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Kapitel zehn

Rowley war so wütend, dass er kaum mit ihr reden konnte.

Und Adelia war trotz des Nickerchens, das sie gehalten hatte, nachdem eine fürsorgliche und erleichterte Gyltha sie nach ihrer Rückkehr ins »Pilgrim Inn« zu Bett gebracht hatte, noch immer so müde, dass sie ihm seine Wut verübelte. Wäre ihm denn lieber gewesen, man hätte sie vergewaltigt und ermordet?

Aber nein, ihre schlimmste Untat war offenbar, dass sie die Rufe seines Suchtrupps missachtet und sich nicht vor lauter Dankbarkeit ob ihrer Rettung vor sein Pferd geworfen hatte.

»Ich musste nicht gerettet werden«, gab sie zu bedenken. »Ich war nicht in Gefahr.«

»Von einem Haufen Halsabschneider entführt, um ein Skelett zu untersuchen – so was ist für dich wohl ein netter kleiner Ausflug, was?«

»Das waren keine Halsabschneider, das war Eustace’ Zehnschaft. Wir sind uns gestern Abend auf der Straße über den Weg gelaufen, sie haben mich gefragt, ob ich sie zu der Höhle begleiten würde, wo sie ihn gefunden hatten – und ich bin mitgegangen.«

»Wie man das nun mal so macht«, sagte Rowley.

»Ich hatte gehofft, sie wüssten vielleicht etwas über Emma.«

»Ach ja, deine Freundin, die dauernd verschwindet. In dem Fall musstest du natürlich mit.«

Sie überging seinen Sarkasmus. »Hast du dich nach ihr erkundigt?«

»Danke, ja, ich hab gestern noch mehr Zeit damit vertan, deinetwillen den Vogt des Sheriffs zu befragen. Ich hab ihn in den Bischofspalast bestellt.« Rowleys Zorn wurde vorübergehend auf etwas anderes gelenkt. »Bei Gott, das ist ein Saustall hier; auf dieser Straße kommt es anscheinend ständig zu Überfällen. ›Warte nur, bis Henry das erfährt!‹, hab ich dem kleinen Mistkerl gesagt. ›Der König wird deinem Sheriff an die Eier gehen. Er hat’s nämlich nicht gern, wenn Reisende auf seinen Straßen ausgeplündert werden …‹«

»Emma?« Adelia brachte ihn wieder auf Kurs.

»Es liegen keinerlei Berichte vor, dass eine derartige Reisegesellschaft angegriffen worden wäre, und es ist auch unwahrscheinlich, dass sie einfach so spurlos verschwunden ist – das Gesindel, das in diesem Wald haust, bereichert sich nur an kleinen Gruppen von zwei oder drei. Ich hab’s dir doch gesagt, sie ist irgendwo anders hin, kein Grund, sich Sorgen um sie zu machen.«

Er jedenfalls machte sich keine. Jetzt herrschte er Mansur auf Arabisch an. »Und dein Verschwinden? Ich vermute, diese Halunken haben dich ebenso höflich gebeten, sie zu begleiten?«

Mansur nickte. Seine Augen waren vor Übermüdung halb geschlossen – er hatte noch weniger geschlafen als Adelia.

Auf diese Antwort hatten sie sich geeinigt, während sie einander stützend von der Umgrenzungsmauer der Abtei zurück zum Gasthof gingen, ohne zuvor noch mit den Mönchen zu sprechen.

Die Versuchung, Will den Bäcker und die anderen ans Messer zu liefern, weil sie sich nicht an den Teil der Abmachung gehalten hatten, ihr zu erzählen, was sie über Emma wussten, war groß – sehr groß –, aber Adelia und Mansur hatten geschworen, sie nicht zu verraten, und Schwüre hielt man nun mal.

Adelia war nicht danach zumute, Rowley zurück zur Abtei zu begleiten, und so erläuterte sie ihm die Beweise für Eustace’ Unschuld, die er an der Mauer finden würde. Während er fort war, ging sie nach oben, um sich zu waschen, saubere Kleidung anzuziehen und sich nun von Gyltha eine Standpauke halten zu lassen, die sie für ihre angstvoll verbrachte Nacht bestrafte, indem sie ihr ungewohnt grob das Haar kämmte. »Wir haben uns Sorgen gemacht. Na ja, Allie nicht – ich hab ihr gesagt, du wärst weggerufen worden, um jemanden zu heilen.«

Adelia lächelte zu ihrer Tochter hinab. »Wo hat sie denn das her?« Das Kind saß auf dem Boden und beobachtete mit gesammelter Aufmerksamkeit einen Buchfink, der in einem Vogelkäfig herumflatterte.

»Von Millie. Der Vogel ist ins Zimmer geflogen, während sie sauber gemacht hat. Irgendwo hat sie den Käfig aufgetrieben und ihn der Kleinen geschenkt. Das Mädchen ist gar nich so blöd, wie es aussieht.«

»Nein.« Taubstumme wurden stets für schwachsinnig gehalten – und auch so behandelt. Aber, dachte Adelia, Millie ist aufmerksam. Sie nimmt Dinge wahr.

»Wenn du das nächste Mal, ohne ein Wort zu sagen, verschwindest, dann lass mir eine Nachricht da, damit ich Bescheid weiß«, sagte Gyltha, und ihre Bürstenstriche wurden noch kräftiger.

»Ja, tut mir leid, au! Ich hatte mein Schiefertafelbuch nicht dabei und auch keine Kreide.«

»Und selbst wenn, ich hätt’s ja nicht lesen können.« In Gylthas Augen war Lesen und Schreiben etwas für verweichlichte Menschen. »Ein kleiner Zweig oder sonst irgendwas tut’s auch. Nur damit ich weiß, dass es von dir ist.«

»Wie schon gesagt, die haben mich entführt. Ich hatte nicht die Zeit …« Und die hatte sie noch immer nicht: Rowleys Stimme schallte die Treppe herauf und verlangte ihre sofortige Anwesenheit im Gästesaal. »Herrje, ich bin noch nicht mal angezogen.«

»Schlüpf da hinein!« Gyltha hatte ihre Abende damit zugebracht, aus einer breiten Bahn grüner Seide, die sie auf ihrer Reise von Wales hierher erstanden hatte, eine Tunika zu schneidern.

Adelia betrachtete das ansehnliche Ergebnis. »Du willst nur, dass ich für ihn hübsch aussehe. Die alte braune tut’s auch.«

»Zieh sie an!« Gyltha blieb unerbittlich, und Adelia gab nach.

Die beiden Frauen sowie Allie mit ihrem Vogelkäfig – Adelia dachte nicht im Traum daran, ihre Tochter schon wieder allein zu lassen – gingen die Treppe hinunter.

Abt Sigward war offensichtlich von Lazarus Island zurück, und Rowley hatte ihn und die Brüder Aelwyn, James und Titus zu einer Besprechung mit in den Gasthof gebracht.

Jetzt saßen die vier Mönche stumm auf einer Seite des riesigen Esstisches, ihre schwarzen Kutten und Kapuzen bildeten einen tristen Gegensatz zu den farbenfroheren Spiegelungen aller übrigen Anwesenden in den blank gewienerten Dielen, besonders zu Adelias Grün.

Hilda lehnte aus der Küchendurchreiche, wie man sie häufig in Klosterrefektorien antraf, offensichtlich bereit, ihre Meinung kundzutun. Hinter ihr war Töpfeklappern zu hören, und ein köstlicher Duft verriet, dass Godwyn kochte.

Nur zwei Leute aus dem Gasthof fehlten. Rhys schlief oben, seine Harfe noch immer fest im Griff. Und Millie war von ihrer Herrin nach draußen geschickt worden, um den Hof zu fegen.

Allie wurde auf den Boden gesetzt, wo sie erneut den Vogel im Käfig studierte, mit ihm redete und ihn mit einigen Leckereien köderte, um herauszufinden, was ihm am besten schmeckte. Ihr leises, lockendes Zirpen lieferte den Hintergrund zu dem schroffen Ton des Mannes, der ihr Vater war.

Rowley war noch immer in Jagdkleidung, wirkte aber überaus bischöflich und gebieterisch. »Dann sind wir uns also einig. Dem Sheriff wird mitgeteilt, dass dieser Eustace von allen Vorwürfen freizusprechen ist.« Als keine Antwort kam, hakte er nach. »Mylord Abt?«

Ein Seufzer drang aus Abt Sigwards Mönchskapuze. »Ja, ja. Unbedingt. Das Feuer war ein Unfall.«

»Ich vermute, genau das war es«, sagte Rowley. »Aber wer hat es verursacht?«

Abt Sigward machte Anstalten aufzustehen. »Diese Angelegenheit geht nur unser Kapitel etwas an.«

»Nein, von wegen.« Der Bischof von St. Albans war noch nicht fertig. »Ein Mann wurde fälschlich verdächtigt, Angehörige seiner Zehnschaft nahm man zu Unrecht fest, und nur dank der Bemühungen von Master Mansur konnte ihre Unschuld bewiesen werden. Ein Mönch ist in den Flammen umgekommen. Eine Stadt zusammen mit der Abtei niedergebrannt. Somit ist es auch eine weltliche Angelegenheit, und diejenigen unter uns, die unmittelbar an den Geschehnissen beteiligt waren, haben ein Recht, die Wahrheit zu erfahren.«

Er weiß es, dachte Adelia. Er weiß, wer es war. Er hat mit dem Laienbruder gesprochen und mit Hilda. Gott steh uns bei, ich glaube, jetzt weiß ich es auch.

