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Kapitel dreizehn

Godwyn musste niedergerungen werden, damit er seiner Frau nicht folgte, so als könnte er sie noch immer zurückzerren. Nach einem langen kreischenden Kampf erschlaffte er und sank in die Arme seiner Bändiger, die Augen unverwandt auf die Stelle im Wasser gerichtet, wo Hilda und der Abt verschwunden waren.

Alle waren starr vor Schreck, die Leprakranken fassungslos. »Aber er war doch glücklich«, sagte einer der Männer wieder und wieder zu Rowley. »Hat uns die Kommunion erteilt und uns gesegnet. Fromm wie immer. Warum hat er das getan?«

Eine Frau wimmerte: »Was sollen wir jetzt machen? Was sollen wir denn ohne ihn machen?«

»Es war ein Unfall«, erklärte Rowley ihnen zu Adelias Verblüffung. »Ein Unfall. Er, äh, wollte mit der Frau einen Spaziergang machen. Sie war sehr aufgewühlt, als wir herkamen. Er hat vergessen, dass es da draußen Treibsand gibt.«

Es war eine aberwitzige Erklärung, aber Rowley hielt an ihr fest, weil es die barmherzigste war, und die Leprakranken erzählten sie sich untereinander weiter, während sie um ihren Wohltäter weinten. Sie klammerten sich lieber daran, als sich mit dem abzufinden, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten.

Das wird er sagen, wenn wir zurückkommen, dachte Adelia, und vielleicht ist es richtig.

Sie trauerte mit Godwyn, trauerte um die beiden Seelen, die ein solches Ende genommen hatten, trauerte mit den Leprakranken, doch jetzt musste sie sich um die drei Ausgesetzten kümmern, die ihre Fürsorge dringend brauchten. Viel schneller, als es der Anstand gebot, verfrachtete sie ihre Schützlinge in den Kahn, aber es dauerte seine Zeit, bis der Bischof von St. Albans dazu bewogen werden konnte, die verzweifelten Menschen an der Anlegestelle zu verlassen. Er hatte eine priesterliche Pflicht gegenüber den Trauernden, und er versprach ihnen, sie nicht ihrem Schicksal zu überlassen.

Godwyn musste man ins Boot tragen. Er sank auf den Platz, den seine Frau eingenommen hatte, und dort blieb er, stumm und ohnmächtig. Es war der Bischof von St. Albans, der sie zurück nach Glastonbury stakte.

Adelia hatte einen Arm um Emma gelegt, die auf der Stelle einschlief, als ob sie, nachdem sie so lange für ihren Sohn und Roetger durchgehalten hatte, jetzt die Verantwortung an jemand anderen abgeben konnte und sich endlich ausruhen durfte. Sie war erschreckend mager. Sie und Roetger hatten Pippy mit den spärlichen Rationen, die Godwyn ihnen heimlich brachte, so gut wie möglich ernährt. Das hatte jedoch Verzicht für sie beide bedeutet. Die Leprakranken waren offenbar hilfsbereit gewesen und hatten angeboten, sie mit Essen zu versorgen, doch Emma hatte sich geweigert, irgendwas von ihnen anzunehmen und sie angeschrien, sie sollten wegbleiben.

Der kleine Lord Wolvercote war zwar völlig verdreckt, aber ansonsten in einer guten Verfassung. Adelia hatte ihn an sich gedrückt, damit er die Tragödie nicht mit ansehen musste, und sosehr ihn die Schreie auch verstört hatten, konnte er die Sache, jung, wie er war, rasch vergessen. Seine einzige Furcht war, dass sie ihn zurück zum »Pilgrim Inn« brachten, um ihn erneut in den unterirdischen Gang zu sperren. »Ich will nicht wieder da ins Dunkle«, sagte er. »Die böse Frau hat Mama Angst gemacht.«

»Du kommst nie wieder in so einen Tunnel, kleiner Mann. Die böse Frau ist fort«, beruhigte Rowley ihn, warf Adelia aber einen fragenden Blick zu.

Sie verzog das Gesicht. »Wir müssen sie zum Gasthof bringen«, sagte sie auf Latein. »Keiner von ihnen ist gesund genug für eine weitere Reise. Roetger ganz sicher nicht.«

Der Kämpe war ihre größte Sorge. Emma war mager, er aber war regelrecht ausgezehrt. Adelia hatte noch nicht gesehen, dass er mit seinem verletzten Fuß auftrat, und sie vermutete, dass er es nicht konnte. Noch schlimmer war, dass er, auch wenn er sich nicht beklagte, offensichtlich nur schwer Luft bekam, was darauf hindeutete, dass er sich eine Entzündung der Lunge zugezogen hatte. »Beeil dich«, flehte sie Rowley an.

»Ich mach, so schnell ich kann, Frau«, keuchte er. »Ich hab zuletzt als Junge einen Kahn gestakt.«

Eigentlich stellte er sich recht geschickt an, aber Adelia kam es so vor, als ob sie schon am Vortag aufgebrochen wären und nicht erst am Morgen, doch als die Anlegestelle von Glastonbury endlich in Sicht kam, hatte die Sonne gerade erst den Zenit überschritten.

Emma schreckte zurück, als sie sah, dass sie zum »Pilgrim Inn« gebracht wurde. »Nicht dahin! Dahin gehen wir nicht zurück.«

»Oh doch«, sagte Adelia. »Master Roetger kann nicht weiter. Schau ihn dir an!«

Als Emma ihn sich genauer ansah, machte ihr Widerstand Panik Platz. »Du musst ihn retten, Delia! Er war unsere Stütze. Diese Briganten auf der Straße hätten uns alle umgebracht, wenn er nicht gewesen wäre. Ich kann nicht … ach Delia, ich kann nicht ohne ihn sein.«

»Bringen wir ihn ins Bett, dann wirst du das auch nicht müssen«, sagte Adelia in der Hoffnung, dass sie die Wahrheit sagte. Es war eine Strapaze, ihre Patienten den Hang hinauf zum Gasthof zu bringen, und sie war erleichtert, als sie Millie sah, die an der Tür des Gasthofes stand und bestürzt von einem zum anderen blickte, während sie die Augen mit einer Hand gegen die Sonne abschirmte.

Es war keine Zeit, Fragen zu beantworten, selbst wenn die Magd sie hätte stellen können, aber Millie, die ein aufgewecktes Mädchen war, erkannte schnell, dass Betten benötigt wurden, und eilte nach oben, um alles vorzubereiten.

