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Kapitel elf

Als sie den Schatten der Abteimauer erreichte, wurde Adelia langsamer. Sie musste die Erregung, die sie erfasst hatte, bezähmen; sie musste nachdenken.

Als die Zehnschaft sie einholte, massierte sie sich mit einem Finger die Stirn und überlegte angestrengt.

Sie blickte von einem Gesicht zum nächsten. »Ihr müsst mir unbedingt noch einen weiteren Gefallen tun«, sagte sie.

»Was denn noch?«, fauchte Will. Er war müde, sie waren alle müde.

Sie sprach langsam und deutlich. »Ich möchte, dass ihr alle, die zu mir gehören, aus dem ›Pilgrim Inn‹ holt und nach Wells bringt, also Master Mansur, meine Tochter, meine Freundin und den Waliser. Ich möchte, dass ihr sie zum Bischofspalast bringt und sie in die Obhut des Bischofs von St. Albans gebt, der sich derzeit dort aufhält.«

»Wieso?«

Ollie, der Jüngste und Schweigsamste der Zehnschaft, fragte verdattert: »Menschenskind, kocht der alte Godwyn denn so schlecht?«

Adelia lächelte ihn an: »Nein, aber es wird Zeit, dass wir weiterziehen.« Sie wandte sich an Will. »Ist die Straße vorläufig sicher für sie?«

Will sah Toki an: »Was sagen dir deine Ohren, Toki?«

»Gar nix. Alles ruhig.«

Will überlegte. »Ich schätze mal, dass sie jetzt, wo Wolf tot ist, ganz durcheinander sind und sich ’nen neuen Anführer suchen müssen. Müsste also gehen.« Es musterte Adelia misstrauisch. »Wollt Ihr mit dem Braunkopf heimlich abhauen? Den armen alten Godwyn auf seiner Rechnung sitzen lassen?«

»So was in der Art«, antwortete Adelia, »aber euch werde ich bezahlen, sobald ich an meinen Geldbeutel komme.«

»Komm schon, Will!«, sagte Toki. »Die alte Hilda hat dir doch noch nie was Gutes getan.«

»Das kannst du laut sagen«, pflichtete Will ihm bei. »Also gut, wir bringen sie zum Palast, aber erst müssen wir die Esel tränken und ein bisschen ausruhen lassen.«

»Eines noch«, sagte Adelia. »Ich werde nicht mitkommen. Und ihr müsst meinen Leuten sagen, ich wäre schon im Bischofspalast und würde dort auf sie warten.«

Sie konnten nachvollziehen, dass sie verschwinden wollte, ohne die Zeche zu bezahlen, aber jetzt waren sie verblüfft.

»Ihr bleibt hier?«

»Ja. Aber wenn meine Leute das wissen, werden sie nicht mit euch mitkommen.« Gyltha würde mit diesen Männern, die nun mal wenig vertrauenerweckend aussahen, nur auf deren Wort hin nie und nimmer freiwillig mitgehen, erst recht nicht zusammen mit Allie.

An einem angesengten Apfelbaum, der über die Mauer lehnte, war noch ein lebender Ast. Sie ging hin und kam mit einem kleinen Zweig zurück. Sie reichte ihn Will. »Gib das meiner Freundin. Sie heißt Gyltha. Es ist ein Zeichen, dass sie und Master Mansur tun sollen, was ihr ihnen sagt. Und wenn ihr im Palast ankommt, sagt dem Bischof von St. Albans, er soll unbedingt dafür sorgen, dass meine Leute im Palast bleiben. Er aber soll zu mir in den Gasthof kommen. Ich werde dort auf ihn warten.«

»Ja, klar«, sagte Will und schlug die Augen zum Himmel. »Bischöfe tun ja auch immer genau das, was wir ihnen sagen. Wir halten ständig mit Bischöfen nette Schwätzchen, nich wahr, Jungs?«

Das war ein guter Einwand, sie musste sich noch ein weiteres Zeichen einfallen lassen. »Sagt ihm …« Sie überlegte fieberhaft, was Rowley davon überzeugen konnte, dass sie zwar wohlauf war, aber seine Hilfe brauchte. »Sagt ihm … sagt ihm, Ariadne wartet auf ihn.« So hatte er sie genannt, als sie noch ein Liebespaar waren.

Sie zwang Will, den Namen mehrmals zu wiederholen, bis er ihn richtig aussprechen konnte.

Die Zehnschaft wollte sie nicht allein lassen, vor allem Alf nicht. »Er hat Angst, Scarry könnte jetzt hinter Euch her sein«, erklärte Toki.

Adelia wurde ungehalten. Sie hatte einiges zu tun. Hier draußen im morgendlichen Sonnenlicht und mit der Abtei und den Mönchen direkt hinter der Mauer war die Welt völlig anders als vergangene Nacht im Wald, und die Erinnerung daran nahm bereits die Unwirklichkeit eines Albtraums an. Jetzt schien vom »Pilgrim Inn« eine unmittelbarere Gefahr auszugehen. »Will, du hast selbst gesagt, dass der Mann keine Ahnung hat, wo ich wohne.«

»Stimmt, hat er nich, aber Alf könnte trotzdem recht haben. Scarry hat mächtig an Wolf gehangen. Er wird sich an uns allen rächen wollen, und besonders an Euch, Missus. Weil Ihr es wart, die Wolf erledigt hat.«

Hatte sie? Sie hatte noch immer das Gefühl, das Ganze eher beobachtet als wirklich erlebt zu haben. Nun, dem würde sie sich später stellen, würde später dafür bezahlen, wenn sie das musste. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. »Dafür muss er mich erst finden.«

»Vielleicht.« Will überlegte. »Er muss Wolf begraben. Und er wird ’ne Weile beschäftigt sein, weil er erst mal dafür sorgen muss, dass die ganzen anderen Scheißkerle von jetzt an ihm gehorchen, wo Wolf tot ist.« Er musterte sie forschend. »Seid Ihr sicher, dass der Bischof auch wirklich herkommt, wenn wir’s ihm sagen?«

»Vollkommen sicher.«

Alf schnaubte.

Toki sagte: »Alf sagt, er will hierbleiben.«

»Nein.« Sie atmete einmal tief durch und versuchte es erneut. »Ich will meine Leute wohlbehalten in Wells in Sicherheit wissen. Ich brauche euch alle, um sie dorthin zu bringen.« Allie, Gyltha, Rhys und Mansur würden eine möglichst große Eskorte benötigen, um unbeschadet durch den Wald zu kommen. Schon vier Männer waren eigentlich zu wenig.

