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Kapitel sechs

Wie es geschah, bekam Adelia nicht mit, denn während es geschah, dösten sie und Gyltha und Allie auf einem Heuhaufen in einem leeren Stall, doch als der Morgen anbrach, hatten Gastwirt Godwyn und seine Frau mit Hilfe von Mansur und den Soldaten ihr totes Gasthaus wieder zum Leben erweckt.

Alle waren in Zimmern mit bequemen Betten, sauberen Decken und warmem Wasser zum Waschen untergebracht. Es gab sogar Frühstück, das auf dem riesigen Tisch im Gästesaal aufgetragen wurde, einem höhlenartigen Raum gleich neben dem Durchgang zur Vordertür.

Hilda die Wirtin bat um Verzeihung. »Bloß Porridge, Käse, eingelegter Aal und ein paar pochierte Eier, wofür ich mich entschuldige, Sirs und Ladys. Es gibt keine Händler mehr in der Stadt, und sechs von unseren Hühnern hat der Fuchs gerissen, der Teufel soll ihn holen! Aber später rudert Godwyn rüber nach Godney und besorgt was Anständiges für die Küche.«

Da es frisches, knuspriges Brot gab, hatte Godwyn, der fürs Kochen zuständig war, also bereits gebacken, das heißt vorher die Öfen angeheizt, Teig geknetet und ihn aufgehen lassen. Er und seine Frau müssen die frühen Morgenstunden hindurch bis zum Umfallen geschuftet haben, dachte Adelia.

»Es tut mir leid, dass wir Master Godwyn so erschreckt haben«, sagte sie zu Hilda.

»Unser Godwyn hat ein zartes Gemüt«, sagte seine Frau. »Es war ein Mordsschreck, wo wir doch dachten, Ihr wärt Räuber, und wo wir gar keine Gäste erwartet hatten, wo wir doch seit dem großen Feuer keine mehr hatten und nach dem Schreiben vom König keine gekommen sind, weshalb wir gedacht haben, er hätt’s vergessen und es würde gar keiner kommen …«

Sie war eine dünne, fidele, sommersprossige Frau mittleren Alters, größer als ihr Mann, und sie redete ohne Unterlass, während sie die Tischgesellschaft unermüdlich bediente und sich beklagte, dass das »Pilgrim Inn« noch nicht seine alte Güte hatte, aber Besserung versprach.

Der Brand hatte Glastonbury leer gefegt, sagte sie. Die meisten Mönche waren bereits aufgebrochen, um im ganzen Land Geld für den Wiederaufbau der Abtei zu sammeln. Was die Leute aus dem Ort betraf, so waren einige für immer fortgegangen, andere hatten sich in der Nähe Arbeit gesucht, bis sie zurückkommen und die Häuser und Läden, die sie verloren hatten, neu aufbauen konnten.

»Was reine Zeitverschwendung ist«, sagte Hilda munter, »wo es doch keinen Handel geben wird, bis wieder die ersten Pilger kommen. Was« – und an dieser Stelle richtete sie ihre wachen Augen auf Mansur – »passieren wird, sobald sich herumspricht, dass König Arthur und seine Lady auf unserem Friedhof liegen.«

Adelia seufzte. Offensichtlich war es unmöglich gewesen, die Angelegenheit in einer so kleinen, dezimierten Gemeinde geheim zu halten, und jetzt lastete die einzige Hoffnung der Menschen hier auf ihren Schultern, was die Sache nicht leichter machte. Sie wünschte nur, dass sie nicht gezwungen sein würde, sie zu enttäuschen. Die Tapferkeit, die Hilda im Unglück bewies, war bewundernswert.

»Ihr wisst natürlich, wer es getan hat, nicht?«, fragte die Gastwirtin.

»Was getan hat?«, fragte Bolt.

»Wer vorsätzlich Unheil über uns gebracht, uns den Lebensunterhalt genommen, unsere Abtei zerstört hat, uns zerstört hat.« Für einen kurzen Moment war Hildas Munterkeit verschwunden, und ihr Gesicht wurde welk, als wäre alle Frische herausgesaugt worden, sodass es alt und boshaft aussah. »Der Bischof von Wells«, sagte sie.

»Ein Bischof?« Hauptmann Bolt verschluckte sich an seinem Porridge. »Ein Bischof hat das Feuer gelegt?«

»Nicht er selbst, aber er hat den Befehl dazu gegeben«, erklärte Hilda. »Eins würden wir gern wissen, und zwar wo dieser nichtsnutzige Falkner ist? Oh ja, der Bischof wird sagen, er wurde aus Wells weggeschickt, wo er doch das Trinken angefangen hatte, aber die beiden standen sich nahe – keiner steht sich näher als ein jagender Bischof und sein Falkner, außer vielleicht sein Jäger. Und wohin rennt der Kerl und bittet um Aufnahme, wo der Bischof ihn doch entlassen hatte? Zu meinem lieben guten Abt, jawohl. Und was passiert drei Wochen später? Das Feuer. Das ist passiert.« Hildas Augen verengten sich, um die drohenden Tränen zurückzuhalten. »Glastonbury ist zerstört und Wells gedeiht, und keine Spur mehr von dem nichtsnutzigen Eustace. Wieso wohl? Weil der Bischof ihn hat verschwinden lassen, damit er nichts gestehen kann.«

Einen Sündenbock muss es immer geben, dachte Adelia. Wenn ganze Städte in Flammen aufgingen, wie das manchmal geschah und wie es dieser widerfahren war, wurde das entweder mit Gottes Strafe für die Sündhaftigkeit der Bewohner erklärt – und dafür war Glastonbury zu heilig – oder mit Brandstiftung. Irgendwer musste schuld sein. Es war zu trivial, dass solches Leid durch das zufällige Umfallen einer brennenden Kerze verursacht worden sein sollte.