Aus der Durchreiche sagte Hilda trotzig: »Eine alte Falle beweist gar nix. Dieser Nichtsnutz, Eustace, hat das Feuer gelegt. Hat Bruder Aloysius uns doch noch gesagt, bevor er starb, weil er versucht hat, die Flammen zu löschen, die arme Seele.«

»Das behauptest du.«

Hilda wurde laut. »Ich hab’s mit eigenen Ohren gehört, jawohl, wo ich Salbe auf die Verbrennungen getan hab. ›Eustace, Eustace‹, hat er gesagt. Die letzten Worte des Ärmsten.«

»Bruder Peter war dabei, und er hat mir gesagt, die Worte wären nicht so deutlich zu verstehen gewesen.« Die Stimme des Bischofs war leise.

»Na dann eben nur ›Eu… Eu…‹«, sagte Hilda. »Aber gemeint hat er diesen Nichtsnutz.«

»Könnte er nicht vielleicht: ›Du … Du …‹ gesagt haben? Und wen hat er dabei angesehen?«

In der Stille war nur das Gemurmel des Kindes auf dem Boden zu hören: »Süßes Vögelchen, mit deinen weißen Streifen, hübscher Piepmatz.«

Die letzten Strahlen der Abendsonne fielen durchs Fenster und beschienen die langfingrigen, blau geäderten Hände des Abtes, die gefaltet auf dem Tisch lagen – die Hände eines angespannten alten Mannes. Sein Gesicht war wie das der anderen Mönche von der Kapuze verborgen.

Auf einen Blick von Adelia hin bückte Gyltha sich und hob Allie zusammen mit ihrem Vogelkäfig hoch. »Der kleine Piepmatz braucht ein bisschen Luft«, sagte sie und trug die beiden nach draußen.

Die Stille im Raum währte an, schwoll an wie eine Blase bis kurz vorm Bersten.

Bruder Titus durchbrach die Stille mit einem Aufschrei. »Aufhören! Aufhören! Ich war es. Er hat mich angesehen. Heilige Maria Muttergottes, ich war es. Ich war am Wein in der Krypta gewesen, ich war betrunken.« Er fing an, mit der Stirn auf den Tisch zu schlagen.

Die anderen Mönche rührten sich nicht.

»Und Ihr habt eine brennende Kerze vergessen?« Rowley war erbarmungslos.

»Sie ist umgekippt. Hat die Schranke entzündet. Ich hab es nicht bemerkt …« Er wandte sich an den Abt. Seine Stirn war blutig. »Gütiger Gott … wie soll mir verziehen werden … Die ganze Zeit … Ich war in der Hölle mit dem Teufel … Ich habe mich gegeißelt, bis Blut floss. Ich wollte … aber es war zu gewaltig, alles verloren … Aloysius … Ich konnte es nicht fassen … Ich konnte nicht … Vater, vergib mir!«

Er vergrub das Gesicht in der Schulter des Abtes, schluchzend wie ein übergroßes ungezogenes Kind, das Trost bei der Mutter sucht.

Und Sigward wiegte ihn wie eine Mutter. »Ich weiß, mein Sohn, ich weiß.«

Ja, dachte Adelia plötzlich. Du wusstest es, nicht wahr?

Sie stand auf und verließ den Raum. Mansur folgte ihr nach draußen. Das ging nur die christliche Kirche etwas an.

Sie betraten den Hof, wo Allie zaudernd vor ihrem Vogelkäfig stand. »Soll ich, Gyltha, soll ich?«

»Das musst du wissen«, antwortete Gyltha.

Allie holte tief Luft. »Ich glaub, dann tu ich’s.« Sie band das Weidentürchen am Käfig los und öffnete es. Der Buchfink flatterte heraus, setzte sich kurz auf den Ziehbrunnen und flog davon.

»Ist doch richtig so, oder?«, fragte Allie unter Tränen.

Adelia riss sie an sich und küsste sie. »Ich hab dich lieb, Almeisan. Ich hab dich so schrecklich lieb.«

Nach einer Weile hörten sie die Vordertür des Gasthofs aufgehen und das Schlurfen von Titus’ Schritten, als seine Mönchsbrüder ihn nach Hause führten.

Rowley kam in den Hof gestürmt. »Tja, das wäre erledigt.«

»Wirklich? Was wirst du tun?«

Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nichts. Es war ein Unfall, geschehen ist geschehen. Quieta non movere.«

Schlafende Hunde soll man nicht wecken, meinst du?, dachte Adelia. Laut sagte sie: »Der Abt hat es gewusst.«

»Es vermutet, möglicherweise.«

»Und nichts gesagt.«

Er fuhr aus der Haut. »In Gottes Namen, Adelia, was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Du hast gerade einen gebrochenen Mann gesehen. Reicht das nicht?«

Ja, das hatte sie, und er tat ihr leid, aber andere Männer hätten beinahe für ein Verbrechen zahlen müssen, das sie nicht begangen hatten. Der gütige alte Abt Sigward … sie würde nie wieder dasselbe für ihn empfinden.

»Unsere Mutter Kirche ist das Einzige, was zwischen uns und dem Teufel steht«, sagte der Bischof von St. Albans. »Wenn sie unsere Achtung verliert, sind wir alle verloren.«

Er wandte sich um und sah seine Tochter an. »Und weswegen heulst du?« Sein noch nicht ganz verflogener Zorn ließ die Frage gereizt klingen und nicht so besorgt, wie er sie wahrscheinlich gemeint hatte.

Adelia stand unverzüglich auf und trat zwischen die beiden. »Sie weint, weil sie ihren Vogel freigelassen hat.«

»Wieso? Ich dachte, sie hängt an dem Piepmatz.«

»Tut sie auch. Aber sie konnte es nicht ertragen, ihn eingesperrt zu sehen. Sie wollte, dass er frei ist.«

»Ach Gott, sie wird genau wie du.« Er löste die Zügel seines Pferdes von der Stange, schwang sich in den Sattel und ritt davon.

Und das, dachte Adelia, ist der Kern von allem, was zwischen uns nicht stimmt.

Drinnen trat ihr Hilda entgegen. Das Gesicht der Wirtin war böse verzerrt. »Seht Ihr, was Ihr meinem lieben Abt angetan habt? Seid Ihr und dieser Braunkopf jetzt zufrieden?«

Adelia reichte es. Diese Frau hatte doch nur von Anfang an behauptet, dass Eustace der Brandstifter war, weil sie im tiefsten Inneren wusste, dass er es nicht war. »Euer lieber Abt hat es verdient«, fauchte sie zurück, schob Gyltha und Allie vor sich die Treppe hinauf und ging zu Bett … und träumte.

Diesmal wurde die Königin von unsichtbaren Händen in einer Höhle eingemauert, sodass es aussah, als türmten sich die Steine Schicht um Schicht wie von selbst übereinander, während die Frau dahinter Adelia anflehte, dem ein Ende zu machen, bis schließlich der letzte Stein an Ort und Stelle war und ihre Stimme verstummte.

Adelia wachte auf mit den Worten: »Schon gut, schon gut, ich komme zu dir.«

 

Sie nahm Mansur, Gyltha und Allie mit. Sie vergewisserten sich, dass niemand sie beobachtete, und stapften hügelan, folgten der Spur aus niedergetretenem Gras und abgebrochenen Zweigen, die der Abstieg am Vortag hinterlassen hatte. Gyltha trug den Proviant, Mansur eine Eisenstange und eine Laterne, Adelia ein Messer, das sie aus der Gasthofküche stibitzt hatte, und Allie einen Frosch und etliche Käfer, die sie unterwegs aufgelesen hatte.

Trotz der Spur hätten sie die Höhle hinter ihrem Vorhang aus Zweigen beinahe übersehen, wenn davor nicht ein Haufen Maultiermist gelegen hätte, der in der Sonne allmählich trocknete.

Während die Schutzwand aus Weidenruten entfernt wurde und der Gestank nach draußen drang, hielt Gyltha sich angewidert die Nase zu. »Du und ich, wir bleiben draußen, Miss«, sagte sie zu Allie, aber Adelia fand das zu streng. Welches Kind konnte denn einer geheimen Höhle widerstehen? Außerdem waren Eustace’ Knochen wieder zusammengelegt und mit einem geflickten Umhang bedeckt worden, der Ollie gehörte, dem schweigsamsten Mitglied der Zehnschaft.

Allie war ganz verzaubert von der Höhle. Sie kniete sich mit ihrer Mutter nieder, um ein Gebet für Eustace’ Seele zu sprechen, ließ sich die Umstände seines Todes schildern und stellte Fragen. Doch da es vor der Höhle mehr Tiere gab als drinnen, ging sie schließlich wieder zu Gyltha hinaus, um mit ihr die Gegend zu erkunden. Adelia und Mansur machten sich daran, die Mauer einzureißen. Es war nicht leicht. Sie war so errichtet worden, dass sie sich ein wenig nach außen wölbte, wobei die Steine sich fest aneinanderschmiegten, fast so, als hätten sie Nut und Feder. Eustace’ Vater hatte sie trotz seiner Angst vor dem Dämon kunstvoll wieder aufgebaut. Sie brauchten eine Viertelstunde, um den ersten Stein herauszustemmen, und obwohl die Arbeit danach leichter ging, dauerte es eine Stunde, bis sie ein Loch hatten, das groß genug war, um sich hindurchzuzwängen.

Während der ganzen Zeit vergewisserten sich weder Mansur noch Adelia auch nur ein einziges Mal, was sich dahinter befand; das Licht der Laterne beleuchtete lediglich den Bereich, wo sie arbeiteten – und die Stille im Inneren ließ es irgendwie despektierlich erscheinen, aus Neugier einen verfrühten Blick hineinzuwerfen.

Die Luft, die aus dem Loch entwich, war erstaunlich frisch, ohne Modergeruch, und es war auch nicht gänzlich dunkel dahinter, sondern sie nahmen Dämmerlicht wahr.

»Ein Heiligengrab?«, fragte Mansur.

