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Kapitel fünf

Sie zügelten ihre Pferde an einer Brücke vor dem Tor, das zu Wolvercote Manor führte, und verweilten dort einen Moment, um über das Tor hinweg zum Herrenhaus zu schauen.

Somerset hatte von dem Moment an, da sie seine Grenze überquerten, seine liebliche Landschaft und seinen Wohlstand vor ihnen ausgebreitet, aber nichts war dem Auge bislang so wohlgefällig gewesen wie dieser Ort, von dem Emma gesagt hatte, sie hege die Absicht, sich hier niederzulassen. Es war, als blicke man auf Arkadien.

Ein rechteckiges Gebäude aus gelbem Stein stand zwischen Stallungen und Scheunen und Bäumen, und über ein Wirrwarr von mit winzigen Schindeln gedeckten Dächern erhob sich der Turm einer Hauskirche. Breite, gezackte Torbögen und Bogenfenster blickten freundlich über einen Wassergraben, in dem sich das Haupthaus exakt widerspiegelte. Vor dem Hintergrund der untergehenden Sonne flatterten Tauben aus den kleinen geschwungenen Eingängen eines Taubenschlags, der die Form eines Pfefferstreuers hatte, oder landeten davor.

Ganz gleich, welcher normannische Vorfahre diese Idylle gebaut hatte, dachte Adelia, er war ein netterer Mensch gewesen als der verstorbene Vorbesitzer – der Geschmack des unbeweinten Lord Wolvercote hätte eher trutzigen Protz bevorzugt.

»Ich glaub, ich hätt nix dagegen, wenn sie mir so ein hübsches Cottage schenken würden«, sagte Gyltha.

Adelia erging es ähnlich. Normalerweise kümmerte es sie nicht, wo sie lebte, vorausgesetzt, der Ort war sauber und praktisch und sicher, doch der Zauber von Wolvercote Manor löste einen jähen und ungewohnten Neid auf Emma aus, weil sie es besaß.

Anstatt sich direkt nach Glastonbury zu begeben, waren sie hierhergekommen, teils, weil die Straße von Wells, auf der ihre Reise aus Wales zunächst verlaufen war, die Abzweigung zum Herrenhaus praktisch streifte, aber vor allem, weil Adelia es kaum erwarten konnte, Emma wiederzusehen und ihr zu erzählen, dass ein glücklicher Zufall sie für eine Weile zu Nachbarinnen machen würde. Zudem wollte sie nach Roetgers Ferse sehen. Es war jetzt Juni, und sie hatten sich im Mai voneinander verabschiedet.

Der Himmel war nach wie vor wolkenlos, und auf den Feldern, die sie über früchtebeladene Hecken hinweg sehen konnten, waren braun gebrannte, schwitzende Männer und Frauen bei der Heuernte, wodurch ein kratziger, süß duftender Staub sich mit dem vermischte, den die Pferdehufe von den ausgedörrten Straßen aufwirbelten.

Außerdem würden die Reisenden nicht vor Einbruch der Dunkelheit das »Pilgrim Inn« in Glastonbury erreichen, das ihnen, verschwitzt, staubig, hungrig und durstig, wie sie waren, bei aller Behaglichkeit, die Henry Plantagenet verheißen hatte, wohl kaum dieselbe Gastlichkeit bieten konnte, mit der Emma sie verwöhnen würde.

König Arthur kann warten, dachte Adelia. Er hat schon rund sechshundert Jahre gewartet – ein Tag mehr oder weniger wird ihm nicht schaden.

Sie bedeutete Hauptmann Bolt mit einem Nicken, über die Brücke voranzureiten. Um ihre Sicherheit auf der Reise zu gewährleisten, hatte der König ihr eine Eskorte aus sechs Soldaten mitgegeben, zu der auch ein Trompeter gehörte, der, wo immer sie auftauchte, eine Fanfare blies, um ihr Nahen anzukündigen. Sie würde stilvoll ankommen.

Der Torwächter von Wolvercote war entsprechend beeindruckt, und als Bolt ihm befahl, der Hausherrin zu sagen, dass Master Mansur, Mistress Adelia und ihr Gefolge darum bitten, empfangen zu werden, trappelte er eilig mit seiner Botschaft über die hübsche kleine Brücke des Wassergrabens.

Als er zurückkam, benahm er sich förmlich. Verlegen erklärte er: »Mylady beliebt es, Master Mansur und Mistress Adelia zu empfangen, doch ihre Eskorte muss hierbleiben.«

Seltsam, dachte Adelia. Vielleicht ließ Emma nur Vorsicht walten und wollte sichergehen, dass die Soldaten freundlich gesinnt waren.