»Vielleicht hat sie recht.« Nervenaufreibend genau zählte Will die Gründe an den Fingern ab: »Erstens, Scarry denkt, sie wohnt drüben in Wells, weil wir das Wolf erzählt haben. Zweitens, er wird ’ne Weile alle Hände voll damit zu tun haben, Wolf zu beerdigen und die anderen Scheißkerle auf sich einzuschwören. Drittens, wenn wir den Bischof heute noch hierherschicken, kann er besser auf die Missus aufpassen, als wir das können.« Den Kopf zur Seite geneigt, starrte er seine gespreizte Hand an. »Ja, ich schätze, ’ne Weile ist sie hier sicher.«

Wortlos überquerten sie alle gemeinsam die Straße. Der Hof lag verlassen und still da, die Fensterläden im ersten Stock waren verschlossen. So früh am Morgen schlief selbst Millie noch.

Adelia verschwand im Stall, als Will an die Hintertür hämmerte. Es dauerte einen Augenblick, bis irgendwer reagierte, und schließlich tauchte Gyltha am Fenster auf.

Es entspann sich ein längerer Wortwechsel zwischen ihnen, bei dem Gyltha vor ängstlicher Besorgnis recht feindselig klang, doch Will, der mit dem Zweig wedelte und seine Rolle erstaunlich gut spielte, konnte sie schließlich überzeugen, dass Adelia in Wells auf sie alle wartete.

Die Tür wurde entriegelt, wieder von Gyltha. »Was fällt der denn ein, uns von so Strolchen wie euch Botschaften schicken zu lassen? Jedenfalls, ihr müsst euch noch was gedulden, bis ich unsere Sachen gepackt hab. Weshalb ist sie überhaupt zum Palast? Na, meinetwegen kommt rein – ihr könnt tragen helfen. Und putzt euch die Stiefel ab!«

Adelia konnte den Rest nicht mehr verstehen, weil die Zehnschaft brav den Schmutz von den Stiefel trampelte und Staub von der Kleidung klopfte, ehe sie Gyltha ins Haus folgte.

Nach einer Weile kam Toki heraus. Er war losgeschickt worden, um die Esel zu holen, und nippte an einem Krug Ale. »Den hat Eure Gyltha spendiert«, erklärte er Adelia, als er in den Stall kam. »Godwyn und Hilda sind gar nich da.«

»Nicht da? Wo sind sie hin?« Schließlich wollte sie nur aus dem Grund hierbleiben, um die beiden von ihrem Versteck im Stall aus im Auge zu behalten.

Toki wusste es nicht. »Und Eure Gyltha weiß es auch nich. Letzte Nacht waren sie noch hier, aber jetzt nich mehr. Sieht aus, als wären sie abgehauen.«

»Mmm.«

Es dauerte ziemlich lange, bis alle aufbruchbereit waren, doch schließlich beobachtete Adelia durch einen Spalt in der Stalltür, wie Mansur und Gyltha, die Allie im Arm hielt, auf zwei Esel gesetzt wurden und man das Gepäck auf einen dritten lud. Rhys musste mit Toki zusammen reiten, weil beide Leichtgewichte waren.

Als Will unter dem Vorwand, einen Futtersack zu holen, in den Stall kam, fragte sie ihn: »Wird ihnen auch unterwegs nichts passieren?«

»Das wollen wir hoffen«, sagte er. Er legte den Kopf schräg. »Ihr glaubt, dass Eure Leute hier in Gefahr sind, nich?«

»Ja.«

»Erklärt Ihr mir das?«

»Später. Bringt sie nur schnell weg!«

Sein Gesicht nahm einen angewiderten Ausdruck an, was verriet, dass er etwas Nettes sagen würde. »Gefällt mir nich, Euch hier allein zu lassen.«

Oje, oje, allmählich wuchs ihr dieser trotzige Mann ans Herz. Um ihn zu beruhigen, sagte sie: »Ich kann auf mich selbst aufpassen, hast du doch gesehen.«

Er schnaubte.

»Und Will …« Adelia legte ihre Hand auf seine. »Auf der Lichtung … die beiden waren Dämonen, und du warst unbewaffnet. Du hättest nichts anderes tun können, als was du getan hast.«

Er blickte sie finster an. »Haltet bloß dieses verdammte Schwert immer schön griffbereit!«

Sie sah zu, wie sich der Reiterzug in Bewegung setzte, und betete für seine Sicherheit. Sie hatte eine Gefahr gegen die andere abwägen müssen, und Allie und die anderen von Glastonbury wegbringen zu lassen war ihr wie das kleinere Übel erschienen. Aber falls sie sich irrte, falls Wolfs Männer noch immer auf Raubzug waren …

Sie versuchte, sich zu beruhigen. Es war heller Tag, und bestimmt waren auch noch andere Reisende auf der Straße unterwegs … Himmlischer Vater, behüte und bewahre sie!

Sie fand es eigenartig, dass der Wirt und seine Frau den Gasthof verlassen hatten. Vielleicht hatte Hilda die Unterhaltung zwischen ihr und Will gehört, als er sie letzte Nacht abgeholt hatte. Verdammt.

Dennoch, sie sollte die Lage ausnutzen. Die Tür zum Hof stand offen, also ging sie mit dem Schwert in der Hand ins Haus.

Ratten huschten weg von einem schmutzigen Topf, als sie in die Küche trat. Es wimmelte von Fliegen. Ein fachmännisch angelegtes Feuer verströmte noch immer Hitze. Es roch nach abgestandenem Essen und nach sauer gewordener Milch in einer Schüssel. Normalerweise hielt Godwyn sein Reich peinlich sauber – die Unordnung ließ vermuten, dass er den Gasthof überstürzt verlassen hatte.

Sie stieß die Fensterläden auf, um etwas Luft und Licht hereinzulassen. Von einem Haken an der Decke hing ein Schinken. Sie schnitt eine Scheibe ab, warf sie weg und schnitt eine weitere ab, die unberührt von Fliegen war. Dann brach sie ein Stück altbackenes Brot von einem Laib im mit einem Netz vor Ungeziefer geschützten Vorratsschrank und zapfte sich einen Topf Ale ab. Die ganze Zeit über lauschte sie auf irgendein Geräusch, das die Rückkehr der Wirtsleute ankündigen könnte.

Sie sah sich nach einem Strick um, fand einen und band ihn sich als Schwertgurt um die Taille. Blitzartig sah sie das Bild von Wolf vor sich, wie er über die Lichtung auf sie zukam, und zugleich dachte sie: Du hast einen Menschen getötet.

Gott, sie war müde; sie würde ein anderes Mal darüber nachdenken. Sie nahm ihre Beute mit zurück in den Stall, trug sie nach oben auf den Heuboden und machte es sich hinter einem Strohballen bequem, sodass sie vom Eingang aus nicht zu sehen war.