Um eine Anklagerede abzuwenden, die lange dauern würde, und weil die Sorge um Emma an ihr nagte, fragte Adelia: »Habt Ihr zufällig von einer Lady mit einem Kind und einem verwundeten Ritter gehört, die hier in der Gegend unterwegs waren? Sie wollte nach Wolvercote Manor, aber dort scheint sie nicht angekommen zu sein.«

Hilda setzte sich an den Tisch und überlegte. »Eine Lady und ein verwundeter Ritter, sagt Ihr?«

»Er ist Ausländer, Deutscher.«

»Neiiin, leider nicht. Ich hoffe bloß, dass Eurer Lady nichts zugestoßen ist, weil die Straßen nämlich nicht mehr sicher sind, wo die Männer, die ihren Broterwerb verloren haben, sich doch auf Wegelagerei verlegt haben – und auf noch Schlimmeres als Wegelagerei, wo drüben bei Wells doch Reisenden die Gurgel durchgeschnitten worden ist, als wäre ihr Geldbeutel nicht genug, und sie sollten auch noch das Leben hergeben, die Ärmsten.«

»Die Straße von Wells hierher ist eine Schande«, sagte Hauptmann Bolt mit dem Mund voller Porridge. »Bäume bis an den Wegesrand, da müssen sich ja Räuber herumtreiben. Und wer soll die im Wald fangen? Ich frag mich, wieso der Abt sie nicht sicherer macht.«

Hilda herrschte ihn an. »Untersteht Euch, meinem guten Abt die Schuld zu geben. Er würde sie für alle sicher machen, Gott segne ihn! Aber der Wald gehört Wells – das heißt, eigentlich dem König –, und der Bischof geht darin auf die Jagd und lässt nicht zu, dass auch nur ein Zweig abgebrochen wird, weil er Angst hat, das Wild könnte erschrecken. Ha, wenn ich ein altes Tratschweib wäre, dann könnte ich Euch Sachen über den Bischof von Wells erzählen …«

Und das tat sie prompt – und ausführlich.

Die Feindseligkeit, die Glastonbury gegen Wells und Wells gegen Glastonbury hegte, bestand laut Hilda nicht nur zwischen ihren Kirchenmännern, sondern auch schon seit Jahren zwischen den Bewohnern der beiden Städte. Wells hatte seine berühmte Nachbarin immer beneidet. »Die aus Wells sind keine guten Christen, und ich hätte ja Mitleid mit ihnen, wenn sie einmal vor den Thron Gottes gerufen werden, aber die haben jede einzeln Flamme des Höllenfeuers verdient.«

Dem Bischof von St. Albans steht viel Arbeit bevor, wenn er kommt, um zwischen den beiden Frieden zu stiften, dachte Adelia.

Hauptmann Bolt machte den zornigen Tiraden ein vorzeitiges Ende. Obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatten, wollte er seine Soldaten sogleich wieder zurück nach Wales führen.

Adelia hörte belustigt zu, wie er versuchte, die Rechnung für die Unterbringung seiner Männer zu drücken. »Ich erwarte, dass Ihr dem König nur eine halbe Nacht berechnet, Mistress Hilda, denn länger haben wir unsere Betten nicht benutzt, weil wir sie ja erst aufbauen mussten. Und wir haben unsere Tiere selbst versorgt – Ihr könnt nicht erwarten, dass die Staatskasse für nicht geleistete Dienstleistungen bezahlt.«

Wie der König, so der Hauptmann, dachte Adelia.

Und dann dachte sie: Verdammter Henry, er hat es wieder getan.

Zwischen ihr und dem Plantagenet hatte es nämlich einen scharfen Wortwechsel gegeben, ehe sie ihn verließ. »Mylord, ich werde nicht ohne einen Penny und nur mit einer Vollmacht ausgestattet nach Glastonbury reisen. Was ist, wenn wir in eine Notlage geraten und Geld benötigen?«

»Notlage? Ich biete Euch die reinste Erholung, Weib.«

Am Ende war es ihr gelungen, ihm zwei Pfund in Silber abzuluchsen, die er – weil er nie Geld bei sich trug – von seinem widerstrebenden Seneschall borgen musste. Jetzt würde sie mindestens ein Pfund davon notgedrungen dem Gastwirt zahlen, der sie ansonsten auf Kredit unterbringen musste, was sein angeschlagener Gasthof kaum verkraften konnte – es dauerte immer lange, ehe die Staatskasse, die in ihrer Knauserigkeit dem knauserigen Henry alle Ehre machte, überhaupt bezahlte.

Trotzdem tat es ihr leid, dass Bolt sie verließ. Sie hatte ihn trotz seiner Ungeduld ebenso ins Herz geschlossen wie seine Männer. Und sie war gerührt, als sie erfuhr, dass er die Abtei bereits für sie ausgekundschaftet und dem Abt gesagt hatte, er solle auf sie achtgeben.

Bis auf Rhys, der am Tisch sitzen blieb und weiteraß, gingen sie alle nach draußen, um die Soldaten zu verabschieden.

