutter wollte den einzigen Arzt in der Nähe haben, dem sie vertraute: Adelia.

Als sich das nächste Mal eine Rastmöglichkeit neben der Straße bot, machten sie Halt, um sich zu erfrischen und den Pferden ein wenig Erholung zu gönnen. »Findest du, dass er blass aussieht?«, fragte Emma, die mit besorgtem Blick beobachtete, wie die Amme Pippy aus seinem Korb hob, um ihn mit der kleinen Allie auf dem Gras herumtollen zu lassen.

Das Kind sah zweifellos weniger robust aus als Allie, auch wenn man den Altersunterschied von zwei Jahren berücksichtigte, doch Adelia sagte: »Bei diesem Wetter kannst du ihm gar nichts Gesünderes bieten.« Sie hielt es für unendlich wichtig, Kindern viel Bewegung an der frischen Luft zu ermöglichen. Immerhin konnte Emma sich die teuersten Gasthäuser und damit auch eine andere wichtige Erfordernis für Kinder leisten – gutes Essen.

In St. Albans erhielten die Reisenden beides.

Adelia war zunehmend unruhig geworden, je näher sie der Stadt kamen, doch ein Wort unter vier Augen mit dem Wirt vom »Pilgrim’s Rest« beruhigte sie: Der Bischof war unterwegs.

»Es heißt, er hilft unserem König, die verdammten Waliser niederzuschlagen«, sagte der Wirt. »Unser Bischof ist ein ausgezeichneter Kämpfer und ein guter Seelsorger obendrein.«

Verdammter Rowley, dachte Adelia. Ich mach mir Sorgen, wenn ich ihn vielleicht wiedersehen muss, und ich mach mir Sorgen, wenn ich es nicht muss. Ausgezeichneter Kämpfer, zum Donnerwetter, was fällt ihm ein, in den Kampf zu ziehen?

St. Albans wimmelte von Pilgern, die am Grab von Englands erstem christlichen Märtyrer beten wollten. Die Reichsten unter ihnen, eine Gruppe von zwölf, waren ebenfalls im »Pilgrim’s Rest« abgestiegen und hatten vor, ihr Seelenheil endgültig zu sichern, indem sie ihre Pilgerfahrt in Glastonbury beendeten, der ältesten und heiligsten aller Abteien Englands und, was noch verlockender war, angeblich der Ort des alten Avalon.

Sie begrüßten Emmas Vorschlag, sich ihr und ihrem Tross auf dem Weg in den Südwesten anzuschließen. »Je mehr, desto besser«, erwiderte ihr Anführer, ein beleibter Bürger aus Yorkshire.

»Und sicherer«, sagte eine Äbtissin aus Cheshire. Sie betrachtete Master Roetger wohlgefällig. »Ich hoffe, Euer Ritter kommt mit uns.«

»Bis nach Wells«, sagte Emma. »Aber unterwegs werden wir einen Abstecher nach Aylesbury machen und dort ein paar Tage verweilen. Master Roetger wird in einem Gerichtskampf das Recht meines Sohnes auf eine Besitzung verteidigen.«

»Ein Gerichtskampf?«

»Gerichtskampf?«

Die Tischgesellschaft im Gasthaus horchte auf. Pilgerfahrten zu den Heiligen mochten ja einen Platz im Himmel sichern, aber das Diesseits hatte kaum etwas Unterhaltsameres zu bieten, als zwei Kämpen dabei zuzusehen, wie sie versuchten, sich gegenseitig totzuschlagen.

Der Beschluss war rasch gefasst. Die Pilger würden ihre neue Freundin, Lady Wolvercote, getreulich auf ihrem Umweg zum richterlichen Kampfplatz in Aylesbury im County Buckinghamshire begleiten.

Da sie sich angesichts eines so großen Gefolges vor räuberischen Überfällen sicher fühlte, schickte Emma einen ihrer Reitknechte voraus, um einen Brief nach Wells zu bringen, wo ihre Schwiegermutter Lady Wolvercote ein weiteres Anwesen bewohnte, das der kleine Pippy von seinem Vater geerbt hatte. »Damit kündige ich mein Kommen an«, erklärte sie Adelia. »Wie ich höre, ist es die schönste aller Besitzungen, und falls sie mir gefällt, werde ich mich dort niederlassen. Somerset ist ein besonders angenehmes County. Auf dem Grund gibt es auch ein zusätzliches Haus, ein Witwengut, so wurde mir gesagt, in das die alte Frau ziehen kann, damit sie ein Dach über dem Kopf hat – vorausgesetzt, sie und ich verstehen uns. Falls nicht, kann sie eines der Anwesen irgendwo anders haben – selbstverständlich ein kleineres.«

»Hast du sie nie kennengelernt?«

»Nein«, sagte Emma kalt. »Zu meiner Hochzeit wurden weder Verwandte noch sonst wer eingeladen.«

Es würde eine befremdliche Begegnung werden – eine geraubte Braut und eine Schwiegermutter, die einander völlig fremd waren. Adelia empfand Mitleid mit der unbekannten Frau. Solange Emma in dieser Stimmung war, würde der geringste Missklang genügen, um die bedauernswerte Lady aus ihrem Haus zu vertreiben und in ein anderes zu schicken.

Sie sagte: »Bestimmt wird sie vor lauter Entzücken darüber, ihren Enkel kennenzulernen, die Liebenswürdigkeit in Person sein.«

Aus Wolvercotes früherer Ehe waren keine Kinder hervorgegangen. Seine erste Frau war schon wenige Wochen nach der Hochzeit gestorben und hatte ihm eine stattliche Mitgift hinterlassen. Da Adelia den Mann kannte, hatte sie diesen Umstand stets verdächtig gefunden.

»Das würde ich ihr auch raten«, sagte Emma unheilvoll.

 

Die Richter von Aylesbury saßen auf Bänken unter einem mit Wimpeln geschmückten Sonnensegel. Eine ebenfalls überdachte Tribüne bot den nicht am Prozess beteiligten reichen und bedeutenden Menschen Platz. Gewöhnliche Sterbliche trotzten in großer Zahl der Sonne und säumten die mitten auf dem Feld in den Boden gerammten Spießreihen, die eine mit Sand bestreute, sechzig Quadratfuß große Fläche abgrenzten.

Es war ein Volksfest. In kleinen Zelten wurde Ale und Zuckerwerk feilgeboten. Spielleute unterhielten die Menge mit Liedern, Zauberkunststücken und Akrobatik. Marktfrauen verkauften Wäscheklammern und Kräuter. Dahinter, auf offenem Feld, schossen Schwalben über dem jungen Getreide hin und her.

