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Kapitel vier

Kuck mal!«, sagte Allie und zeigte nach oben, als sie sich der Burg näherten. »Mohnblumen. Viele, viele Mohnblumen. Ganz große.«

In der untergehenden Sonne sahen die abgetrennten Köpfe, die die Zinnen von Caerleon säumten, so ähnlich aus wie großblättrige Blüten.

»Dieser verdammte Rohling«, flüsterte Adelia vor sich hin und trieb ihr Pferd den Hang hinauf, damit sie schneller die Barbakane erreichten, deren Mauern ihre Tochter hoffentlich vor der Erkenntnis schützten, worum es sich bei den »Mohnblumen« auf den Zinnen in Wirklichkeit handelte. »Barbar! Schwein! Dieser Unmensch kann sich auf was gefasst machen, wenn ich ihn sehe.«

Sie war so müde, dass nur ihr Zorn auf Henry Plantagenet sie noch im Sattel hielt. Bis auf Allie, die in einem Korb am Pferdesattel hatte schlafen können, waren sie alle von einer Reise erschöpft, auf die Adelia am liebsten verzichtet hätte.

Zunächst hatte sie sich geweigert, die Soldaten zu begleiten. »Ich komme nicht mit.« Schon zweimal hatte sie dem Plantagenet in ihrer Eigenschaft als Totenleserin gedient, um Licht in ungeklärte Todesfälle zu bringen, und beide Male hätte es sie selbst fast das Leben gekostet.

Emma, Gott segne sie, hatte sie in ihrem Protest unterstützt, als hätte es nie eine Missstimmung zwischen ihnen gegeben.

»Ich kann unmöglich auf diese Lady verzichten, sie ist …« Emma entsann sich gerade noch rechtzeitig, dass ihre Freundin besser nicht als Ärztin bezeichnet werden sollte. »Sie hilft meinem Arzt, Master Mansur.«

»Der kommt auch mit.« Die Hand des Hauptmanns glitt zu seinem Schwertgriff, als er das sagte, und Adelia wusste, dass er den Befehl des Königs notfalls mit Gewalt durchsetzen würde.

Adelia war in Panik geraten. »Nicht ohne mein Kind. Ich komme nicht mit ohne mein Kind.« Die würden sie bis nach Wales schleifen müssen, sie würde sich vom Pferd stürzen, sie würde sich lautstark und mit Händen und Füßen wehren, sie würde …

Doch in dieser Frage hatte der Hauptmann sogleich eingelenkt. »Das hat der König bereits geahnt.«

»Und ich komme auch mit«, sagte Gyltha.

Der Hauptmann nickte ergeben. »Auch das hat der König gesagt.«

Man hatte ihnen kaum Zeit gelassen, sich zu verabschieden. Besorgt sagte Emma: »Falls du von dort fort kannst, ich werde in unserem Herrenhaus bei meiner Schwiegermutter sein. Frag nach der Witwe Wolvercote!«

Adelia winkte, als einer der Soldaten ihr Pferd in den Trab brachte.

»Auf halber Strecke zwischen Wells und Glastonbury«, rief Emma.

Adelia hätte noch einmal gewinkt, aber inzwischen galoppierte sie und musste sich mit beiden Händen festhalten.

Der Gewaltritt dauerte Tage, so kam es ihr vor. Es waren keine Vorkehrungen getroffen worden, um behagliche Nachtquartiere anzusteuern, wie Emma das getan hatte. Wenn es zu dunkel war, um noch weiterzureiten, begnügten sie sich mit der nächstbesten Herberge.

Die erste Nacht hatten sie auf dem Weg zum Mündungsarm des Severn in einer heruntergekommenen Taverne verbracht. Es war kaum mehr als ein Schuppen, in dem alle gemeinsam auf einer erhöhten und mit Stroh bedeckten Plattform schliefen. Am nächsten Morgen waren sie von Flöhen zerbissen, und Adelia stellte fest, dass das Bündel mit ihren sauberen Sachen in der Hast bei Emma vergessen worden war. Der Hauptmann – sein Name war Bolt, was nach Gylthas Ansicht »genauso blöd klingt, wie der Saukerl ist« – weigerte sich, einen Abstecher zum nächstgelegenen Markt zu machen, wo sie frische Kleidung hätte kaufen können. »Tut mir leid, Mistress. Ihr müsst einfach die Zähne zusammenbeißen.«

»Befehl des Königs, was?«, fauchte sie erbittert. Die drei Worte waren ihr jetzt schon zuwider, und sie wusste, sie würde sie noch sehr viel häufiger zu hören bekommen.

»Richtig.« Der Mann war eigentlich nicht unfreundlich, aber sein Herr, der König, hatte auf Schnelligkeit bestanden, und diese Forderung war das Einzige, was zählte.

Als sie den Severn erreichten, stiegen sie in ein Boot um und gingen an der walisischen Küste bei der Burg Cardiff, dem Ziel ihrer Reise, an Land. Dort mussten sie erfahren, dass Henry mit seinen Truppen weitergezogen war.

»Schon wieder eine Rebellion«, erklärte Bolt ihnen, nachdem er sich umgehört hatte. »Der junge Geoffrey wird in Caerleon von Walisern belagert. Der König ist hin, um ihn zu unterstützen.«

»Dann müssen wir eben hier warten«, sagte Adelia, froh über die Aussicht auf Erholung.

»Nein, Mistress. Für uns geht’s gleich weiter.«

»In die Schlacht? Ihr dürft uns nicht so in Gefahr bringen.«

Bolt wunderte sich über ihren mangelnden Glauben an Henry Plantagenet. »Wenn wir da ankommen, ist die Schlacht längst vorbei. Der König erledigt diese verdammten walisischen Schwachköpfe schneller, als die sich ins Hemd machen können.«

Und das hatte er wohl auch, zumindest den Köpfen auf der Burgmauer und der stillen, düsteren Landschaft ringsherum nach zu schließen.