»Und Ihr«, sagte Adelia zu Godwyn, »es tut mir leid, es tut mir sehr leid, aber diese Menschen brauchen etwas zu essen. Und falls Ihr Wein habt, wärmt ihn auf! Schnell!«

Der Mann war noch immer wie betäubt, aber in der vertrauten Umgebung schien er sich zu erholen, und er ging mit einem Nicken Richtung Küche.

Emma weigerte sich, etwas zu sich zu nehmen. Sie wollte nur an Roetgers Bett sitzen und um ihn weinen. Adelia bugsierte sie die Treppe hinunter in den Gästesaal, wo Pippy schon eine Fleischbrühe in sich hineinlöffelte.

»Iss was!«, befahl sie. »Und ich kümmere mich darum, dass ihr ein Bad nehmen könnt.«

Ein Bad würde ihnen guttun, sowohl Pippy als auch seine Mutter brauchten dringend eins. Und wenn ich’s recht überlege, dachte Adelia, ich könnte auch eins gebrauchen.

Hilda hatte damit geprahlt, dass der Gasthof ein Bad hatte – »der Adel verlangt danach«, hatte sie gesagt –, aber Adelia konnte sich nicht erinnern, eins gesehen zu haben, und machte sich auf die Suche danach. Sie entdeckte einen riesigen, mit Segeltuch ausgelegten Zuber in der Scheune, wohin er wohl gebracht worden war, als im »Pilgrim Inn« keine adeligen Gäste mehr abstiegen, damit Hilda darin Wäsche waschen konnte.

Es wurde Wasser erhitzt, das Millie dann eimerweise über den Hof schleppte.

»Und du«, sagte Adelia zu Rowley, »wirst Roetger bitte im Bett waschen. Er würde sich schämen, wenn ich das täte.«

Der Bischof blickte beunruhigt. »Wie geht das?«

Plötzlich stieg ein so pures Glücksgefühl in ihr auf, dass sie lachen musste. Er wäre um ein Haar gestorben, und nun lebte er. Sie wollte ihm sagen, dass der Tunnel ihre Sicht auf alles verändert hatte, dass sie ihn unter gleichgültig welchen Bedingungen so nehmen würde, wie er war, solange er sie wollte – und einfach nur weiter ein- und ausatmete.

Doch für derlei Geständnisse war im Augenblick keine Zeit. Später, wenn sie allein waren, würde sie sich ihm hingeben. Dafür musste sie zurechtgemacht sein, schön.

Ein sauberes Tuch, ein weiterer Eimer – diesmal mit kaltem Wasser, um das Fieber des Patienten zu senken – wurden nach oben gebracht und Anweisungen erteilt.

Und als der Nachmittag zu Ende ging, war alles getan, was getan werden konnte. Eine saubere Mutter und ihr Sohn schliefen in einem Raum, und ein graugesichtiger Kämpe, der nebenan auf Kissen gestützt ruhte, sah noch immer nicht besser aus als vorher und atmete sogar noch schlechter.

Adelia legte den Löffel mit Hustensirup, den sie ihm hatte einflößen wollen, aus der Hand. »Ich weiß nicht, Rowley«, sagte sie. »Die Krise kommt und … ich weiß einfach nicht …«

»Ich würde ja mit dir wachen«, sagte Rowley, »aber ich muss zur Abtei. Die Brüder müssen es erfahren.«

»Ein Unfall?«

»Das werde ich jedenfalls sagen. Warum ihren Schmerz oder den anderer noch vergrößern? Der König muss natürlich die Wahrheit erfahren, aber Abt Sigward wird in ganz England und darüber hinaus betrauert werden. Was hätte es für einen Sinn zu verbreiten, dass der Mann sich entschieden hat, in die Hölle zu fahren?«

»Ist er da jetzt?«

»Selbstmord ist ein Vergehen gegen Gott«, erklärte der Bischof knapp und ging.

War das so? Oder war es die einzige freie Wahl, die einem Mann offenstand, der so lange so angestrengt versucht hatte, sich von einer sogar noch größeren Sünde zu exkulpieren?

Und er hatte Hilda mitgenommen, um die nur Godwyn trauerte. Doch was wäre ihr widerfahren, wenn er es nicht getan hätte? Bestenfalls wäre sie mit anderen wahnsinnigen Frauen eingekerkert worden. Hatte er es deshalb getan? War die Frau in der Verfassung gewesen, das zu begreifen?

Gott, Urteile sind zu schwer! Ich kann jetzt nicht darüber nachdenken.

Als das Licht schwächer wurde, brach bei Roetger der Schweiß aus, und er atmete leichter. Adelia sprach ein Gebet der Dankbarkeit für die Zähigkeit des menschlichen Körpers, schüttelte die Kissen des Patienten auf und ging Millie holen, damit sie bei ihm wachte.

Doch zunächst führte sie das Mädchen in den Gästesaal und zu dem Tisch, der ihre gemeinsame Schiefertafel geworden war. »Schau!«, formte sie mit den Lippen und malte Strichmännchen in den Staub. »Das hier ist der Abt, das soll seine Kapuze sein. Und das ist die arme Hilda.« Sie zog eine wellige Linie über die Köpfe der beiden. »Und das ist das Meer. Verdammt, es muss irgendeine Möglichkeit geben, dir Lesen beizubringen.«

Millie blickte besorgt von Adelias Gesicht auf den Tisch, deutete in die Richtung der Sümpfe und dann zur Durchreiche in die Küche, wo Godwyn saß und weinte.

»Ja. Sie ist tot, Millie. Keine Schläge mehr.«

Die beiden Frauen bekreuzigten sich, und wieder überlegte Adelia, ob Hilda freiwillig mit dem Mann, den sie angehimmelt hatte und für den sie bereit war zu töten, in den Treibsand gegangen war.

Gott, sie war den Tod so über! Es war fast, als würde sie selbst ihn anlocken und diejenigen, die ihr begegneten, infizieren. Sie wollte sich von ihm reinigen, sie wollte Leben, sie wollte Rowley, sie wollte ein Bad.