Der Torwächter zuckte leicht zusammen, als Adelia Gyltha, die Allie in ihrem Sattelkorb wiegte, mit einem Wink aufforderte, ihnen zu folgen; die beiden würde sie nicht zurücklassen.

In einer Halle, die ebenso wohlproportioniert war wie das Äußere des Hauses, verneigte sich ein Kämmerer mit Amtsstab vor den vieren.

Hier fiel das Sonnenlicht in Streifen durch die hohen Fenster. Die dicken Steinmauern, die außen so warm waren, kühlten die Luft und verliehen dem Raum das grünliche Licht eines von Felsen umschlossenen Teiches. Auf der eleganten Eichenholztreppe, dem Kamin, den Möbeln und den Steinplatten des blanken Bodens hatte sich durch pflegliches Polieren im Laufe von Jahrzehnten eine satt schimmernde Patina gebildet. Die allzu zahlreichen scharlachrot-silbernen Wolvercote-Kriegsfahnen, die von der verputzten Balkendecke hingen, störten den Frieden des Raumes ein wenig, aber vermutlich hatte Emma noch nicht die Zeit gefunden, sie entfernen zu lassen.

»Mylady bittet Euch zu warten«, sagte der Kämmerer. »Sie geht noch im Sonnenzimmer mit ihrem Kellermeister die Bücher durch, doch sie wird sich Euch bald widmen.«

Auch dies sehr seltsam. Die Emma von früher wäre die Treppe heruntergestürmt gekommen, um sie zu begrüßen. Sie war doch wohl nicht immer noch eifersüchtig?

Adelia warf Gyltha einen fragenden Blick zu. Gyltha zuckte die Achseln.

Man ließ sie allein. Nach einer Viertelstunde brachte der Kämmerer Becher und einen Krug mit kühlem Ale auf einem Tablett herein, bat sie, sich zu bedienen, und ging wieder.

Wieder verstrichen einige Minuten, ohne dass Emma oder sonst wer erschien. Allie vertrieb sich die Zeit damit, auf eine Eichenbank zu klettern und wieder runterzuspringen. Es deutete nicht das Geringste darauf hin, dass in diesem Haus ein anderes Kind lebte. Das einzige Geräusch war das Zischen einer Sense von jemandem, der draußen Gras mähte.

Adelia wurde ärgerlich. Das war bewusste Unhöflichkeit. Sie bewegte sich in Richtung Treppe, um hinaufzugehen, doch in dem Moment öffnete sich oben eine Tür. Ein Mann mit Schürze kam heruntergehastet, ein Wirtschaftsbuch unter dem Arm, lupfte seine Kappe vor Adelia und verschwand aus der Halle.

Eine andere Person erschien oben am Treppenabsatz. »Ja?«, fragte eine Frauenstimme.

Adelia verneigte sich knapp und stellte sich und ihre Begleitung vor. »Da Master Mansur unsere Sprache schlecht versteht, bin ich seine Übersetzerin, Mistress«, sagte sie. »Wir sind hier, um Lady Wolvercote zu besuchen.«

»Ich bin Lady Wolvercote.«

»Ah.« Das war dann also die Schwiegermutter – eine etwas jüngere, gut gekleidete und sehr viel unnahbarere Gestalt als die liebevolle Großmutter, die Adelia sich hoffnungsfroh vorgestellt hatte. Emma selbst war sicherlich irgendwo unterwegs.

Dass die Frau, die jetzt die Treppe herunterkam, die Mutter des rebellischen Mörders war, den Henry hatte aufhängen lassen, war unübersehbar. Sie war beinahe ebenso groß und hatte dieselben herrischen und attraktiven Gesichtszüge. Dunkle Augen, die denen des Mannes, der Adelia einst als Hexe bezeichnet hatte, exakt glichen, schauten jetzt auf sie herab und ließen ein wenig von demselben Widerwillen erkennen.

Adelia fiel ein, dass Emma zwar die Mutter ihres Ehemannes nie kennengelernt hatte, aber von deren normannischer Ahnenreihe tief beeindruckt gewesen war, die bis weit vor die normannische Eroberung zurückreichte. »Sie stammt von Rollo dem Wikinger ab«, hatte Emma ehrfürchtig gesagt.