Wenn Rowley kam, dachte sie, würde er zufrieden mit ihr sein, weil sie so vorsichtig war: Es gab zwar etwas zu erledigen, aber sie brachte sich nicht selbst in Gefahr, indem sie die Sache allein anging. Gähnend fragte sie sich, ob er wohl erraten würde, was sie vorhatte, und Bewaffnete mitbringen würde. Nützlich, aber vermutlich unnötig …

Es war so unglaublich heiß …

Es war der Schlaf der Erschöpfung, Kraft spendend und die meiste Zeit traumlos. Nur gegen Ende schritt Guinevere umringt von sich schlängelndem Grün aus einem Nebel. Wieder war die Königin weiß gekleidet, diesmal jedoch verschleiert – in keinem von Adelias Albträumen hatte sie je ihr Gesicht gezeigt. Sie war allein. Es war niemand da, um sie in der Mitte zu durchtrennen. Vögel umflatterten sie, flatterten wie ein zweiter Umhang im Wind. Einer landete auf ihrer Schulter, eine Eule, eine Schleiereule, die ihr herzförmiges Gesicht mit den schwarzen Augen Adelia zuwandte. Dann drehte sie den Kopf weg und nahm einen Zipfel von Guineveres Schleier in den Schnabel. Plötzlich wusste Adelia, dass dieses Gespenst nicht Guinevere war, es war Emma.

»Nein«, sagte Adelia zu der Eule. »Ich will es nicht sehen.«

Aber der Vogel breitete die Schwingen aus und stieg auf, sodass der Schleier in seinem Schnabel sich mit ihm hob …

Adelia wachte von ihren eigenen Schreien auf und verscheuchte hektisch Fliegen, die von ihrem Schweiß angelockt worden waren. Die Strohpolsterung machte den Heuboden zum Treibhaus. Und es war dunkel.

Dunkel? Hatte sie siebzehn Stunden Tageslicht verschlafen?

An der Rückwand des Heubodens war eine Winde, und Adelia krabbelte dorthin und stieß die dazugehörige Tür auf, um nach draußen zu schauen. Im Westen hatte eine gigantische Wolke die Sonne, so sie überhaupt noch am Himmel stand, verdunkelt, als hätte sich eine schwarze durchhängende Decke über den gesamten Horizont gebreitet. Was sich da anbahnte, würde fürchterlich werden; Blitze schossen aus der Wolke, zuckten in das ferne Sumpfland.

Ohne die Sonne konnte sie unmöglich schätzen, wie lange sie geschlafen hatte. Es könnte bereits Abend sein – und Rowley war nicht gekommen. Oder hatte sie ihn verpasst, und er war wieder davongeritten, weil er sie nicht gefunden hatte?

Ein zerrissenes Spinnennetz hing in der Windentür und erinnerte sie an das, was unter dem Schleier von Guinevere/Emma gewesen war. Ein Schwarm Gewitterwürmchen tanzte in dem Zwielicht draußen und bildete dieselbe Form, und sie wusste, dass sie verfolgt wurde, gejagt.

Sie wich zurück, kletterte hastig die Leiter hinunter und lief in den Hof.

Und das war dumm. Falls Hilda und Godwyn zurückgekommen waren, würden sie sie sehen.

Aber der Gasthof wirkte verlassen. Nichts bewegte sich in der schwülen Luft. Das Unkraut zwischen den Steinen welkte schlaff vor sich hin. Kein Vogel war mehr am Himmel, als wären alle vor dem, was da nahte, geflohen. Im Westen ertönte lang anhaltendes Donnergrollen.

Sie hätte gern einen Eimer Wasser aus dem Brunnen hochgezogen, um etwas zu trinken und sich den Rest über den Körper zu schütten, doch sie schreckte vor dem Lärm zurück, den die Kette machen würde. Deshalb ging sie zur Gasthoftür hinüber und schob sie vorsichtig auf, verzog das Gesicht, als sie laut in den Angeln quietschte.

Niemand kam.

Drinnen war es dunkel. Alle Hitze der Welt schien sich hier zu bündeln wie in einer Eiterblase.

Warum war Rowley nicht gekommen? Allie und Gyltha und Mansur hatten ihn nicht erreicht, deshalb. Sie lagen tot im Wald. Allies kleine Hände auf der Brust gefaltet; sie sah sie vor sich.

Reiß dich am Riemen! Höchstwahrscheinlich war der Bischof unterwegs gewesen, als sie ankamen, bei irgendeiner Versammlung oder bei der Taufe eines Neugeborenen, jedenfalls mit göttlichen Angelegenheiten befasst, niemals mit ihren, niemals mit ihren. Oder er hatte einfach beschlossen, sich nicht drum zu kümmern.

Zum Teufel mit dir!, dachte sie. Dann mache ich mich eben ohne dich auf die Suche.

Es war unwahrscheinlich, dass sie in der Küche auf die Beweise stoßen würde, nach denen sie suchte, also ließ sie die Ratten ungestört und ging den Flur hinunter zum Gästesaal.

Etwas Licht fiel durch die Küchendurchreiche und warf Schatten auf den großen Tisch. Am hinteren Ende saß jemand in dem großen Sessel mit einem hohen Hut auf dem Kopf.

Adelia schluchzte auf und schnappte nach Luft, sah dann erneut hin. Es war kein Hut, es war kein Kopf: Es war Allies Vogelkäfig, den irgendwer auf die Rückenlehne des Sessels gestellt hatte. Sie ging am Tisch entlang, nahm den Käfig und wiegte ihn einen Moment in den Händen, ehe sie ihn wieder abstellte, um die Schränke im Raum zu durchsuchen. Teller in einem, Zinnkrüge in einem anderen. Kerzenhalter und Kerzen, eine Kiste mit scharfen Essmessern. Sonst nichts, wenngleich sie bei dem Licht schlecht sehen konnte.

Sie ging in die Küche, trat einmal fest auf, um die Ratten zu verscheuchen, pustete in die Asche der Feuerstelle und entzündete eine Kerze. Die Flamme verdichtete die Schatten außerhalb ihres Lichtkreises, sodass Adelia auf dem Weg die Treppe hinauf gegen das Gefühl ankämpfen musste, dass jemand mit ihr ging.

Godwyn und Hildas Zimmer war karger als die Zimmer der Gäste. Wohin sie auch immer gegangen waren, sie trugen jedenfalls die Kleidung, die sie am Morgen angezogen hatten, denn eine kleine Truhe enthielt ordentlich gefaltete Tuniken, Röcke, Mieder, Hosen und etliche saubere Schürzen, allesamt zum Schutz gegen Motten mit Poleiminze bestreut.

Adelia zuckte zusammen, als sie eine menschliche Gestalt hinter der Tür erspähte, doch bei genauerem Hinsehen waren es nur zwei Umhänge, die an einem Haken hingen. Sie sah einen Wasserkrug und eine Schüssel, beides leer, neben einer Untertasse mit Seifenkraut. Auf einem Holzbrett bemerkte sie ein Rasiermesser, Kämme und etliche Töpfe, die sie alle öffnete, ohne etwas anderes zu finden als Arzneien. Eine Flasche enthielt eine beißend riechende Tinktur aus Klettenwurzeln, was vermuten ließ, dass mindestens einer der Eheleute unter Verdauungsproblemen litt. Wahrscheinlich Godwyn, dachte Adelia in Erinnerung an die ständig leicht gequälte Miene des Wirtes.