»Und wenn es Zeit für Euch wird abzureisen«, sagte Bolt zu Adelia, »dann sollt Ihr, so sagt der König, nach Bischof Rowley in Wells schicken und Euch eskortieren lassen.«

Nur, wenn es in der Hölle friert, dachte sie. Aber sie nickte.

»Und spaziert bloß niemals allein herum, nicht mal am helllichten Tag!«

»Ach, wir sind hier ganz sicher, Hauptmann.«

Er schwang sich in den Sattel. Und dann sagte er etwas Erstaunliches für einen so praktisch veranlagten Mann: »Darauf würd ich mich nicht verlassen. Dieses Feuer hat mehr Schaden angerichtet, als wir wissen, scheint mir. Irgendwas ist von hier verschwunden, und etwas anderes ist dafür gekommen.«

 

Rhys begleitete sie, als sie zur Abtei aufbrachen. »Ich sollte Onkel Caradocs Grab die Ehre erweisen«, sagte er. Anscheinend wollte er das singenderweise tun, denn er nahm seine Harfe mit.

Auch Hilda kam mit, beladen mit einem schweren, abgedeckten Korb, ebenso wie Godwyn, der sie jedoch nur das kurze Stück bis zum Kai begleitete, wo etwas zurückgesetzt ein Bootshaus stand. Das Ruderboot des Gasthauses lag am Pier vertäut. Er wollte frische Lebensmittel holen.

»Denk dran«, rief Hilda ihm nach, »Wild, wenn sie welches haben, und einen guten Schinken. Und bring das Mädchen mit!« Zu Adelia sagte sie: »Wir können jetzt Hilfe gebrauchen, und Millie ist fleißig, auch wenn sie ein bisschen schwer von Kapee ist …«

Dann beschrieb sie ausführlich die Dienerschaft, die sie in den Zeiten hatten, als die Pilger noch in Scharen kamen, und welche hochherrschaftlichen Besucher schon bei ihnen abgestiegen waren. »Jawohl, Königin Eleanors eigene Hofdamen, wo doch im Gasthaus der Abtei kein Platz für sie war; oh ja, das ›Pilgrim Inn‹ hat schon so manche adelige Herrschaft begrüßt …«

Adelia hörte kaum hin. Sie war bezaubert von der Aussicht, die man vom Kai aus hatte. Gleich vor ihr floss der Brue, der sich wie eine schimmernde blaue Intarsie dahinwand, eingelassen in eine feuchte, wilde Schilflandschaft, die bis zum Horizont reichte. Möwen schwangen sich durch die Luft, die ganz leicht nach Salz schmeckte – irgendwo in dieser endlosen Ferne lag der breite Mündungsarm des Severn und dahinter die Keltische See, die nur durch diese flache, unbestimmte Berührung von Erde und Himmel ferngehalten wurde.

Allie hüpfte vor Freude. »Ist wie zu Hause, Mama.« Sie wechselte ins Arabische: »Können wir angeln gehen, Mansur? Können wir?« Daheim in Waterbeach hatten die beiden den Haushalt mit Fischmahlzeiten versorgt. Sie fiel wieder ins Englische: »Und kuck mal, da läuft ein Mann auf Stelzen, wie bei uns zu Hause. Darf ich auch Stelzen haben, Mama? Darf ich?«

»Nein, darfst du nicht, kleines Fräulein.« Hilda war plötzlich ernst. »Wenn du die Wege da draußen nicht kennst, zieht der Sumpf dich in die Tiefe und füllt dein Näschen mit Schlamm, sodass du nie wieder atmen kannst.«

»Mach dem Kind nich so eine Angst!«, schnauzte Gyltha die Wirtin an, und Allie fügte trotzig hinzu: »Ich hab keine Angst. Ich komm nämlich aus dem Sumpfland, jawohl.«

»Ist mir egal, wo du herkommst«, entgegnete Hilda. »Das hier sind die Avalon-Sümpfe, und da draußen gibt’s Gespenster.«

Die Sümpfe hier sind nicht so schön wie unsere daheim, dachte Adelia, weil sie fast baumlos sind. Aber sie wusste, wie es ihrer Tochter erging. Dieser einsame Stelzenläufer, der einem ungelenken Reiher vor dem Horizont glich, war eine Erinnerung an die Heimat, wo Männer und Frauen Stelzen benutzten, um uralte Pfade zu begehen, die unter Torf und seichtem Wasser verborgen lagen. Dort war nicht bloß eine kolossale Fülle an Fischen und Vögeln und Brennstoff, sondern auch eine faszinierende Welt. Da stieg ein Pelikan auf mit einer zappelnden Forelle im Schnabel, Otter rutschten aus purer Lebensfreude die Uferbänke hinab, Libellen schwirrten durch die Luft, Biber bauten Dämme – kurzweilige Wunder, die sie und Allie mitunter stundenlang beobachtet hatten.

Hilda versuchte noch immer, Allie Angst vor den Sümpfen einzujagen, vermutlich berechtigterweise, denn jedes Sumpfland war für Ortsunkundige gefährlich. »Nachts lauern da Weidenbolde mit Lichtern, um dich in die Tiefe zu locken …« Sie wedelte mit den Armen. »Huhuhuuuu.«

»Wir nennen die Irrlichter«, sagte Allie, die sich nicht leicht ängstigte, »und Mama sagt, die sind ein Naturphämonen.«

»Phänomen«, berichtigte Adelia, »ein Naturphänomen.« Weiter draußen sah sie Inseln, kleine Buckel in der flachen Weite, wie die geschwungenen Rücken von Delfinen, versteinert im Moment des Abtauchens. Godwyns Boot hielt auf die nächstgelegene zu. Sie hätte gerne mehr über diese Inseln gewusst, aber sie vergeudete schon jetzt die Zeit des Königs. Wenn das so weiterging, würde Gylthas wachsender Ärger über Hilda noch im Streit enden.