Nach der Niederschlagung der Revolte war Henry dabei, den Frieden wiederherzustellen – auch wenn davon in der Barbakane oder im Burghof nichts zu sehen war. Überall herrschte hektische Unruhe: Soldaten sammelten Waffen zusammen, Schreiber packten Truhen mit Dokumenten, das alles inmitten von schreienden Maultieren und verstört umherirrenden Hühnern und Schweinen, während eine sich überschlagende Stimme aus einem hohen Fenster Befehle an die unten im Hof brüllte: »Wo bleiben diese verdammten Karten? Ich brauch hier oben mehr Tinte. Herr im Himmel, ihr Saukerle, nun beeilt euch doch!«

Überall stank es nach Urin und Dung, und der Geruch wurde auch nicht besser, als Adelia und die anderen hastig Treppen hinauf- und an Schießscharten vorbeigeführt wurden, an denen Bogenschützen Tag und Nacht gewacht hatten, um den anstürmenden Feind abzuwehren.

Der König schritt in einem geringfügig leiseren, aber ebenso unruhigen Zimmer auf und ab, diktierte zwei verschiedenen Schreibern die Bedingungen für zwei verschiedene Verträge mit zwei verschiedenen und besiegten aufrührerischen walisischen Lords. Er schrie gelegentlich Anweisungen durch das Fenster, während ein überforderter kleiner Mann neben ihm herlief und versuchte, Blutegel an einen nackten und entzündet aussehenden königlichen Arm zu setzen. In einer Ecke sprach ein junger Mann, in dem Adelia den unehelichen Sohn des Königs und seinen obersten Feldherrn Geoffrey erkannte, mit einigen müde aussehenden, offenbar ranghohen Männern in schweren Pelzmänteln, vermutlich walisischen Stammesfürsten. Pagen trugen Essen auf einem Tisch auf und beförderten dabei schnüffelnde Hunde mit Fußtritten beiseite. Etliche Falken auf Sitzstangen kreischten und schlugen mit den Flügeln. In krassem Gegensatz dazu saß ein schlaff wirkender Mann in einer anderen Ecke, klimperte auf einer kleinen Harfe und sang dazu, obwohl unmöglich zu hören war, was.

Hauptmann Bolt kündigte die Neuankömmlinge mit einem lauten Ruf an, der sich kaum gegen den Krach durchsetzen konnte: »Master Mansur, Mistress Adelia und …« Er warf einen verzweifelten Blick auf Gyltha, die Allie im Arm hielt. »Und Begleitung.«

Henry blickte auf. »Ihr habt Euch verdammt Zeit gelassen. Setzt Euch irgendwohin, bis ich hier fertig …«

»Nein«, sagte Adelia entschieden.

Jeder im Raum erstarrte, bis auf den Harfenspieler, der weiter leise vor sich hin sang.

Adelia, der vor Flohbissen und Wut schon alles egal war, erklärte: »Master Mansur und Begleitung brauchen ein Bad und Ruhe. Und zwar sofort.«

Aller Augen richteten sich zuerst auf sie und dann mit einer einzigen langsamen Bewegung auf den König. Henrys Jähzorn, wenn ihm die gebührende Achtung verweigert wurde, war legendär – Thomas à Becket war daran gestorben.

Henry stieß geräuschvoll die Luft aus. »Geoffrey?«

»Ja, Mylord?«

»Gibt es in der Burg eine Badewanne?«

»Ich weiß nicht, Mylord.« Der Mund des jungen Mannes zuckte. »Eine Wanne gehörte, äh, nicht zu unserem Arsenal.«

»Dann findet eine! Und ein paar Betten.«

»Und saubere Kleidung«, sagte Adelia. »Frauenkleidung.«

Der König seufzte erneut. »Samit? Spitze? Irgendwelche besonderen Vorlieben?«

Adelia überging seinen Sarkasmus. »Sauber genügt«, sagte sie.

An der Tür wandte sie sich um und sprach den kleinen Arzt an. »Und falls Ihr die Wunde da behandeln wollt, nehmt die Blutegel ab und legt Torfmoos auf – in den Tälern hier gibt es mehr als genug davon. Wir sind zwei Tage lang durch das verdammte Zeug hindurchgeplatscht.«

 

Wie sich herausstellte, war die Wanne ein riesiger Wäschezuber, und die Soldaten, die ihn und die großen Krüge mit heißem Wasser zu den beiden Räumen hinaufschleppten, die man den Gästen ganz oben in einem Turm zugewiesen hatte, waren völlig außer Atem und gereizt, als sie endlich am Ziel ankamen.

Eine erbarmungslose Adelia schickte sie wieder nach unten, um Seife und Handtücher zu holen.

Die Betten, die ihnen gebracht wurden, waren wackelig, aber das Stroh und die dazugehörigen Decken waren sauber.

Als Adelia nach einer langen durchgeschlafenen Nacht erwachte, fühlte sie sich besser, aber die Erinnerung an ihr Verhalten gegenüber einem König, dessen Reich sich von den Grenzen Schottlands bis zu den Pyrenäen erstreckte, beunruhigte sie. Doch anscheinend zeigte es selbst jetzt noch Wirkung, denn ein höfliches Klopfen an der Tür kündigte den Eintritt von Geoffrey an, des Herrschers unehelichem Sohn, der noch immer erheitert wirkte.