Der Herold der Richter blies eine Fanfare, ehe er die beiden Kombattanten mit schallender Stimme ankündigte. »Vor dem Auge des allmächtigen Gottes werden Master Peter aus Nottingham, der für Sir Gerald L’Havre antritt, und Master Roetger aus Essen, der für Lord Philip, Baron Wolvercote, antritt, an diesem Tage den Beweis erbringen, wem das Herrenhaus von Tring mit allem Zubehör rechtmäßig gehört.«

Die Trompete ertönte erneut. »Die Kämpen mögen sich mit scuti und bacculi bewaffnen und vortreten, um den Richtern zu schwören, dass sie in diesem Gerichtskampf aller Zauberei entsagen, und dann mögen sie kämpfen, bis der Gott der Schlacht entscheidet oder die Sonne untergeht.«

Die beiden Kämpfer traten aus einem kleinen Waffenzelt unweit der richterlichen Bänke, sanken vor den Herren auf die Knie und sprachen gleichzeitig: »Höret, Ihr Herren Richter, dass wir an diesem Tage weder gegessen noch getrunken haben und dass wir weder Knochen noch Stein, noch Gras, noch irgendwelches Zauberwerk oder Hexenwerk oder Teufelswerk am Leibe tragen, durch welches das Gesetz Gottes geschmäht oder das Gesetz des Teufels erhöht werden könnte. So wahr uns Gott und Seine Heiligen helfen mögen.«

Adelia war nur deshalb unter den Zuschauern, weil Emma sie darum gebeten hatte. Sie wäre lieber im Gasthaus bei den Kindern geblieben. Kämpfe waren ihr grundsätzlich zuwider – es war zu mühsam, die Menschen hinterher wieder zusammenzuflicken, vorausgesetzt, sie ließen ihr überhaupt die Chance, indem sie noch lebten.

Die beiden Männer betraten den Kampfplatz. Beide waren mit einem Schild und einem Stab bewaffnet. Sie trugen ärmellose Kettenhemden, Kopf und Beine waren ungeschützt, und ihre Füße steckten in roten Sandalen – offenbar eine Tradition –, weshalb sie ein wenig lächerlich aussahen, wie Kinder, die sich ohne das passende Schuhwerk als Ritter verkleidet hatten.

Adelia war erleichtert. Diese Stäbe waren gewiss nicht so gefährlich wie Schwerter, auf jeden Fall weniger blutig. Das sagte sie Emma.

»In Deutschland benutzt man das Schwert«, erfuhr sie, »aber Roetger kann mit beidem meisterlich umgehen – und die richtige Bezeichnung ist ›Kampfstab‹, meine Liebe.«

Emma wirkte beunruhigt. Dieses Mal hatte der knauserige Sir Gerald anscheinend nicht gespart. Sein Kämpe war zwar ein oder zwei Zoll kleiner als Roetger und wahrscheinlich auch ein wenig älter, aber die Muskeln an Hals, Armen und Beinen waren furchteinflößend. Ebenso wie das spöttische Grinsen, das Selbstvertrauen und dunkelgelbe Zähne offenbarte.

Der Deutsche sah im Vergleich dazu schlanker aus, und sein Gesicht war ausdruckslos. Er war ein schweigsamer Mann, aber Adelia hatte ihn während der Reise ins Herz geschlossen, vor allem, weil die beiden Kinder ihn mochten und ihn ständig belagerten: »Master Roetger, Master Roetger.« Er hatte eine Engelsgeduld mit ihnen, schnitzte ihnen Flöten aus Haselzweigen, zeigte ihnen, wie man den Ruf der Eule nachahmte, indem man Luft in die zusammengelegten hohlen Hände blies, riss kleine Stückchen aus einem zusammengefalteten Blatt, sodass es nach dem Auseinanderfalten ein Gesicht hatte.

»Hat er Kinder in Deutschland?«

»Ich hab ihn nicht gefragt«, sagte Emma mit mehr Nachdruck, als die Frage verdiente. »Er ist hier, um zu kämpfen. Alles andere interessiert mich nicht.«

Wieder erklang ein Fanfarenstoß. Master Peter, der für den Beschuldigten kämpfte, warf einen Kettenhandschuh auf den Boden. Master Roetger, der Kämpe des Klägers, hob ihn auf.

Die Kampfstäbe waren sechs Fuß lang und aus Eichenholz. Die Männer gingen jetzt in Kampfstellung: Eine Hand umfasste den Stab in der Mitte, die andere Hand packte ihn im unteren Viertel, sodass die Hälfte des Stabes zum Zuschlagen diente.

Nur dass nicht zugeschlagen wurde – zumindest nicht am Anfang. Es gab viel Rumgehüpfe, wenn einer versuchte, dem anderen die Beine unter dem Körper wegzuschlagen, Tänzelei, Gestöhne, lautes Klacken, wenn Holz auf Holz traf, aber keine Körpertreffer.

Pater Septimus, Emmas Beichtvater, der neben Adelia saß, rieb sich die Hände. »Schön, schön, richtige Kämpen auf beiden Seiten. Wir können uns auf einen feinen Kampf freuen. Das wird Stunden dauern, bis die müde werden.«

Stunden? Und was geschah, wenn sie dann müde wurden und den Schlägen nicht mehr schnell genug ausweichen konnten? Diese Stäbe waren ziemlich schwer.

Der Kampf hatte kaum begonnen, und schon war Adelia angewidert davon, angewidert von allem, den Zelten, den Fanfaren, den Wimpeln, den Richtern, der ganzen abgeschmackten Feierlichkeit. Alles hier war besudelt, sie eingeschlossen. Sie dachte an Jesus und dessen schlichte, unprätentiöse Menschlichkeit, sie dachte, dass sie hier Seinen Vater missbrauchten, so wie in allen Gerichtsverfahren, bei denen Gott als Entscheidungsfinder ins Spiel gebracht und auf den Status eines römischen Kaisers herabgewürdigt wurde, der über einem blutbefleckten Kolosseum thronte und den Daumen nach oben oder unten recken sollte.

Sie sagte Emma, sie müsse einem Ruf der Natur folgen. Emma, die ein Taschentuch in den Händen zwirbelte und die Augen starr auf den Kampfplatz gerichtet hielt, erwiderte nur: »Komm schnell zurück! Vielleicht wird Master Roetger dich brauchen.«

Die Zuschauer, die die Knie anzogen, als Adelia die Reihe entlang zur Treppe ging, spähten um sie herum und schnalzten ärgerlich mit der Zunge, weil sie ihnen für einen kurzen Moment die Sicht versperrte.

Hinter der Tribüne war extra für den Anlass eine Latrine ausgehoben worden. Eine Wolke von Fliegen hing darüber, die sogar über den ringsherum aufgestellten Flechtzaun hinweg zu sehen war. Adelia ging daran vorbei, kletterte über einen Zaun und folgte einem Pfad bis zum Bach, wo der Lärm der Menge hinter ihr kaum noch zu hören war. Sie setzte sich unter einer Weide ins Gras, zog die Stiefel aus und ließ sich vom Wasser die Füße kühlen.

Was mache ich hier eigentlich?

Durch ihre Flucht aus dem Sumpfland hatte sie sich von allem getrennt, was ihr Halt gab. Es war schmerzlich gewesen, ihre Patienten zu verlassen und Abschied von Prior Geoffrey zu nehmen, und eine noch größere Trauer hatte sie erfasst, als sie sich in St. Augustine kurz, aber innig von Ulf verabschiedete, Gylthas Enkelsohn, nicht mehr der kleine Bengel, der einst ihr Gefährte gewesen war, sondern unter der Aufsicht des Priors zu einem jungen Mann herangereift, der sich der Jurisprudenz widmen wollte. Und, ach, sie würde Wächter vermissen. Emma mochte den Hund nicht, und Adelia war dazu überredet worden, ihn in der Obhut des Priors zu lassen.