Sie stupste Mansur an. »Geht vor, Mylord!«

Sie wandten sich nach links, überquerten den Marktplatz mit seinen verlassenen Ständen und folgten der Abteimauer bis zu den mit Flechten überwucherten Ruinen eines Torhauses, jetzt nur noch eine Lücke in der Umgrenzung. Einen Hang hinauf, vorbei an einer Ruine, die mal ein Zehntspeicher gewesen sein mochte …

Und da war sie.

»Maria, Muttergottes, bewahre uns!«, sagte Gyltha leise.

Adelias erster Gedanke war, wie unbarmherzig die Sonne die verkohlte und verfallene Abtei beschien, die sich unter dem gleißenden Licht duckte, weil sie einst schön gewesen war.

Noch immer war es möglich, die frühere Anmut eines Bogengewölbes zu erkennen, von dem jetzt nur noch die Hälfte stand; aus diesen rußgeschwärzten Steinstümpfen im Geiste ein langes, elegantes Kirchenschiff zu rekonstruieren, ein Querschiff, einen von Säulen getragenen Kreuzgang; die Kunstfertigkeit der meisterlichen Steinmetzarbeiten unter dem Ruß eines herabgestürzten und geborstenen Kapitells zu würdigen; die furchtbaren Brandmale auf der Erde, wie krankhafte Narben, durch den ausladenden Aufwärtsschwung eines grünen Hügels zu ersetzen, der einst den Hintergrund zu Pracht und Herrlichkeit gebildet hatte.

Der Wiederaufbau würde Jahre dauern, vielleicht Jahrzehnte. Diejenigen, die diese großartige Kirche gehütet hatten, würden in ihren Ruinen leben und sterben, ohne die Vollendung dessen zu sehen, was an ihrer Stelle entstand. Ein solches Vorhaben auch nur anzugehen erforderte einen Mut, den Adelia sich ebenso wenig vorstellen konnte wie den dazugehörigen Glauben.

»Es tut mir so leid«, sagte sie und staunte, wie unzulänglich dieser Satz war, fragte sich, wem er gelten sollte.

Das Feuer hatte sich von der Kirche bergabwärts ausgebreitet und die oberen Hänge unberührt gelassen. Zwei Männer – einer im Schwarz der Benediktiner, der andere in der ungefärbten wollenen Kutte eines Laienbruders – mähten dort oben Gras. Ein einsames Maultier schaute ihnen dabei über einen Weidenzaun hinweg zu, und die drei zusammen bildeten eine hübsche pastorale Miniatur, die aus einer illuminierten Handschrift zu stammen schien, die trostlose Szenerie im Vordergrund aber nur umso schärfer hervortreten ließ.

Der Mönch richtete sich auf, erblickte sie, warf seine Sense zu Boden und kam den Hügel herab rufend und wild gestikulierend auf sie zugerannt. »Geht!«, schrie er. »Wir brauchen euch nicht. Im Namen des Vaters, verschwindet.«

Ein anderer Mönch kam von irgendwo rechts entschlossen auf sie zugeschritten. »James, Bruder James!«, rief er. »Nein. Nein, nein, nein. Wo sind denn unsere Manieren geblieben? Falls das die Gesandten des Königs sind, dann sind sie unsere Erretter.«

Er erreichte sie zuerst und lächelte. An Mansur gewandt sagte er: »Ich danke dem König und dem Allmächtigen für Euer Kommen. Die ganze Welt weiß um die arabische Kunstfertigkeit in den Wissenschaften. Ich bin Abt Sigward.« Er senkte nacheinander vor den beiden Frauen den Kopf, als Adelia zunächst sich selbst vorstellte, dann anschließend Gyltha und Allie, die mit einer neuen Verneigung bedacht wurde. Dann nickte er Rhys zu. »Ladys, Gentlemen, der Segen Gottes sei mit euch!«

Bruder James kam angetrabt und sank in der Asche auf die Knie. »Lasst sie nicht herein, Mylord!« Lange, nervöse Hände griffen nach dem Skapulier des Abtes. »Ich flehe Euch an, schickt sie fort!«

»Warum sollte ich?«, fragte Abt Sigward. »Ich bin doch schon ganz gespannt, was unsere gute Hilda da in dem Korb hat.«

Mit einer Hand auf Bruder James’ zitternder Schulter führte er die Ankommenden zu dem Gebäude, aus dem er gekommen war. Es war das einzige, das auf dem riesigen Gelände der Abtei noch stand – ein hübsch geformtes Viereck aus Quadersteinen, die durch die Sonne ein warmes Gelb angenommen hatten, mit einem kegelförmigen Schieferdach, das in einem kunstvollen Schornstein auslief.

»Früher mal die Küche des Abtes«, sagte er und geleitete sie hinein, »heute unser Wohnhaus.«

Drei Viertel der Bevölkerung Englands wären froh, so ein Wohnhaus zu haben, dachte Adelia. Sie selbst hätte es auch nicht ausgeschlagen. Der Bau war geräumig und kühl und zweckmäßig, wenngleich die acht Gewölberippen, die an einem Abzugsloch in der Mitte zusammenliefen, für ihren Geschmack ein wenig zu verschwenderisch mit steinernen Blättern und Früchten verziert waren.