Sobald sie den Zuber in der Scheune mit frischem heißem Wasser gefüllt hatte, holte sie eine Kerze, ein Handtuch und etwas Seifenkraut, das im Schatten der Außenmauer des Gasthofs wuchs. Sie badete, genoss den duftenden Schaum, ließ ihr übermüdetes Gehirn an nichts anderes denken als an so einfache Dinge wie, wo sie saubere Kleidung herbekam und ob sie wohl eine Seifenblase bis zu der Heugabel schnippen konnte, die an der gegenüberliegenden Wand hing.

Das Scheunentor flog auf, was ihr einen Aufschrei entlockte, aber es war Rowley. »So, das wäre erledigt.«

Verdammt. Sie wollte für ihn hübsch sein, nicht in einem übergroßen Holzeimer hocken, die Haare mit einer Kordel auf dem Kopf zusammengebunden.

Plötzlich verlegen, griff sie nach dem Handtuch, um möglichst viel Blöße zu bedecken, und sagte dann mit bemüht sachlicher Stimme: »Wie haben sie die Nachricht aufgenommen?«

»Schlecht. Aber ich hab gesagt, es wäre ein Unfall gewesen.«

»Hast du ihnen erzählt, dass er Arthur und Guinevere umgebracht hat?«

»Natürlich nicht. Ich hab nur gesagt, es habe sich herausgestellt, dass es sich um die Skelette von zwei Männern handelt, nicht, wie sie gestorben sind und durch wessen Hand. Sie werden sie in aller Stille wieder beerdigen.«

»Und Hilda?«

»Ein Unfall, ein Unfall.« Dann, als beantwortete er eine Widerrede, die sie gar nicht erhoben hatte, sagte er: »In Gottes Namen, Adelia, sie haben schon genug verloren.«

Das hatten sie wohl wirklich: ihre Abtei und ihren Abt. Und die Wahrheit würde die Kirche sogar noch mehr kosten. Es war Aufgabe des Bischofs von St. Albans, dies abzuwenden, Sigwards zwanzigjährige Buße und Güte gegen ein grausames Verbrechen in die Waagschale zu werfen.

Sie wusste nicht, wie sie dazu stand. Es war ihre Aufgabe, die Wahrheit herauszufinden. Was Männer dann damit anfingen, darauf hatte sie keinen Einfluss.

Vielleicht hatte er recht. Vielleicht gab es schon genug Abscheulichkeiten in der Welt, und man musste den Menschen nicht noch mehr zumuten.

»Rutsch rüber!«, sagte Rowley. Er begann, sich auszuziehen.

»Um Himmels willen«, sagte sie. »Das Ding ist nicht groß genug.«

»Meinst du den Zuber oder meine Männlichkeit? In beiden Fällen lautet die Antwort: doch, groß genug.«

Er hatte recht. Eine Zeit lang vergaßen die beiden alles außer einander, und im Hof des »Pilgrim Inn« war Wasserplatschen und wonnevolles weibliches Glucksen zu hören.

Später, in ihrem Bett, sagte er: »Ich lass dich nicht wieder los. Es wird allmählich langweilig, dich aus den Löchern zu retten, in die du andauernd fällst.«

»Ich weiß, Liebster. Ich kann auch nicht ohne dich leben. Nicht mehr. Der König kann mir den Buckel runterrutschen. Soll er sich doch eine andere Totenleserin suchen! Aber was sollen wir tun?«

Er hatte ihre Begierde gestillt, doch dieser nackte, lebenstrotzende Liebhaber war auch ein gesalbter Bischof, ein Mann Gottes, dem die Ehe verboten war.

Ihre Schuld, keine Frage. Sie hatte die Einschränkungen gefürchtet, die das Leben als Ehefrau eines ehrgeizigen Höflings mit sich gebracht hätte, hatte befürchtet, dass ihre Fähigkeiten als Ärztin und Anatomin unter den Pflichten der Hofhaltung und Betreuung von Gästen erstickt worden wären, Pflichten, für die sie denkbar ungeeignet war, und dass das letztendlich seine Laufbahn gehemmt hätte und sie beide unglücklich geworden wären.

Zudem hatte Rowley von dem Tag an, als Henry die Gelegenheit nutzte, einem Mann seines Vertrauens eine Machtposition in einer feindseligen Kirche zuzuschustern, sein Amt glänzend ausgefüllt. Er war als Christ unvoreingenommener und wahrhaftiger als die Prälaten, die ihren Schäflein mit der Androhung ewiger Verdammnis Angst einjagten, während sie doch selbst ebenso sündig lebten.

Doch Rowley war sich bewusst, dass seine Liebe zu ihr ihn zum Heuchler machte. Er versuchte, das herunterzuspielen, aber es belastete ihn.

Jetzt sagte er: »Ich werde was finden, wo ich dich und Allie unterbringen und ich kommen und gehen kann, ohne dass jemand davon erfährt, ein Versteck, wie Henry es für seine Rosamund gefunden hat.« Er zwinkerte ihr zu und stupste sie an. »Lazarus Island wär wohl nicht nach deinem Geschmack, oder?«

Sie lachte, doch dann verstummten sie beide.

Wo ich kommen und gehen kann, klang es in Adelia nach, ohne dass jemand davon erfährt, ein Versteck, wie Henry es für seine Rosamund gefunden hat … Versteck … ohne dass jemand davon erfährt.

Ein dauerhaftes Arrangement: Sie eine Mätresse, Rowley jedes Mal von schlechtem Gewissen gepeinigt, wenn er den Mund öffnete, um zu predigen.

Diese Sorte Menschen sind wir nicht, dachte Adelia. Wir werden beide jedes Ehrgefühl verlieren. Beide in dem ständigen Bewusstsein, dass er seinen Gott verrät, so wie er Ihn jetzt verrät, mit heimlichen Stelldicheins wie diesem hier, als wären wir Ehebrecher; es wird uns beide besudeln. Könnte ich das ertragen? Könnte er das? Können wir das Gegenteil ertragen?

Dann dachte sie an die Toten der vergangenen Tage, an den Augenblick im Tunnel, als sie schon fürchtete, auch er hätte sich zu ihnen gesellt.

»Ja«, sagte sie.

Überrascht stützte er sich auf einen Ellbogen und sah sie an. »Wirklich?«

»Ja. Vorausgesetzt, Gyltha und Mansur kommen mit uns.«

»Ich werde viel mit dem Assisengericht unterwegs sein, das weißt du?«

»Willst du mich haben oder nicht?«

Er küsste sie fest und lehnte sich dann behaglich zurück. »Wenn du schön brav bist, bring ich dir vielleicht die ein oder andere Leiche mit, damit du was zum Spielen hast.«

Ein Zuhause, ein Vater für Allie, Sicherheit, Liebe … Ich bin es so satt, unabhängig zu sein.