Ohne sie alle fühlte Adelia sich entwurzelt, haltlos, zumal sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte. Wenn sie keine Ärztin war, war sie nichts: Nicht mal Allie konnte diese Leere füllen. Wo sollte sie hin? Was sollte sie tun?

Die schattenhaften Forellen im Bach waren ebenso ziellos wie sie, und sie verlor die Lust daran, sie zu beobachten. Sie lehnte den Kopf nach hinten gegen den Baum.

Ach, verdammt, sie würde zurück nach Salerno gehen. Allie und Gyltha ihren geliebten Zieheltern vorstellen – die hatten geschrieben, wie sehr sie sich danach sehnten, ihre Enkeltochter kennenzulernen. Ja, genau das würde sie machen. Dort könnte sie sich wieder ihren Lebensunterhalt verdienen. Vielleicht würde ihr alter Lehrer Gordinus sie erneut als seine Assistentin nehmen, oder sie könnte Vorlesungen über Leichensektion halten.

Ja, wenn sie ihre Verpflichtung Emma gegenüber erfüllt hatte, würde sie heimkehren. Allie würde in Salerno eine bessere Ausbildung bekommen, als ihre Mutter sie ihr hier bieten konnte – obwohl, wie Adelia stolz dachte, das Kind schon jetzt ein wenig Latein konnte.

»Und, Henry, diesmal werde ich dich zwingen, mich gehen zu lassen«, sagte sie laut.

Bislang hatte der König ihr immer einen Pass verweigert. »Die Toten sprechen zu Euch, Mistress«, hatte er ihr erklärt, »und ich muss wissen, was ein paar von den armen Teufeln zu sagen haben.«

Aber falls der König hart blieb? Tja, dann gab es andere Möglichkeiten, aus dem Land zu kommen – Bootsmänner aus dem Sumpfland, die nicht nur ihre Freunde waren, sondern auch Schmuggler, würden sie nach Flandern bringen.

Adelia starrte auf die zarten Weidenblätter über ihr und überlegte, wie sie die Reise ihrer Familie durch Frankreich und über die Alpen bis ins Königreich Sizilien bezahlen könnte … in einem Planwagen Arzneien verkaufen … sich als Kräuterkundige einer Pilgergruppe anschließen …

Sie erwachte, nachdem sie geträumt hatte, sie säße im Kolosseum inmitten einer Menschenmenge, die sich am Blut der Gladiatoren ergötzte und nach immer mehr schrie. Die Landschaft vor ihr lag noch immer friedlich da, aber der Bach spiegelte jetzt einen bernsteingelben Himmel wider.

Großer Gott, die Sonne ging bald unter! Sie hatte Stunden geschlafen, und das Geschrei der Menge in der Ferne war laut und schrill geworden, was darauf schließen ließ, dass jemand verletzt war. Sie wollte es gar nicht sehen.

Aber sie war Ärztin.

Adelia stand auf und schüttelte Schmetterlinge ab, die sich auf ihrem Rock niedergelassen hatten. Sie zog ihre Stiefel an und eilte den Pfad hinauf.

Die Menschen auf der Tribüne machten von ihrer Rückkehr ebenso wenig Aufhebens wie von ihrem Fortgang. Das Taschentuch in Emmas Händen war völlig zerfetzt, ihr Gesicht weiß.

Die beiden Kämpen waren nicht mehr wiederzuerkennen. Der Sand hatte sich auf die verschwitzte Haut und die Haare gelegt und ihre Gestalten verdunkelt, sodass sich die silbernen Kettenhemden in dem schwächer werdenden Licht scheinbar von allein bewegten – langsam, sehr langsam, wie durch Sirup. Beide Männer humpelten. Roetger hielt seinen Kampfstab nur noch mit der rechten Hand, der linke Arm hing nutzlos herab. Sein Gegner konnte offenbar kaum noch sehen und fuchtelte immer wieder mit dem Stab vor sich durch die Luft wie ein Blinder, der nach einem Hindernis tastet.

Das Geschrei der Menge, das Adelia gehört hatte, wurde allmählich ungeduldig. Bald würde es dunkel werden, und noch hatte keiner der beiden Kämpen den anderen zu Tode geprügelt. Höchst unbefriedigend. Die Richter fingen schon an, sich zu beratschlagen. Der Gott der Schlacht enttäuschte sie alle.

Und dann durchfuhr eine jähe Bewegung die Szene auf dem Kampfplatz. Zwei laut knallende Schläge ertönten, fast gleichzeitig, aber nicht ganz. Mit dem ersten traf Master Roetgers Stab wuchtvoll den Kopf seines Gegners und schleuderte diesen zur Seite, mit dem zweiten prallte Master Peters Stab auf Master Roetgers Beine.

Sobald Sir Geralds Kämpe auf dem Boden lag, machte Roetger einen Satz nach vorn und presste die Spitze seines Stabes auf den Hals des Gegners, drückte ihn fest zu Boden.

Stille. Eine Stimme krächzte: »Sagt es!« Sie gehörte Roetger.

Ein Stammeln, Schluchzen.

»Sagt es! Sagt es laut!«

»Ergebung.« Ein eigentümlicher Schrei, eine Unterwerfung, die für das Geschöpf, das sie aussprach, das Ende von allem bedeutete.

Die Menge atmete mit einem Heulen aus, das weniger Jubel für den Sieger war als vielmehr Verachtung für den Unterlegenen.

Irgendwo gellte erneut die Trompete. Die Richter hatten sich erhoben. Emma war auf die Knie gefallen, die Hände vor dem Gesicht. Vielleicht dankte sie ihrem Gott.

Adelia achtete auf nichts von alledem, nicht mal auf den verwundeten Roetger, der seinen Stab jetzt als Krücke benutzte, um vom Kampfplatz zu humpeln. Sie beobachtete eine Kreatur, die durch den Sand in den Schatten kroch. »Was wird jetzt aus ihm?«, fragte sie Pater Septimus.

»Wem? Ach der. Er ist natürlich entehrt. Er wurde öffentlich gedemütigt, hat sich selbst zum Feigling erklärt.«

Denn genau das bedeutete dieses gestammelte Wort »Ergebung«: die persönliche Vernichtung. Master Peter würde nicht sterben, doch das, was ihn ausmachte, war gestorben. Und der Mann hatte fünf Stunden lang gekämpft.

Sie waren alle gedemütigt worden.