Adelia hatte nicht verstanden, was so großartig daran sein sollte, von einem Wikinger abzustammen, der die Normandie überfallen und geplündert hatte, bis sie sich ihm schließlich unterwarf. Doch Emma, die trotz der Reichtümer ihres Vaters als Händlerstochter Wert auf eine noble Abstammung legte, glaubte offenbar, dass Pippys Herkunft dadurch aufgewertet wurde, vor allem weil dies auf die weibliche Seite der Familie zurückging und nicht auf seinen verhassten Vater.

Und diese Frau legte ebenfalls Wert auf ihre Herkunft. Ihr Aussehen machte Adelia schamhaft ihre eigene Kleidung bewusst, die sie unterwegs erstanden hatte und die zwar zweifellos besser war als die der Frau des walisischen Stammesfürsten, aber noch immer von ausgesprochen einfacher Qualität. Dennoch sagte sie höflich: »Habe ich die Ehre, mit der Schwiegermutter von Lady Wolvercote zu sprechen?«

»Nein. Ich bin Lady Wolvercote.«

»Ist Eure Schwiegertochter nicht hier?«

»Meine Schwiegertochter starb vor fünf Jahren.«

Das entsprach natürlich irgendwie der Wahrheit: Wolvercote war tatsächlich schon einmal verheiratet gewesen, ehe er Emma zur Ehe zwang, doch seine erste Gattin war verstorben, ohne ihm Kinder zu gebären.

Oje, würde diese Frau nun auch Emmas Anspruch auf das Herrenhaus anfechten? Gott verhüte einen weiteren Gerichtskampf!

»Ich meine Emma, Lady Wolvercote«, beharrte Adelia.

»Ich kenne niemanden dieses Namens.«

Adelia versuchte, nachsichtig zu sein. Immerhin trug die Frau noch immer Trauerkleidung wegen ihres Sohnes, wenngleich am Hals und am Rocksaum ihres schwarzseidenen Bliauts ein scharlachrotes Untergewand hervorlugte wie das Rot der Wolvercote-Kriegsfahnen.

»Sie hat Euch einen Brief geschickt … einen liebenswürdigen Brief, ich hab ihn gesehen … aus Aylesbury. Um ihr Kommen anzukündigen.«

Lady Wolvercote neigte den Kopf. »Vor einer Weile erhielt ich einen Brief von einer Kreatur, die behauptete, die Gattin meines Sohnes gewesen zu sein – gewiss irgendeine Hure, die Geld herausschlagen wollte.«

»Nein«, sagte Adelia ruhig, »keineswegs. Sie wollte Euch Euren Enkelsohn vorstellen.«

»Das hätte sie sich sparen können. Ich dulde keine Bastarde in diesem Haus.«

Die Frau sprach die Worte »Hure« und »Bastard« ohne Emotion aus, als stelle sie lediglich Tatsachen fest. Nicht ein einziges Mal änderte sich ihre Mimik, kein Stirnrunzeln verzog die zarte Haut ihres blassen Gesichts, und ihre juwelengeschmückten gefalteten Hände blieben reglos; ihre Stimme klang ruhig, als gäbe sie einer Dienerin alltägliche Anweisungen. Es war wie eine Unterhaltung mit einer sprechenden Statue. Als sie den Kopf wandte und zu Allie hinübersah, die gerade wieder auf die Bank kletterte, eilte Gyltha schützend zu dem Mädchen, als fürchtete sie, der Blick würde es zu Stein verwandeln.

»Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt sie nicht empfangen?«, fragte Adelia.

»Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?«, erwiderte Lady Wolvercote. »Zwischen mir und diesem Weib, von dem Ihr sprecht, ist es nie zu einer Begegnung gekommen.«

»Sie war nicht hier? Sie ist nie hier eingetroffen?«

»Wie ich bereits sagte.«

»Aber wo ist sie dann?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Lady Wolvercote. »Und es kümmert mich auch nicht.« Sie ging zum Tisch und läutete eine kleine Messingglocke, die dort stand.

Sogleich trat der Kämmerer ein. »Mylady?«

»Bring diese Leute in die Küche, John. Sorge dafür, dass sie die übliche Verpflegung erhalten, ehe sie wieder gehen. Schaff auch Essen und Ale zu den Kreaturen am Tor, aber lass sie nicht herein – ich dulde das Gesindel des Plantagenet nicht in diesem Haus.«

Sie wandte sich zum Gehen.

Das war bestürzend. »Aber … aber sie muss doch hier gewesen sein«, sagte Adelia fast verzweifelt. »Sie war auf dem Weg hierher. Wo ist sie?«

Die einzige Antwort war das forsche Klacken von Lady Wolvercotes Schuhen auf den Stufen der Treppe, die sie wieder hinaufging.