Er brachte einen Armvoll Frauenkleidung. »Wir haben die hier von der Frau eines der walisischen Stammesfürsten … äh, eingeheimst«, sagte er. »Keine Sorge, sie hat noch mehr, obwohl ich fürchte, dass die Lady um einiges stattlicher ist, als Ihr es seid, aber wir hatten nur die Wahl zwischen dem hier und einem Kettenhemd.«

Adelia zog ihre Decke fester um den Körper – am Vorabend hatte sie alles, was sie am Leibe trug, aus dem Fenster geworfen. Zum Glück war Allies Ersatzkleidung ebenso wie die Mansurs in Gylthas Bündel gewesen, sodass diese drei frische Sachen zur Verfügung hatten. »Ich danke Euch, Mylord.«

»War das Frühstück zu Eurer Zufriedenheit? Der Koch ist nämlich auch Waliser.«

»Richtet ihm meine Glückwünsche aus«, sagte sie. Lammfleischspießchen, die köstlichsten, die sie je gegessen hat, dazu Buttermilch und eine Art Kuchen, der bara brith genannt wurde und so sättigend war, dass selbst Mansur nicht alles geschafft hatte.

»Wenn Ihr angekleidet seid, würde Mylord der König Euch und Master Mansur gern empfangen. Natürlich nur, wenn es Euch schon beliebt.« Der junge Mann ging zur Tür und wandte sich dann noch einmal um. »Ach so, und einer von unseren Burschen hatte das hier für Eure Kleine geschnitzt.« Er ging in die Knie, um mit Allie auf einer Höhe zu sein, und reichte ihr eine Holzpuppe.

Allie machte einen braven Knicks. »Ich werde sie Mohnblume nennen, wie die auf dem Dach.«

»Mohnblumen?«

»Sie meint die Blüten, die die Zinnen schmücken«, sagte Adelia, die gleich wieder zornig wurde. »Diejenigen, die man von ihrem Stängel getrennt hat.«

»Ach die.« Die Augen des jungen Mannes waren auf Allie gerichtet, doch er sprach mit Adelia. »Weißt du, meine Kleine, die waren bereits gepflückt worden. Der König schlägt keine Mohnblumenköpfe ab, wenn sie nicht schon tot sind.« Als er sich zum Gehen wandte und Allie anfing, mit ihrer Puppe zu spielen, fügte er noch hinzu: »Ein paar hängt er auf, gelegentlich, um den anderen gut zuzureden, aber im Großen und Ganzen ist er seinen Blumen gegenüber sehr großmütig.«

»Netter Kerl, der Junge«, sagte Gyltha, als Geoffrey gegangen war. Sie begann, die Kleider auseinanderzufalten, die er gebracht hatte. »Gott steh uns bei!«

Gefolgt von Mansur stiefelte Adelia in Rock und Mieder, alles festgesteckt und mit Gürtel gesichert, damit auch nichts rutschte, die Treppe hinunter. Da es in ihrem Alter unschicklich war, barhäuptig zu gehen, trug sie zudem die Kopfbedeckung der Waliserin, ein kunstvolles Gebilde mit vorhangähnlichen Behängen auf beiden Seiten, das schwer auf ihren Ohren lastete.

Beiläufig fragte sie den Pagen, der ihnen den Weg zeigte: »Ist der Bischof von St. Albans in der Burg?«

»Er war es, Mistress, ist aber weiter nach St. David’s, um mit dem walisischen Bischof zu verhandeln.«

Im Gemach des Königs befanden sich, da die Stammesfürsten und Diener gegangen waren, der König selbst, ein Schreiber, der am Tisch ein Dokument aufsetzte, Hunde, Falken und der leise singende Harfenspieler. Der Page führte sie hinein, kündigte sie an und blieb dann in Habtachtstellung mit dem Rücken zur Tür stehen.

Henry Plantagenet diktierte noch und stapfte auf Beinen, die von den endlosen Ritten durch sein Reich schon leicht krumm geworden waren, auf und ab. Wie üblich war er kaum besser gekleidet als einer seiner Pferdeknechte, aber ihn umgab auch wie üblich eine Aura der Macht, die fast mit Händen zu greifen war.

Auf Mansurs »As-salam-aleikum« hin nickte Henry ihm zu und ging dann einmal um Adelia herum, um ihre ausladende Garderobe zu mustern. »Könnt Ihr mich darin hören?«

»Ja, Mylord. Danke, Mylord.«

»Ihr seid ein ungehobeltes und schamloses Weib, wisst Ihr das?«

»Ja, Mylord, es tut mir leid, Mylord.« Sie blickte auf den Arm des Königs, wo weiche, leuchtend hellgrüne Blütenköpfe von Sphagnum-Moos durch einen Verband an Ort und Stelle gehalten wurden. »Was macht Eure Wunde?«

»Besser. Wäret Ihr jetzt bereit für ein bisschen Arbeit?«

»Ich denke ja, Mylord.«

»Seht Ihr den Burschen da drüben?« Der König deutete mit dem Daumen auf den Harfenspieler. »Heißt Rhys soundso. Er ist Barde und kommt aus irgendeinem unaussprechlichen Drecksloch an der Küste.« Er hätte auch über eine interessante Hunderasse sprechen können. »Erhebe dich, Rhys, und begrüße Master Mansur und Mistress Aguilar!« An Adelia gewandt, sagte er: »Er hat die ganze Sache losgetreten, deshalb wird er Euch nach Glastonbury begleiten.«

Rhys stand auf und verbeugte sich vage in Adelias und Mansurs Richtung.

»Glastonbury?«, echote Adelia schrill. »Mylord, ich war bereits auf dem Weg nach Glastonbury oder zumindest in der Nähe. Lady Emma Wolvercote und ich waren unterwegs nach Wells. Ihr hättet einen Boten schicken und Euch die Mühe sparen können.« Und mir weiß Gott wie viele mörderische Meilen, dachte sie. Welche Sache?

»Master Rhys wird Euch eine Geschichte erzählen, nicht wahr, Rhys?«, sagte Henry, dessen Aufmerksamkeit noch immer dem Barden galt, als wollte er ihn dazu bringen, den Besuchern ein Kunststück vorzuführen. »Erzählen, nicht singen, in Gottes Namen.« An Adelia und Mansur gewandt, sagte er: »Der Mistkerl singt andauernd.«

»Das mit Onkel Caradoc, nicht?«, fragte Rhys.