 

Master Roetger lag auf einem Tisch im Waffenzelt, und sein Knappe stand hilflos daneben. Ein Arzt betastete unsicher die Gliedmaßen und hob den Kopf, als die Frauen hereinkamen. »Frakturen in Arm und Knöchel. Ich kann eine Salbe applizieren, eine von mir selbst gefertigte fabelhafte Mixtur aus bei Vollmond gewonnenem Krötenblut und …«

Adelia stupste Emma an, die prompt sagte: »Vielen Dank, Doktor, das wird nicht nötig sein. Wir haben unsere eigenen Salben.«

»Nicht so heilsam wie die meine, das versichere ich Euch, Mylady. Und wohlfeil, sehr wohlfeil – nur Sixpence für die erste Anwendung, drei für jede nachfolgende.«

»Nein danke, Doktor.«

Während Emma den Mann hinausgeleitete, begann Adelia mit ihrer eigenen Untersuchung des Patienten. Roetger biss sich auf die Lippen, gab aber keinen Laut von sich.

Der Oberarmknochen des linken Arms war zweifellos gebrochen, der Fußknöchel allerdings nicht. Was sie gehört hatte, als Master Peters Kampfstab auf Master Roetgers Fuß traf, war nicht das Brechen von Knochen gewesen, sondern eher ein Knall, als würde etwas zerreißen – kein Geräusch, das sie schon einmal gehört hatte, aber eines, von dem man ihr in der Medizinschule berichtet hatte. Und der Schlag hatte das Bein hinten getroffen.

Tatsächlich, als sie den rechten Fuß in die Hand nahm, gab er schlaff nach. Sie konnte ihn so weit nach vorne biegen, dass die Zehen das Schienbein berührten.

»Das ist kein gebrochener Knöchel«, sagte sie. Sie sah Roetger an und dann Emma. »Ich fürchte, es ist die Ferse, die Achillessehne.«

»Was ist das?«

»Sie ist … nun ja, wie ein Stück Schnur, das mit der Wadenmuskulatur verbunden ist.« Im Geist sah sie die Sehne in einem sezierten Bein auf dem großen Marmortisch, den ihr Ziehvater für seine Obduktionen benutzte.

Sie hätte ihnen gerne erzählt, wie wunderbar diese Sehne war, die dickste und stärkste im Körper, die den Fuß offenbar befähigte, sich beim Laufen oder Springen vom Boden abzudrücken. Und warum sie nach Achilles benannt war, dessen einzige Schwachstelle sie gewesen war, weil seine Mutter ihn an der Ferse festgehalten hatte, als sie ihn in den Styx tauchte, um den übrigen Körper des Helden unverwundbar zu machen. Doch weder Emma noch Roetger waren in diesem Moment an einer wissenschaftlichen Erklärung interessiert.

»Sie ist gerissen, versteht Ihr«, sagte sie. »Der letzte Schlag muss gewaltig gewesen sein.«

Der Kämpe riss sich zusammen. »Wie lange?«

»Sollen wir einfach einen festen Verband anlegen?«, fragte Emma.

»Ja, genau.« Adelia sah Roetger an. »Die Sehne darf auf gar keinen Fall belastet werden, bis sie geheilt ist, egal, wie lange es dauert …« Sie durchforschte ihr Gedächtnis danach, was der auf Gliedmaßen spezialisierte Lehrer der Schule gesagt hatte – sie selbst hatte diese Art von Verletzung noch nie behandelt. »Das könnte sehr lange dauern, länger als der Bruch in Eurem Arm … vielleicht sechs Monate …«

Roetgers Augen weiteten sich vor Schreck.

Emma sagte entsetzt: »Sechs Monate?«

Adelia packte sie am Arm und zog sie vor das Zelt. »Du kannst ihn nicht zurücklassen. Was soll er denn machen? Wie soll er auf einem Bein nach Deutschland zurückkehren?«

Emma war empört. »Ich habe keineswegs die Absicht, ihn zurückzulassen. Er wurde in meinem Dienst verwundet. Natürlich werde ich für ihn sorgen.«

Adelia seufzte erleichtert auf. Die sanftmütige Emma von früher hatte also unter der raueren Fassade der neuen überlebt.

»Aber er wird mit uns reisen müssen«, sagte die neue Emma schneidend. »Möglicherweise habe ich Verwendung für ihn, wenn wir in Wells angekommen sind.«

»In den nächsten sechs Monaten wohl kaum.« Adelia zählte auf: »Das ganze untere Bein muss geschient werden. Ein Sud aus Weidenrinde gegen die Schmerzen. Und Beinwell, wir brauchen Beinwell, aber der wächst überall, und wir können nur hoffen, dass er bei Sehnen ebenso gut wirkt wie bei Knochen.« Sie ging zu den Händlern hinüber, die ihre Zelte abbrachen, um sie um ein paar Streben für die Schiene zu bitten.

Emma rief ihr nach: »Hat er große Schmerzen?«

»Höllische.«

 

Als Adelia sich endlich in dem Gasthaus in Aylesbury, in dem sie alle abgestiegen waren, schlafen gelegt hatte, machte sie fast die ganze Nacht kein Auge zu, weil ihr Roetgers Ferse nicht mehr aus dem Kopf ging. Sie hatte ihm fürs Erste eine behelfsmäßige Schiene angelegt, aber die würde nicht genügen, wenn sie die Belastungen einer Reise über unwegsame Straßen überstehen und verhindern sollte, dass ihr Träger mit dem Fuß auftrat, was unter allen Umständen vermieden werden musste.

Bei Tagesanbruch war sie im Stallhof des Gasthauses und befragte einen verschlafenen Knecht, wo sie wohl Beinwell finden könne. Da jedes County einen anderen Namen für die Pflanze hatte, redeten er und sie zunächst aneinander vorbei, bis dem Mann endlich ein Licht aufging. »Ach so, Ihr meint Schadheilwurz«, sagte er und wies ihr den Weg zu einem überwucherten Fleckchen hinter einem Gemüsegarten, wo sich in den dunkelgrünen Kronen der alten Pflanzen schon ganze Büschel von jungen, lanzettförmigen Blättchen und erste gelbe Blüten zeigten.

Adelia ging es vor allem um die Wurzeln des Beinwells. Als sie sie mit ihrer Schaufel ausgrub, ärgerte sie sich, keine Handschuhe angezogen zu haben – die behaarten Blätter reizten die Haut.

Anschließend ging sie mit ihrer Ernte zurück zum Gasthaus, wo sie die Pilger beim Frühstück und tief verstört vorfand. Sie hatten schreckliche Neuigkeiten erfahren.

»Glastonbury ist niedergebrannt«, sagte der Mann aus Yorkshire. »Aye, das haben gestern Abend zwei fahrende Händler unabhängig voneinander erzählt. Niedergebrannt. Glastonbury. Glastonbury. Das heißt, England hat sein Herz verloren.«

Es war ein Herz, das mehr Jahrhunderte geschlagen hatte, als irgendeiner der Anwesenden sagen konnte, angetrieben von den Heiligsten der Heiligen – dem heiligen Josef von Arimathäa, dem heiligen Patrick von Irland, der heiligen Brigid, dem heiligen Kolumban, dem heiligen David von Wales, dem heiligen Gildas … Und jetzt war es stehen geblieben.