Sie kniete sich hin, um unter das Bett zu spähen, wo sie aber nur einen Nachttopf entdeckte. Sie wendete die Strohmatratze und untersuchte die Streben, auf denen diese lag. Sie klopfte jede Bodendiele ab, um festzustellen, ob sich darunter ein Hohlraum verbarg.

Nichts. Eine völlig harmlose Kammer.

Der Gemeinschaftsraum, in dem ärmere Gäste dicht an dicht schlafen mussten, war gefegt worden und leer bis auf ein großes Bettenpodest, von dem das Stroh entfernt worden war, und eine riesige Truhe mit dem Bettzeug des Gasthofs, die angenehm duftete, weil verstreut zwischen den Laken getrocknete Rosmarinnadeln und Salbeiblätter lagen.

Das Zimmer, das sie mit Allie bewohnt hatte, war nebenan, und als Adelia hineinging, hoffte sie wider besseres Wissen, dass Gyltha beim Packen irgendwas übersehen hatte, das sie anziehen könnte. Die Kleider, die sie am Leib trug, hatten im Wald arg gelitten.

Natürlich war nichts mehr da. Gyltha hatte nicht mal eine Nähnadel vergessen. Aber immerhin war der Krug neben der Waschschüssel noch mit Wasser gefüllt …

Eine Tür draußen auf dem Flur knallte, als hätte jemand sie zugeschlagen. Es war die Tür zu Mansurs und Gylthas Zimmer. Sie ging nachsehen. Der Wind konnte es nicht gewesen sein. Es gab keinen Wind.

Doch, es gab Wind. Das Gewitter trieb eine leichte Brise vor sich her, die auf dem Flur für einen Luftzug sorgte.

Adelia hastete zurück in ihre Kammer und verriegelte die Tür. Was auch immer da draußen war, falls etwas da draußen war, sie konnte ihm besser sauber entgegentreten – oder noch lieber ihm gar nicht entgegentreten und sich hier in eine Ecke verkriechen.

Zitternd zog sie sich aus, schrubbte und wusch sich wie verrückt, bewahrte noch ein wenig Wasser für ihr Haar, das sie zu einem Zopf flocht – ihr Kopftuch wieder anzulegen lohnte sich nicht, da es im Wald von Ästen ganz zerfetzt worden war.

So. Falls sie getötet wurde, wäre sie nun zumindest ein sauberes Opfer. Aber dann, während sie sich wieder ankleidete, dachte sie: Du Närrin, du hoffst noch immer, dass Rowley kommt.

Sie riss die Riegel zurück und ging, in einer Hand die Kerze, in der anderen den Griff des Schwertes, das in dem Strick um ihre Taille steckte, auf die Tür zu, die zugefallen war. Das Schloss war nicht eingerastet, und die Tür bebte in dem Luftzug, der inzwischen stärker geworden war. Erste Regentropfen prasselten wie Körner auf das Dach des Gasthofes. Irgendwo klapperte ein loser Fensterladen.

»Ich warne dich, ich bin bewaffnet«, rief sie und trat die Tür auf. Im selben Moment fegte ein Windstoß von einem Flurfenster zum anderen und blies ihre Kerze aus.

Nein. Nein, so mutig bin ich nicht.

Als sie zur Treppe hastete, brach das Unwetter los. Donner ließ den Himmel zerbersten. Die Vordertür des Gasthofs stand auf, Regen trieb herein. Blitze zuckten, und in dem gleißenden Licht sah Adelia die Umrisse einer Kapuzengestalt, die unten nass und schimmernd auf die Treppe zueilte, die Arme weit ausgebreitet wie eine Vogelscheuche.

 

»Ich wollte dich auffangen«, sagte Rowley. »Ich dachte, du fällst die Treppe runter.«

»Wär ich auch fast«, entgegnete Adelia. Sie saß noch immer auf einer Stufe, weil sie vor lauter weichen Knien von dem Schreck nicht stehen konnte. »Ist Allie gut angekommen?«

»Und Gyltha. Und Mansur. Alle offenbar in dem Glauben, dass du sie erwartest. Ich hab ihnen gesagt, sie sollten bleiben, und ich würde mich hier um alles kümmern. Vielleicht hättest du die Güte, mir zu erzählen, worum ich mich eigentlich kümmern soll.«

Sie mussten beide schreien, um sich bei dem lärmenden Gewitter verständigen zu können. Vor der noch immer offenen Tür klatschte der Regen auf die Steine im Hof, als würde ein Riese am Himmel gigantische Eimer Wasser auskippen.

Rowley holte eine Flasche hervor und reichte sie Adelia, ehe er seinen ledernen Kapuzenumhang abnahm, ihn nach draußen hin ausschüttelte und dann die Tür schloss.

»Verriegle sie!«, sagte Adelia.

Er hob eine Augenbraue, tat aber wie geheißen.

Sie nahm einen kräftigen Schluck Branntwein, von dem sie husten musste. Aber danach fühlte sie sich besser. Jetzt, wo Rowley da war, würde sie mit allem fertig werden.

Er nahm eine Laterne, und sie gingen in den Gästesaal, wo sich beide vorsichtshalber dafür entschieden, einander gegenüber am Tisch Platz zu nehmen. Er wurde huldvoll: »Nun, mein Kind?«

Nenn mich nicht so!, dachte sie. Aber sie war zu froh über sein Kommen, um den alten Streit wiederaufleben zu lassen. Sie erzählte ihm von ihrem Ausflug in den Wald, wer dort begraben lag, was dort geschehen war. »Verstehst du … Ach Rowley, ich habe einen Menschen getötet.«

»Gut.«

Sie schüttelte unglücklich den Kopf. »Bewundere mich nicht auch noch dafür!«

»Warum nicht? Was hättest du denn sonst tun sollen? Der wollte diesen Alf aufspießen und dich anschließend vergewaltigen …« Er verfiel wieder ins Bischöfliche. »Möchtest du, dass ich dir die Beichte abnehme, mein Kind?«

»Nein, möchte ich nicht«, knurrte sie. »Ich erzähle dir das als Freund.« Sie zeigte ihm das Schwert. »Es war fast so, als hätte es von allein gehandelt.«

»Wo in Gottes Namen hast du denn das alte Ding her?«

»Einerlei.« Sie hatten Wichtigeres zu besprechen. Sie erzählte ihm, was sie von Wolfs Überfall wusste, von der Rolle, die die verwitwete Lady Wolvercote dabei gespielt hatte, und was, wie sie vermutete, mit Emma, Pippy und Roetger nach ihrer Flucht passiert war.