»Natürlich, du Spaßvogel. Weswegen bist du sonst hier? Nun red schon!«

Der Barde trat vor. Er war ein dünner Mann mit Hängeschultern und vorstehenden Zähnen, der Adelia irgendwie an ein in die Länge gezogenes Kaninchen erinnerte. Trotz des königlichen Verbots wanderte seine Hand immer wieder zur Harfe, ehe dieses ihm erneut einfiel und er sie wieder wegnahm. Aber selbst seine Sprechstimme, ein weicher Tenor, der sein Aussehen vergessen ließ, war fast so melodiös wie ein Lied, wenngleich der Schreiber am Tisch davon ungerührt blieb und der Barde seine Geschichte über das Kratzen eines Federkiels und den durchs Fenster dringenden Lärm des soldatischen Treibens im Burghof hinweg erzählen musste.

Und so wurden Adelia und Mansur von der Singsangstimme zwanzig Jahre zurückversetzt, in die Zeit, als der jugendliche Rhys in der Abtei von Glastonbury lebte. »Ich war nie für das Klosterleben geeignet«, sagte er. »Keine Gelegenheit für wahre Poesie.«

Er erzählte ihnen von dem Erdbeben, das das Tiefland von Somerset, in dem Glastonbury stand, heimgesucht hatte. »Furchtbar war es, ganz furchtbar, als ließe die Posaune des Jüngsten Gerichts den Himmel erbeben …« Ein Zischen aus dem Mund des Königs trieb ihn weiter. »Und mein lieber Onkel Caradoc, der sterbenskrank war, hatte einen Wachtraum …«

»Eine Vision«, sagte der König.

»Drei Kapuzen tragende Lords, die einen Sarg zum Friedhof schleppen und ihn beerdigen, wisst Ihr.«

»Zwischen den beiden Pyramiden«, soufflierte der König.

»Es stehen zwei Pyramiden auf dem Friedhof in Glastonbury, uralt sind sie, und Onkel Caradoc, der sagt zu mir: ›Schau, mein Junge, schau dort hinunter in den Erdspalt! Dort wurde Arthur zu seiner langen Ruhe gebettet, und durch die Gnade Gottes bin ich Zeuge dessen geworden. Wohlan nun, lasse Du Deinen Diener in Frieden dahinscheiden!‹ Und der Allmächtige hat ihn erhört, denn das Ende meines Onkels war wahrhaft wunderwunderbar …«

»Gott hab ihn selig«, sagte Henry. »Und nun red weiter!«

»Am nächsten Morgen haben wir meinen lieben alten Onkel beerdigt, aber keine Spur von einem anderen Sarg gesehen, nur aufgewühlte Erde auf dem ganzen Friedhof – durch das Erdbeben, versteht Ihr? Furchtbar war es, ganz furchtbar, wie am Tage des Jüngsten Ge…«

Der König stampfte mit einem Fuß auf und sagte: »Aber du hast nicht weiterzählt, was Onkel Caradoc gesehen hatte, oder?«

»Nein, oh nein.«

»Wir mussten es aus ihm herausprügeln«, sagte Henry mit Blick auf Adelia. »Er hat es zwanzig Jahre lang für sich behalten. Der einzige Mensch, dem er es erzählt hat, war seine Mutter.« Er wandte sich wieder Rhys zu. »Und warum hast du es für dich behalten?«

»Nun ja, weil …« Rhys’ große, verträumte Augen nahmen einen listigen Ausdruck an. »Weil manche vielleicht glauben könnten …«

»Und du bist einer von ihnen, du kleiner Sauhund«, warf der König ein.

»… glauben könnten, dass mein Onkel das Begräbnis von König Arthur sah.«

»Und wieso kann es das nicht gewesen sein?«

»Nun ja«, sagte Rhys noch immer listig, »manch einer glaubt, dass Arthur nur schläft, versteht Ihr? In einer Kristallhöhle in Ynis-Witrin, der Insel aus Glas. Avalon.«

»Und das ist Glastonbury«, sagte Henry schnell. Er winkte dem Pagen an der Tür. »Bring ihn runter in die Küche und gib ihm wieder was zu essen!« An Adelia gewandt, sagte er: »Der Mistkerl frisst mir noch die Haare vom Kopf.« Als der Page Rhys nach draußen brachte, rief er ihm hinterher: »Und es wird nicht gesungen!«

Als die Tür sich wieder schloss, sagte der König: »Nun?«

»Nun was, Mylord?«, sagte Adelia.

»Nun, das will ich Euch sagen. Er hat uns das alles erzählt, als wir in Cardiff waren – seitdem haben wir ihn die ganze Zeit mitgeschleppt –, und ich hab flugs Boten zum Abt von Glastonbury geschickt mit dem Geheiß, seine Mönche zwischen den beiden Pyramiden auf dem Friedhof graben zu lassen und diesen Sarg zu suchen.«

Adelia runzelte die Stirn. »Ihr haltet diese Vision also für real, Mylord?«

»Natürlich war sie real. Die Mönche haben das Ding gefunden.« Henry schwenkte ein Pergament in der Luft, dessen dickes Siegel in heftiges Pendeln geriet. »Das ist ein Schreiben von Abt Sigward, in dem er mir mitteilt, dass sie genau zwischen den Pyramiden einen Sarg aus sechzehn Fuß Tiefe ausgegraben haben. Drin lagen zwei Skelette, ein großes, ein kleines. Arthur und Guinevere, Gott segne sie! Zwei auf einen Streich.«

Adelia nickte vorsichtig. »Sie haben ihn nach dem Brand ausgegraben, nicht wahr?«

»Natürlich – kurz danach, sonst wäre der Sarg ja wohl wie alles andere auch verbrannt.«

»Ich verstehe.«

Henry musterte sie mit zusammengekniffenen Augen: »Wollt Ihr andeuten, das Ganze ist Betrügerei?«

»Nein, nein.« Gleichwohl dachte sie, dass es für eine Abtei, die gerade alles verloren hatte, woraus sich Einkünfte erzielen ließen, ein überaus glücklicher Fund war.