Doch noch während sie ruhig und wohlig diesen Gedanken nachhing, wusste sie, dass ein Hauch von … Ja, von was? Tugend? Nein, nicht Tugend, an der lag ihr nichts … Dass ein Hauch von etwas Wesentlichem, das in ihr gewesen war, seit sie denken konnte, wie Salz im Meer, nicht mehr ihr gehören würde.

 

Am nächsten Morgen traf Hauptmann Bolt mit einer Eskorte ein und erklärte, dass das Reisegericht der Assise in der Stadt Wells erwartet werde und der Bischof von St. Albans auf königliches Geheiß als einer der Richter daran teilnehmen müsse.

»Der König ist in Anjou, aber er kommt bald nach England«, sagte der Hauptmann – eine Ankündigung, die darauf abzielte, bei jedem, der sie vernahm, einen leichten Schauder der Angst auszulösen, und die das auch ausnahmslos tat. »Und Master Mansur soll für ihn einen Bericht abfassen, in dem er alles beschreibt, was hier in Glastonbury geschehen ist – mit den Skeletten und so.«

Henry würde nicht erfreut sein.

Laut sagte Adelia: »Dann bittet Master Mansur, hierher zurückzukehren und Pergament sowie Tinte mitzubringen – und meine Tochter und Gyltha.«

Sie würde Rowley verlieren, aber diejenigen bekommen, die sie ebenso sehr liebte.

Bolt, der mit seinen Männern im sonnenbeschienenen Hof Ale schlürfte, fügte hinzu: »Bleibt morgen vom Wald weg! Wir sollen ihn von Räubergesindel säubern. Henry gefallen die Vorfälle, die den Frieden auf seinen Straßen stören, überhaupt nicht.« Er kratzte sich am Kopf, versuchte, sich den genauen Wortlaut seines Befehls in Erinnerung zu rufen. »Falls der Disput zwischen Wells und Glastonbury nicht durch die Gemeinden selbst bereinigt wird, können beide Seiten davon ausgehen, dass die Krone einschreitet. Le roi le veut. Ja, genau so. Wir werden uns auf die Briganten im Wald stürzen wie Terrier auf ein Rattennest.«

Damit würde sich die Angst der Zehnschaft vor Scarry erledigen. Adelia überlegte, wie sie ihnen die Nachricht zukommen lassen könnte, dass sie sich vom Wald fernhalten sollten. Laienbruder Peter, dachte sie – sie würde Will und die anderen durch ihn benachrichtigen.

Sie erzählte Bolt von dem Angriff auf Emmas Reiterzug und den im Wald verscharrten Opfern, beschrieb ihm, so gut sie konnte, den Weg zu dem Grab. »Lady Emma wird wünschen, dass die Toten ausgegraben und anständig bestattet werden.«

»Wir kümmern uns darum«, sagte Bolt, und sie glaubte ihm.

Sie blickte den Soldaten nach, die davonritten und ihren Geliebten mitnahmen.

 

Gras wuchs durch die Asche der Abtei. Baldrian und Geißblatt sprossen zwischen Trümmern. Schwalben verschwanden in den Nischen der einzigen noch stehenden Wand des Kirchenschiffs, fütterten ihre Jungen im Nest und flogen wieder davon, um sich erneut auf Nahrungssuche zu machen.

Die Natur sang vom Leben, die Mönche im zerstörten Chorraum sangen vom Tod, und beides klang wunderschön.

Adelia hörte zu, während sie bei den Katafalken in der Weidenhütte kniete.

»In paradisum deducant te angeli; in tuo adventu suscipiant te martyres …«

Und wann werden sie dafür beten, dass ihr ins Paradies geführt werdet?, fragte sie die Skelette. Wird man auch euch unter die Märtyrer aufnehmen? Oder werdet ihr unbenannt und unbetrauert in euer Grab zurückkehren? Vielleicht, dachte sie, ist das gleichgültig, solange ihr nur zusammen seid.

Mit ihrer unmelodischen Stimme sang sie gleichzeitig mit den Mönchen: »Mögen Engelschöre euch empfangen; möget ihr ewige Ruhe finden!«

Sie stand auf und ging nach draußen in den Schatten der Kirchenmauer.

Nach einer Weile tauchte Bruder Peter auf, wischte sich die Augen. »Ich halt das nich mehr aus. Das wird noch den ganzen Tag so gehen.« Er wirkte nicht überrascht, hier auf sie zu treffen. »Warum hat er das gemacht? Warum hat er das gemacht? Ein Unfall, sagt der Bischof, aber er kannte die Sümpfe. Genau wie Hilda.«

Adelia schüttelte mitfühlend den Kopf, antwortete aber nicht. Die Fragen des Mannes waren rhetorisch. »Bruder Peter, ich möchte, dass Ihr Will und die anderen warnt. Sie dürfen morgen nicht im Wald wildern.«

»Wildern?« Er tat, als hätte er das Wort noch nie zuvor gehört.

Sie nickte. »Wildern. Aber nicht im Wald. Nicht morgen.«

Der Laienbruder starrte sie an, kniff die Augen zusammen. »Ich hab Soldaten vor dem Gasthof gesehen. Die machen Jagd auf Wolf und seine Bande, nich?«

»Das kann ich nicht sagen.« Vielleicht hatte sie schon zu viel gesagt. Vielleicht steckte er mit den Briganten so weit unter einer Decke, dass er diese warnen würde. Zumindest hatte sein Bruder ihm nicht erzählt, dass Wolf tot war.

Der Mann blickte erleichtert. »Wird auch Zeit, dass Wolf kriegt, was er verdient. Verbreitet überall Angst und Schrecken, zur Hölle mit ihm! «

»Und Ihr werdet Will warnen?«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht mach ich das.«

Sie erhielt keinen Dank von ihm für ihren Dienst, und sie erwartete auch keinen. Peter war ebenso unwirsch wie sein Bruder. Die beiden erinnerten sie an die Bewohner des Sumpflandes in Cambridgeshire, wo Dankbarkeit mit Taten bewiesen wurde, nicht mit Worten.

Das muss irgendwas mit dem Leben im Moor zu tun haben, dachte sie.