Als sich die Tür des Sonnenzimmers leise hinter der Hausherrin geschlossen hatte, trat der Kämmerer vor. »Wenn Ihr bitte hier entlangkommen würdet …«

»In die Küche?«, schnauzte Gyltha ihn an, als wäre so ein Ort unter ihrer Würde. »Wir gehen nicht in so ’ne Scheißküche. Schieb sie dir von mir aus in …«

Adelia hob eine Hand, um die sich anbahnende Tirade zu bremsen; trotz ihrer tiefen Beunruhigung versuchte sie, einen klaren Kopf zu behalten. »Wir wären dankbar für einen Abendimbiss, ehe wir gehen«, erklärte sie dem Kämmerer sanft, »und unsere Männer ebenso.«

Während sie dem Kämmerer folgten, warf Gyltha ihr einen Blick zu, der es mit dem dieser Gorgo aufnehmen konnte, die sie soeben verlassen hatte. »Das lässt du dir gefallen?«

»Ja. Vielleicht erfahren wir irgendwas.« Die Diener wussten wahrscheinlich, was geschehen war. Falls Emma abgewiesen worden war, hätte sie sich niemals sang- und klanglos verabschiedet. Irgendwer musste den Streit gehört haben – bei der Begegnung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter waren zwei ebenbürtige Widersacherinnen aufeinandergetroffen, nur dass die marmorgesichtige Kämpferin dort oben im Vorteil war, weil sie im Haus das Sagen hatte.

Während sie durch die Bedienstetentür der Halle nach draußen und über einen Hof geführt wurden, fragte Adelia Mansur leise auf Arabisch: »Was meinst du, was passiert ist?«

»Die Frau ist ein kaltherziges Weib, aber warum sollte sie lügen?«

Das war ja gerade so beunruhigend. Falls Lady Wolvercote Emma tatsächlich aus dem Haus geworfen hatte, dann hätte sie, so vermutete Adelia, keinerlei Hemmungen gehabt, das auch zu sagen. Was bedeutete, dass Emma in Wolvercote Manor nie angekommen war. Vielleicht hatte sie ihren Besuch etwas hinausgezögert – aber einen ganzen Monat? Oder aber, und das war die schlimmste aller möglichen Erklärungen, sie und die anderen waren auf dem Weg nach Wells überfallen worden.

So beschämend es auch war, in der Küche verpflegt zu werden, als wären sie Bettler, so bot sich ihnen doch die Möglichkeit, Fragen zu stellen, und Adelia war bereit, die Demütigung zu erdulden, wenn sie dadurch vielleicht herausfand, was mit ihren Freunden passiert war.

Sie kamen zu einem quadratischen, hübschen Gebäude, das aus demselben Stein erbaut war wie das Haupthaus und ein achteckiges Dach hatte. Die Hitze, die ihnen aus der offenen Tür entgegenschlug, hätte sie fast rückwärtstaumeln lassen.

»Vielleicht zieht Ihr es vor, Eure Mahlzeit auf dem Rasen einzunehmen«, schlug der Kämmerer vor.

Gyltha sagte resolut, dass sie lieber mit den Soldaten am Tor essen wolle, und marschierte mit Allie an der Hand davon.

Adelia und Mansur ertrugen die Küche. Eine einsame Öffnung knapp unter dem Dach ließ mehr Rauch hinaus als Licht herein, sodass die beiden in die Wände eingelassenen Feuerstellen eine Szene erleuchteten, die an Vulcanus’ Schmiede erinnerte. Ein bis zur Taille nackter Mann mit schweißglänzender Haut holte mit einem riesigen Schieber Brotlaibe aus einem Ofen. Andere Gestalten trugen auf einem Tisch in der Mitte des Raumes ein überraschend erlesenes Mahl aus tranchiertem Hähnchenfleisch und Schinken, Räucherforelle, Eingemachtem, Gebäck, Butter und Honig auf.

In einem Zinnkrug stand Wein bereit, in einem anderen Ale, aber als Mansur beide Male den Kopf schüttelte und Adelia erklärte, dass sein Glaube ihm Alkohol verbiete, wurde ein Diener losgeschickt, um gekühltes Gerstenwasser aus einem Keller zu holen.

Offensichtlich hatte die Nachfahrin von Rollo dem Wikinger ihrer Dienerschaft eingeschärft, das ewige Gesetz der Gastfreundschaft gegenüber Reisenden, und seien sie auch von niederem Stand, niemals zu brechen. Was wiederum noch mehr Anlass zur Sorge bot, denn falls Emma und ihre Begleiter vor Wolvercotes Schwelle aufgetaucht wären, dann hätten die Leute in dieser Küche davon gewusst – und das taten sie nicht.