»Das hör ich gern. Abt Sigward ist ein ehrenhafter Mann. Er behauptet nicht ausdrücklich, dass das in dem verdammten Sarg wirklich Arthur ist. Aber wer soll es sonst sein? Habt Ihr nicht Geoffrey von Monmouth gelesen?«

Nein, hatte sie nicht, war auch nicht nötig gewesen, weil sie ohnehin das meiste aus seinem Buch gehört hatte. Geoffreys »Historia Regum Britanniae« hatte in den vierzig Jahren seit ihrer Abfassung unaufhaltsam an Beliebtheit gewonnen. Das Werk beanspruchte, die Ahnenreihe der britischen Könige zweitausend Jahre weit zurückzuverfolgen, und schrieb ihnen zu, von den Trojanern abzustammen. Wer gebildet genug war, um Latein lesen zu können, erzählte denjenigen, die das nicht konnten, die Geschichten weiter, wunderbare Geschichten voller Abenteuer und Liebe, Krieg und Magie und Frömmigkeit – aber die wunderbarste von allen war die Geschichte von König Arthur, der den heidnischen sächsischen Eindringlingen widerstand und irgendwo im Nebel des finstren Zeitalters Britanniens ein goldenes Zeitalter der Ritterlichkeit erschuf.

Arthur hatte die Phantasie des Landes entzündet und tat das noch immer. Legenden von seinem Heldenmut, seinen Rittern und Schlachten, seiner Ehe mit Guinevere und ihrem Ehebruch wurden in Burgen und Herrenhäusern, auf Marktplätzen und am Herdfeuer von Geschichtenerzählern, professionellen und Laien, verbreitet.

In jedem Gasthaus, in dem Adelia auf ihrer Reise mit Emma abgestiegen war, hatte sich jemand erboten, die Gäste mit der einen oder anderen Arthur-Erzählung zu unterhalten, manchmal mit Ausschmückung, die selbst Geoffrey von Monmouth nicht wiedererkannt hätte. Aber damit nicht genug. Fast jeder Marktflecken und jedes Dorf auf ihrer Reise beanspruchte ein Fitzelchen der Legende für sich, rühmte sich einer Arthur-Quelle, eines Arthur-Stuhles, Arthur-Tisches, Arthur-Berges, Arthur-Hügels, Arthur-Steins, Arthur-Ansitzes, einer Arthur-Küche …

Sein Ruhm hatte sich sogar in andere Länder ausgebreitet – Adelia erinnerte sich, dass ihre Ziehmutter in Salerno ihr von Arthurs Großtaten auf dem Vesuv erzählt hatte. Die Geschichten faszinierten vor allem Frauen. Emma war ganz vernarrt in sie. »Findest du die Stelle nicht auch hinreißend, wenn Uther Pendragon in Tintagel aus dem Dunkeln tritt und Ygraine verführt?«, hatte sie gefragt.

»Na ja, schon, aber ist es nicht ziemlich unglaubwürdig, dass er das Aussehen ihres Mannes angenommen haben soll?«, war Adelias Antwort gewesen.

Das hatte ihr den Vorwurf einer unromantischen Seele eingehandelt. »Du würdest vermutlich lieber irgendwas Langweiliges lesen, zum Beispiel über menschliche Innereien«, hatte Emma mit einiger Berechtigung erwidert.

Prior Geoffrey dagegen verabscheute das Buch und vergaß seine sonstige Achtung vor den Toten, indem er den verstorbenen Geoffrey von Monmouth mit Schimpf und Schande überhäufte. »Ein Historiker soll er gewesen sein?«, sagte er gern. »Eine Rübe hätte mehr Geschichtsverständnis gehabt als dieser Mann. Er hat alles erfunden.«

Es erzürnte den guten Prior, dass einige seiner Schäfchen, vor allem die weiblichen, sich mehr für Geoffreys »Historia« begeisterten als für die Bibel.

»Jaja, die Geschichte, wie Arthur irgendeinen Riesen erschlägt, der seine Begierde an einer ohnmächtigen Maid stillte, kennen sie in- und auswendig, aber fragt sie, worum es beim Gleichnis vom Sämann geht, und sie bleiben die Antwort schuldig. Riesen, ich bitte Euch! Geoffrey von Monmouth ein großer Geschichtsschreiber? Großer Lügner trifft es besser.«

Und doch, dachte Adelia, selbst Henry Plantagenet, der vernünftigste Mensch, den sie sich vorstellen konnte, schenkte Märchen und Visionen Glauben.

Da musste mehr dahinterstecken.

Während sie noch überlegte, was, wurde sie am Arm gefasst und zum Fenster geführt, sodass sie über das liebliche, aber arg verwüstete Tal des Flusses Usk blicken konnte.

»Schön ruhig, nicht?«, sagte der König. »Aber vor zwei Tagen musste ich mich durch hundert Mann starke walisische Linien kämpfen, um den jungen Geoffrey zu entsetzen. Und wisst Ihr, wessen Namen diese Sauhunde brüllten, während wir sie niedermachten?«

»Den König Arthurs?«

Henry nickte. »Arthurs. Die Waliser sind angeblich Christen, aber in ihren heidnischen kleinen Herzen sehen sie in Arthur eher den Messias als in Jesus, Gott strafe sie! Für sie ist er einer von ihnen. Er ist es, der sie von dem normannischen Joch, wie sie es nennen, befreien wird. Aber ich bin kein normannisches Joch, Adelia. Erstens bin ich Angeviner, und zweitens bin ich ein verflucht guter, Frieden stiftender, Gerechtigkeit bringender König, wenn sie das bloß einsehen könnten.«

Sie nickte. Trotz all seiner Sünden war Henry genau das.