Sie musste laut sprechen, um den prasselnden Regen draußen zu übertönen, zuckte zusammen, wenn ein Blitz die Ritze in den Fensterläden erhellte, verstummte ganz, wenn der Donner grollte.

»Es geht um Gestalten, verstehst du?«, sagte sie. »Vorstellungen. Die drei wurden zuletzt gesehen, als sie mit dem Trosswagen aus nackter Angst um ihr Leben in diese Richtung flohen. Ich glaube, sie haben den Gasthof hier gesehen, das einzige Gebäude an der Straße, und hier Schutz gesucht.«

»Könnte so gewesen sein, gut möglich«, sagte der Bischof skeptisch.

Wieder unterdrückte sie ihren Ärger. Verdammt, glaubte er ihr etwa nicht? Sah er denn dieses arme Trio nicht so klar und deutlich, wie sie es sah, sah er nicht, wie es verzweifelt an die Tür des »Pilgrim Inn« hämmerte und um Einlass flehte?

Sie sprach verbissen weiter. »Hilda und Godwyn waren von dem Boten des Königs drei Gäste angekündigt worden: ein ausländischer Mann, der die Skelette im Friedhof der Abtei untersuchen würde, eine Lady und ihr Kind. Und da standen sie plötzlich vor der Tür, Master Roetger, der Fremde, Emma und Pippy. Sie passten genau zu den erwarteten Gestalten.«

»Und?«

»Und …« Adelia holte tief Luft. »Ich glaube, sie haben sie ermordet.«

»Was?«

»Sie ermordet. Die Umstände waren ideal. Die drei kamen ohne Schutz an, niemand wusste überhaupt, dass sie eingetroffen waren …«

»Ohne Schutz, Frau? Emma hatte einen meisterlichen Schwertkämpfer bei sich.«

»Sie hatte auch ein Kind. Ich behaupte ja nicht, dass sie auf der Stelle getötet wurden. Wahrscheinlich wurden sie hereingebeten, bewirtet, beruhigt. Aber mit einem Kind bist du einfach verwundbar.« Wütend wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Ihr selbst war das einmal bei einer Ermittlung so ergangen, als Allie noch ein Säugling war. Sie hatte sich widerspruchslos in ihr Schicksal ergeben und wäre fast dabei umgekommen, weil ein Mörder gedroht hatte, andernfalls ihre Tochter zu töten.

Sie sagte: »Es hätte genügt, wenn Godwyn irgendwann Pippy gepackt und mit einem Messer herumgefuchtelt hätte. Dann hätten Emma und Roetger alles getan, was man von ihnen verlangte. Deshalb wollte ich, dass Allie von hier weggebracht wird. Schon ein Mensch mit einer Waffe reicht.«

»Warum, um alles in der Welt, sollte irgendwer so etwas tun?«

»Es hängt mit den Skeletten in der Abtei zusammen. Wenn nachgewiesen wird, dass sie nicht Arthur und Guinevere sind, leiden die Geschäfte der Abtei. Und auch die des ›Pilgrim Inn‹.«

»Dann haben sie also drei Menschen die Kehle durchgeschnitten? Du phantasierst, mein Kind. Godwyn ist ein einfacher Gastwirt, Herrgott noch mal. Ein schwächlicher kleiner Mann. Gastwirte laufen nicht rum und murksen ihre Gäste ab. Jedenfalls nicht absichtlich, obwohl ich zugeben muss, dass ich schon so manchen Fraß vorgesetzt bekommen habe, von dem …«

Adelia knirschte mit den Zähnen. »Ein schwächlicher kleiner Mann, der in Ohnmacht gefallen ist, als Mansur, Allie und ich hier ankamen. Weil ihm da klar geworden ist, dass er die Falschen getötet hat.« Sie beugte sich vor. »Rowley, ich weiß es. Wie kommt Emmas Maulesel oben auf die Weide der Abtei? Hilda und Godwyn haben Emmas Hab und Gut verkauft, nachdem sie tot war – Pferde, Wagen, Kleidung, Geschmeide. Deshalb war ich vorhin, als du angekommen bist, gerade dabei, nach irgendwas zu suchen, was aus ihrem Besitz stammt.«

Er kippelte seinen Stuhl nach hinten. Die Laterne auf dem Tisch zwischen ihnen warf das Licht von unten auf sein Gesicht, betonte die Wangenknochen und verdunkelte die Augenhöhlen. Er war immer ein kräftiger, beleibter Mann gewesen – in seinen ersten Jahren als Bischof war er fast feist geworden wegen der vielen klerikalen Festessen und Bankette. Jetzt jedoch war er schlanker, als sie ihn je gesehen hatte. Es stand ihm gut. Aber, verdammt, er war selbstgefällig geworden, ein Alleswisser. Das macht die Macht wohl mit einem, vermutete sie. Zu viel »Jawohl, Mylord Bischof« – »Nein, Mylord Bischof«.

»Und hast du was gefunden?«, fragte er, ihrer Antwort gewiss.

»Nein.«

Adelia stand auf. Sie konnten die ganze Nacht hier hocken bleiben, während sie ihm ihre Theorie vortrug und er sie in Zweifel zog. Nun, sie zumindest hatte das nicht vor. »Komm, du kannst mir suchen helfen.« Sie nahm die Laterne.

Mit einem schweren Seufzer folgte er ihr.

Als sie die Treppe hinaufgingen, fiel ihr plötzlich wieder die Tür zu Mansurs und Gylthas Zimmer ein. »Könnte sein, dass da jemand drin ist«, sagte sie und deutete darauf. Jetzt konnte sie mutig sein.

»Ein Gastwirt im Blutrausch?« Er zog dramatisch sein Schwert. »Er gehört mir. Ich werde den Schurken durchbohren.«

Sie hielt die Laterne so, dass sie beide etwas sehen konnten, während sie hinter ihm ins Zimmer trat. Ein zuckender Blitz und ein fast gleichzeitiger Donnerschlag ließ sie zusammenfahren – und eine Gestalt unters Bett schlüpfen. Sie hörten sie stöhnen.

Adelia wurde vor Erleichterung ganz matt. »Millie, ich bin’s. Hab keine Angst! Ich bin es. Und dieser Herr ist ein Freund.« Dann fiel es ihr wieder ein. Warum versuchte sie, das Mädchen mit Worten zu beruhigen, wenn es sie nicht hören konnte?

Sie bedeutete Rowley, sein Schwert wieder in die Scheide zu stecken, trat vor und ließ das Licht der Laterne auf Millies verängstigtes Gesicht fallen.