Adelia zuckte die Achseln. Sie wollte sich nicht von der hier deutlich spürbaren Aura der Heiligkeit verführen lassen – der Araber hatte das gleiche Gefühl in der Abtei gehabt. Sie nahm die Laterne, und Mansur half ihr, durch das Loch zu steigen.

Sie war in einer Kammer, zumindest war es mal eine gewesen – ein großes, hohles in den Berg gebautes Grabmal. Das Erdbeben vor zwanzig Jahren hatte es erschüttert und einigen Schaden angerichtet. Wo die kunstvoll gesetzten Steine von Mauer und Decke sich hätten wölben müssen, um die Form eines runden Bienenkorbes zu bilden, waren sie herabgestürzt und hatten den unbehauenen Felsen dahinter freigegeben.

Risse hatten sich geöffnet, nicht nur in der Decke, sondern auch in dem Fels dahinter, sodass dünne Sonnenstrahlen, von den eindringenden Farnen und Moosen grün gefärbt, hier und da wie durch winzige Schießscharten die Dämmerung durchdrangen.

In der Mitte befand sich ein Tümpel, der so still war, dass er ein Spiegel hätte sein können. Die glatte Oberfläche erzitterte, als Mansur seinen langen Körper mühsam durch das Loch zwängte.

Auf der anderen Seite waren Steine aus der hinteren Mauer gefallen, und auf ihnen lag ein Schädel.

Oh Gott, bitte, dachte Adelia, nicht noch einen Mord.

Das also war der Dämon, den Eustace’ Vater gesehen hatte.

Der Schädel war bis tief in die Stirn gespalten und wurde nur von einem Metallreif, der wie der Haarreif einer Frau aussah, zusammengehalten. Er war leicht verrutscht und saß in einem kecken Winkel, als versuchte der Tod sich verwegen zu geben. Der Schädel starrte grinsend in den Tümpel hinunter, wo sein vollkommenes Spiegelbild zurückgrinste – zwei Dämonen.

Ein Wassertropfen vom Dach fiel wie ein Ton von Rhys’ Harfe mit einem hellen Pling in den Tümpel. Wieder erzitterte die Oberfläche, sodass der Dämon darauf sich kräuselte, ehe er wieder die Gestalt seines Zwillings annahm.

Nach einem langen Moment ging Mansur um den Tümpel herum. Seine Lippen formten lautlos arabische Gebete, als er den Schädel behutsam mit beiden Händen nahm und ihn auf den Boden legte. Dann begann er, in dem Steinhaufen herumzustöbern. Er winkte Adelia mit dem Finger zu sich.

Sie war wie gebannt gewesen und musste blinzeln und den Kopf schütteln, ehe sie zu ihm gehen konnte.

Zwischen den Steinen lagen noch andere Dinge: vermoderte Holzstücke, Knochen, ein zerschmetterter Helm, der gleichfalls in der Mitte gespalten war und zu der Verletzung im Schädel passte; offenbar hatte eine Axt oder ein Schwert das Metall durchschlagen und den Kopf darunter getroffen.

Adelia tauchte eine Hand in den Tümpel, um zu sehen, wie tief er war, und ertastete Sand auf dem Grund. Sand? War das Meer einst bis hier heraufgekommen und dann zurückgewichen?

Sie fasste den Araber am Arm und signalisierte ihm, dass sie beide gehen sollten.

Als sie wieder in der äußeren Höhle waren, sagte Mansur: »Das Holz gehörte zu einer Bahre. Er wurde daraufgelegt, glaube ich. Man hat ihn mit Ehrerbietung behandelt.«

»Möglich.«

Gyltha, die ihre Stimmen gehört hatte, fragte laut von draußen, was sie gefunden hätten. Sie gingen hinaus zu ihr ins Freie.

»Einen alten Krieger, glauben wir«, erklärte Mansur.

»Möglich«, sagte die skeptische Adelia erneut. »Er ist zweifellos an der schweren Kopfverletzung gestorben. Er könnte ein Heiliger sein – wurden nicht ein paar davon im Kampf erschlagen, als die Dänen kamen?«

Weder Mansur noch Gyltha besaßen genügend historische Kenntnisse, um ihr die Frage zu beantworten. Aber Mansur sagte: »Wieso wissen die Mönche dann nichts von ihm?«

Das war ein guter Einwand, und die Kammer sah ganz sicher nicht nach der letzten Ruhestätte eines Heiligen aus.

»Wir reden über ihn, als wäre er sehr alt«, sagte Adelia, der erst jetzt der Gedanke gekommen war.

»Er lag jedenfalls schon vor dem Erdbeben dort«, bemerkte Mansur.

»Aber wie lange vor dem Erdbeben? Ist er ein Opfer, das kurz vor Arthur und Guinevere da unten starb? Verdammt, ich wünschte, ich könnte sein Alter bestimmen.«

»Lass den Quatsch«, rief Gyltha sie zur Räson. »Du bist nich für jeden armen Teufel verantwortlich, der hier in der Gegend tot aufgefunden wird. Jedenfalls, ich geh und schau ihn mir mal an.«

Sie ließen Gyltha hineingehen, und während sie auf sie warteten, sahen sie zu, wie Allie ihre Stiefel auszog, mit nackten Füßen in der Quelle herumplanschte und den Frosch von ihren Händen ins Wasser hüpfen ließ.

Als Gyltha schließlich wieder herauskam, war sie seltsam ruhig.

»Was meinst du?«, fragte Adelia sie.

»Ich meine, wir sollten die arme Seele zusammensetzen und wieder einmauern. Ihn in Frieden lassen. Was anderes kommt mir nich richtig vor.«

Sie hatte recht, wie meistens. Also machten sie es so.

Die ganze Kammer wieder aufzubauen war ein Ding der Unmöglichkeit; es würde schon lange genug dauern, das Eingangsloch erneut zu verschließen. Ebenso unmöglich war es, die Bahre wieder zusammenzusetzen, also bauten sie eine Art Bett aus Zweigen, damit die Gebeine nicht auf dem nackten Boden liegen mussten. Bei der Suche zwischen den Steinen fanden sie fast alle verstreuten Knochen.

Sie entdeckten auch noch andere Dinge: Schienbeinschützer, die den Beinschienen, die Ritter heutzutage trugen, nicht unähnlich waren, eine hübsch gearbeitete Fibel, die einst einen Umhang an der Schulter einer Tunika befestigt hatte und, wie Mansur meinte, vielleicht aus Gold war, den Messinghals einer Lederflasche, von der der Rest längst vermodert war.

Sie entdeckten außerdem einen barbarischen, in sich gedrehten Torques, auch dieser vermutlich aus Gold, an dem ein Keltenkreuz hing. Der Tote war also nicht ausgeraubt worden, aber andererseits waren unter ihren Funden keine kostbaren Grabbeigaben, mit denen ein großer Stammesfürst bestattet worden wäre. Abgesehen von dem Torques war alles abgenutzt und zweckmäßig.

Und doch hatte irgendwer diese geheime Kammer errichtet und ihn darin verborgen.

Allie kam durch das Loch geklettert. »Kuckt mal, kuckt mal, ich hab eine Kröte gefunden.«

Es war das erste Mal, dass jemand in der Kammer sprach. Die Erwachsenen hatten schweigend gearbeitet. Instinktiv bedeuteten sie dem Kind, still zu sein.

Mit Hilfe der anderen begann Adelia, das Skelett auf dem Zweigenbett zu ordnen, während Allie die warzige Haut der Kröte mit Wasser aus dem Tümpel bespritzte, um sie zu kühlen. Sie hüpfte weg und grub sich in den Sand auf dem Grund des Teichs ein. Als Allie hinterdreinsprang, sagte sie: »Aua, da ist ein Stein drin.« Sie grub das, worauf sie getreten war, aus und hielt auf einmal ein tropfendes Schwert hoch.

»Lass mal sehen!«, sagte Adelia.

Es war keine beeindruckende Waffe, nahezu schwarz, mit einer Kerbe in der Klinge und erstaunlich leicht, sodass sie sich leicht schwingen ließ.

»Wieso haben sie das Schwert denn in den Teich geschmissen?«, wollte Gyltha wissen.

»Das ist eine alte Sitte, glaube ich«, erklärte Adelia, der wieder einfiel, dass die Zehnschaft vorhatte, Eustace’ Messer in den Brue zu werfen.

Schließlich hatten sie alles getan, was sie tun konnten. Das Skelett lag ordentlich auf den Zweigen, die Beinschienen, wo sie hingehörten, der Torques um den Hals. Sie legten die Fibel auf die Rippen, bedeckten sie mit dem Helm und falteten die Hände des Toten darüber. Die Überreste der Flasche wurden ihm zur Seite gelegt.

Gyltha betrachtete ihn. »Er mag ja ein Krieger gewesen sein, aber groß war er nich gerade.«

Er war ausgesprochen klein. Sogar Adelia war größer.

»Aber Gott segne ihn trotzdem«, sagte Gyltha.

Mansur hatte dem Leichnam gegenüber einen Beschützerinstinkt entwickelt und widersprach, als Adelia vorschlug, das Schwert mit zum Gasthaus zu nehmen. »Er war ein Kämpfer, es sollte bei ihm bleiben.«

Aber Adelia grübelte noch immer darüber nach, warum jemand es für nötig befunden hatte, die Leiche dieses Mannes zu verbergen; sie wäre beruhigter gewesen, wenn sie gewusst hätte, wann er gestorben war. Sie verstand nichts von Schwertern, hoffte aber, dass sie Moden unterworfen waren, so wie Frauenkleidung, und dass man dadurch vielleicht das Alter der Waffe bestimmen könnte. Es musste doch irgendjemanden geben, der ihr da weiterhelfen konnte.

Sie und Gyltha und Allie überließen es Mansur, das Loch zu verschließen. Als er fertig war, setzten sie sich vor die Höhle, aßen stumm ihren Proviant und tranken das reine Quellwasser.