»Übrigens«, sagte er, als sie sich abwenden wollte, »Will und die anderen sind vor die Assise geladen worden. Die sollen sich dafür verantworten, dass Eustace das Feuer gelegt hat, was er nich hat. Also bringt Euren Sarazenenarzt dazu, dass er hingeht und den Richtern sagt, dass Eustace es nich war.«

»Vielleicht mach ich das«, sagte sie.

 

Unter sicherem Geleit kehrten Allie, Gyltha und Mansur am nächsten Morgen zu Adelias Freude ins »Pilgrim Inn« zurück und brachten auch Rhys den Barden mit.

Unterwegs hatten sie gesehen, wie Hauptmann Bolt mit mindestens vierzig Soldaten, alle bis an die Zähne bewaffnet, in den Wald hineinsprengte, und später hatten sie in der Ferne Kampflärm gehört. Die Jagd hatte begonnen.

»Mansur hat gesagt, sie töten Schlangen«, flötete Allie, »aber Schlangen schreien doch nicht, Mama, oder doch?«

Adelia umarmte sie. »Ich glaube, die schon.«

Gyltha sagte unterkühlt: »Und wo wir schon mal dabei sind, was hat Rowley uns da erzählt? Uns einfach so abzuschieben, ich hätte nich übel Lust, dir dafür den Hintern zu versohlen.«

»Tu das nie wieder!«, sagte Mansur leise mit seiner Jungenstimme zu Adelia. »Ich bin dein Beschützer, oder ich bin gar nichts.«

Sie hatte sie mit einer listigen Täuschung dazu gebracht, nach Wells zu reiten, und dadurch hatte sie sie in ihrem Stolz verletzt, vor allem den Araber. Adelia versuchte, ihnen zu erklären, dass sie alle durch Allies Anwesenheit im Gasthof ebenso angreifbar gewesen wären wie Emma und Roetger, die nicht anders gekonnt hatten, als Hilda zu gehorchen, weil die Wahnsinnige Pippy gepackt und gedroht hatte, ihm die Kehle durchzuschneiden. »Und ohne mich wärt ihr nicht gegangen«, sagte sie zu ihrer Verteidigung. »Stimmt doch, oder?«

Gyltha schnaubte.

Sie schnaubte erneut, als Rhys Emma vorgestellt wurde und er sich auf der Stelle verliebte.

»Habt Ihr meine Lieder gehört, die ich für Euch gesungen habe, Mylady?«, fragte er und riss sich die Kappe vom Kopf. »Haben sie Euch von jenem einsamen Gipfel der Verbannung zurückgerufen?«

Emma blickte verwirrt.

Adelia sagte: »Es war kein Gipfel. Und nein, haben sie nicht. Und ihre Gunst gehört einem anderen.«

Es nützte nichts. Lady Emma war die verlorene und errettete weiße Taube. Als sie vermisst wurde, hatte er ihr seine Klagegesänge gewidmet, und jetzt, wo sie leibhaftig vor ihm stand, blass, dünn und schön, war sie die Vollkommenheit schlechthin – ein ätherisches Wesen, so weit über ihm stehend, dass er gefahrlos als ihr Troubadour eine Leidenschaft besingen konnte, die nie erwidert werden würde. Noch während er jammervoll seufzte, begann er, seine Harfe zu stimmen.

»Seht euch den an!«, sagte Gyltha angewidert. »Jetzt, wo er vor Liebeskummer vergeht, ist er glücklich wie ein Schwein im Dreck.«

Der Ziehbrunnen wurde abgedeckt, damit die beiden wieder vereinten Kinder nicht hineinfielen, wenn sie im Hof spielten. Die Erwachsenen gingen ins Haus, setzten sich um den Esstisch und ließen sich von Adelia ausführlich die vergangenen zwei Tage und Nächte schildern.

Nur Roetger fehlte. Er erholte sich nicht so gut, wie Adelia gehofft hatte. Er war zu schwach, um das Bett zu verlassen, hatte weder Appetit noch Interesse an irgendwas und schämte sich, weil entweder Adelia oder Millie ihm auf den Topf helfen mussten – er weigerte sich kategorisch, das Emma machen zu lassen.

Genau wie Mansur fühlte auch er sich gedemütigt, weil er unfähig gewesen war, seine Lady zu beschützen. Es nagte an ihm. »Was für ein Kämpe war ich denn für sie?«, fragte er Adelia einmal.

Emma wollte nichts davon hören. »Ich sag ihm das wieder und wieder. Was hätte er denn tun können? Diese Hexe, diese Hilda, hat Pippy ein Messer an die Kehle gedrückt; wir mussten tun, was sie wollte. Und als wir auf der Straße überfallen wurden, war er so tapfer … Du hättest ihn sehen sollen! Verwundet, hat er dennoch gekämpft wie ein Löwe. Ohne ihn wären Pip und ich jetzt tot. Ach, Delia, es kümmert mich nicht mehr, was die Leute denken, ich will ihn heiraten. Denkst du, der König erlaubt es mir?«

»Da bin ich ganz sicher.« In Wahrheit war sie gar nicht sicher. Emma war ein wertvoller Trumpf in seinem Spiel, und er konnte sie nach Belieben verheiraten. Adelias letzte Ermittlung war erfolgreich gewesen, und da Henry sie belohnen wollte, hatte sie ihn überreden können, Emma nicht gegen ihren Willen erneut zu verheiraten.

Aber damals hatte sie ihm die gewünschten Ergebnisse geliefert …

Besonders bekümmerte es den Deutschen, dass er sein Schwert verloren hatte, das Symbol für alles, was er einst war. Hilda hatte ihn gezwungen, es abzulegen, und jetzt war es nirgends zu finden. »Sie kann es nicht verschachert haben«, sagte er. »Dazu war es zu edel. Nein, sie hat es weggeworfen. Warum mich nicht gleich mit? Ohne mein Schwert bin ich nichts wert.«

Bis jetzt hatte Adelia Emma den Versuch ihrer Schwiegermutter verheimlicht, sie töten zu lassen, weil sie abwarten wollte, bis die Ärmste wieder zu Kräften kam. Aber sie musste es erfahren, und als Adelia der Tischrunde nun diesen Teil der Geschichte erzählte, erwartete sie eine ebensolche Wut, wie sie sie selbst empfand.

Wolf und die verwitwete Lady Wolvercote, zwei Mörder.