Er wandte sich von ihr ab, um einen Blick auf die Arbeit des Schreibers zu werfen und ihn auf einen Fehler hinzuweisen. »Llewellyn mit vier l, Robert.«

Dann, wie aus Entrüstung über sich selbst, weil er das machte, schüttelte er die Faust Richtung Decke. »Wieso plage ich mich damit ab, ihre verfluchten Namen zu buchstabieren, hä? Ich hab Wichtigeres zu tun. Es gibt Ärger in Aquitanien, Louis von Frankreich führt sich mal wieder auf wie die letzte Nervensäge, und die verdammten Schotten müssen wieder zurück über die Grenze getrieben werden … Und wo bin ich? Stecke in irgendeinem gottverdammten Sumpf fest, um zu verhindern, dass sich noch das ganze walisische Volk gegen mich erhebt.« Er ließ die Faust auf den Tisch knallen und brachte das Tintenfass des Schreibers zum Überschwappen. »Ich hab keine Zeit, um jedes Feuerchen zu löschen, das der Glaube an einen lebendigen Arthur unter den Kelten entfacht. Und das tut er.« Er funkelte Adelia an, als hätte sie das bestritten. »Die verflixten Bretonen drohen schon mit Rebellion. Als Nächstes muckt das verdammte Cornwall auf. Verflucht sollen sie sein, diese Kelten!«

»Aha«, sagte Adelia. Ihr ging ein Licht auf: Daher also der Sarg in Glastonbury. »Ihr braucht einen toten Arthur.«

»Genau.« Henrys Zorn schwand, und er versuchte es mit Überzeugungskraft. »Genau da kommt Ihr ins Spiel. Ihr seid doch meine schlaue kleine Totenleserin. Beweist, dass das die Knochen von König Arthur sind, der nicht mehr wiederauferstehen wird, und ich verdopple, was ich Euch bezahle.«

»Ihr bezahlt mich ja nicht«, sagte Adelia matt.

»Ach nein? Bestimmt nicht? Nun, diesmal erhaltet Ihr eine Vollmacht, die Euch und Eurer Begleitung jedwede Hilfe und Verpflegung zusichert, solange Ihr welche benötigt – Kosten werden von der Staatskasse getragen.«

Adelia öffnete den Mund, doch der wedelnde Zeigefinger des Königs schloss ihn wieder. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Die Untersuchungsergebnisse einer Frau wird niemand akzeptieren, aber darum habe ich mich bereits gekümmert. Glastonbury wurde verständigt, dass ich einen Fachmann für Skelette schicke, meinen guten Master Mansur« – Henry verneigte sich in Richtung des hochgewachsenen Arabers, der die Verneigung erwiderte –, »um glaubhaft zu bestätigen, dass die Knochen von König Arthur und Königin Guinevere stammen, falls dem tatsächlich so ist. Den Mönchen wird es nicht gefallen, einen Sarazenen und eine Frau in ihren heiligen Gemäuern zu haben, aber damit sollen sie sich verdammt noch mal abfinden. Und ich habe bereits Boten zum besten Gasthaus in Glastonbury gesandt, dass Master Mansur, seine Assistentin und Übersetzerin, ihr Kind und eine Amme komfortabel untergebracht werden sollen, solange die Ermittlung währt. Auf meine Kosten.« Der König war mit sich zufrieden. »Was sagt Ihr dazu?«

Adelia nahm all ihren Mut zusammen. »Ich denke nicht, dass es machbar ist, Mylord.«

»Warum nicht?«

»Skelette sind bloß … Skelette. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, ihr Alter festzustellen.« Sie wappnete sich innerlich. »Falls in dem Sarg keine anderen Anhaltspunkte zu finden sind, kann ich die Knochen nicht Arthur und Guinevere zuordnen. Es tut mir leid.«

Der ganze Raum schien sich in Erwartung königlicher Wut zu ducken – es war allgemein bekannt, dass Henry sich in der Vergangenheit bei Widerspruch vor Zorn auf dem Boden gewälzt und in die Binsenmatten gebissen hatte.

Aber er war jetzt älter, und die Wut, die den Tod von Thomas à Becket herbeigeführt hatte, wurde zumindest heute beherrscht. Er nickte ruhig. »Das hatte ich befürchtet«, sagte er. »Dann versuchen wir es mit einer anderen Taktik. Ihr begebt Euch nach Glastonbury und sorgt dafür, dass keine Menschenseele behaupten kann, diese Knochen seien nicht die von Arthur.«

Sie war verwirrt. »Ich kann Euch nicht folgen, Mylord.«

»Doch, könnt Ihr. Falls Glastonbury die Nachricht von dieser wundersamen Entdeckung verbreitet, will ich nicht, dass irgendein Tropf auftaucht und sagt, in dem vermaledeiten Sarg lägen sein Onkel Cedric und Tantchen Priscilla. Ihr sollt herausfinden, ob irgendwer den möglichen Anspruch der Abtei widerlegen kann.«

»Wie soll ich das anstellen?«

»Weiß ich doch nicht.« Der König wurde ungehalten. »Deshalb arbeitet Ihr ja für mich, Herrgott! Ihr habt eine Nase für so was. Ihr könnt ein Rätsel aufspüren, wie ein Hund die Witterung eines Keilers erschnüffelt – und es lösen. Das hab ich schon mit eigenen Augen gesehen. Ihr seid eine Spurenleserin. Ihr sollt sicherstellen, dass es keine Witterung gibt, dass sich kein Keiler irgendwo im Unterholz versteckt.«

Jetzt begriff sie. »Ihr meint, solange niemand sagen kann, dass diese Skelette nicht die von Arthur und Guinevere sind, werden sie zu denen von Arthur und Guinevere erklärt, ob sie es nun sind oder nicht?«

Henry fasste wieder ihren Arm und drehte sie erneut zum Fenster. Draußen füllten Soldaten die Gräben auf, die von den Belagerern der Burg ausgehoben worden waren. Einer pfiff bei der Arbeit vor sich hin. Eine Drossel in einer Eberesche pfiff zurück. Über einem sprudelnden Bach blitzte ein tauchender Eisvogel auf wie ein Brillant.