In einer Ecke, wo ein Eimer stand, führten Stufen nach unten zu dunkel glitzerndem Wasser, in einer anderen Ecke lagerten Fässer. Eine Katze hatte sich in einem Verschlag mit einer Ziege zusammengerollt. Die Feuerstelle unter dem Abzugsloch war kalt.

Zwei Mönche, jeder mit einem Stößel in der Hand, standen an einem schlichten Kartentisch und stampften Kräuter. Der eine war dick, der andere dünn. Sie blickten auf, als die Besucher eintraten. Ihre argwöhnischen Augen wanderten von Mansur über Adelia und Gyltha zu Allie und schließlich zu Rhys.

»Du lieber Himmel«, sagte der Dünne, »er ist wieder da!«

Rhys hob den Kopf. »Hallo, Bruder Aelwyn. Dann erinnert Ihr Euch noch an mich?«

»Und ob«, sagte Bruder Aelwyn.

Alle wurden vorgestellt. Der dicke Mönch war Bruder Titus, und nachdem er sie mit einem Nicken begrüßt hatte, galt seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Inhalt von Hildas Korb, den sie nun auf dem Tisch ausbreitete, vor allem der Lederflasche Ale.

»Ihr müsst wissen«, sagte Abt Sigward zu Mansur, »dass wir uns selbst eine Buße auferlegt haben, indem wir Bruder Patrick, der unser Küchenmeister war, zu den Abteien in der Normandie gesandt haben, wo er um Geld für den Wiederaufbau bitten soll. Unser Patrick hat die Gabe, andere zu bezaubern, und ein Interesse an guter Küche, das es gewiss mit dem ihren aufnehmen kann. Daher sind wir leider Gottes derzeit kaum in der Lage, für uns selbst zu kochen. Bis auf einen sind alle unsere Laienbrüder aufgebrochen, um anderswo Arbeit zu suchen …«

»Abgehauen sind sie«, sagte Bruder Aelwyn. »Die Ratten sind weggelaufen. Die glauben, Gottes Fluch liegt auf uns.«

»Ich fürchte, das tun sie«, sagte der Abt, »und vielleicht liegt ein solcher ja wirklich auf uns, doch zumindest sind wir mit der Verpflegung unserer Schwester Hilda gesegnet.« Er lächelte erst der Wirtin vom »Pilgrim Inn« zu und dann Mansur. »Und mit Eurer Anwesenheit, Mylord.«

Er betrachtete den Araber genauer, der ungerührt und stumm auf ihn herabstarrte. An Adelia gewandt, sagte er: »Gehe ich recht in der Annahme, dass der Doktor kein Englisch spricht?«

»Ich bedauere, aber ich werde dem Doktor als Übersetzerin und Assistentin zur Seite stehen«, sagte Adelia, womit sie auf eine Strategie zurückgriff, die ihnen beiden schon gute Dienste geleistet hatte. Es war hilfreich, dass Abt Sigward bereitwillig die Aussagen eines Sarazenen akzeptieren würde, doch sie wusste, dass er ihr eine derartige Toleranz nicht entgegenbringen würde. Prior Geoffrey, Gott segne ihn, war der einzige Kirchenmann, der ihre Fähigkeiten kannte und schätzte, doch selbst er auch nur, weil sie ihm das Leben gerettet hatte.

Sie fragte, ob sie vielleicht von einer Lady gehört hätten, die mitsamt ihrem Geleit verschwunden sei.

Alle verneinten. Seit dem Brand hatte keiner von ihnen die Abtei verlassen. »Wir sind die Hüter der wenigen heiligen Reliquien, die wir aus dem Feuer retten konnten«, sagte der Abt und fügte hinzu. »Ich bedauere Eure Sorge. Es sind gefährliche Zeiten.«

»Zerbrecht Euch darüber jetzt nicht den Kopf, Father!«, sagte Hilda zu ihm. »Schaut nur, ich hab Schinken mitgebracht, der genauso geräuchert ist, wie Ihr es gerne mögt, und mein Quittenkompott.«

Sie verhielt sich dem Abt gegenüber auffällig fürsorglich, wischte ihm Staub von der Schulter, füllte einen Teller für ihn, holte eine Serviette, die sie ihm in die Hand drücken wollte. Seit er aufgetaucht war, hatte sie sonst niemanden mehr eines Blickes gewürdigt.

»Irgendeine Spur von diesem nichtsnutzigen Teufel, den Wells uns auf den Hals gehetzt hat, Father?«, fragte sie.