Sie wurde enttäuscht. Emma hatte schließlich Schreckliches durchgemacht: der Überfall von Wolf und seinen Briganten auf der Straße, die Annahme, dass sie in Sicherheit war, als sie das »Pilgrim Inn« erreichte, und dann die Erkenntnis, in die Hände einer Wahnsinnigen geraten zu sein, der unterirdische Gang, das erzwungene Exil auf einer Leprainsel … Ihr innerer Widerstand war gebrochen.

Gyltha schrie fassungslos auf bei dieser Neuigkeit. Mansur stieß grässliche arabische Flüche aus. Emma jedoch weinte nur um ihre toten Bediensteten.

»Kann es bewiesen werden?«, fragte Mansur.

»Ich weiß nicht.« Darüber hatte Adelia noch nicht nachgedacht. »Zumindest sollte die Frau aus Wolvercote Manor verjagt werden, mit Sack und Pack.«

Emma schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Ich schicke Roetger nicht noch einmal in einen Gerichtskampf. Da verliere ich lieber Wolvercote Manor … Gott weiß, ich hab es mir für Pippy gewünscht … aber ich lasse nicht zu, dass mein guter Kämpe noch einmal verwundet wird.«

»Ich pfeif auf einen Gerichtskampf«, sagte Gyltha. »Das Weibsstück gehört an den Galgen.«

Emma schluchzte weiter.

Es war nicht der richtige Moment, um ihr zu sagen, dass Roetger nie wieder in der Lage sein würde zu kämpfen. Sein Fuß war nun zu schlimm geschädigt.

Adelia erzählte es auch nicht dem Kämpen, aber seine Teilnahmslosigkeit am selben Abend, als sie versuchte, ihn zum Essen zu bewegen, ließ vermuten, dass er es bereits ahnte.

Als Millie sie ablöste, ging Adelia in ihr Zimmer und holte das alte Schwert vom Hügel aus der Truhe, in der sie es, in ein Tuch eingeschlagen, aufbewahrte. Sie setzte sich aufs Bett und betrachtete es.

Mansurs Widerwille dagegen, dass sie es mitgenommen hatte, war in dem Augenblick verpufft, als er erfuhr, dass das Schwert ihr das Leben gerettet hatte. »Also hat Allah aus dem Paradies herabgeblickt und gesehen, dass du eine Waffe benötigst. Er gab dir die des Kriegers.«

Eine schöne Erklärung für Grabräuberei, dachte sie.

Was sie sich kaum selbst eingestehen konnte und ganz sicher niemand anderem, war, dass das Schwert in einem verzweifelten Moment im Wald lebendig geworden war. Es hatte getötet, um sie zu schützen, als wäre es von der Aufgabe, für die es geschmiedet worden war, zum Leben erweckt worden.

Das Problem war, dass es das genossen hatte.

Oder war ich es? Hab ich es genossen?

Sie wusste, dass dem nicht so war. Wolf war eine Ausgeburt gewesen, hatte getötet, hätte Alf getötet, sie getötet, hätte weiter getötet. Der Zufall hatte ihr die Gelegenheit und das Mittel, um ihm Einhalt zu gebieten, zugespielt. Sie, deren Beruf es war, Leben zu bewahren, bedauerte es und würde es immer bedauern. Doch wie Rowley gesagt hatte, sie hätte nichts anderes machen können.

Die Frage war, ob das Schwert nun ihr gehörte. Das Gefühl hatte sie jedenfalls. Durch sein Erwachen, um sie zu verteidigen, war das Besitzrecht an der Waffe von dem Toten in der Höhle in ihre lebendigen Hände übergegangen. So verhasst ihr zerstörerische Waffen waren, dieses Ding jedoch mit seinem verkrusteten Knauf, der so warzig war wie Allies Kröte, bildete eine Ausnahme. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicherer – nein, nicht bloß sicherer, kühner –, sie konnte der Welt damit trotzen, ihren Feinden die Stirn bieten. Jetzt wagt ihr es nicht mehr, mich anzurühren.

Sie dachte: Und genauso nehmen Kriege ihren Anfang.

Behalte mich, sagte das Schwert. Du bist zwar eine Frau, aber du wirst eine Kriegerin werden, die alle schwachen Frauen verteidigt.

Seine Stimme war hell und lieblich wie Rhys’ Harfe.

Und dann begriff sie, dass auch dies dem Zauber von Glastonbury zuzuschreiben war. Sie war umringt von Legenden, heiligen Quellen, Träumen, Geistern, Schwertern, die zum Leben erwachten … alles reine Illusion. Die Meister in Salerno, die Adelia in fundierter Wahrheit unterwiesen hatten, blickten kopfschüttelnd und beschämt auf sie herab.

Sie traf eine Entscheidung. Du bist ein Werkzeug, erklärte sie dem Schwert. Du hast einem Krieger gehört, der keine weitere Verwendung für dich hat – aber ich bin Ärztin, und ich habe einen Patienten, der etwas mit dir anfangen kann.

Am nächsten Morgen erzählte sie Roetger die Geschichte des Schwertes und übergab es ihm.

»Ein hässliches altes Ding«, sagte sie und merkte, wie schwer ihr die Worte fielen, »aber bis Ihr ein besseres findet …«

Er war fasziniert von der Waffe und wirkte froher, als sie ihn seit der Rettung von Lazarus Island je gesehen hatte, als hätte sie ihm seine Männlichkeit zurückgegeben. »Hm«, sagte er und streichelte die Klinge. »Altmodisch, ja, aber hässlich, nein. Das werdet Ihr sehen, wenn ich es wieder auf Hochglanz gebracht habe. Ich bin Euch zu Dank verpflichtet.«

Millie wurde in die Küche geschickt, um Reinigungszeug zu holen, und Adelia ließ ihren Patienten mit seiner neuen Arznei allein, um hinunter in den Gästesaal zu gehen und den Bericht zu schreiben, den der König verlangt hatte. Sie konnte es nicht länger aufschieben – Hauptmann Bolt würde ihn am nächsten Tag abholen.

Es war eine Auflistung von Katastrophen, die das königliche Auge wohl kaum erfreuen würde: Arthur und Guinevere nicht Arthur und Guinevere, sondern zwei Männer, die sich geliebt hatten. Ein angesehener Abt sowohl Mörder als auch Selbstmörder, der eine Wahnsinnige mit in einen schrecklichen Tod genommen hatte. Der Brand von Glastonbury verursacht durch die Unachtsamkeit eines seiner eigenen Mönche. Ein Wald, in dem Reisende auf des Königs Straßen abgeschlachtet worden waren. Eine verwitwete Angehörige seines Somerset-Adels als Mordanstifterin. Und vor allem, zumindest würde Henry es so lesen und darüber toben, kein Beweis, dass König Arthur tot war.