 

In der Nacht träumte Adelia erneut. Einen schönen, elegischen Traum. Zu Anfang.

Sie stand mit Rittern in voller Rüstung am Ufer des Brue, knapp hinter dem Marktplatz von Glastonbury. Irgendwo sangen Frauenstimmen eine Totenklage. Einer der Ritter hob den Arm und hielt einen Moment lang ein Schwert hoch, in dessen langer Klinge und edelsteinbesetztem Griff sich das Mondlicht spiegelte.

Die Totenklage steigerte sich zu einem Schrei: »Arturus, Arturus. Rex quondam, rexque futurus.«

Der Ritter warf das Schwert hoch in die Luft, wo es schwarz und silbrig blitzend in einem weiten Bogen trudelte. Eine Wasserfontäne spritzte auf, und Excalibur verschwand vor ihren Augen.

Jetzt sanken die Stimmen zu einem rhythmischen Stöhnen herab. Es ertönte gleichmäßig mit den Ruderschlägen eines Bootes, das sich in Gestalt eines Schwans näherte.

Die Ruderer waren schwarz verhüllt, doch die Frau im Bug, die mit dem Rücken zum Ufer stand, sodass Adelia ihr Gesicht nicht sehen konnte, war weiß gekleidet. Als das Boot das Ufer erreichte, trat einer der Ritter vor – er hielt eine Axt in den Händen …

»Nein.« Ächzend vor Anstrengung, zwang Adelia sich aufzuwachen, ehe sie erneut sehen musste, wie Guineveres Körper durchtrennt wurde.

Sie blieb eine Weile liegen, erhitzt und gereizt. Ich träume doch sonst nicht. Ich glaube nicht an Träume. Was wollen sie mir sagen?

Sie stand auf und schimpfte ungehalten leise vor sich hin. Herrje, wie ich Avalon hasse. Zu schön, zu schrecklich. Einstige und zukünftige Könige – macht meinetwegen damit, was ihr wollt.

Sie schnappte sich ihre grüne Tunika vom Bügel, weil sie griffbereit und noch dazu das kühlste Kleidungsstück war, streifte sie über, schlüpfte in ihre Schuhe, vergewisserte sich, dass Allie noch schlief, und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Millie lag auf einem Lager aus Lumpen unter dem vergitterten Flurfenster und wand sich unruhig im Schlaf. Sie hatte ihre Decke weggestrampelt, und das Mondlicht fiel auf ihren nackten Rücken. Der voller Striemen war.

Oh Gott, die schlagen sie.

Adelia polterte die Treppe hinunter, riss die Riegel der Hoftür zurück und stürzte nach draußen, sog gierig die Luft ein, die ein wenig frischer war als die im Haus.

Eine weiße Gestalt saß auf der Brunnenmauer, und einen Moment lang meinte sie, Guinevere verfolge sie.

Es war Mansur. Er hielt das Schwert aus der Höhle in den Händen und betrachtete es nachdenklich.

Sie ging hin und setzte sich neben ihn. »Kannst du auch nicht schlafen?« Seine Träume mussten ebenso schrecklich sein wie ihre – schließlich war er fast lebendig begraben worden.

Er schüttelte den Kopf.

»Mansur, die kleine Millie wird geschlagen.«

Er seufzte. »Die Leute hier sind keine guten Menschen, glaube ich.«

Sie seufzte ebenfalls. »Glaubst du immer noch, Glastonbury ist der Omphalos?«

»Ja«, sagte er. »Ich fürchte, das stimmt.«

Sie tätschelte seine Hand und sagte: »Geh zu Bett, alter Freund! Geh zu Gyltha! Sie ist der einzige wahre Nabel der Welt.«

Er erhob sich und verneigte sich vor ihr. »Kommst du auch?«

»Ich bleib noch ein bisschen hier. Drinnen ist es zu heiß.«

Voller Liebe für ihn sah sie seiner würdevollen Gestalt nach, die im Haus verschwand.

Sie stand auf, warf den Eimer in den Brunnen – dieses hallende, ferne Platschen hatte sie schon immer gern gehört – und zog ihn mit der Kurbel wieder hoch. Das Wasser war kühl. Sie trank ein wenig davon und goss sich den Rest vorne über den Körper.

Ein Fensterladen flog auf, und als sie nach oben blickte, sah sie Hildas Gesicht, das übellaunig zu ihr nach unten starrte. Das Scheppern der Brunnenkette hatte die Wirtin geweckt.

Betont langsam hob Adelia das Schwert auf, nahm den schwarz verfärbten Knauf in die Hand und starrte zurück.

Der Fensterladen knallte zu.

Gut, dachte Adelia.

Sie nahm hinter sich eine rasche Bewegung wahr, und schon umhüllte sie der nur allzu bekannte Geruch nach Schweiß und muffiger Kleidung, als jemand sie packte und wegtrug.

Sie schlug mit der flachen Seite des Schwertes zu und spürte, wie es auf ein Schienbein knallte. »Du lässt mich auf der Stelle runter!«

Will setzte sie ab, um sich das Bein zu reiben. »Wo habt Ihr denn das verdammte Ding her?«

»Gefunden.«

»Nehmt es mit, vielleicht könnt Ihr es brauchen.«

»Ich gehe nirgendwohin.« Sie war erschrocken und wütend.

»Ich dachte, Ihr wollt was über Eure Freundin erfahren.«

Adelias Augen weiteten sich. »Ehrlich? Dann erzähl es mir jetzt! Was ist mit Emma passiert?«

»Zum Donnerwetter, nicht so laut.« Er zog sie am Arm über den Hof zum Ausgang, und Adelia hörte, wie der Fensterladen erneut aufging.

Sie versuchte, sich loszureißen. »Ich muss meinen Leuten sagen, wohin ich gehe.«

Er blieb nicht stehen. »Das habt Ihr doch gerade. Ihr habt’s dem ganzen Land gesagt, verflucht noch mal. Nun kommt schon. Wir haben keine Zeit für dergleichen.«

Draußen auf der Straße saßen ein paar Männer von der Zehnschaft auf ihren Eseln und hielten einen weiteren am Zügel, bereit loszureiten, nervös. »Geht’s auch etwas schneller?«

Diesmal waren sie nur zu dritt: Will, Toki und Ollie, der kaum mal ein Wort sagte. »Wo ist Alf?«, fragte sie.

»Der wartet auf uns. Steigt endlich auf den blöden Esel!« Sie hielt das Schwert mit beiden Händen fest, als sie hochgehoben und hinter Toki gesetzt wurde. Will stieg auf seinen eigenen Esel und ritt voraus die Straße hoch.

»Wo reiten wir hin?«

»Jetzt hört mir mal gut zu!«, rief Will über die Schulter, mit einer Stimme, die vor Eindringlichkeit ganz rau war. »Ihr wollt wissen, was mit Eurer Freundin passiert ist? Gut, Ihr werdet’s erfahren, aber keinen Mucks, sonst kriegen wir diesmal alle die Kehle durchgeschnitten. Verstanden? Vergesst Glastonbury oder Wells, das hier ist sein Wald und seine Straße. Er ist der König von beiden. Er tut uns ’nen Gefallen, und das tut er nicht oft.«

»Wer? Wer tut uns einen Gefallen?«

»Er hat uns drei Stunden gegeben, aber er ist launisch – Herr im Himmel, ist der launisch. Wenn er es sich anders überlegt, sind wir alle dran.«

»Wer?«

»Kann Euch egal sein. Wir nennen ihn Wolf.«

»Und er will mir erzählen, was geschehen ist?«

»Er hat’s uns erzählt. Wir dürfen’s Euch zeigen.«

Auf der Hügelkuppe angekommen, schlugen sie den Weg nach Wells ein.

Adelia klammerte sich an Tokis Rücken und sagte ihm leise ins Ohr: »Hat Wolf sie umgebracht?«

Toki raunte zurück: »Er hat gesagt, er würd heute Nacht drüben auf dem Weg nach Pennard wen überfallen, aber man kann ihm nich trauen, Wolf is launisch, ganz schrecklich launisch, jawohl, das is er.«

»Leben meine Freunde noch?«

Doch nun waren sie auf einen schmalen Weg eingebogen, der in den Wald führte, und Will war langsamer geworden, um nach hinten zu schauen. »Toki, spitz die Ohren!«

»Mach ich ja, mach ich, Will.«

Die Esel wurden zu Schritttempo gezügelt, sodass ihre Hufe fast lautlos über das verwitterte Laub auf dem Boden trotteten. Ein riesiger gelber Mond, der durch die Äste schien, machte eine Laterne unnötig, doch Adelia vermutete, dass Will ohnehin nicht erlaubt hätte, eine anzuzünden; sie hielt sich noch immer an Tokis Rücken fest und spürte seinen Körper zittern.

Er hatte Angst, alle drei Männer hatten Angst; sie verströmten Furcht.

Vor ihnen tat sich eine Lichtung mit einer Köhlerhütte in der Mitte auf – Adelia roch Asche. Man hob sie herunter. Die Esel wurden in die Hütte geführt und eingesperrt.

»Ab hier geht’s zu Fuß weiter«, flüsterte Will.

Sie stapften los. Die Männer mochten ja still sein, aber der Wald war es nicht. Unsichtbares Leben raschelte allüberall. Ein Ziegenmelker stieß seinen lang gezogenen schnurrenden Ruf aus; irgendwo schrie ein Tier. Ein Dachs trottete auf den Pfad vor ihnen und verschwand wieder.

Irgendwann hoben sie Toki auf die untersten Äste eines Baumes, und er kletterte hinauf in den Wipfel. Die Übrigen blieben absolut reglos stehen, bis er nach einigen Minuten wieder herunterkam.