Im Raum herrschten Fassungslosigkeit und Entsetzen. Ein Handschuhmacher aus Chester brachte zum Ausdruck, was alle empfanden: »Bei so vielen Heiligen hätte doch wohl einer von ihnen das Scheißfeuer löschen können, oder?«

»König Arthur hätte das machen sollen«, sagte ein anderer. »Wie kann er denn bei so was friedlich weiterschlafen?«

Nach vorherrschender Meinung hatten die seligen Toten von Glastonbury sich einfach nicht ordnungsgemäß verhalten.

Als Emma eintrat, wurde ihr die Neuigkeit sogleich berichtet, und auch sie war erschüttert. »Glastonbury?«

»Aye. Das hättet Ihr nicht gedacht, was?«, sagte der Bürger aus Yorkshire. »Und es war ein rechter Feuersturm, wie man hört; kein Stein mehr auf dem anderen, nicht einer, so ein Jammer. Und ich wollte mir den Segen von Josef von Arimathäa holen.« Er schüttelte den Kopf. »Hätte früher aufbrechen sollen.«

Die Äbtissin aus Cheshire war weniger aufgebracht. »Ich hab ja gleich gesagt, wir sollten nach Canterbury. Beim heiligen Thomas können wir sogar auf noch mehr Heiligkeit zählen, wo er doch der neueste Märtyrer ist. Ha, wer hätte gedacht, dass ein so frommer Heiliger von seinem eigenen König ermordet wird …«

Der Yorkshire-Mann fiel ihr brüsk ins Wort. Die Reisegefährten der Äbtissin hatten genug von ihren Tiraden über die Niedertracht Henry Plantagenets, der lauthals den Tod seines widerspenstigen Erzbischofs verlangt hatte. Er sagte: »Aye, nun denn, dann reisen wir eben jetzt dorthin – nach Canterbury.« Aus den Knochen und Reliquien von Glastonbury war nun, da sie zu Asche verbrannt waren, kein Segen mehr zu gewinnen, viel jedoch aus den Phiolen mit dem Blut des heiligen Thomas à Becket, die in der Kathedrale verkauft wurden, in der er gestorben war.

Nachdem die Rechnungen beglichen waren und das Gepäck verschnürt, gratulierten die Pilger Emma zu ihrem Triumph beim Gerichtskampf, den sie, wie sie beteuerten, sehr kurzweilig gefunden hatten, und verabschiedeten sich von ihr. Der Mann aus Yorkshire küsste ihr die Hand. »Wir sind überaus traurig, Mylady, Euch nun verlassen zu müssen.«

»Auch mich bekümmert es.« Emma meinte das ehrlich. Ohne die Pilger und mit dem außer Gefecht gesetzten Master Roetger würde die Reise nach Wells sehr viel gefährlicher werden.

Adelia nahm sich nicht die Zeit, ihnen zum Abschied zu winken; sie war bereits damit beschäftigt, für die Ruhigstellung der Ferse zu sorgen.

Gyltha wurde in die Küche befohlen, wo sie die Beinwellwurzeln im größten Mörser, den das Gasthaus besaß, zu Brei stampfen sollte, während Mansur, ausgestattet mit Axt, Schnitzmesser und genauen Anweisungen, losgeschickt wurde, um eine Esche und eine Weide zu suchen. Adelia selbst sicherte sich die Hilfe von Emmas dienstälterem Reitknecht Alan, und die beiden waren im Stallhof zu sehen, wo sie Skizzen in den Sand zeichneten.

Um die Dinge zu erleichtern, wurde Master Roetger zum Trosswagen getragen und dort so auf Kissen gelegt, dass seine Beine über die Ladeklappe baumelten und das verletzte, das nackt war, behutsam auf einen Sägebock gebettet werden konnte. Das Manöver sorgte unter den Dienern des Gasthauses für große Aufregung, und sie liefen in der irrigen Hoffnung herbei, dem Sarazenenarzt – Mansurs angenommene Rolle – dabei zuschauen zu können, wie er eine Amputation vornahm.

Stattdessen sahen sie Gyltha, die einige Beinwellblätter an die Ferse hielt, während Adelia sie mit der unangenehm riechenden grünlich schwarzen Paste aus dem Mörser bestrich und vorsichtig andrückte, bis schließlich der gesamte Fuß einschließlich der Sohle und des unteren Schienbeins damit ummantelt war.

Nach scharfen Worten aus dem Munde des Wirts machte sich seine Dienerschaft wieder an die Arbeit – schließlich gab es nichts anderes zu sehen, als dass die sattsam bekannte Heilpflanze Beinwell von zwei Frauen auf eine Verletzung aufgebracht wurde.

Als der Fuß fertig war, wurde der gebrochene Arm ebenso verarztet. Der Schmerz presste dem Patienten den Mund zu einer dünnen Linie zusammen, und Schweiß glänzte in den Furchen auf seiner Stirn, aber er versuchte, Interesse zu zeigen.

»In meiner Heimat essen wir die Pflanze auch«, sagte er. »Wir nennen sie Schwarzwurz. Sie schmeckt gut, wenn man sie paniert und brät.«

Adelia merkte auf. Englands Bauern aßen gekochten Beinwell als Gemüse, ebenso wie Nesseln. Aber die Blätter in Milch, Eier und Mehl zu tunken zeugte von einer höheren Lebensart.

»Und jetzt panieren wir dich«, sagte Gyltha zu ihm, was ihm ein Lächeln abrang.

Als Adelia fertig war, trat sie einen Schritt zurück. »So. Wie fühlt sich das an?«

»Sechs Monate, wirklich?«

»Ich fürchte ja.«

»Aber ich werde wieder gehen können?«

»Sicher«, antwortete sie und hoffte bei Gott, dass sie recht hatte, »das werdet Ihr.«

Sie und Gyltha ließen den Patienten, wo er war, um die Masse trocknen zu lassen, und gingen zum Pferdetrog, wo sie sich das Zeug von den Händen wuschen. Emma, die sie beobachtet hatte, trat zu ihnen. »Wie lange wird das dauern?«

Adelia erwiderte, dass noch einiges mehr zu tun sei, doch Emma wandte sich mit einem Aufschrei ab und ging.

»Launisch, launisch«, sagte Gyltha. »Was hat die denn?«

»Ich weiß nicht.«

Es gab noch vieles mehr zu tun. Adelia, der Reitknecht und Mansur arbeiteten den ganzen Vormittag daran, eine Korbhalterung aus Weidenruten zu flechten, die sie sich für das Bein ausgedacht hatten. Die Sohle bestand aus Holz, das Mansur zu einem Halbrund geschnitzt hatte, damit möglichst wenig Druck auf die Ferse ausgeübt wurde, sollte Roetger versehentlich mit dem Fuß auftreten.

Dann und wann tauchte Emma im Fenster ihres Zimmers auf, sah ihnen zu und schnaubte vor Ungeduld, aber Adelia achtete nicht weiter darauf – Roetgers Verletzung war neu für sie, und sie war fest entschlossen, sie zu heilen.

Es war schon nach Mittag, als die Beinwellpaste endlich knüppelhart getrocknet war und die Korbhalterung drum herum gebunden werden konnte. Auch jetzt verzögerte Adelia die Weiterreise noch, um den vorderen Teil der Halterung mit einer Schnur an einem Haken am Dach des Planwagens zu befestigen, sodass der Fuß des Kämpen stoßsicher gelagert war und bei jedem Ruckeln des Wagens lediglich in der Luft pendeln würde.