Die Stimme des Königs war sanft. »Ihr wart noch nie in Glastonbury, Adelia, nicht wahr?«

»Nein.«

»Dann wartet nur, bis Ihr es seht! Von allen Abteien hier und anderswo ist es die heiligste und ehrwürdigste. Schon die Luft dort ist durchtränkt von einer Frömmigkeit, die zu den Anfängen des Christentums zurückreicht, und vielleicht sogar noch weiter – alles knistert förmlich vor Geheimnissen. Falls Avalon irgendwo ist, dann ist es dort. Falls Arthur irgendwo ist, dann ist er dort. Glastonbury hat eine Schwingung, die einen in die Knie zwingt.« Der König hielt inne, den Blick auf den Fluss gerichtet. »Und es war gütig zu mir. Abt Sigward war einer der wenigen Kirchenmänner, die nicht nach meinem Kopf geschrien haben, nach … dieser Geschichte in Canterbury.«

Nie sprach er den Namen des Mannes aus, der sein Freund gewesen war, sich aber nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Canterbury gegen ihn gewandt und jede vernünftige Reform behindert hatte, die er durchsetzen wollte, und dessen Ermordung den Zorn der Christenheit auf sein Haupt geladen und seiner neidischen Ehefrau und seinem noch neidischeren ältesten Sohn den Vorwand geliefert hatte, sich gegen ihn zu erheben.

Die Tat hatte seinen Namen auf immer besudelt, und das wusste er. Er würde als der König in die Geschichte eingehen, der den heiligen Thomas à Becket zum Märtyrer gemacht hatte.

Nicht zum ersten Mal spürte Adelia die Tiefe des Leidens, das sich hinter dem tatkräftigen Äußeren dieses Plantagenets verbarg – als würde sie daran erinnert, dass am Ausgang einer nur leicht aufgewühlten Meeresbucht ein sturmgepeitschter Ozean lag. Er hatte bitterlich bereut, dass er Beckets Tod gefordert hatte, dass es seine Ritter waren, die daraufhin mit ganz eigenen Gründen, den Erzbischof zu hassen, nach Canterbury geritten waren und das Hirn des Mannes auf den Boden der Kathedrale spritzen ließen – und die Kirche hatte dafür gesorgt, dass er diese Reue rückhaltlos offenbarte. Zur Buße hatte er barfuß nach Canterbury laufen müssen und sich von den dortigen Mönchen den nackten Rücken auspeitschen lassen.

»Und wahrhaftig, sie haben ihn ausgepeitscht«, hatte Prior Geoffrey, der damals dabei gewesen war, Adelia erzählt. »Mit sichtlichem Vergnügen. Die Geißeln schnitten ihm tief ins Fleisch, und alle Umstehenden waren erstaunt, dass er nicht laut aufschrie. Er blieb stumm, doch die Streifen auf seinem Rücken wird er ein Leben lang tragen.«

Durch diese Selbsterniedrigung hatte der König England vor einer schlimmeren Strafe bewahrt und einen wütenden Papst besänftigt, der gedroht hatte, andernfalls das Interdikt über das Land zu verhängen: Kirchen wären geschlossen worden, Ehen wären ungesegnet, Neugeborene ungetauft geblieben, die Beichte wäre nicht mehr abgenommen, die Sterbesakramente nicht mehr erteilt worden – es wäre der Exkommunikation eines ganzen Volkes gleichgekommen.

Ja, dachte Adelia mitfühlend, Henry Plantagenet hat für seinen Jähzorn bezahlt, damit sein Volk es nicht musste.

Er wurde wieder munter. »Im Gegenzug bin ich verpflichtet, gütig zu Glastonbury zu sein – es muss wieder aufgebaut werden. Sobald ich ihn entbehren kann, entsende ich Ralph Fitz-Stephen, er ist mein Seneschall, um festzustellen, was benötigt wird. Das wird teuer werden, das kann ich Euch schwören. Gott weiß, wie viel mich das kostet. Es sei denn …«

»Es sei denn, es strömen wieder Tausende von Pilgern hin, um Arthurs Grab zu besuchen«, sagte Adelia und lächelte. Oh, er war ein durchtriebener König.

»Genau.«

Sie überlegte. Henry verlangte beinahe das Unmögliche – aber nicht ganz. Sie wäre zwar nicht in der Lage, das Alter der Skelette zu bestimmen, aber bei dem Sarg verhielt sich das anders. »Wann hat Arthur angeblich gelebt?«, fragte sie.