»Klingt, als wär Richtung Pennard irgendwas los, Will. Ich hab Schreie gehört. Wie’s scheint, hat er sein Wort gehalten, und wir sind sicher.«

»Ich will’s hoffen.« Will bekreuzigte sich. Er fürchtete sich noch immer.

Adelia fürchtete sich mit ihm. Sie wusste kaum etwas über diese Männer, nur, dass sie sich nicht so schnell einschüchtern ließen. Sie wusste nicht, woher sie kamen. Sie vermutete, dass sie durch den Brand in Glastonbury ihre Arbeit verloren hatten und jetzt einfach irgendwie überlebten, häufig am Rande der Illegalität, während sie doch die meiste Zeit versuchten, ein normales gesetzestreues Leben zu führen – schließlich hatten sie alles darangesetzt, um zu beweisen, dass Eustace, und damit die Zehnschaft, sich nicht der Brandstiftung schuldig gemacht hatte.

Aber hier im Wald waren sie in Wolfs Reich, und der war jemand, der sie in Angst und Schrecken versetzte, jemand, der mit der Gesellschaft gebrochen hatte und kein Gesetz kannte, ein Wolfskopf, ein Unhold – Emma, oh Emma –, der Reisende auf der Straße von und nach Wells überfiel, ihnen Hab und Gut und das Leben raubte.

Die Zehnschaft kannte ihn gut genug, um ihn um diesen Gefallen zu bitten, kannte ihn gut genug, um Todesangst vor ihm zu haben.

Launisch, dachte sie, sie meinen einen gestörten Geist.

Es war schon ein Wunder, dass sie sich tatsächlich zu Wolf gewagt hatten und diesen Vorstoß in seine Höhle riskierten, um sich an ihren Teil der Abmachung zu halten, die sie mit Adelia getroffen hatten. Sie mochten ja Diebe sein, aber ihre Ehre war ihnen wichtig – eine Ehre, die größer war als die in einer christlichen Abtei.

Mondlicht saugte die Farbe aus Fingerhut, Glockenblumen und Goldnesseln, die bei Tageslicht den Juniwald verschönert hätten. Die Zweige eines sterbenden Baumes warfen Schatten über den Pfad, die an die Striemen auf dem Rücken eines Mädchens erinnerten.

Toki verharrte. Diesmal hörten sie alle ein Heulen in der Ferne. Echte Wölfe? Hunde? Wahnsinnige? Was auch immer, Will führte sie sicherheitshalber zu einem Bach, in dem sie ein Stück wateten, um keine Witterung zu hinterlassen. Das Wasser erfrischte Adelias müde Füße, aber sie empfand nichts von der Freude, die sie auf dem Tor empfunden hatte, als sie dem Suchtrupp ausgewichen waren. Das war keine tödliche Gefahr gewesen. Und außerdem war es ihnen ja darum gegangen, die Unschuld der Zehnschaft zu beweisen. Diesmal jedoch, das wusste sie, brachten sie sie irgendwohin, wo sie sich Tote anschauen sollte.

Der kleine Pippy. Wie sollte sie es ertragen, seinen schmächtigen Leichnam zu sehen? Den Emmas?

Ich kann keine Grässlichkeiten ans Licht bringen. In meinen Ohren gellen die Schreie der Toten.

Aber sie war die, die sie war. Sie musste weitergehen und sich dem stellen, was sie erwartete.

Sie kamen auf eine Lichtung. Alfs Stimme klang ihnen zittrig vor Anspannung entgegen. »Ihr habt euch aber verdammt viel Zeit gelassen.«

Neben ihm war ein Haufen Erde, und er stand am Rand eines langen, flachen Grabes. »Er hat sie alle einfach so ins Loch geschmissen«, sagte er. »Ich hab sie ein bisschen ordentlicher hingelegt.«

Will zündete eine Laterne an. Dann taten er und die anderen etwas, das Adelia rührte, aber auch ihre Trauer verstärkte: Sie nahmen ihre Kappen ab.

Alle seit Wochen tot. Auf der Straße überfallen, nachdem sie am Tor von Wolvercote Manor abgewiesen worden waren. Es waren bewaffnete zweibeinige Bestien, die sie aus den Bäumen am Wegesrand angesprungen, sie zerfleischt, niederknüppelt hatten. Ein grauenhaftes Ende für diese teuren Leben.

Will hielt Adelia die Laterne hin.

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich kann nicht.«

»Wär aber besser«, erklärte er.

Als sie ihm die Laterne abnahm, merkte sie, dass sie noch immer das Schwert des toten Kriegers in der Hand hielt. Sie wollte es nicht loslassen. Es gab ihr ein wenig Trost an diesem Ort des Todes.

Mit der Laterne in der einen Hand, das Schwert in der anderen hinter sich herschleifend, schritt sie an einem Grab entlang, das ihr endlos vorkam. Alf hatte die Leichen nebeneinandergelegt, alle mit dem Gesicht nach oben, die Hände über der Brust gefaltet. Sie waren noch nicht stark verwest, aber Insekten und Tiere hatten sich ihren Teil geholt und die Gesichter in unkenntliche Grimassen verwandelt, die kreischenden Klagen gleich zu Adelia hochstarrten und das Brüllen und Heulen erahnen ließen, das den Kampf mit Wolf und seinen Räubern begleitet hatte, auf der Straße, die das Letzte war, was sie im Leben gesehen hatten.

Pater Septimus, die zernagten Hände auf dem Holzkreuz, das um seinen Hals hing.

Emmas zwei Reitknechte, die immer so nett zu Allie gewesen waren; zu ihrem Entsetzen konnte Adelia sich in diesem Moment nicht mehr an ihre Namen erinnern. Beide waren bis auf die Kniehosen entkleidet, ihre ledernen Jacken zu kostbar, um sie einfach verfaulen zu lassen. Unmöglich, jetzt noch sagen zu können, wer wer war.

Master Roetgers Knappe Alberic, weit weg von seiner schwäbischen Heimat. Auch ihm hatte man die Jacke ausgezogen, und in seinem aufgerissenen Brustkorb waren die bloßen Knochen zu erkennen.

Adelia blieb einen Moment stehen; es war ihr unmöglich weiterzugehen. Will versetzte ihr einen sanften Stoß. »Wir haben nich die ganze Nacht, Missus.«

Sie näherte sich den Frauen – oh Gott, die Frauen. Die mit dem hellen Haar musste Alys sein, Emmas Dienerin. Sie war nackt. Bei dem Gedanken daran, was man mit dem Mädchen gemacht haben könnte, ehe es starb, schloss Adelia fest die Augen.

»Weiter, Missus!«

Neben Alys lag Mary, die bejahrte Amme des kleinen Pippy, und ihr halb abgenagtes Gesicht ließ nichts mehr von der Geduld und Güte erkennen, die sie im Leben besessen hatte. Auch ihr Leichnam war nackt.

»Hat er sie vergewaltigt?« Adelia zwang sich, mit leiser und fester Stimme zu reden.

Niemand antwortete ihr – auch eine Antwort.

Sie machte einen weiteren widerstrebenden Schritt. Die Laterne beleuchtete zunächst einen Absatz in der Erde, wie eine Stufe, und danach die Zweige und Pflänzchen, die den Waldboden bedeckte. Sie hatte das Ende des Grabes erreicht.

Sie drehte sich zu Will um. »Sind das alle?«

Er nickte.

»Aber das sind nur sechs.« Ihre Stimme gellte erschreckend laut durch die Stille, und sie senkte sie. »Sie waren zu neunt. Wo ist Emma? Wo ist ihr Kind? Wo ist ihr Ritter?« Sie ließ Laterne und Schwert fallen, packte die Tunika des Mannes und schüttelte ihn. »Dieser Teufel, was hat er mit ihnen gemacht?«

Die Männer um sie herum atmeten erleichtert aus. »Wir hatten’s gehofft«, sagte Alf.

Sie fuhr herum und sah ihn. »Was gehofft?«

»Dass Eure Freundin vielleicht davongekommen is. Aber sie hätte auch hier bei den Toten sein können. Wussten wir ja nich.«

»Davongekommen? Emma ist davongekommen?«

»Das war nämlich so.« Will bugsierte sie zu einem umgestürzten Baumstamm, auf den sie sich setzte, hob ihr Schwert auf und gab es ihr zurück, wie eine Mutter, die einem Kleinkind ein Spielzeug in die Hand drückt, um es zu beruhigen. Er hockte sich neben sie, während Alf anfing, wieder Erde über die Leichen zu schaufeln. »Wolf erzählt, dass ein großer Bursche bei ihnen war, und der hatte einen Fuß in so ’ner Art Korb.«

»Jawohl, Korb«, echote Alf und unterbrach seine Schaufelei.

»Roetger.« Adelia konnte kaum die Lippen bewegen.

»War der ein Fremder?«, fragte Will interessiert.

Mühsam brachte sie heraus: »Ein Ritter, Emmas Kämpe. Deutscher.«

»Was is ein Deutscher?«, fragte Alf.

»Beeil du dich lieber mit dem Einbuddeln von den armen Teufeln da, Alf!«, wies Will ihn an. »Wir wollen hier weg, ehe wir auch noch da drin landen.« Er wandte sich wieder Adelia zu. »Kämpe, ja? Hat anscheinend auch so gekämpft. Hat Wolfs Männer hinten vom Trosswagen weggehalten, einen von ihnen am Auge erwischt, ’nem anderen die Hand abgehackt und noch einem einen Stich verpasst.«

»Vier Leute hat er in der Nacht verloren, sagt Wolf«, warf Alf ein, der seine Arbeit erneut unterbrach. »War nicht besonders froh darüber.«

»Aber Emma, was ist aus Emma und ihrem kleinen Jungen geworden?«

»Die hatten ein Kind dabei?«, fragte Will. »Wolf sagt, er meinte, er hätte ein Kind weinen gehört. Das wär dann also geklärt, weil sie wie verrückt gekämpft hat. Das ist mal ’ne Lady, bei der Wolf nich dazu gekommen ist, sie zu … Sie hatte ’nen Dolch dabei und hat ihn einem von Wolfs Männern in den Hals gerammt, als der vorne am Wagen hochgeklettert ist – das macht dann noch einen, den Wolf beerdigen musste.«

Adelia nickte. Natürlich hatte Emma gekämpft. Ihre Dienerschaft starb um sie herum, Pippy war hinter ihr im Wagen – sie musste bis aufs Blut gekämpft haben.