»Er sieht lächerlich aus«, sagte Emma.

Zum ersten Mal beklagte Roetger sich. »Ich fühle mich wie ein geschnürter Rollbraten.«

Doch Adelia war unnachgiebig. »Und so bleibt Ihr auch«, sagte sie. Kurz hinter Aylesbury würden sie Richtung Südwesten abbiegen und auf kleineren Straßen weiterreisen, die vermutlich in keinem guten Zustand waren.

Und tatsächlich. Während der Regenfälle zu Beginn des Frühjahrs hatten die Räder der Bauernkarren grabentiefe Furchen in die Erde gewühlt, die anschließend niemand aufgefüllt hatte, sodass sie in der Sonne hart wie Stein geworden waren.

Wieder und wieder musste die Reisegesellschaft pausieren, damit die Reitknechte ein Rad befestigen konnten, das sich gelockert hatte. Doch Adelia war stolz auf sich, weil Roetgers Bein in der Halterung bloß hin und her schwang und keinen Schaden nahm. Jedes Mal, wenn sie irgendwo zur Nacht einkehrten, ließ Emma den jeweiligen Dorfvogt rufen und schalt ihn dafür, den Straßenabschnitt, für den er zuständig war, nicht ordnungsgemäß instand zu halten, obgleich ihre Vorhaltungen wohl kaum etwas nützen würden – die Wartung der Straßen war teuer und zeitaufwendig.

Abgesehen von den unwegsamen Straßen verlief die Reise angenehm. Die Luft war erfüllt von Kuckucksrufen und dem Duft der Hyazinthen, die überall, soweit man zwischen den Bäumen hindurchsehen konnte, den Waldboden bedeckten.

Die Furcht vor Überfällen milderten die vielen harmlosen Menschen, denen sie unterwegs begegneten, Menschen, die das gute Wetter ins Freie gelockt hatte: Falkner, Marktvolk, Vogelfänger, Familien auf dem Weg zu Verwandten, Gruppen von rachgierigen Wildhütern, die Füchsen und Mardern den Garaus machen wollten. Die Reisegesellschaft tauschte mit ihnen allen Grüße und Neuigkeiten aus. Zugegeben, Master Roetger hatte zu leiden, wenn sie durch Dörfer kamen, in denen ungehobelte Jungen den festgebundenen und liegenden Mann für einen Strolch auf dem Weg zum Kerker hielten und ihn mit Steinen bewarfen, aber die Fahrt durch die immer lieblichere Landschaft war schön, und Adelia hätte sie genossen, wäre da nicht Emmas seltsames Benehmen und erstaunlicherweise auch das ihrer eigenen Tochter gewesen.

Allie hatte trotz ihrer jungen Jahre schon ihren eigenen Kopf. Zuerst hatte Adelia gedacht, das Kind würde in ihre Fußstapfen treten und wäre ebenso an Anatomie interessiert wie seine Mutter. In gewisser Weise war Allie das auch – aber nur an tierischer Anatomie. Was keine Schuppen, vier Beine, Fell oder Flossen hatte, ließ sie völlig kalt. Jedwede lebende Form der Fauna begeisterte sie, und wenn das fragliche Exemplar tot war, wollte sie wissen, warum es sie begeistert hatte, warum es geflogen, gekrochen, geschwommen oder galoppiert war. Mit drei Jahren hatte sie den Tod der zahmen Dohle, die gern auf ihrer Schulter gesessen hatte, beweint – und sie dann obduziert. Mit vier Jahren kannte sie dank der Hilfe eines einheimischen Jägers sämtliche Muskeln, die ein Reh rennen ließen, die Knochen der Grabschaufeln eines Maulwurfs – ein Tier, dem im Sumpfland gnadenlos Fallen gestellt wurden, weil seine unterirdischen Gänge die vor Hochwasser schützenden Deiche schwächten.

Zu Beginn der Reise war Allie von ihrem zweijährigen Spielkameraden entzückt gewesen. Aber da sie die Pferde und Maultiere im Tross so liebte, bemühte sie sich um die ungeteilte Aufmerksamkeit der Reitknechte – ein Menschenschlag, mit dem sie sich immer gut verstand. Doch die Reitknechte standen in Emmas Diensten und infolgedessen auch in denen des kleinen Pippy, der unweigerlich bevorzugt wurde, wenn an der Spitze der Reisegruppe ein Platz im Sattel frei war. Außerdem wurde der kleine Lord Wolvercote nicht nur von seiner Mutter und den Dienern verhätschelt, sondern auch noch von Gyltha und Adelia, und allmählich zeigte sich Allies Eifersucht in gehässigen Blicken und in Schlägen und Stößen, mit denen sie den kleinen Jungen immer wieder zu Boden beförderte. Das ging so weit, dass die Erwachsenen keinen Moment mehr wegschauen konnten, ohne dass Pip postwendend losplärrte, weil Allie ihn schon wieder malträtiert hatte.

Entsetzt hielt Gyltha ihr Standpauken – vergeblich.

»Mag ihn nicht«, sagte Allie als Begründung dafür, dass sie einen Zweig abgerissen und ihn als Rute benutzt hatte, um Lord Wolvercote damit den Hintern zu versohlen.

»Sie ist ’ne verzogene kleine Madam«, sagte Gyltha zu Adelia, nachdem sie Allie die Rute abgenommen und dem Kind damit im Gegenzug eins aufs Hinterteil gegeben hatte. »Sie will sich nich entschuldigen. Du musst was unternehmen!«

Insgeheim bewunderte Adelia den Dickschädel ihrer Tochter, die sich auch durch Schelte und Schläge nicht unterkriegen ließ, aber Gyltha hatte recht – so konnte es nicht weitergehen. Adelia probierte es mit einem Trick; sie bastelte eine Puppe aus Stöckchen und Verbänden, der sie eine hässliche Fratze aufmalte und den Namen Knuff gab. Sie schenkte sie ihrer Tochter. »Mit so einem Benehmen machst du dir keine Freunde, Allie, deshalb schlag lieber Knuff, wenn du das nächste Mal Wut auf Pippy hast.«

Allie betrachtete das Monstrum beifällig und klemmte es sich unter den Arm. »Ich mag Knuff«, sagte sie. »Aber Pippy ist doof.« Und sie drangsalierte ihn weiter, bis es schließlich unmöglich wurde, die beiden Kinder während einer Rast gemeinsam herumtollen zu lassen.