Oder behaupteten es jedenfalls.

Adelia befragte sie gemeinsam und dann einzeln. »Habt ihr von einer Lady gehört, die mit Dienerschaft hier in der Gegend unterwegs war, oder sie gesehen? Sie ist jung und schön und hat ein zweijähriges Kind bei sich. Ist sie hier gewesen?«

Sie musste mit Mansur um Aufmerksamkeit wetteifern, denn dessen Gewand und Kufiya mit der golddurchwirkten Agal um seinen Kopf schienen alle zu faszinieren und zu ängstigen, als wäre ein Engel oder Dämon durch die Tür gesprungen. Das leuchtende Weiß seiner Kleidung – wie es ihm gelang, sie auf Reisen so sauber zu halten, blieb Adelia ein ewiges Rätsel – war stets auffällig, aber in Hafenstädten wie Cambridge, wo gelegentlich arabische Händler kamen und gingen, entfachte seine Erscheinung nicht ganz so viel Neugier. Hier, weit im Inland jedoch, hatte man so etwas wie ihn noch nie gesehen.

»Eine Lady«, wiederholte Adelia, »mit Kind. Mit Trosswagen, Pferden, Dienerinnen, Reitknechten, einem Priester.«

Der Mann, der die Brote aus dem Ofen holte, fuhr herum, um sie kurz anzuschauen, und sie ging erwartungsvoll zu ihm, doch er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Brot zu.

Nein, nein, sie hatten so jemanden nicht gesehen. Der Junge, der einen Bratspieß drehte, kreuzte die Finger, während er das sagte, und eine Magd wurde von hysterischem Kichern geschüttelt, doch diese Reaktionen musste Adelia erneut Mansurs Erscheinung zuschreiben. Sie gab auf.

Sie versuchte, den Kämmerer zu befragen, als er sie beide zum Tor geleitete. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Mistress, wir haben niemanden empfangen, auf den diese Beschreibung zutrifft.«

»Ich habe nicht gefragt, ob sie empfangen wurde, ich will wissen, ob sie hier war.«

»Nein, Mistress, ich bedaure.«

Trotzdem, irgendwas war da …

Hauptmann Bolt und seine Männer saßen unter den Bäumen neben der Straße im Gras, und ihre Pferde warfen in der untergehenden Sonne lange Schatten. Sie hatten gut gegessen und getrunken, aber der Hauptmann war unwirsch: Seine Tiere hatten sich an dem nahe gelegenen Bach, den der Sommer in ein bloßes Rinnsal verwandelt hatte, kaum satt trinken können. »Die haben uns nicht mal durchs Tor gelassen, um an einen Trog zu kommen. Das gastliche Somerset? Ich spuck drauf.«

Der Umstand, dass Emma und ihre Begleiter verschwunden waren, ließ ihn kalt.

»Könntet Ihr nicht einen von Euren Burschen nach Wells schicken?«, bat Adelia. »Vielleicht sind sie in einem der Gasthäuser dort abgestiegen.«

»Ich glaub, das Biest hat sie aufgefressen«, sagte Gyltha und fuhr auf Adelias zornigen Blick hin fort: »Tja, zutrauen würd ich’s der.«

»Nein, das kann ich nicht, Mistress«, sagte Bolt. »Habt Ihr gesehen, wie viele Gasthäuser es da gibt? Schon allein auf der High Street sind wir an Dutzenden vorbeigekommen. Ich kann weder einen Mann noch die Zeit dafür erübrigen.«

Wie üblich war er in Eile. Er hatte Befehl, Adelia samt Begleitung heil nach Glastonbury zu bringen, sich zu vergewissern, dass sie sicher untergebracht waren, und dann schnellstmöglich zum König zurückzukehren. Die Suche nach vermissten Ladys gehörte nicht zu seinen Aufgaben.