Adelia kaute auf dem Ende ihrer Schreibfeder herum und überlegte, ob ihre eigenen gefahrvollen Begegnungen mit dem Tod vielleicht des Königs Mitgefühl wecken würden. Wohl kaum – er war kein mitfühlender Mann.

Aber das war das letzte Mal, dass du mich für dich arbeiten lässt, Henry Plantagenet. Von nun an bin ich die Mätresse eines Bischofs.

Eine Mätresse, dachte sie versonnen, eine Kurtisane. Ihre Gedanken verweilten bei den wenigen Huris, die sie gesehen hatte, wie sie bemalt und verschleiert durch die Straßen von Salerno getragen wurden, umweht von zarter Seide und schweren Parfüms.

Bei der Erinnerung musste sie lächeln.

Dennoch, dachte sie, Rowley wird diese unanständige Frau anständig einkleiden müssen. Und da sie im Augenblick ebenso wie Emma Gewänder trug, die Millie für sie bei einer Näherin auf dem Markt in Street erstanden hatte, wobei der Gesichtspunkt der Haltbarkeit unübersehbar mehr ins Gewicht gefallen war als modische Fragen, hatte diese Vorstellung einen gewissen Reiz.

Doch wieder spürte sie, dass eine Essenz dessen, was Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar ausgemacht hatte, sich verflüchtigte. Und wieder sagte sie sich, dass das für die Liebe ein kleines Opfer war.

Aus dem Hof tönte die wohlklingende Stimme von Rhys zu Emmas Fenster hinauf.

Legt Eure Waffen nieder, Mylady,

sonst seid Ihr mein Tod.

Verbergt Euer wallendes Haar, Eure strahlenden Augen,

die das Herz jedes wahren Mannes durchbohren …

Adelia seufzte und widmete sich wieder ihrem Bericht für den König. Als sie ihre zwei einzigen Triumphe aufs Pergament schrieb, kamen sie ihr recht mager vor. Was kümmerte es Henry, den Herrscher über ein großes Reich, dass sie die Unschuld von Eustace, einem unbedeutenden Trunkenbold, bewiesen hatte? Und wie sehr würde die Rettung von Lady Emma und dem kleinen Lord Wolvercote sein Herz erfreuen, wenn er gar nicht gewusst hatte, dass sie entführt worden waren?

Oje.

Zähneknirschend tunkte Adelia ihre Feder ins Tintenfässchen und schrieb weiter, kam auf den Punkt zu sprechen, der sie im Augenblick am meisten aufbrachte – die Perfidie der verwitweten Lady Wolvercote.

Ihr, der Ihr Gerechtigkeit über alles schätzt, werter Lord, werdet wissen, wie Ihr das große Unrecht, das diese Frau begangen hat, wiedergutmachen könnt. Das entspräche dem Wunsch Eurer untertänigsten Dienerin, Adelia Aguilar.

Dann, nur für den Fall, dass die ahnungslosen Schreiber des Königs ihm den Brief vielleicht vorlasen, kratzte sie ihre Unterschrift weg und ersetzte sie durch Mansurs Namen.

Sie schaute sich gerade nach Siegelwachs um, als Allie ganz aufgeregt vor Freude die Tür aufstieß. »Komm, Mama, komm schnell, das musst du dir ansehen!«

Adelia folgte ihrer Tochter in den Hof, wo Pippy auf etwas starrte, das mit einem Strick um den Hals an den Ziehbrunnen gebunden war.

»Was ist das, in Gottes Namen?«

»Das ist ein Hündchen.« Allie war ganz aus dem Häuschen. »Es gehört mir.«

Was auch immer es war, ein derart strubbeliges Tier hatte Adelia noch nie gesehen; noch ganz jung, auf wackeligen, langen dünnen Beinen, mit grobem Fell und Augenbrauen, die sich nach oben rollten wie die eines alten Mannes.

»Nicht gut«, sagte Mansur, »ein Sichthund.«

»Ein Lurcher«, präzisierte Gyltha. »Und die sind verboten. Wenn Forstwächter so einen im Wald sehen, schneiden sie ihm die Fußballen ab, damit er nich mehr laufen kann. Die hetzen Hirsche und so. Lurcher hetzen alles.«

Allie schlang die Arme um den Hals des Tieres. »Eustace werden sie nichts tun«, sagte sie. Der Hund leckte ihr übers Gesicht.

»Wem?«

»Ein paar Männer sind gekommen und haben ihn mir geschenkt. Die haben gesagt, er heißt Eustace. Sieh doch nur, was für schöne braune Augen er hat, Mama! Er ist sehr klug.«

Adelia dachte, wie typisch es doch war, dass Will und die Zehnschaft ihr ein Geschenk machten, das verboten war. Aber das war nun nicht mehr zu ändern; Allie hatte ihr Herz an diese Kreatur verloren.

»Na«, sagte Adelia schwach, »dann werden wir einfach aufpassen müssen, dass Eustace nicht in den Wald läuft.«

 

Als sie Hauptmann Bolt am nächsten Morgen die Pergamentrolle übergab, fragte Adelia, ob der König inzwischen in England eingetroffen sei.

»Noch nicht, Mistress. Er ist irgendwo zwischen hier und der Normandie, schätz ich.« Bolt hielt die Rolle hoch. »Aber er wartet so gespannt auf diesen Bericht, dass wir ihn ihm vielleicht per Boot schicken müssen – er wird sich freuen, wenn er ihn bekommt.«

»Nein, Hauptmann«, sagte Adelia traurig. »Das wird er nicht.«

 

Zwei Tage später schleppte Roetger sich schwerfällig die Treppe hinunter, und Adelia wurde gebeten, zu ihm und Emma in den Gästesaal zu kommen.

Auf dem Tisch vor den beiden lag das Schwert des toten Kriegers in einer hölzernen Scheide, die Roetger dafür angefertigt hatte.

Er war lebhaft, konnte es kaum erwarten, dass Adelia sich setzte. Er selbst blieb mit dem Rücken zum Fenster stehen, auf eine Krücke gestützt. Er begann zu erklären, wie er bei der Reinigung des Schwertes vorgegangen war.