Adelia war dankbar, dass Emma die Situation gelassen sah, wenngleich sie darauf achtete, dass ihr Sohn nicht mehr in Allies Reichweite kam. »Ich weiß, was das Kind empfindet. Im Kloster hab ich immer die kleine Schwester Priscilla gekniffen, wenn ich das Gefühl hatte, dass Mutter Edyve sie mir gegenüber bevorzugte.«

Aber auch sie selbst benahm sich schlecht. Adelia war unbegreiflich, warum Emma einerseits so viel Verständnis für Allie hatte, aber andererseits offensichtlich verärgert auf die Pflege von Master Roetger reagierte, für den sie anscheinend keinerlei Mitleid empfand. »Muss er denn wirklich so verhätschelt werden?«, fragte sie beispielsweise, wenn Gyltha und Adelia den Patienten versorgten. Sie schnalzte gereizt mit der Zunge, wenn die Reitknechte Roetger zwischen die Bäume tragen mussten, damit er seine Notdurft verrichten konnte, und wenn sie für ihn in jedem Gasthaus, in dem sie die Nacht verbrachten, im Erdgeschoss aufwendige Vorbereitungen trafen, weil Adelia nicht wollte, dass er eine Treppe hinaufgetragen wurde, da sie fürchtete, der Fuß könne gegen ein Hindernis stoßen.

Es war, als wären die Bedürfnisse von Emmas Kämpen ihr selbst ebenso peinlich wie ihm.

Der wahre Grund dafür wurde Adelia erst nach ihrer Ankunft in Marlborough klar, als sie und Emma die Kinder in einem der edelsten Gasthäuser ihrer bisherigen Reise zu Bett gebracht hatten und der milde Abend sie beide anschließend in den angrenzenden Rosengarten lockte, wo sie einen seltenen Moment der Ungestörtheit miteinander verbrachten.

Während sie spazieren gingen, drang Emmas Stimme durch die duftende Dämmerung ans Ohr ihrer Gefährtin. »Hättest du gern noch mehr Kinder, Delia?«

»Ja, sehr gern. Aber das ist nun wohl ziemlich unwahrscheinlich.«

»Du könntest heiraten.«

»Nein.« Sie hatte sich gegen eine Ehe mit Rowley entschieden, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, und die würde sie nicht aufgeben. Sie sagte leichthin: »Schließlich wird jeder ehrbare Mann in mir bloß verdorbene Ware sehen.«

Emma widersprach nicht. Sie gingen weiter. Nach einer Weile sagte Emma: »Ich will keine Kinder mehr. Ein weiterer Sohn würde zum Beispiel Pippys Erbe schwieriger machen.«

Das leuchtete Adelia nicht ein, die Erbfolgeregelungen waren eindeutig. Aber sie fragte lediglich: »Dann willst du also nicht wieder heiraten?«

»Nein«, sagte Emma schneidend. »Und dank dir muss ich das auch nicht. Aber …«

Der Satz blieb unvollendet. Adelia wartete schweigend ab, worauf er hinauslief.

Plötzlich brach es gequält aus Emma heraus. »Ich höre von den angeblichen Freuden des ehelichen Bettes, aber ich habe sie nie kennengelernt – nicht mit ihm, er hat mir Dinge angetan … Mich gezwungen … Ich habe mich gewehrt … Ich war nie willig, niemals …«

»Ich weiß.« Adelia hakte sich bei ihrer Freundin ein. »Ich weiß.«

»Und doch muss es Freuden geben«, sagte Emma verzweifelt. »Du hast sie mit Rowley erfahren. Es muss sanftere Männer geben, liebevolle Männer.«

»Ja«, sagte Adelia mit Nachdruck, »die gibt es. Du könntest einem begegnen, Emmy. Du könntest wieder heiraten, diesmal aus freien Stücken.«

»Nein!« Es war beinahe ein Schrei. »Ich habe kein Vertrauen … Ich will nie wieder so ausgeliefert … Gerade du müsstest das doch verstehen.«

In der Nähe begann eine Nachtigall zu singen, und die Klänge erfrischten den Garten wie silbrige Wasserperlen. Die beiden Frauen blieben stehen und lauschten.

Dann sprach Emma leiser weiter. »Ich bleibe siebzehn Jahre alt, Delia. Und selbst wenn ich uralt werde, so werde ich doch nie die Lust mit einem Mann erfahren haben.«

Adelia wartete. Dieser Ausbruch kam nicht von ungefähr, aber sie wusste nicht, worauf er hinauslief. Emma erwartete etwas von ihr, aber sie hätte nicht sagen können, was.

»Aber was wäre«, sagte Emma verzweifelt, »was wäre, nur mal angenommen, wenn man sein Herz an einen Mann hängt, einen ungeeigneten Mann, an jemanden … ach, ich weiß nicht, der von niedrigerem Stand ist.«

Sie wurde gereizt, als erwartete sie von Adelia die Antwort auf eine Frage, die sie gar nicht gestellt hatte. Sie ging rasch voraus und sagte über die Schulter. »An jemanden, den man nicht heiraten kann, selbst wenn man es wollte, weil sein Broterwerb und seine Geburt Schande über einen selbst bringen würden … und über das eigene Kind. Was wäre dann?«

Adelia versuchte es sich vorzustellen. Emmas Gestalt vor ihr wirkte wie ein elegantes Gespenst im Mondlicht, ein bleicher Schatten, der im Vorbeigehen Blütenblätter von den Rosen zupfte, als verachte er sie.

Adelia folgte ihr und ließ sich die Umschreibungen durch den Kopf gehen, die Emma verwendet hatte, um ihre Frage zu stellen. Was wollte ihre arme Freundin von ihr? Keine Heirat, das niemals wieder. Keine Kinder, keinesfalls weitere Kinder. Ein Leben ohne körperliche Liebe und andererseits ein Herz, ein schrecklich trauriges Herz, das sich nach der Zärtlichkeit eines Mannes verzehrte … eines ungeeigneten Mannes …

Und dann traf sie die Erkenntnis. Adelia hätte sich ohrfeigen können. Was bin ich doch für eine Närrin! Natürlich. Ich hätte es wissen müssen. Das ist es.

Sie beschleunigte ihre Schritte, fasste Emma am Arm und führte sie zu einer Bank in einer von Rosen umrankten Nische. Sie brachte sie dazu, sich zu setzen, und nahm neben ihr Platz.

»Hab ich dir je meine Theorie dargelegt, wie es möglich ist, die Empfängnis zu verhindern?«, fragte sie, als käme sie auf etwas völlig anderes zu sprechen.

»Nein.« Auch Emma tat so, als würde ein ganz neues Thema angeschnitten. »Jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnere.«

»Eigentlich stammt die Theorie von meinen Zieheltern«, sagte Adelia. »Ich glaube, ich habe dir schon mal gesagt, dass die beiden zwei außerordentliche Menschen sind. Sie lassen sich nicht von ihren unterschiedlichen Religionen einengen – er ist Jude, sie Christin, und ihr Verstand ist frei, so frei von Lehren, Vorurteilen, Aberglauben, Kleingeisterei …« Sie stockte, überwältigt von dem Wunsch, ihre Eltern wiederzusehen, und von der Dankbarkeit für die Erziehung, die die beiden ihr hatten zuteilwerden lassen.

»Wirklich?«, fragte Emma höflich.

»Ja. Und sie sind viel gereist, musst du wissen. Um ihr medizinisches Wissen zu erweitern. Sie haben unterschiedliche Rassen, Stämme, Gesellschaften, Kulturen erforscht, und meine Ziehmutter, Gott segne sie, hat mit den Frauen gesprochen, vor allem mit den Frauen.«

»Ach ja?«, sagte Emma, erneut scheinbar recht desinteressiert.