»Ihr könntet den da losschicken«, sagte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter zu der Stelle, wo Rhys der Barde im Schatten einer Eiche ruhte, einen Krug Ale neben sich, ein Hühnerbein in einer Hand, während die andere auf den Saiten der Harfe klimperte, die er zwischen den Knien hielt. »Auf den kann ich verzichten.«

Das konnten sie alle. Zu Anfang hatte der Waliser ihnen mit Spiel und Gesang die Reise versüßt, doch wie Hauptmann Bolt klagend über ihn sagte: »Der macht ja nix anderes.«

Und das stimmte – Rhys war völlig unfähig, bei den auf einer Reise anfallenden Arbeiten zur Hand zu gehen. Wenn er irgendwas holen oder tragen sollte, ließ er es unweigerlich fallen. Da er die meiste Zeit seines Lebens zu Fuß oder auf ungesattelten Welshponys zugebracht hatte, jagten ihm Pferde eine solche Angst ein, dass er nicht mal ihre Sattelgurte straffen oder ihnen Zaumzeug anlegen wollte oder konnte, sodass einer der Soldaten das für ihn erledigen musste.

Dagegen hatte er erstaunlich viel Erfolg bei den Frauen. Wenn er abends in dem jeweiligen Gasthaus, wo sie abgestiegen waren, kräftig beim Essen zugelangt hatte, gelang es ihm stets, irgendwie zu verschwinden, und ehe sie am Morgen weiterreisen konnten, mussten sie ihn suchen, um unweigerlich im Schlafzimmer irgendeiner Frau fündig zu werden. Es trieb Hauptmann Bolt in den Wahnsinn. »Wie stellt er das an?«

Adelia wusste es auch nicht, aber es war unbestreitbar, dass der schiefzahnige, schusselige und nicht allzu saubere Rhys mit seiner Musik so manche Jungfer dazu brachte, ihre Tugend zu vergessen.

Auch Mansur konnte ihn nicht ausstehen, vielleicht weil Gyltha, die für Müßiggänger normalerweise kein Verständnis hatte, für Rhys rührselige Geduld aufbrachte. »Seine schöne Stimme ist es wert«, sagte sie gern und sorgte liebevoll dafür, dass sein Teller stets voller war als der aller anderen.

Allie war ihm regelrecht verfallen, so wie er ihr. Die einzige Nacht, in der er kein Liebesabenteuer gesucht hatte, war die gewesen, in der die Kleine an üblem Bauchweh litt, nachdem sie in einem Obstgarten ein paar unreife Holzäpfel aufgelesen und gegessen hatte. Er hatte an ihrem Bett gewacht und sie mit einem Lied beruhigt, das den arabischen Stern Almeisan besang, nach dem sie benannt war.

Seither war Adelia bereit, ihm sehr viel zu verzeihen, wenngleich sie sich mitunter, wenn er Hauptmann Bolt mal wieder bis zur Weißglut gereizt hatte, doch fragte, warum um alles in der Welt Henry ihr den Barden mit auf den Weg gegeben hatte.

»Weil er ihn loswerden wollte, darum«, lautete Bolts Antwort. »Den verdammten Walisern konnte er ihn ja wohl nicht zurückgeben, oder?«

Nein, wahrscheinlich nicht. Rhys’ Landsleute wären nicht gut auf einen Mann zu sprechen, der dem englischen König einen toten Arthur lieferte.

Wie auch immer, es hätte keinen Sinn, ihn auf die Suche nach Emma zu schicken. Selbst wenn ganz Wells seine Töchter einsperrte, war fraglich, ob er den Weg zurück finden würde.

Im Augenblick blieb Adelia nichts anderes übrig, als nach Glastonbury weiterzureisen und zu hoffen, Emma durch weitere Nachforschungen ausfindig zu machen.

Die Straße dorthin war kurvenreich, und als es dunkel wurde, war niemand mehr auf ihr unterwegs.

Das Gesetz, demzufolge alle Bäume, die weniger als einen Bogenschuss weit vom Wegesrand entfernt wachsen, gefällt werden sollten, damit Reisende weniger leicht in einen Hinterhalt gerieten, war hier missachtet worden. Und zwar schon seit Jahren, denn der Reiterzug ritt teilweise regelrechte Alleen entlang, in denen sich die Äste über ihnen berührten und den Mond verbargen.

Fackeln und Laternen wurden entzündet, Schwerter gezückt, Stille befohlen, die Pferde zu Schritttempo gezügelt – Wegelagerer spannten nämlich gern Draht quer über die Straße, um trabende Pferde zu Fall zu bringen. Gyltha und Adelia mit der im Korb schlafenden Allie wurden von ihren Geleitsoldaten umringt – und waren froh darüber. Rhys lenkte sein Pferd zwischen die ihren; die einzige Waffe, die er besaß, war seine Harfe.

Michael der Trompeter murmelte: »Das hier ist das gefährlichste Stück Straße in England, hab ich gehört.«

»Warum?«, fragte Adelia im Flüsterton.