»Tja, Wolf war ziemlich überrascht. Und ehe er sich von seiner Überraschung erholt hat, gibt die Lady den Pferden die Peitsche und lässt sie mitsamt dem Wagen die Straße runtergaloppieren. Wolf hinterher, aber dieser riesige deutsche Bursche sitzt hinten drin und fuchtelt noch immer mit seinem Schwert, sodass Wolf nich näher ran kann. Deshalb musste er den Wagen entkommen lassen, versteht Ihr?«

»Ihn entkommen lassen?«

Will nickte. »Die Lady, der Deutsche, der Wagen und alles, was drin war. Ach so, und ein Packesel, der hinterhergetrabt ist – das ist Wolf alles durch die Lappen gegangen.«

Sie sind entkommen.

Dann packte Adelia Will bei den Schultern und schüttelte ihn erneut. »Wo sind sie hin?«

»Weiß ich doch nich.« Will stieß ihre Hände weg und strich seine Tunika glatt.

»Was soll das heißen, du weißt es nicht? Was ist aus ihnen geworden?«

Will zuckte die Achseln.

Alf sagte: »Woher sollen wir das wissen?« Auch Toki und Ollie beteuerten ihre Ahnungslosigkeit. Sie wirkten enttäuscht. Da hatten sie sich so viel Mühe gegeben, hatten sich unter Lebensgefahr in Reichweite des launischen Wolfs begeben, hatten für sie Dinge in Erfahrung gebracht – und sie war noch immer nicht zufrieden.

»Aber … sie sind verschwunden«, sagte sie. »Seitdem gibt es keine Spur von ihnen. Wenn meine Freundin noch leben würde, dann hätte sie mich irgendwie gefunden. Das weiß ich genau.« Sie war den Tränen nahe.

»Is nich unsere Schuld.« Die Zehnschaft hatte ihr alles erzählt, was sie wusste. Sie hatte ihren Teil der Abmachung erfüllt.

»Mein Gott.« Es war bitter, es war grausam. Nach alldem war sie auf der Suche nach Emma noch immer keinen Schritt weitergekommen.

»Als sie zuletzt gesehen wurden, sind sie Richtung Glastonbury galoppiert, oder nich, Will?«, warf Alf hilfsbereit ein.

»Das hat Wolf gesagt, ja.« Will stand auf. Adelias mangelnde Dankbarkeit hatte ihn wieder mürrisch gemacht. »Bei dem Tempo sind sie vielleicht auch nach Street, oder sie sind in den Brue gefallen, mir doch egal. Bist du langsam fertig mit der Buddelei, Alf?«

»So gut wie, Will.«

»Dann nix wie weg hier! Wir haben nur Zeit bis zum Morgengrauen, und ich muss in die blöde Bäckerei.«

Seine blöde Bäckerei konnte warten. Adelia würde die Getöteten nicht einfach so zurücklassen.

Sie ging zu dem ordentlichen Streifen frisch umgegrabener Erde, die die Getöteten nun bedeckte, kniete nieder und betete. »Gewähre diesen guten Männern und Frauen ewige Ruhe, oh Herr, und lass Dein ewiges Licht über ihnen leuchten! Mögen ihre Seelen in Frieden ruhen! Amen.«

Sie gab den Toten das stumme Versprechen, dass sie in diesem Wald nicht vergessen sein würden. Wer auch immer Wolf war, er war eine Schande. England rühmte sich, ein zivilisiertes Land zu sein, aber hier war es nicht zivilisiert. Die zerstrittenen Kirchenmänner von Glastonbury und Wells waren offenbar nicht in der Lage, die Straße und den Wald zwischen ihren Städten sicher zu machen, aber es gab einen, der das konnte. König Henry würde sich darum kümmern. Sie würde es von ihm verlangen.

Als sie sich umschaute, sah sie, dass die Männer wieder ihre Kappen abgenommen hatten. Sie war nicht freundlich zu ihnen gewesen, daher fügte sie hinzu: »Und segne diese Freunde, die mich hierhergebracht haben, ohne an sich selbst zu denken. Ich bin ihnen dankbar.«

Verlegenes Füßescharren folgte. Alf begann, die Erde mit der Schaufel glatt zu klopfen. Dann hörte er auf.

Die Männer waren plötzlich wie gebannt. Adelia hörte Will zischend ausatmen.

Ein Lufthauch hatte in den Bäumen geraschelt, wo es gar keinen Lufthauch gab. Müde sah sie zu der Stelle am Rand der Lichtung hinüber, wohin die Männer mit entsetzter Miene blickten.

Ein Strauch, der sich bewegte, etwas Grünes, das sprach. »Seid gegrüßt, Freunde.«

»Wir dachten … wir dachten, du wärst heute Nacht drüben … drüben bei Pennard, Wolf.« Will keuchte.

»Ein Teil von mir. Der Rest von mir ist hier.«

Die Stimme knisterte wie trockenes Laub, als spräche ein Baum.

Ob das Wesen da nun nackt war oder nicht – und vielleicht war es das teilweise –, jedenfalls ließen die Ranken, die seinen Körper umschlangen, und der Kranz um seinen Kopf – vielleicht war es auch buschiges Haar – es eher pflanzlich als tierisch wirken, als wäre es schon durch urzeitliche Wälder gestreift, noch ehe es Menschen gab. Selbst die Waffe, die es trug, war aus Holz – ein Stab, der in einer hellen, frisch geschärften Spitze endete.

Will wich zurück. »Du hast gesagt … drei Stunden, Wolf … dass wir sie herbringen dürfen …«

»Das hab ich. Das hab ich, Will. Du hast mir einen Leckerbissen versprochen.« Zähne leuchteten zwischen Blättern. »Leckerbissen haben wir gern, nicht, Scarry?«

Die Zehnschaft stieß ein leises, gemeinschaftliches Stöhnen aus; ein anderes Wesen hatte sich tänzelnd zum ersten gesellt. Es stieß ein freudiges Kreischen aus: »Puellae!«

»Nur eine diesmal, Scarry, nur eine. Aber sie genügt uns. Zuerst ich, dann du, hä?«

»Du und ich, Wolf, du und ich.« Auch diese schwankende Gestalt, größer, schlanker, war von Laub umrankt.

Will erhob Einwände. »Is doch nich nötig, Wolf … nich nötig …« Doch im Sprechen ging er rückwärts. Adelia wurde bewusst, dass die anderen sich von ihr entfernten. Alf protestierte. »Du hast es versprochen, Wolf, du hast gesagt …« Aber seine schlotternden Hände hatten die Schaufel fallen lassen, und auch er wich zurück wie ein geduckter Hund.

Es war ein Traum. Sie war nicht mehr in der Gegenwart, sie war in eine Dunkelheit zurückversetzt worden, in der es nur Bäume und Raubtiere gab.

»Zeit, dass ihr geht, Freunde«, sagte Wolf leise zu den Männern, die schon dabei waren zu gehen. »Lasst die Lady hier. Ich zuerst. Dann Scarry. Hä, Scarry?«

Eine freudige Antwort erfolgte. »Mirabile visu. Lass sie bleiben, oh Wolf! Du mein Lupus. Du zuerst, dann ich. Lass sie zusehen!«

Sie waren halb Ziegenböcke. Sie würden hier auf ihrer Lichtung einen Ritus mit ihr vollziehen. Sie würde in Stücke gerissen werden, um einen heidnischen Gott zu befriedigen. Sie brauchten keine Waffen. Sie waren der Schrecken selbst, dessen Gestank allein schon normale Menschen fliehen ließ wie panische Vögel. Vor lauter Angst konnte sie sich nicht bewegen, als hätte die Erde unter ihr Wurzeln in ihren Körper sprießen lassen.

Der, den sie Wolf nannten, kam anmutig näher getrippelt, bis er ihr gegenüberstand und nur noch das Grab sie trennte. Helle Augen spähten durch die Blättermaske. »Ich hab noch was zu kriegen«, sagte er. »Die, die entkommen ist, hat mich um mein Vergnügen gebracht. Ich mag mein Vergnügen, und man hat sie mir versprochen, nicht wahr, Scarry?«

»Ganz recht, Wolf. Die Dame hat’s versprochen. Filia pulchrior.«

»Aber ich hab die gekriegt, die sie zurückgelassen hat, nicht, Scarry? Die waren ein großes Vergnügen.«

»Geblökt haben sie, Wolf. Lämmer auf der Schlachtbank. Is agnus, ea caedes est. Ach, welche Wonne!«

»Und jetzt krieg ich dich«, sagte Wolf zu Adelia. »Ich krieg alles.«

Seine Augen blickten unverwandt in ihre, während er anfing, in seinem Schritt zu nesteln. Ein pladderndes Geräusch ertönte. Er urinierte, schwenkte seinen Penis hin und her, bespritzte das Grab derjenigen, die er abgeschlachtet hatte.

Die andere Kreatur wieherte vor Freude.

Und plötzlich brach sich eine gewaltige Wut in Adelia Bahn. Sie stand auf, wusste weder, dass sie dazu imstande war, noch, warum sie es tat, nur, dass sie an diesem grauenhaften Ort das letzte bisschen Zivilisation verkörperte. Diese Menschen hatten keine Seele, kannten keine Grenzen, keine Hemmungen, sie hatten alle Würde aufgegeben, die die Menschheit sich angeeignet hatte, um sich von brutalen Bestien zu unterscheiden. Das Chaos war zurückgekehrt. Es hatte die Toten eingeholt, die jetzt entehrt wurden, es würde sie überwältigen, doch um jener Toten willen war sie aufgestanden und trat ihm entgegen, auch wenn sie noch so allein war.