Der König drehte sich zum Tisch um. »Wann war das, Robert?«

Der Schreiber ließ seine Feder sinken und spitzte die Lippen. »Der walisische Mönch Nennius erwähnt in seiner ›Historia Brittonum‹, dass Arthurs letzte Schlacht am Mons Badonicus stattfand, wo er allein neunhundertsechzig Männer erschlug. Der heilige Gildas, der, wie wir alle wissen, in der Abtei von Glastonbury begraben liegt, überliefert uns, dass diese Schlacht im Jahr seiner Geburt geschlagen wurde: unserer Vermutung nach entweder im Jahre des Herrn 494 oder 506, wenngleich die ›Annales Cambriae‹ sie etwas später ansetzen, wohingegen das …«

»Schon gut, schon gut.« Der König wandte sich wieder Adelia zu. »Irgendwann zu Beginn des sechsten Jahrhunderts – wünscht Ihr den genauen Tag?«

»Hmm.« Ein Sarg, der sechzehn Fuß tief in der Erde entdeckt wurde, war vermutlich sehr alt. »Besteht die Erde in Glastonbury aus Torf?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«

Der Schreiber mischte sich ein. »Ich glaube, dem ist so, Mylord. Es ist von Sumpfland umgeben, was darauf schließen lässt …«

»Sie ist aus Torf«, sagte der König. »Was spielt das für eine Rolle?«

Nur die, überlegte sie, dass Holz darin gut erhalten bleibt. Im Sumpfland von Cambridgeshire, dessen Boden gänzlich aus Torf besteht, kamen manchmal in Gegenden, wo keine Eichen wuchsen, Mooreichenstämme an die Oberfläche. Die Menschen im Sumpfland glaubten, dass die Anzahl der Ringe, die man sehen konnte, wenn der Stamm durchsägt wurde, der Zahl der Jahre entsprach, die der Baum gestanden hatte, als er noch wuchs. Dieser Zählweise zufolge waren einige Holzstücke uralt.

»Ist der Sarg aus Eichenholz, wisst Ihr das?«

»Nein, weiß ich nicht.« Der König verlor allmählich die Geduld.

Falls ja und falls die Menschen im Sumpfland recht hatten, könnte sie grob, sehr grob abschätzen, wann der Sarg in die Erde gelassen wurde. Vielleicht schon zu Arthurs Zeiten – dann konnte niemand mehr wissen, wen er enthielt.

Sie überlegte. Der König betraute sie mit einer Aufgabe, die ausnahmsweise mal ungefährlich war und sie, Mansur, Allie und Gyltha so lange ernähren würde, bis sie entscheiden konnte, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen wollte.

Tatsächlich war Adelias Faszination geweckt, nicht so sehr von der Suche nach einem alten und mystischen König – obwohl auch davon –, sondern von der Frage, warum eine Frau auf einem Klosterfriedhof zur letzten Ruhe gebettet worden war.

»Also gut«, sagte sie. »Ich will versuchen, den Nachweis zu führen, dass die Skelette zu alt sind, um noch identifiziert zu werden, aber weiter kann ich nicht gehen. Ich werde nicht behaupten, dass es sich um Arthur und Guinevere handelt, weil ich glaube, dass das unmöglich ist. Ich werde niemanden für Euch belügen, Henry.«

»Nicht mal mich?«

Sie lächelte ihn an. »Euch niemals.«

»Ich weiß«, sagte er. »Eine der wenigen.« Wäre Henry Plantagenet nicht der gewesen, der er war, hätte Adelia fast meinen können, dass die plötzliche Trübung in den königsblauen Augen von Tränen herrührte.

Er riss sich zusammen. Sie bekam einen königlichen Kuss auf die Wange und einen königlichen Klaps auf den Rücken. Robert der Schreiber wurde angewiesen, eine Vollmacht aufzusetzen, die »meinen treuen Master Mansur und seine Übersetzerin, Mistress Adelia Aguilar« mit so vielen Befugnissen ausstattete, dass sie damit fast eine Armee hätten aufstellen und Frankreich erobern können.

Aber wie immer, wenn sie meinte, der König wäre höchst großzügig zu ihr, ließ er sie dafür büßen.

»Ach, übrigens«, sagte er beunruhigend beiläufig. »Glastonbury und das Bistum Wells standen schon immer auf Kriegsfuß miteinander – und jetzt behauptet Glastonbury, Wells hätte irgendeinen Wilderer bestochen, den Brand zu legen. Falls ich nicht interveniere, macht das der Papst – und ich dulde keine Einmischung durch den Vatikan. Verfluchte Prälaten, machen mehr Ärger als sonst was. Ich schicke jemanden hin, der dort Frieden stiften und die beiden Streithähne dazu bringen soll, vor mir auf die Knie zu fallen und zu versprechen, schön brav zu sein.« Die blauen Augen wurden boshaft. »Ratet, wer dieser Friedensstifter sein wird! Na los, ratet!«

»Der Bischof von St. Albans«, sagte sie dumpf.

»Just der.« Henry, der so keusch war wie ein brünstiger Kater, ergötzte sich am Liebesdilemma seines Lieblingsbischofs.

Nein, dachte sie, lass uns in Ruhe! Wir haben unseren Frieden damit gemacht. Rowley muss Gott dienen, ich muss der Medizin dienen, und beides ist unvereinbar.

Da sie keine Reaktion zeigte, ließ Henry nicht locker. »Ich schätze, Ihr werdet einander begegnen.«

»Nein, Mylord«, sagte sie, »das werden wir nicht.«

»Hält sich noch immer an sein Keuschheitsgelübde, was?«

Sie antwortete nicht, und er musste sie gehen lassen.

Auf dem Rückweg die Treppe hinauf fiel ihr ein, dass weder sie noch der König Mansur nach seiner Meinung zu dieser Ermittlung gefragt hatten, bei der er angeblich die Hauptrolle spielen sollte. Nicht, dass sie in dieser Angelegenheit wirklich eine Wahl gehabt hätten – der König war der König.

»Was hältst du davon, mein lieber Freund?«

»Du hast klug geantwortet«, sagte er. »Wahrheit ist das Salz der Menschheit; wir können keinen Sand feilbieten.«

»Das hab ich auch nicht vor. Aber was die Vision anbelangt …?«

»Es gibt wahre Visionen«, sagte Mansur. »Hat nicht Chadidscha die Reine – mögen der Friede und der Segen Allahs auf ihr ruhen! – einen Engel gesehen, der mit seinen Flügeln den Propheten schützte?«

»Hat sie das?«

Was also fiel Adelia ein, die Aussage eines Mönches aus Glastonbury und die von Mohammeds erster Frau anzuzweifeln?