Sie führten das Mädchen nach unten in den Gästesaal, wo Rowley ihr Branntwein verabreichte. »Sie kann den Donner nicht hören, sagst du?«

»Ich glaube nicht. Aber sie hat vor irgendetwas Angst, das arme Kind. Sie weiß …« Sachte nahm Adelia das Gesicht des Mädchens in beide Hände und formte lautlos mit den Lippen: »Millie, was ist … mit der Lady passiert … die hier war … mit ihrem kleinen Sohn? Ach, das hat keinen Sinn.« Sie drehte sich zu dem Tisch um und malte mit dem Finger drei Figuren in die feine Staubschicht auf der Platte – eine große mit einem Schwert in der Hand, die einer Frau und schließlich ein Kind.

»Diese drei, Millie«, sagte sie flehend und zeigte darauf. »Sie waren hier. Was ist aus ihnen geworden?«

»Sie wird’s dir nicht erzählen, selbst wenn sie könnte«, sagte Rowley. »Sie wird ihre Dienstherren schützen.«

»Das glaube ich nicht, die schlagen sie nämlich. Oh, sieh doch …«

Verständnis dämmerte in Millies Augen. Sie nickte, zog mit einem Finger einen Strich unter Adelias Zeichnung, stand auf und winkte ihnen. Sie folgten ihr zur Hoftür, wo sie die Riegel zurückzog, einen Moment vor dem strömenden Regen zurückschreckte und dann hinüber zum Stall lief. Adelia und Rowley rannten hinterdrein.

Das Gewitter hatte Rowleys Ankunft übertönt. Er hatte zuallererst sein Pferd in den Stall geführt und versorgt. Jetzt tänzelte es aus Furcht vor dem Donner nervös in seiner Box.

Rowley ging hin, streichelte ihm den Kopf und beruhigte es. »Ganz ruhig, alter Junge, ganz ruhig, ist doch nur Krach!« Doch sein Blick folgte Millie, die zu einem Holzstapel neben der Tür gegangen war und Scheite beiseitewarf, um an irgendetwas darunter heranzukommen.

Mit heftigem Nicken zog sie ein gebogenes, offensichtlich abgebrochenes Holzteil aus einem Haufen anderer, die so ähnlich aussahen, und sah Adelia gespannt an, als sie es ihr reichte.

»Was ist das?«, fragte Rowley.

Es war ein kunstvoll verarbeitetes Stück Eichenholz. »Ein Teil des Bügels von Emmas Trosswagen«, sagte Adelia. »Es hat die Plane abgestützt. Sie haben den Wagen zu Feuerholz verarbeitet. Das sind alles Teile davon.«

Nicht weinen, sagte sie sich. Du wusstest es doch. Aber trotz allem hatte sie gehofft, dass sie sich irrte.

»Aber warum, um Himmels willen?« Rowley begann, ihr zu glauben. »Warum sollten sie sie umbringen?«

»Aus Habgier. Oh Gott, Rowley, der kleine Junge. Er war Emmas Ein und Alles.«

Millie sah noch immer zu ihnen hoch, hielt drei Finger einer Hand und bewegte die andere im Bogen darüber, damit sie auch wirklich verstanden: drei Menschen in einem abgedeckten Wagen.

Adelia nickte und bewegte lautlos den Mund: Wo sind sie?

Millies Gesicht nahm einen wilden Ausdruck an. Was geschehen war, war falsch gewesen, falsch, und jetzt konnte sie es aufdecken. Sie stand auf, zerrte Adelia zurück zum Gasthaus. Rowley folgte ihnen, platschte durch knöcheltiefes Wasser. Der Regen wurde immer noch heftiger, und der Abfluss im Hof konnte das Wasser nicht mehr aufnehmen.

Millie lief in die Küche. Sie zeigte auf ein großes Fass in der Ecke und begann, daran zu ziehen. Es war zu schwer für sie.

Rowley stellte die Laterne ab und half ihr. Das Fass ließ sich bewegen, doch der unterste Fassreif blieb an irgendwas hängen, und um es zu befreien, mussten sie es umkippen und wegrollen.

Darunter kam ein Griff zum Vorschein, der in eine der Steinplatten des Küchenbodens eingelassen war.

»Scheiße«, sagte Rowley.

Millie hielt wieder drei Finger hoch, die Zähne vor verzweifelter Aufregung gebleckt, dann zeigte sie auf die Steinplatte. »Gott steh ihnen bei«, sagte Adelia leise. »Sie sind da unten.« Ein Blitz zuckte, und mit ihm flackerte Hoffnung auf. »Heb sie hoch, schnell, schnell! Vielleicht leben sie noch, als Gefangene.«

Es war eine schwere Platte. Rowley musste sich anstrengen, um sie anzuheben und zur Seite zu wuchten. Die Luft, die aus dem Loch entwich, roch dumpf und leicht nach Alkohol – aber nicht nach Verwesung, wie Adelia gefürchtet hatte.

Rowley kniete sich hin. »Ist dort unten wer? Emma? Hallo.« Er drehte den Kopf zur Seite, aber nur das Prasseln des Regens war zu hören und ein Donnerschlag, der die Wände der Küche erbeben ließ. »Da sind Stufen«, sagte er.

»Natürlich sind da Stufen, es ist schließlich ein Keller«, sagte Adelia. »Gib mir die Laterne!«

»Ich finde, wir sollten zunächst eine kleine Stärkung zu uns nehmen.« Im Knien holte Rowley seine Flasche hervor, hielt sie Millie hin, die einen Schluck trank und an Adelia weiterreichte. Die jedoch schüttelte ungeduldig den Kopf und gab sie Rowley zurück.

Er nahm einen kräftigen Zug. Es widerstrebte ihm, in das Loch hinabzusteigen, begriff sie – in engen Räumen hatte er sich schon immer unwohl gefühlt.

Sie nahm die Laterne und wollte ihn beiseiteschieben, doch er riss sie ihr aus der Hand – »Ich geh ja schon, ich geh ja« – und stieg die Stufen hinunter.

»Sei vorsichtig, Rowley!«, rief sie ihm ängstlich hinterher. »Könnte sein, dass Godwyn sich da unten versteckt.« Aus Angst, es könnte dort unten zu Gewalttätigkeiten kommen, drehte sie sich zu Millie um, schüttelte den Kopf und bedeutete ihr mit einer erhobenen Hand, nicht mitzukommen. Bleib hier.

Rowleys Stimme drang hallend herauf. »Keiner hier, aber das ist nicht bloß ein Keller, von hier geht ein Gang ab. Pass auf, wenn du runterkommst, Frau, die Stufen sind schlüpfrig.« Vorsichtig folgte sie ihm nach unten. Er hatte recht, die Treppe war glitschig und sehr steil.

Sie war in einem großen Keller, der teilweise als Lagerraum für zusätzliche Tische und Bänke genutzt wurde, manche davon reparaturbedürftig. Größtenteils jedoch barg er Ale-Fässer, und sie fragte sich, wie man die die Treppe hinauf- und hinuntergetragen hatte, doch dann bemerkte sie eine Rutsche mit einer Luke am oberen Ende, die sich vermutlich zum Hof hin öffnete, damit der Bierkutscher bequem neue Fässer anliefern konnte.