Nachsichtig wies der Abt die Serviette zurück. »Meine Liebe, wir sollten weder davon ausgehen, dass Eustace das Feuer gelegt hat, noch, dass der Bischof von Wells ihn dazu angestiftet hat, obschon unser Verdacht in diese Richtung geht und wir den Sheriff davon unterrichten müssen. Aber nein, bislang haben wir ihn nicht gefunden.«

»Klar war er’s«, widersprach Hilda. »Das hat Bruder Aloysius doch gesagt, ehe er starb, oder etwa nicht? Er hat ihn aus der Krypta kommen sehen, als sie in Flammen aufging, oder etwa nicht?«

»Er hat so etwas gesagt.«

»Eustace soll in der Hölle verbrennen, wenn er nicht schon in dieser Welt verbrannt ist«, sagte Bruder Aelwyn, »und wer sonst außer diesem satanischen Bischof würde frohlocken, wenn Glastonbury niederbrennt? Natürlich hat der Falkner es getan.«

Zu Hilda, die ihn noch immer bemutterte, sagte der Abt: »Meine Liebe, es wäre unhöflich, ohne unsere Gäste zu essen, und ich sehe ihnen an, dass sie es kaum erwarten können, sich dem Auftrag des Königs zu widmen.«

Er führte sie aus der Küche. Alle folgten – Bruder Titus nur widerwillig und nicht ohne zuvor das Essen auf dem Tisch abgedeckt zu haben, um bis zu seiner Rückkehr die Fliegen davon fernzuhalten.

Als sie sich der zerstörten Kirche näherten, stieg die Spannung. Die Feindseligkeit Mansur gegenüber war nahezu mit Händen greifbar. Die Brüder Titus und Aelwyn wurden noch mürrischer. Bruder James flehte seinen Abt hysterisch an, nicht zuzulassen, dass heilige christliche Knochen von einem Sarazenen berührt werden.

Vor allem Hilda war beunruhigt. »Das sind die Knochen von Arthur und Guinevere, das weiß doch jeder«, sagte sie wieder und wieder, als würde es wahrer, wenn sie es oft genug aussprach.

Nur Abt Sigward behielt die Ruhe. Sie hatten nicht gewusst, was sie mit den Skeletten machen sollten, sagte er. »Sie verdienen eine bessere Unterbringung als unsere Küche, also haben wir dort, wo die Marienkapelle war und die Heilige Jungfrau hoffentlich über sie wacht, eine provisorische Hütte aus Weidenruten für sie errichtet.«

»Zwei Hütten wären schicklicher gewesen«, sagte Bruder Aelwyn.

»Mein Lieber, das haben wir doch besprochen«, erwiderte der Abt müde. »Dieses Paar hat all die Zeit hindurch Seite an Seite gelegen. Ich wollte sie jetzt nicht trennen.« Plötzlich zwinkerte er. »Schließlich waren Arthur und Guinevere ordentlich verheiratet, wenn man der Legende glauben darf.«

Er blieb kurz vor der Hütte stehen, erteilte Rhys die Erlaubnis, den Friedhof zu besuchen, und beugte sich dann zu Allie hinunter. »Du solltest jetzt loslaufen und spielen, Kleines«, sagte er zu ihr. »Alte Knochen sind nichts für Kinder.«

Allie öffnete den Mund, um ihm von ihren Erfahrungen mit Knochen zu erzählen, doch Gyltha versetzte ihr einen kräftigen Stups und sagte: »Wir schauen uns hier mal um, ja? Mal sehen, was wir alles finden.« Und an den Abt gewandt: »Das Kind mag Tiere.«

»Oben auf der Weide steht ein hübsches Pferdchen«, sagte Sigward freundlich.

»Das ist ein Maultier«, stellte Allie klar, ließ sich dann aber wegziehen.

»Erklärt es, Mylord«, drängte Bruder James den Abt. »Erzählt diesem Sarazenen von Arthurs Abnormität, die gewöhnlichen Menschen nicht gewährt wird.« Er sah Adelia zum ersten Mal an. »Erklärt das Eurem Herrn, Weib. Erklärt ihm, dass Arthur sechs Rippen hatte, eine Gnade, die Unser Herr nur Helden schenkt.«

Oje, dachte Adelia, schon wieder dieses Ammenmärchen! Sie sagte: »Ich denke, Sir, Master Mansur würde Euch unterweisen und davon in Kenntnis setzen, dass Frauen und Männer exakt dieselbe Anzahl Rippen haben – sechs Paar, immer sechs. Die einzige Möglichkeit, ein weibliches Skelett vom Skelett eines Mannes zu unterscheiden, ist der Beckenknochen.«

»Mich unterweisen?« Die Stimme von Bruder James war hoch und kletterte höher. »Mich unterweisen? Meine Unterweisung ist das Wort der Genesis: Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und Er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die Er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Adam hatte nur fünf Rippen, genau wie alle Männer, bis auf jene, die von Gott eine besondere Gabe erhalten, so wie Arthur sie erhielt.«

Betasten die denn nie ihren eigenen Brustkorb?, fragte Adelia sich. Wieso zählen sie ihre verdammten Rippen nicht?

Sie hörte das nicht zum ersten Mal. Wer auch immer die Genesis geschrieben hatte, ein Anatom war er nicht gewesen.

Verflucht, dachte sie, wie sollen wir unsere Untersuchung vor einem Publikum durchführen, das mit den Nerven am Ende und noch dazu unwissend ist?

Abt Sigward löste das Problem für sie. »Kommt mit, meine Söhne«, sagte er. »Es ist Zeit für die Sext. Und Hilda, gute Seele, wenn du vielleicht die restlichen Zaunrübenwurzeln zermahlen könntest; die Gelenksteife bereitet Bruder James nämlich wieder Schmerzen …«

Im Handumdrehen waren alle fort – Hilda voller Eifer, die Bitte des Abtes zu erfüllen.

Adelia und Mansur blieben allein vor der Hütte aus Weidenruten zurück, einem großen, frischen, duftenden Höcker in dem verkohlten Rechteck, das einst ein erhabenes Heiligtum der Heiligen Jungfrau gewesen war.