Wolf lächelte.

Sie war nicht allein. Irgendwer kam stammelnd näher. »Aber du hast gesagt … Du hast uns versprochen … Das is nich richtig, Wolf, nich richtig, nich richtig.« Es war Alf. Er kam zurück, kämpfte gegen seine Panik an wie gegen heftigen Wind, und er stemmte sich dagegen, sodass er sich vor sie stellen konnte.

Wieder lächelte Wolf, fast zärtlich, dann wirbelte er den Stab in seiner Hand herum wie einen Schlagstock und schmetterte ihn Alf gegen den Hals. Alf sank Adelia vor die Füße, protestierte aber flüsternd weiter, als könnte er nicht aufhören. »Du hast gesagt … du hast gesagt … du hast gesagt … das is nich richtig.«

»Stopf dem Scheißkerl das Maul, Wolf!«, sagte dieses Wesen, das Scarry genannt wurde, gelangweilt.

Wolf ließ den Stab erneut durch die Luft wirbeln, fing ihn über dem Kopf wieder auf, sodass er nach unten zeigte und das Mondlicht gefährlich weiß auf der geschärften Spitze schimmerte.

Er hob den Stab hoch, trat näher, genoss es: ein Priester kurz vor der Opfergabe. Adelia roch Erde. Raffte sich auf.

Später sollte sie sich sagen, dass sie ihn aus eigenem Antrieb getötet hatte. Doch in dem Moment war es, als schnellte das Schwert in ihrer Hand, das sie ganz vergessen hatte, wie von allein hoch und stieß zu.

Plötzlich war vor ihr eine nackte menschliche Brust, aus der zitternd ein Knauf und ein Teil der Klinge ragten.

Für einen Moment, für eine kurze, stumme Ewigkeit, waren Frau und Wesen durch ein Stück Eisen verbunden. Sie sah die Augen überrascht flackern. So sollte es nicht sein.

Wolf hustete. Mit einem saugenden Geräusch löste sich sein Körper und fiel nach hinten.

Und dann war da nur eine tropfende Schwertspitze. Adelia starrte darauf. »Grundgütiger!«, sagte sie.

»Was hast du getan, du Weibsstück?« Das Wesen, das Scarry genannt wurde, kam über die Lichtung gesprungen und warf sich zu Boden, um den Körper seines Anführers in die Arme zu schließen. »Aaaaah.«

Wolfs Augen starrten verwundert zu seinem Freund hoch. Er versuchte, etwas zu sagen. Seine Brust bebte von trockenem Husten.

Scarry hob den Kopf, sah sich auf der Lichtung um, als suchte er die Hilfe der Götter, die er hier angebetet hatte. »Er stirbt. Tut was, im Namen Gottes! Tu doch einer was!«

Es ist seine Lunge, dachte Adelia. Das Schwert hat die Lunge getroffen. Die groteske Kreatur, vor der sie solche Angst gehabt hatte, war in einen Patienten verwandelt worden. Er litt. Sie fiel auf die Knie und legte ein Ohr auf seine Brust. Luft strömte durch das Einstichloch in die Lunge und erzeugte dabei ein flatterndes Geräusch.

Scarry schrie sie an, als würde die Welt untergehen. »Tu was.«

Adelia hörte die Stimme ihres Ziehvaters, als er sich über den Mann gebeugt hatte, der bei einer Streiterei in Salerno niedergestochen worden war und aus dessen Brust das gleiche gurgelnde Geräusch gekommen war. »Wenn wir den Thorax öffnen und die gerissene Lunge nähen könnten … aber das können wir nicht … In wenigen Minuten ist er tot.«

Schon wurden Wolfs Augen glasig. Unter der Blättermaske wechselte sein Gesicht die Farbe.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid. Aber wir können nichts tun.«

»Und ob wir was tun können«, sagte eine Stimme über ihr ernst. Will versuchte, sie hochzuziehen. »Nämlich abhauen.«

Scarry küsste das sterbende Gesicht, bettelte. »Te amo. Verlass mich nicht, mein Lupus! Te amo, te amo.«

»Lauft!«, sagte Will. Er hatte ihr das Schwert abgenommen und zeigte damit auf den schluchzenden Scarry. »Und zwar schnell. Er wird das nicht gut aufnehmen.«

Sie wurde hochgezogen. Toki und Ollie hielten einen taumelnden Alf aufrecht. »Lauft!« Will schrie jetzt. »Der bringt uns alle um!«

Was geschehen war, was noch immer geschah, das Grauen dieses Ortes … Sie ließ sich wegzerren und fing an zu laufen.

Von der Lichtung hinunter, zwischen Bäumen hindurch.

Hinter ihnen erhob sich ein Klageschrei, der die Blätter erzittern ließ. »Komm zurück, mein Lupus! Te amo! Te amo!«

Adelia sprang über herabgestürzte Äste, hetzte einen Bach entlang, atemlos. Ob der Wald vorbeiraste oder sie an ihm vorbeigerissen wurde, sie wusste es nicht.

Die Köhlerhütte. Sie blieben keuchend stehen.

Will fand seine Stimme wieder. »Verfolgt er uns, Toki?«

Adelia konnte nichts hören außer dem pochenden Dröhnen in ihren Ohren.

»Er verfolgt uns«, sagte Toki.

Sie wurde auf einen Esel gesetzt. Sie saßen alle auf Eseln und galoppierten. Als sie die Straße erreichten, wurde es ihr bewusst: »Allmächtiger Gott, ich habe ihn getötet.«

Die Zehnschaft achtete nicht auf sie. Sie galoppierte nur noch schneller.

 

Sie brachten sie zu der Höhle auf dem Tor und führten sie zu der Quelle, wo sie niedersank. Hier oben war es still.

Aber die Nacht war noch dunkel. So kurz vor der Sommersonnenwende wurde der Himmel nie ganz schwarz. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war, hellte er sich bereits auf, als würde ein Filter nach dem anderen weggenommen. Fledermäuse flatterten davor hin und her.

»Toki?«, fragte Will.

Eine Amsel stimmte ihren Morgengesang an, ein einsamer Klang.

Toki nickte und blies erleichtert die Wangen auf. »Wir haben ihn abgeschüttelt.«

»Dann lauf du den Hügel runter und verwisch unsere Spuren. Dieser Scarry kann einen Fußabdruck noch im Dunkeln wittern.«

Adelia sah zu ihnen hoch. »Ich hab ihn getötet«, sagte sie.

»Ein Jammer, dass Ihr nich auch gleich noch Scarry erledigt hab, wo Ihr schon mal dabei wart«, entgegnete Will. »Dass er Wolf verloren hat, wird ihm nich gefallen.«

Ollie sagte zum ersten Mal etwas. »Aber Will, der weiß doch nich, wo sie wohnt, oder?«

»Nein, weiß er nicht«, sagte Will mit Genugtuung. »Ich hab Wolf erzählt, sie kommt aus Wells.«

»Ich hab ihn getötet.« Sie, die einen Eid geschworen hatte, Leben zu bewahren, hatte ein Leben genommen. Begriffen sie das denn nicht?

»Ihr habt Alf gerettet«, stellte Will klar. »Er hätte Alf umgebracht.«

Alf.

Endlich, da war jemand, dem sie helfen konnte. Sie hatten ihn ins Gras gelegt. Wo der Stab ihn getroffen hatte, war sein Hals rot und geschwollen. Sie riss einen Streifen vom Saum ihrer grünen Tunika, tränkte ihn im kalten Quellwasser und legte ihn auf die Stelle. Sie versuchte, Alf etwas Wasser einzuflößen, aber vor Schmerzen brachte er nur wenige Schlucke hinunter.

»Kannst du sprechen, Alf?«, fragte sie sanft.

Er antwortete mit einem Schnauben.

»Wird er wieder?«, fragte Will.

»Ich glaube, ja. Seine Stimme müsste zurückkommen, wenn die Schwellung abklingt.«

»Mist«, sagte Will heftig. »Der bringt uns mit seinem Gequassel noch um Kopf und Kragen … Der und seine verdammte Wahrheit. Jeder muss sein Wort halten … Ein echter Quälgeist is er.«

Adelia blickte zornig auf. Dann begriff sie, dass Will sich schämte, weil er und die anderen auf der Lichtung feige gewesen waren, und dass er sich gedemütigt fühlte, weil nicht er, sondern Alf ihr zu Hilfe gekommen war.

»Er kann einfach nich anders, Will«, sagte Ollie.

Das ist ja das Außergewöhnliche, dachte sie. Er kann wirklich nicht anders.

Sie strich Alf die fettigen Haare aus dem jungen pockennarbigen Gesicht und dachte, was für ein Juwel er doch war. Nur Gott allein wusste, wieso in der Seele dieses kleinen Diebes die Wahrheit so hell brannte – nicht Ehrlichkeit oder Achtung vor dem Wild anderer Leute, sondern Wahrheit. Die Wahrheit hatte ihn förmlich gegen seinen Willen und stöhnend vor Angst auf die Lichtung zurück an ihre Seite gezerrt, vor lauter Empörung darüber, dass Wolf das der Zehnschaft gegebene Versprechen gebrochen hatte. Er hatte versucht, ihr das Leben zu retten, und dass sie dann ihm das Leben retten musste, war immerhin etwas, das sich gegen den Umstand aufrechnen ließ, dass sie dafür hatte töten müssen.