»Wolf. Ein Vogelfreier. Die Leute nennen ihn Wolf, weil er ein Tier ist, obwohl er auf zwei Beinen geht, und weil er ein Rudel bei sich hat. Sie sagen …«

Aber Hauptmann Bolt gebot ihnen zu schweigen. Er lauschte auf das hundertfache Rascheln, das zwischen den Stämmen hervordrang, die sich im Fackelschein gespenstisch ausnahmen. Sein Schwert zuckte immer wieder in Richtung der grün leuchtenden Tieraugen, die aus dem Unterholz hervorspähten.

Einmal hörte Adelia ein Husten irgendwo zwischen den Bäumen, obwohl sie nicht hätte sagen können, ob es aus einer menschlichen Kehle kam.

Wolf.

Weil sie müde war und Angst hatte, wurde sie wütend. Bolt hätte sie zurück nach Wells führen und dort übernachten lassen sollen, dann hätten sie diesen Ritt bei Tageslicht machen können. Der verfluchte Kerl hatte jede zusätzliche Verzögerung verweigert. Immer getrieben von dem Wunsch, zu seinem verdammten König zurückzugaloppieren, verfluchter Kerl.

Und auch dieses Weibsstück da hinten in Wolvercote Manor sollte verdammt sein. Hatte sie Emma und den kleinen Pippy in so eine gefährliche Nacht hinausgeschickt? Sie hatte gesagt, nein. Mansur glaubte nicht, dass sie das getan hatte. Aber in diesem schönen Haus und in der Küche hatte eine erstickende Stimmung geherrscht, als würde eine Wahrheit unterdrückt.

Oh Gott, und wenn diese Hexe sie gefangen hielt? Oder noch Schlimmeres mit ihnen gemacht hatte?

Nein, solche Gedanken waren eine Folge der Übermüdung.

Aber irgendwas war da gewesen … Sie musste immer wieder an die Augen des Mannes, der das Brot aus dem Ofen holte, denken, als er sich umgewandt und sie angeschaut hatte. Irgendwas …

Verdammt, wie lange dauerte es noch, bis sie Glastonbury erreichten? Es sollte nur wenige Meilen von Wells entfernt sein, aber noch war keine Spur von irgendeiner Ansiedlung zu sehen.

Dass sie angekommen waren, merkten sie erst, als die Hufe ihrer Pferde plötzlich über Stein klapperten. Es gab keine Wegmarke, aber rechter Hand tat sich eine Lücke im Wald auf. Die Fackeln der Männer ließen einen steilen Hang erkennen, und weiter unten, an seinem Fuß, glänzte Mondlicht auf Wasser.

»Das ist es«, sagte Bolt. »Muss es sein. Das da unten ist wohl der Fluss Brue – fließt ganz nah an der Abtei vorbei. Aber wo ist dann die Abtei?«

Wahrhaftig, wo war sie? In einem der geschäftigsten und reichsten Stifte Englands, dem ein Großteil von Somerset und noch mehr gehörte, hätte auch um diese späte Stunde noch irgendwie Leben herrschen müssen, selbst wenn das Feuer große Schäden angerichtet hatte.

Erst als sie den Hang hinabritten, erkannte Adelia das Ausmaß der Katastrophe, die den Ort getroffen hatte. Linker Hand folgten sie den Überresten der großen Klostergrenzmauer, die nur mehr eine eingestürzte Ansammlung verrußter Steine war, hinter der nichts als Stille lag.

Ebenso bedauernswert – und von niemandem erwähnt – war, dass die Flammen die Mauer übersprungen und auch das dem Kloster benachbarte Dorf vernichtet hatten. Denn während sie weiterritten, fiel das Licht ihrer Fackeln auf kahle Sparren, wo einst die reetgedeckten Läden und Cottages der Laien gestanden hatten, die sowohl der Abtei als auch den Pilgern dienten, die gekommen waren, um vor den Heiligenschreinen zu beten.

Hier war einmal eine belebte Hauptstraße gewesen; jetzt hing brandig beißender Aschegeruch in der Luft. Es gab keinerlei Licht außer dem Mond, kein Leben, nur Stille. Adelia hörte Captain Bolts fassungslose Stimme, während er sich bekreuzigte: »Gott erbarme sich, es ist tot. Glastonbury ist tot.«

Am Fuße des Hanges, wo dieser auf den Fluss traf und auf einen weiten, gepflasterten Marktplatz mit Kai auslief, war die Abteimauer noch ebenso unversehrt wie ein dreigeschossiges Gebäude ihr gegenüber. Die Nähe zum Wasser und der Umstand, dass es aus Stein erbaut war, hatten es erhalten. Es war das Einzige, was von dem blühenden Ort übrig geblieben war. Auch hier deutete nichts darauf hin, dass es bewohnt war; die Fassade mit der robusten Tür zur Straße war dunkel, doch Hauptmann Bolts Laterne beleuchtete rechts davon einen breiten, hohen Torbogen in dessen Quersturz die unverkennbare Gestalt eines Mannes mit breitkrempigem Hut gemeißelt war, der eine Pilgertasche trug.