Mansur neigte den Kopf. Adelia kniete nieder, wie sie das immer tat, und bat die Toten hinter dieser Tür, ihr zu verzeihen, dass sie die Ruhe ihrer Knochen störte. »Erlaubt Eurem Fleisch und Euren Knochen, mir das zu sagen, was Eure Stimmen nicht mehr sagen können!«

Als sie aufstand, sagte Mansur: »Kannst du es spüren?«

»Was spüren?«

Sie sprachen Arabisch. Das war sicherer, falls irgendwer sie belauschte.

»Wir sind auf heiligem Boden. Das hier ist ein Omphalos.«

Wenn er gesagt hätte, es wäre Mekka, hätte sie nicht verblüffter sein können. Mansur war kein Mensch, der große Inbrunst an den Tag legte. Sie hatte ihn noch nie ehrfürchtig ergriffen erlebt, und schon gar nicht von irgendetwas Christlichem. Seine Miene war so gelassen wie immer, aber dass er in Glastonbury dasselbe Mysterium spürte, das die Griechen dem Nabel ihrer Welt in Delphis dunkler Höhle zugeschrieben hatten, das war höchst ungewöhnlich.

Sie sog die Luft durch die Nase und schaute sich um. Entging ihr irgendetwas? Henry Plantagenet, der ebenfalls nicht leicht zu beeindrucken war, hatte etwas ganz Ähnliches gesagt.

Falls er und Mansur recht hatten, müsste sie eine Schwingung in der Luft wahrnehmen, ein Prickeln im Körper, das von einem der heiligsten Punkte der Welt ausging, einem Ort, an dem die Kluft zwischen Mensch und Gott schmaler war als irgendwo sonst.

Zugegeben, die Landschaft war überwältigend – dramatisch jäh erhoben sich Berge aus der Ebene, als wollten sie die Abtei von hinten schützen, und von der flachen Salzmarsch davor wehte der Geruch des Meeres. Zweifellos war hier ein natürlicher Magnetismus im Spiel, der, lange bevor Christus in diese heimische Heide kam, Menschen dazu gebracht hatte, etwas Übernatürliches zu verehren.

Sie konnte es nicht spüren. Die Sonne brannte ihr auf den Kopf. Vögel zwitscherten, während sie die traurigen Ruinen in Besitz nahmen. Die Junidüfte waren dabei, den Aschegestank zu verdrängen. Erste Wildblumen schoben sich aus verwüsteter Erde. Adelia war Gott dankbar für derlei Segnungen. Aber ein Mysterium? Nicht für sie, die bei jedem Mysterium nach einer Erklärung suchte.

Und sie bedauerte das: Vielleicht lag der Mangel ja in ihr, die Unfähigkeit, sich dem Göttlichen hinzugeben. Ich spüre es einfach nicht.

Sie lächelte zu Mansur hoch, beneidete ihn um eine Verklärtheit, die sie unberührt ließ. »Bist du bereit?«, fragte sie ihn.

»Ich bin bereit.«

Sie gingen gemeinsam in die Hütte.

Durch das locker geflochtene Dach fielen Lichttupfen auf zwei Katafalke, die aus gestapelten, schwarz verrußten Ziegeln bestanden, auf denen zwei lange Steinplatten wie Altäre ruhten. Dazwischen ein langer, wie ein Kanu geformter Sarg, dessen Deckel daneben auf dem Boden lag.

Schweres Tuch bedeckte beide sterblichen Überreste, und irgendwer hatte jeweils an die Kopfenden einen Topf mit Butterblumen hingestellt, eine leuchtend gelbe Gabe der Lebenden an die Toten, die Adelia Tränen in die Augen trieb. Das hier war ein Schrein; es war ihr zuwider, seinen Frieden zu stören.

Sie blieben einen Moment stehen. Von dem Loch, das mal ein Kirchenschiff gewesen war, drang der Gesang der Mönche herüber, und ihre geschulten Stimmen durchbrachen den lieblichen, klaren Klang von Rhys’ Lied, das weiter weg ertönte.

Nach einer ganzen Weile hob Mansur behutsam das Tuch von der größeren der beiden Gestalten. Adelia hörte ihn tief einatmen, und auch sie schnappte nach Luft.

Wem auch immer diese Knochen gehört hatten, im Leben war er gewaltig gewesen, beinahe sechseinhalb Fuß groß – ein Körpermaß, das zu jeder Zeit imposant war und in dunkler Vorzeit ganz sicher Stoff für Sagen und Legenden geboten hatte.

Falls er im Kampf gestorben war, dann von der Hand eines grimmigen Feindes: Der Schädel war eingeschlagen, und von dem Loch liefen Risse in alle Richtungen, als hätte man mit einem schweren Löffel auf ein Ei geschlagen. Er war sofort tot gewesen. Die Rippen, die sechs Rippen, waren zerschmettert, gebrochen und von der Brustwand abgerissen.

»Allah gebe, dass er seinen Gegner zum Krüppel gemacht hat, ehe er fiel«, sagte Mansur.

»Wir sollten, wir dürfen nicht davon ausgehen, dass er ein Krieger war«, wies Adelia ihn zurecht. Sie hatte noch nie erlebt, dass ihr Freund sich so mitreißen ließ.