Als Toki zurückkam, tagte es schon. Sie gaben Adelia etwas Trockenfleisch, auf dem sie herumkaute, ohne erkennen zu können, was es war, und sie trank ein scharfes, aber belebendes Getränk aus einer dreckigen Flasche. Doch als Will das Schwert, das er zuvor gereinigt hatte, neben ihr auf den Boden warf, sah sie nur das Bild von Wolfs Lunge vor sich und das Loch, das die Spitze dieser Klinge hineingestoßen hatte, sodass die Luft in die Pleurahöhle entwichen war.

»Ich will es nicht«, sagte sie.

»Ihr werdet es verdammt noch mal behalten«, widersprach Will. »Und möge Gott geben, dass Ihr es nicht braucht.«

Das klang so ungewohnt fromm und dringlich aus Wills Mund, dass sie fragte: »Wer ist dieser Scarry?«

Will zuckte die Achseln. »So richtig weiß ich das nicht. Aber Wolf kommt aus den Quantocks-Bergen, und er war schon immer verrückt. Hat seine Mutter erwürgt, als er noch ein junger Bursche war, so wird erzählt, und hat seitdem immer nur in den Wäldern gehaust. Launisch, das war er, und es ist nicht schade um ihn. Also hört auf, Euch zu grämen! Die Welt ist besser dran ohne diesen Sauhund.«

Vielleicht stimmte das, aber der Gedanke, dass ausgerechnet sie ihn aus dieser Welt geschickt hatte, legte eine Last auf ihre Schultern, die sie nie wieder loswerden würde. Sie fröstelte. »Und Scarry? Er hat Latein gesprochen.«

Will nickte, und Adelia bemerkte, dass auch ihm kurz kalt wurde und er seinen Umhang fester um sich zog. »Scarry is gebildet. Keiner weiß genau, wo er herkommt, vielleicht irgendwo aus dem Norden. Ich hab gehört, er soll früher Scarlett oder Scathelock geheißen haben, jedenfalls so ähnlich. Manche sagen, er war mal Priester und hat so schlimme Sachen gemacht, dass die Kirche ihn rausgeschmissen hat. Oder er war ein feiner Herr und hat irgendwas Schlimmes gemacht und wurde für vogelfrei erklärt. Jedenfalls hat er sich vor drei, vier Jahren mit Wolf zusammengetan. Und Scarry war wie ein Fisch, der endlich ins Wasser kommt. Er hat’s geliebt, hat das Töten geliebt. Weiß gar nich, wer von den beiden schlimmer war, er oder Wolf.«

»Er hat aus Liebe zu Wolf geweint.« Dieser fürchterliche Schrei: Te amo! Te amo!

»Äh, na ja.« Will trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Die beiden waren da irgendwie komisch. Was?« Alf zog ihn am Ellbogen und krächzte.

»Er will, dass du ihr auch den Rest erzählst, Will«, erklärte Toki.

Will fauchte: »Du dämlicher Hund, Alf, willst du, dass ich meine beste Kundin verlier?«

Ein unverständliches Geflüster von Alf ließ vermuten, dass er das wollte.

Wieder übersetzte Toki. »Alf sagt, du bist ein guter Bäcker und hast es gar nich nötig, für die alte Hexe zu arbeiten.« Er stockte. »Vielleicht sind wir das der Missus schuldig, Will. Sie sollte es wissen.«

»Welche alte Hexe?«, fragte Adelia.

»Also gut, also gut.« Will setzte sich neben sie, rupfte einen Grashalm aus und kaute wie wild darauf rum. »Das war nämlich so. Wolf hat gewusst, dass Eure Lady über diese Straße kommen würde. Er hat ihr aufgelauert.«

»Wie konnte er das wissen?« Gott, ihr wurde heiß, die Luft fühlte sich immer schwerer an und raubte ihr fast den Atem.

Will lutschte an seinem Grashalm. »Na ja, die großen Herrenhäuser hier in der Gegend, die hatten früher schwer unter Wolf zu leiden. Der hat ihre Rinder und Schafe abgeschlachtet, ihre Scheunen geplündert, vor dem war nix sicher. Und der Schwächling von Sheriff hat nie richtig was unternommen, um ihn zu schnappen, und Glastonbury und Wells auch nich.«

»Und?«

»Also haben die Lords und Ladys, die unter Wolf zu leiden hatten, sich geeinigt – mit Wolf. Die haben ihn bezahlt, damit er sie in Ruhe lässt, klar?«

Danegeld, Schutzgeld. Die Adeligen hatten Wolf bezahlt, damit sie in Frieden und Sicherheit leben konnten. In diesem Moment kam Adelia diese schmachvolle Geschichte unwichtig vor, doch Alf, in dem die Wahrheit sprudelte wie klares Wasser aus einem Brunnen, hielt es für notwendig, dass sie erfuhr. »Verstehe«, sagte sie.

»Und an jenem Abend, dem Abend, an dem Eure Freundin in Wolvercote abgewiesen wurde …« Will stockte.

Die Luft wurde schwerer, erstickend.

»Da hat Wolf von dort die Nachricht erhalten, dass eine reiche Lady mit Begleitung von Wolvercote kommen würde. Hübsche Beute für ihn, wurde ihm gesagt. Und dass sie über seine Straße kommen würden.«

»Eine Nachricht?«, fragte Adelia benommen. Alf nickte. Und dann ging ihr ein Licht auf. »Sie hat sie verkauft? Sie hat sie verkauft?«

»Davon weiß ich nix«, sagte Will und stand auf. »Ich erzähl bloß, was passiert ist.«

Sie hatte sie verkauft. Die Herrin von Wolvercote Manor hatte Emma und das Kind gesehen und sie nur als Bedrohung ihrer Stellung wahrgenommen. Sie hatte ihnen den Tod gewünscht. Und die Wölfe auf sie gehetzt.

»Wegen Eustace müsst Ihr Euch keine Sorgen machen«, sagte Will, der zu ihr herunterschaute. »Er liegt in der Kirche in Street, und wenn wir wegen dem Brand aus dem Schneider sind, dann beerdigen wir den armen Kerl, mit seinen Fingern, die noch immer an der verdammten Abteimauer liegen.«

Aber Adelia machte sich wegen Eustace keine Sorgen. Der Verrat an Emma hatte alles andere aus ihrem Kopf verdrängt. Und die Leichen in ihrem flachen Grab in einem gesetzlosen Wald, zweimal getötet – einmal von einer Frau, die sie in mörderischer Absicht an ihrer Tür abgewiesen hatte, und einmal von einer Bestie. Und wessen Schuld war größer? Die der Bestie oder die der Lady in ihrem behaglichen Herrenhaus?

Adelias Mund bewegte sich. »Sie hat sie verkauft.«

Emma, Roetger und Pippy. Die Seelen der Opfer der verwitweten Lady Wolvercote schrien nach ihr. Wo waren sie?

Sie blickte über das blaugrüne Muster der Sümpfe, um einen klaren Kopf zu bekommen – den kühlen Kopf einer Anatomin, der keine Ungereimtheiten vertrug, ganz gleich, welch unentwirrbaren Wust an Grausamkeiten er verarbeiten musste.

Sie sind bestimmt tot, dachte sie. Sie hatten sich im Kampf mit Wolf Verletzungen zugezogen und waren daran gestorben. Aber Herr im Himmel, verschwanden in diesem gottverlassenen Land denn alle Toten einfach so vom Erdboden? Gab es irgendwo ein Loch, das Menschen spurlos in sich hineinsaugte?

Glasklar und wieder und wieder sah sie Emma auf dem Wagen, wie sie die Pferde zum Galopp anpeitschte, sah Roetger die Verfolger mit dem Schwert abwehren, hörte die Schreie des kleinen Pippy … sah einen Packesel hinter ihnen hertraben.

Und dann nichts. Sie verschwanden. Sie konnte sie nicht mehr sehen.

Adelia hob den Kopf. »Glastonbury, Alf? Du hast gesagt, sie wären zuletzt Richtung Glastonbury galoppiert. Meine Freundin mit dem Wagen.«

Alf grunzte bestätigend.

»Sie sind dort nicht angekommen.«

Will sagte: »Vielleicht haben die Pferde gescheut, sie sind von der Straße abgekommen und irgendwo zwischen die Bäume gekracht. Vielleicht sind sie dabei gestorben.«

Ja, das wäre eine Erklärung: drei weitere Leichen, die in diesem teuflischen Wald verwesten und nur von den Tieren bemerkt wurden, die sich an ihnen satt fraßen.

Behutsam, weil die Vorstellung sonst einfach unerträglich gewesen wäre, hob Adelia im Geist die Leichname auf und legte sie zu ihren Gefährten ins Grab, faltete die armen Hände, betete um Frieden für ihre Seelen …

Sie konnte ihre Gesichter nicht sehen, nur ihre Gestalten – eine groß, eine kleiner und schlank, eine sehr klein.

Gestalten.

»Alles klar, Missus?«, fragte Toki nervös und hielt ihr die widerliche Flasche hin. »Nehmt noch ’nen Schluck! Ihr kriegt ja kaum noch Luft.«

»Nein.«

Umrisse. Gestalten. Eine groß, eine kleiner, eine winzig. Ein Fremder, eine Frau und ihr Kind. Botschaften, Botschaften. Gestalten.

»Oh Gott«, sagte sie laut.

»Was is denn nu schon wieder?«

»Ich muss zurück ins ›Pilgrim Inn‹.« Sie war aufgesprungen.

»Wartet lieber noch! Toki, geh noch mal runter! Sieh nach, ob alles ruhig is!«

Sie konnte nicht warten. Sie rannte los, den Hügel hinunter, und die Männer folgten ihr. Sie konnte nur noch die Tür des Gasthofes sehen und drei Gestalten, die davorstanden, eine groß, eine kleiner und eine ganz klein, und die darum flehten, ihnen zu öffnen.

Jetzt wusste sie, warum der Wirt des »Pilgrim Inn« in Ohnmacht gefallen war.