»Wir haben uns viel Mühe gegeben, nicht wahr?«, sagte er zu Emma.

Sie nickte. Sie beide führten jetzt ständig die Worte »wir« und »uns« im Munde.

»Zuerst mit Zinnkraut«, sagte er. »Das hat Millie aus der Küche geholt.«

Jetzt nickte Adelia. Die Pflanze war bestens zum Töpfeschrubben geeignet, und Milchmägde putzten damit ihre Milcheimer aus.

»Nicht gut«, sagte Roetger und schüttelte den Kopf. »Also haben wir es mit Essig versucht. Nicht gut.«

»Weißt du, womit es am Ende geklappt hat?«, fragte Emma. Sie konnte nicht warten. Sie war ebenso aufgeregt wie der Deutsche. »Das errätst du nie. Godwyns sauer Eingemachtes, mit Äpfeln und Pflaumen.«

»Sauer Eingemachtes?«

Jetzt, da der Wirt geholfen hatte, das Schwert zu restaurieren, schien Emma ihm vergeben zu haben. »Er will uns nicht verraten, was außer Äpfeln und Pflaumen sonst noch drin ist, aber das Zeug wirkt Wunder.«

»Sauer Eingemachtes?«

»Ein ausgezeichnetes Reinigungsmittel«, warf Roetger ein.

»Und?«, fragte Adelia auffordernd. Die massige Gestalt des Kämpen stand im Licht, das durchs Fenster fiel, und sie konnte das Schwert gar nicht richtig sehen.

Roetger erklärte ausführlich, wie durch das Polieren mehr und mehr von dem zutage gekommen war, was sich unter der dicken Patina verbarg. »Es ist alt, so alt.«

Er machte einen Schritt beiseite, damit das Licht auf den Knauf fiel.

Adelia schnappte nach Luft. Was einst Warzen gewesen waren, erwies sich jetzt als eingelegte Steine, die in der Sonne blitzten. »Was sind das für Edelsteine?«

»Topase«, sagte Emma selbstzufrieden.

Roetger nickte. »Aus meiner Heimat Sachsen, glaube ich. Es ist der Stein der Kraft.«

»Und er kann seinen Träger bei Gefahr unsichtbar machen«, plapperte Emma nach, »und er ändert seine Farbe, wenn Gift in der Nähe ist, nicht wahr, Roetger? Und er kann alles heilen, auch Hämorrhoiden.«

Ihr Kämpe blickte sie ernst an. »Er hat große Macht.«

»Und?«, fragte Adelia.

Noch immer zog Roetger das Schwert nicht aus der Scheide. Er sprach von Angel, Hohlkehle, Balance, wie der Knauf an der Klinge befestigt war, von dem in das Heft eingelassenen »Lebensstein«, von den Kanten, die so vollkommen geformt waren, dass sie eher von einer Feile geschliffen schienen als in einer Schmiede gehämmert.

»Diese Waffe hat ein Gott gemacht«, sagte er. »Vielleicht gar Wieland der Schmied.«

»Was ist das da für ein kleiner Ring unten am Heft?«

»Ach das«, sagte Roetger in einem Tonfall, der Adelia an ihren Ziehvater erinnerte, wenn sie eine intelligente Frage gestellt hatte. »Das ist ein Schwurring, der Ring eines großen Stammesfürsten.«

»Weißt du«, warf Emma ein, »Roetger sagt – er weiß einfach alles über die Geschichte von Schwertern –, er sagt, wenn einer der Männer des Stammesfürsten oder Königs einen Treueeid ablegte, kniete er nieder und küsste diesen Ring.«

Rhys der Barde hatte von einem Schwert gesungen:

Das Edelste von allen,

es trug einen Ring am Heft,

Tapferkeit in der Klinge

und Furcht in der Spitze.

»Und?«

»Und nun seht«, sagte Roetger. Er legte seine Krücke beiseite und nahm das Schwert in die Hand, als müsste er gerade stehen, wenn er es berührte. Er bat Adelia aufzustehen. Blitzschnell zog er das Schwert aus der Holzscheide und bot es ihr dar.

Es war eine Wiedergeburt. Abgesehen von der Kerbe schimmerte die Klinge wie frisch aus der Schmiede.

Rhys hatte gesungen:

Im Blut vieler Schlachten gehärtet,

diente es treu der Hand, die es führte,

trotzte des Krieges Gefahren, der Feinde Ansturm.

Nicht zum ersten Mal also

erkühnte seine Klinge sich mannhafter Taten.

»Aber seht nur, seht!«, beharrte Roetger. »Schaut Euch die Hohlkehle an!«

Adelia, die nichts von Waffen verstand, vermutete, dass die Hohlkehle die schmale Rinne war, die in der Mitte der Klinge verlief. Sie trat näher und sah ein Muster wie Wasserwellen. »Was ist das?« Buchstaben waren in das Muster gekratzt worden.

»Schaut genauer hin!«, sagte Roetger.

Adelia blinzelte. »Ist das ein A? … R, T …«

»Arturus«, sagte der Kämpe.

Stille trat ein.

Ein kaltes Frösteln erzeugte auf Adelias Armen und Rücken Gänsehaut. Sie konnte nicht sprechen.

Emma hüpfte förmlich auf ihrem Stuhl auf und ab, quietschte vor Freude wie ein kleines Kind.

»Excalibur.« Vor lauter Ehrfurcht begann Roetger zu schluchzen. »Was sonst? Wo sonst? Schließlich sind wir ja in Avalon.«

»Aber …« Adelia starrte von Gesicht zu Gesicht. »Aber das bedeutet … Der Leichnam oben auf dem Berg …«

»Ja«, sagte Roetger schlicht.

Auch Emma schluchzte jetzt. »Der einstige und zukünftige König«, sagte sie.

Roetger riss seine Hand hoch, sodass die Waffe darin bernsteinfarben im Licht leuchtete. Dann hielt er sie Adelia mit beiden Händen hin. Noch immer liefen ihm Tränen übers Gesicht, aber er lächelte. »Mansur sagt, es wurde an Euch weitergegeben. Ich bin seiner nicht würdig. Es gehörte einem großen Herzen, und einem großen Herzen muss es erneut gehören.«

»Er möchte, dass du es bekommst«, sagte Emma. »Du hast das größte Herz, das wir kennen.«