Sie hatten das »Pilgrim Inn« gefunden.

Der Reiterzug schwenkte von der Straße durch den Torbogen und gelangte auf einen großen, menschenleeren Hof, der von Außengebäuden und rechter Hand vom Gasthaus selbst begrenzt wurde, aus dem das Licht einer einsamen Kerze durch die Ritzen eines Fensterladens schien.

»Gott sei gedankt!«, sagte Hauptmann Bolt. Er stieg ab und hämmerte auf die Seitentür des »Pilgrim Inn«.

Drinnen bellte ein Hund los. Die Kerze wurde gelöscht. Ein Quietschen ertönte, als hätte jemand den Fensterladen einen winzigen Spalt geöffnet, ansonsten geschah nichts.

Adelia und Gyltha wurden aus dem Sattel gehoben. Ihre Pferde führte man zusammen mit den anderen zu einem Trog, der neben einem Ziehbrunnen stand. Zwei Soldaten begannen, die Ställe und eine Scheune zu durchsuchen.

»Aufmachen! Aufmachen, im Namen des Königs!« Hauptmann Bolt wurde allmählich wütend.

Eine zittrige Stimme drang vom Fenster her, aufgrund des Gebells kaum vernehmbar. »Ich hetz die Hunde auf euch. Ich warne euch, wir sind hier drin schwer bewaffnet.«

»Das sind wir hier draußen auch«, schrie der Hauptmann. »Macht die verdammte Tür auf, sonst lass ich sie mit einem Rammbock einrennen.«

Leicht verspätet erinnerte sich der Trompeter Michael wieder an die Pflichten seines Amtes und blies einen Signalruf, dessen würdevolle Klänge von den Mauern widerhallten, wenngleich sie nur bewirkten, dass der Hund wieder losbellte und eine verstörte Schleiereule aufgeschreckt von ihrem Ruheplatz im Stall aufflatterte.

»Na schön, meinetwegen«, sagte Hauptmann Bolt und sah sich um. »Sucht irgendwas, um diese verdammte Tür einzurennen!«

Prompt öffnete sich die Tür einen Spalt, und dieselbe Stimme fragte: »Wer seid Ihr?«

»Wer seid Ihr?«

»Godwyn, Sir. Der Wirt dieses Gasthauses.«

»Wir sind Männer des Königs«, erklärte der Hauptmann. Er sah Adelia an und schnippte mit den Fingern, worauf sie ihre Satteltasche nach der königlichen Vollmacht durchsuchte. »Ihr habt einen Befehl von König Henry erhalten, in dem er Euch mitteilte, dass er Gäste bei Euch einquartiert. Behauptet nicht, Ihr hättet ihn nicht bekommen, weil der Bote zurückgekommen ist und gesagt hat, er hätte ihn Euch übergeben.«

Die Tür öffnete sich weiter, sodass Bolts Laterne nun einen kleinen, rundlichen Mann beleuchtete, der barfuß in seinem Nachthemd dastand und einen sabbernden Hund am Halsband festhielt. »Das war vor einem Monat«, sagte er. »Aber es sind keine Gäste gekommen. Keine Gäste.« Er zitterte.

»Jetzt sind sie da.« Der Hauptmann nahm Adelia die Vollmacht aus der Hand und hielt sie dem Mann unter die Nase. »Master Mansur, das ist der vornehme Sarazene dort drüben, wie die Vollmacht besagt, hat die Aufgabe …« Bolt hielt die Laterne höher, um die Schrift besser lesen zu können. »›… die jüngsten Funde in der Abtei von Glastonbury zu untersuchen. Die Erlaubnis dazu erteilen ihm Henry, König von England, und sein hochgeschätzter Abt Sigward.‹ Die Lady hier ist Mistress Adelia, die gleichfalls erwähnt wird, ebenso wie ihre Begleiterin, Mistress Gyltha, und dann wäre da noch … He, was hat er denn auf einmal?«

Godwyn der Gastwirt war in Ohnmacht gefallen.