»Was sollte er sonst gewesen sein?«

»Vielleicht war es ein Unfall.« Das klang unrühmlich, sogar unwahrscheinlich, aber sie war fest entschlossen, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Es schien angemessen, dass das kleinere Skelett eine Frau aufdecken sollte. Adelia hob das Tuch an und ließ es dann achtlos zu Boden fallen. »Oh Gott, wer hat das getan?«

Wie bei dem Mann war auch hier ein Loch im Schädel, aber das war nicht alles. Dieses Skelett war zerteilt worden, zweimal zerhackt, einmal knapp unter dem Sitzbein und dann in Höhe der Hüfte, sodass dort, wo Becken und Kreuzbein hätten sein sollen, eine Lücke klaffte. Der gesamte Beckenbereich fehlte, von den unteren Rückenwirbeln bis zum Ansatz des Oberschenkelknochens, als habe derjenige, der das getan hatte, an der Weiblichkeit Rache üben wollen. Und sie hatten sie hingelegt, als wäre es ganz normal, als wäre es natürlich, dass die Beinansätze direkt aus dem Rückgrat hervorgehen.

Adelias Stimme hob sich zu einem Schrei: »Wer hat das getan? Wer hat das getan?«

»Im Kampf werden Abscheulichkeiten vollbracht«, sagte Mansur, »auch an Frauen.«

Möglich. »Aber sie haben das gar nicht erwähnt«, schrie Adelia. »Ein Riesengetue um Arthurs verdammte Rippen, aber kein Wort hierüber … diese Verstümmelung von Guinevere. Ach ja, sie ist ja bloß eine Frau, nicht weiter wichtig.«

Und dann wurde ihr klar, dass sie den Skeletten Namen gegeben hatte, was sie nicht hätte tun sollen. Wenn sie die Arbeit durchführen wollte, die der König ihr aufgetragen hatte, dann mussten die Knochen unbenannt bleiben, bis sie mehr wusste.

»Vielleicht sind die Knochen abgefallen, ehe sie in den Sarg gelegt wurde«, sagte Mansur.

»Sie wurden abgehackt«, erklärte Adelia ihm. »Schau hier!« Sie deutete auf den gesplitterten Kopf des Oberschenkelknochens. »Und hier.« Der unterste noch verbliebene Wirbel war in der Mitte durchtrennt worden.

Mansur versuchte, sie zu beruhigen. »Das wird erfolgt sein, als sie bereits tot war«, sagte er.

»Woher willst du das wissen? Das kannst du doch gar nicht wissen.«

Und falls es wirklich post mortem passiert war, dachte sie, hatte es dann irgendein Frauen hassender Mönch getan? Waren die weiblichen Fortpflanzungsorgane zu unrein, um in geweihter Erde zu ruhen?

Sie empfand den grimmigen Drang, die Frau zu schützen, die das einmal gewesen war; das Skelett war so … zierlich. Vollkommene kleine Zähne grinsten sie an, zarte Hand- und Fingerknochen lagen still im Sarg, als hätte die grässliche Verstümmelung des Unterleibs keine Bedeutung mehr.

Was wohl auch zutraf – jedenfalls für sie. Aber nicht für Adelia.

Als draußen Schritte erklangen, stürmte sie arabisch fluchend durch die Tür, bereit, jeden verdammten Mönch zu beschimpfen, der sich ihr in den Weg stellte. Aber es waren Gyltha und Allie, die auf sie warteten.

»Kommt und seht euch das an …«, legte Adelia los und verstummte dann. Gyltha hatte einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht.

»Wir waren da oben.« Gyltha deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf die obere Weide, ohne Adelia aus den Augen zu lassen. »Wir wollten uns das Maultier ansehen.«

»Ach ja?«

»Und dann hat sie angefangen zu weinen.« Noch ein Ruck mit dem Kopf, diesmal runter zu Allie. »Sie hat gesagt, es tät ihr leid, dass sie gemein zu dem kleinen Pippy gewesen ist, und wieso er nicht mehr zu ihr kommen will.«

»Ja?«

»Und ich hab gesagt: ›Wir finden ihn schon noch, Herzchen. Seine Mama und er, die sind irgendwo unterwegs aufgehalten worden.‹ Und sie hat gesagt: ›Nein, er ist hier. Das da ist sein Lieblingsmaultier.‹ Und ich hab gesagt: ›Kann nich sein.‹ Und sie hat gesagt …«

Adelia ging in die Hocke, um mit ihrer Tochter auf gleicher Höhe zu sein. »Wieso denkst du, dass das Pippys Maultier ist, Schätzchen?«

»Weil’s das ist«, sagte Allie. Auf ihren Wangen glänzten noch immer Tränen. »Das ist Polycarp. Pippy hat ihn am liebsten gemocht, weil er ihn füttern konnte und er nicht gebissen hat wie die andren.«

»Woher weißt du denn, dass es Polycarp ist?«

»Weil er’s ist«, beteuerte Allie. »Er hat eine Kerbe im Ohr und einen Flecken Regenfäule auf der Kruppe – groß wie eine Erdbeere. Wilfred hat gesagt, sie würden Tang drauftun.« Ihre Miene hellte sich auf. »Ganz nah am Hintern.«

»Bist du sicher?«

»Das ist Polycarp.« Allie wurde allmählich wütend über die vielen Fragen.

Adelia schaute auf und sah Gyltha in die Augen.

»Sie vertut sich nie, wenn’s um Tiere geht«, sagte Gyltha.

»Nein«, sagte Adelia langsam. »Nein, nie. Oh großer Gott!«