Am anderen Ende stand Rowley, das Schwert in der einen, die Laterne in der anderen Hand, und spähte in ein Loch in der Mauer. Er kam zu ihr, blieb am Fuß der Treppe vor einem Regal stehen, das mit unterschiedlich großen Weinflaschen gefüllt war, und inspizierte sie. »Glasflaschen«, sagte er verwundert und nahm eine heraus. »Das ›Pilgrim Inn‹ verwöhnt seine Gäste.«

Oder bringt sie um. Doch bis jetzt gab es keine Spur, die darauf hindeutete, dass hier ein Mord geschehen war.

Adelia wandte sich um und sah, dass Millie ängstlich zu ihr herunterstarrte. Sie signalisierte dem Mädchen, dass sie und Rowley weitergehen würden.

Ein Schlag ertönte, diesmal kein Donner, nicht so laut, aber trotzdem brutal. Millies Augen wurden glasig, und ihr Körper fiel über das Loch. Adelia wollte die Treppe hoch zu ihr eilen. Sie sah noch einen Arm, der Millie an den Haaren wegschleifte, ehe die Steinplatte oben am Eingang zur Treppe auf die Öffnung knallte.

»Rowley! Oh Gott, Rowley, die haben Millie getötet. Die sperren uns ein.«

Die Flasche, die er in der Hand gehalten hatte, zerplatzte laut auf dem Boden. Er stieß Adelia beiseite, gab ihr die Laterne und sprang die Treppe hinauf, um die Platte hochzudrücken.

Sie hörten beide das Schaben, als das Fass wieder darübergeschoben wurde.

Er stemmte sich dagegen. »Verflucht, da rührt sich nichts vom Fleck.« Er kam wieder nach unten. »Hier lang! Wir kriechen über die Rutsche nach draußen.« Er begann, auf allen vieren die Rutsche hinaufzuklettern, um am oberen Ende die Luke zum Hof zu öffnen.

Wieder hörten sie ein Schaben, als etwas Schweres darübergeschoben wurde. Fluchend, schreiend stemmte Rowley sich gegen die Luke, wieder und wieder. Sie bewegte sich nicht.

Nach einer Weile ließ er sich wieder nach unten rutschen. Dann raffte er sich auf und lächelte sie an. »Nun, meine Liebe, dann müssen wir eben den Gang dort erkunden, und zwar schnell, ehe die Kanaillen auch diesen Ausgang blockieren.«

Er nahm die Laterne und schob sie unablässig redend auf das Loch in der Kellerwand zu. »Das ist das Schöne an unterirdischen Gängen – sie haben zwei Enden. Wundert mich nicht, dass es hier einen gibt. Todsicher kommt der irgendwo auf dem Gelände der Abtei raus. Äbte haben immer eine Möglichkeit, um vor Eindringlingen zu fliehen oder vor ihren eigenen verdammten Mönchen. Und ich wette, dass Bruder Titus hier so manches Mal durchgeschlichen ist, um sich am Ale zu bedienen …«

»Hilda hat Millie niedergeschlagen«, sagte Adelia. »Ich hab ihren Ärmel gesehen.«

»Daran können wir im Moment nichts ändern.« Er zog sie hinter sich her und trat in den Gang.

Die Öffnung war recht groß, aber falls Bruder Titus den Tunnel regelmäßig benutzt hatte, war seine massige Gestalt ordentlich gequetscht worden, denn fast augenblicklich wurde der Gang schmaler und niedriger, bis ihnen höchstens noch vier Fuß im Quadrat Bewegungsraum blieben, und kein Ende war absehbar. Sie mussten sich tief bücken, Rowley kroch beinahe, und schließlich musste Adelia die Lampe nehmen und sich an ihm vorbeidrücken, um die Führung zu übernehmen. Etwa alle dreißig Schritte weitete sich der Gang zu einer Nische, was Adelias geplagtem Rücken eine dringend benötigte Erholungspause ermöglichte. Rowley jedoch nutzte sie nicht. »Weiter, weiter, Frau! Mach hin!« Er keuchte. Ebenso wie sie.

Wer auch immer den Tunnel gebaut hatte, er war ein geschickter Handwerker gewesen: gewölbte Steine umschlossen sie von beiden Seiten. Adelia, die den Kopf gesenkt hielt, sah wenig mehr als den Schlamm auf dem Boden, durch den ihre Stiefel platschten.

Wie weit? Gott, wie weit noch? Sie hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Ihr eigener Atem schnürte ihr die Kehle zu. Sie hechelte nach der frischen Luft, die irgendwo über ihr war, unter einem Himmel, der kein Interesse an den armen Mäusen hatte, die durch ihre unterirdische Röhre huschten.

Irgendwann meinte sie, Schritte zu hören, und stellte sich vor, es wären die von Godwyn oder Hilda, die zum anderen Ende des Ganges eilten, um ihnen auch diese Öffnung zu versperren, aber es war das Pochen ihres eigenen Herzschlags in den Ohren. Wir sind zu tief unter der Erde, um irgendwas anderes zu hören, dachte sie, wieder mit dem Gefühl zu ersticken. Sie wurde langsamer, und prompt stieß Rowley mit dem Kopf gegen sie. Durch den Aufprall rutschte ihr die Laterne aus der Hand und wäre fast zu Boden gefallen, wenn sie nicht nachgefasst hätte, doch dabei verbrannte sie sich die Finger. Großer Gott, ohne Licht hier unten zu sein …

In der nächsten Nische verharrte sie und setzte sich hin, um zu verschnaufen. Sie reckte den Rücken und lutschte an den verbrannten Fingern. Rowley starrte sie an. »Weiter, Frau, weiter!«

»Geh du voran«, sagte sie. »Ich muss mich ausruhen.«

Er ließ sich neben sie sinken – die niedrige Decke des Ganges hatte ihm mehr zugesetzt als ihr. Er betrachtete die Kerze in der Laterne, die schon beängstigend heruntergebrannt war. »He, was ist das denn?«

Er saß auf irgendwas und holte es hervor – eine schlichte Kiste aus rohem Holz, die mit Stift und Haspe verschlossen war. »Ich glaube, jetzt wissen wir, wo die Wirtsleute ihre Schätze verwahren.«

Sie nahm die Kiste. Etwas klapperte darin. Vielleicht enthielt sie irgendwas von Emmas Habe. Aber Haspe und Stift waren völlig verrostet und ließen sich nicht bewegen.

Rowley wurde ungeduldig. »Sollen wir hier seelenruhig sitzen bleiben und kucken, was da drin ist? Weiter, Frau!«

Sie hielt die Kiste an sich gepresst und folgte ihm wie Eurydike, die hinter ihrem Orpheus hereilte, doch ihr fiel ein, dass Eurydike letztlich dazu verdammt war, in der Unterwelt zu bleiben und nie mehr das Licht des Tages zu erblicken.