»Ja. Und als sie schließlich nach Salerno zurückkehrten, hatten sie zweierlei erfahren, nämlich erstens, dass Frauen zu allen Zeiten versucht haben, Herrin über ihren Körper zu werden, und zweitens, welche Methoden sie dafür verwenden.«

»Du meine Güte«, sagte Emma leichthin.

»Ja«, sagte Adelia. Und weil sie nun mal Adelia war, für die die Verbreitung von Wissen eine Herzensangelegenheit darstellte, die den Zuhörer selbstverständlich ebenso faszinieren musste wie sie selbst, begann sie mit einer detaillierten Beschreibung der unterschiedlichen Methoden, mit denen Männer und Frauen zu unterschiedlichen Zeiten versucht hatten, die Freiheit zu erlangen, selbst zu entscheiden, wie viele Kinder sie versorgen konnten. Zuerst sprach sie von »Behältnissen«, Umhüllungen für den Penis, die verschiedene Völker aus Schafshäuten oder Schlangenhäuten anfertigten, mitunter in Essig oder Zitronensaft getränkt. »Sie sind wirkungsvoll, meinte meine Mutter, doch viele Männer tragen sie nicht gern.«

Dann kam das Thema des Coitus interruptus, der biblischen Sünde des Onan, der durch das jüdische Gesetz gezwungen wurde, die Frau seines Bruders zu heiraten, und seinen Samen auf die Erde fallen ließ, damit sie nicht schwanger wurde. »Aber auch hier gilt, dass die meisten Männer dies nicht gern tun.«

Die Nachtigall sang weiter ihr himmlisches Lied, während Adelia sich durch die irdischen, menschlichen Wahrheiten arbeitete. »Es gibt natürlich pflanzliche Mittel, Poleiminze, Asant et cetera«, sagte sie, »doch Mutter hielt nicht viel davon. Zu viele sind giftig und außerdem wirken sie nicht.«

Sie hielt einen Moment inne, hoffte auf eine Reaktion. Es kam keine. Ob Emma, die stumm neben ihr saß, ihr zuhörte oder dieser verflixten Nachtigall, war schwer zu sagen.

»Und dann gibt es Pessare«, sagte Adelia. Sie ging ausführlich auf deren Geschichte ein, erzählte von Frauen aus Outremer, die mit Krokodilkot und Zitronensaft getränkte Schwämme in die Vulva einführten, von einem Araberstamm, der dieselbe Methode verwendete, diesmal jedoch mit einer Mixtur aus Honig und Kamelmist, die mit Weinessig zu einer Paste verrührt wurde. Sie sprach von ähnlichen Mitteln, die bereits in alten Aufzeichnungen erwähnt wurden, ägyptischen Hieroglyphen, griechischen und lateinischen …

Emma wurde unruhig, und Adelia merkte, dass sie ihre Aufmerksamkeit verlor. Sie holte tief Luft. »Meine Mutter stellte eine Gemeinsamkeit bei allen Methoden fest, die erfolgreich waren, nämlich die, was sie ›acidus‹ nannte, ein durchgängiges Element des Sauren: Zitronensaft, Essig. Sie war sicher, dass die Spermien dadurch getötet werden.«

Bei dem Wort »getötet« erstarrte Emma. »Und was sagt Gott zu diesen Mordmethoden?«

»Nicht Mord«, sagte Adelia. »Vorbeugung. Nach Meinung des Klerus verurteilt Gott sie, aber Geistliche sind Männer, die den Tod zu vieler Frauen aufgrund zu vieler Schwangerschaften einfach übersehen.« Adelia dachte an das getötete Neugeborene und an sein Grab im Sumpfland. »Oder das Elend der Familien, die zu viele Mäuler zu stopfen haben.«

Emma stand auf. »Nun, ich finde es abstoßend. Schlimmer noch, es ist vulgär.« Sie ging fort.

»Und bei der Verwendung von Pessaren«, rief Adelia ihr nach, »empfiehlt Mutter, einen Seidenfaden daran zu befestigen, um sie hinterher herausziehen zu können.«

Sie hörte die Tür des Gasthauses zuschlagen und seufzte. »Tja, schließlich hast du danach gefragt«, sagte sie. »Glaube ich wenigstens.«

Sie blieb eine Weile sitzen und lauschte der Nachtigall.

»Du warst aber lange weg«, sagte Gyltha, als Adelia in das Zimmer trat, das die beiden Frauen sich mit Allie teilten.

»Ich hab mich mit Emma unterhalten. Gyltha, ich glaube, ich glaube, sie liebt Master Roetger, meint aber, sie kann ihn nicht heiraten.«

»Das hätt ich dir längst sagen können«, entgegnete Gyltha. »Zu hochnäsig, um ihn selbst zu pflegen, aber eifersüchtig wie ein Kleinkind, wenn andere es tun.«

»Ja, das wird es wohl sein. Die Ärmste.«

»Und sie denkt, dass du selbst ein Auge auf ihn geworfen hast.«

»Ach, Gyltha, das ist doch Unfug.« Für Adelia war der Deutsche ein Patient. Sie sah in ihm nur den Mann mit dem gebrochenen Arm, der gerissenen Achillessehne und die leidende Kreatur.

»Vielleicht, aber sie tut’s.«

Am nächsten Morgen machte Emma ihren Leuten das Leben zur Hölle – sie schimpfte mit den Reitknechten, weil sie die Tiere zu spät gesattelt hatten, mit der Amme, weil sie Pippy die falschen Sachen angezogen hatte, sogar mit Pater Septimus wegen seines überlangen Tischgebets beim Frühstück. Adelia und Master Roetger wurden mit Verachtung gestraft.

»Na, das wird ja ’ne lustige Reise werden«, murmelte Gyltha, als sie aufbrachen.

Adelia pflichtete ihr bei. Falls die Stimmung den ganzen Weg bis Wells unverändert anhielt, wäre das unerträglich.

Wie sich herausstellte, mussten Adelia, Gyltha, Allie und Mansur sie nicht lange erdulden. Sie waren erst eine Stunde unterwegs, als der Klang galoppierender Hufe Reiter ankündigte, die schnell zu ihnen aufschlossen.

Master Roetger griff nach seinem Schwert, das er stets an seiner Seite hatte, obwohl er, festgebunden, wie er war, wohl wenig damit hätte ausrichten können.

Sie waren zu dritt, und jeder trug das Plantagenet-Wappen auf dem Waffenrock und führte ein Ersatzpferd am Zügel. Sie waren nach dem scharfen Ritt ebenso schweißnass wie ihre Pferde. Ihr Hauptmann sprach Emma an. »Seid Ihr Mistress Adelia, Lady?«

Adelia sagte: »Das bin ich.«

»Und ist das da Master Mansur?«

»Ja.«

Der Hauptmann sagte: »Wir sind Euch den ganzen Weg von Cambridge gefolgt, Mistress. Ihr müsst mit uns kommen.«

»Wohin? Und wieso?«

»Nach Wales, Mistress. Auf Befehl von König Henry.«