Es dauerte zu lange. Falls dieser bestialische Tunnel überhaupt ein Ende hatte, dann waren Godwyn und Hilda längst dort und begruben sie bei lebendigem Leibe, so wie sie Emma, Pippy und Roetger begraben hatten.

»Was ist?« Rowley fluchte vor ihr.

»Ich hab mein vermaledeites Schwert in diesem vermaledeiten Keller vergessen. Ich hatte es weggelegt und eine Flasche aus dem Regal genommen.«

»Ich habe meins.« Sie war versucht gewesen, es wegzuwerfen. Das verdammte Ding hing an dem Strick um ihre Taille und schlug ihr andauernd gegen die Beine.

»Das verdammte rostige Ding nützt uns nichts.«

Es hat einen Menschen getötet, dachte sie. Gott, lass mich jetzt nicht daran denken.

Bislang hatten sie zumindest keinerlei Anzeichen dafür gefunden, dass die drei Vermissten je hier unten gewesen waren. Hatte Millie sie belogen? Nein. Oder wenn doch, so war sie dafür bestraft worden – das Mädchen hatte seine Bewusstlosigkeit nicht gespielt, die war echt gewesen. Es war von dieser Wahnsinnigen niedergestreckt worden wie ein kleines Bäumchen von einer Axt.

Eine Wahnsinnige. Da oben. Die sie hier unten einsperrte.

Adelia begann, im Rhythmus ihrer platschenden Schritte zu beten: »Allmächtiger Vater, errette uns! Errette uns, allmächtiger Vater, in Deiner großen Güte, errette uns!« Sie betete zu einem Gott, der für sie wie von selbst den jüdischen und christlichen Glauben ihrer Zieheltern und auch etwas von Mansurs Allah spiegelte.

Als Kind war es für sie ganz selbstverständlich gewesen, dass der Glaube dieser drei von ihr geliebten frommen Menschen, die einander so schätzten, an dieselbe Gottheit gerichtet war. Und auch jetzt, während sie unter Schmerzen vorwärtsstolperte und schluchzend nach Luft rang, konnte sie nichts anderes denken. Theologie war ihr gerade ebenso fern wie nahezu jeder klare Gedanke. Für sie zählte jetzt nur noch ein Flehen um Hilfe, das durch die Erde hinauf zu den Sternen gerichtet war: Errette uns!

Alles Licht war gestorben bis auf das der Laterne, die an Rowleys Hand vor ihr über den Boden schleifte. Hilfe beschränkte sich auf den Rand seines Umhangs, an dem sie sich festhielt. Plötzlich stand das Bild seines nackten Körpers im Bett so klar vor ihren Augen, dass sie jähes Begehren empfand, und falls das in diesem verzweifelten Moment gotteslästerlich war, dann konnte sie es nicht ändern, denn hier, in tiefster Not, war es zu süß, um es aufzugeben. Ich habe ihn geliebt, er hat mich geliebt, und das heißt was, bei Gott, das heißt was.

Als hätte dieser Gedanke Kraft, hob sich die Decke allmählich, sodass ihr Mann sich aufrichten konnte und sie sich mit ihm. Jetzt stieg der Gang an und endete schließlich an einer Treppe, die zur Decke führte. Rowley sprang die Stufen so schnell hinauf, dass ihr sein Umhang aus der Hand gerissen wurde.

Adelia, die mit plumperen Schritten folgte, bemerkte erst jetzt, wie schwer ihre Röcke an ihr herabhingen. Vor lauter Erleichterung, das Ende des Ganges erreicht zu haben, hatte sie nicht darüber nachgedacht, was es bedeutete, dass sie auf dem letzten ansteigenden Stück durch knöcheltiefes Wasser gewatet war.

Über ihr flackerte die Kerze der Laterne. Eine zittrige Sekunde lang sah sie sie flattern wie eine Motte, dann erlosch sie.

Die Dunkelheit danach war unbeschreiblich. Selbst in einer mondlosen Nacht gab es immer irgendwo einen Widerschein, an dem sich das Auge festhalten konnte. Das hier war die Negation von Licht, die Abwesenheit von allem, in der sie das nutzlose Echo ihres eigenen Wimmerns zittrig verklingen hörte, als käme es von jemand anderem.

Dann hörte sie ein Kratzen und einen blechernen Klang, gefolgt von einem wütenden Schwall Obszönitäten aus dem Munde des Bischofs von St. Albans. »Was machst du?«, kreischte sie.

»Da oben ist Metall. Eine Luke oder irgendwas, jedenfalls aus Metall. Was meinst du denn wohl, was ich mache? Ich versuch, das Scheißding aufzukriegen.«

»Taste nach einem Riegel!«

»Oh, vielen Dank, werte Doktorin. Das hab ich schon. Da ist keiner. Entweder das Scheißding sitzt einfach fest, oder auf der anderen Seite ist eine Art Griff, an dem man es hochziehen kann. Ich schlag dagegen – vielleicht hört uns irgendwer.«

Niemand wird uns hören. Adelia löste hastig das Schwert, das an ihrer Seite hing, und hob es hoch, bis es gegen Rowleys Stiefel stieß. »Versuch’s damit.«

Sie spürte, wie ihr eine tastende Hand die Waffe abnahm. Ein dröhnendes Klirren ertönte, als Metall auf Metall traf. Das war besser. Aber wer war da oben, der sie hören könnte? Nur das Ehepaar, das sie begraben hatte – die würden die Luke bestimmt nicht hochheben.

Adelia hielt sich die Ohren zu, weil das dröhnende Hämmern in ihrem Kopf widerhallte. Zwischen den einzelnen Schlägen schrie Rowley immer wieder hallo und fluchte, bis sie dachte, er würde verrückt – oder sie. Sie ertastete die Stufen mit der Hand und stieg höher, bis sie sein Bein berührte. »Lass mich mal!«

Er zog sie neben sich hoch, und sie merkte, dass sie noch immer die Kiste aus der Nische an sich gedrückt hielt. Sie ließ sie fallen und hob die Arme, stieß gegen Metall. Sie glitt mit den Fingerspitzen daran entlang – eine Kuppel aus Eisen. Sie war völlig glatt, es gab keinerlei Vorsprung, der auf irgendeine Art von Verriegelung auf dieser Seite hindeutete.

»Siehst du?« Rowley schubste sie beiseite und setzte seine Attacke fort. Aber das war es ja gerade: Sie konnte nicht sehen. Augen waren nutzlos. Es gab nur noch Tastsinn und Gehör – und Entsetzen.

Schließlich erschien ihr der Lärm unerträglich. Sie streckte die Hand aus, um seinen Arm zu fassen, fand ihn und hielt ihn fest. »Lass uns zurück in den Keller gehen!«

Schon der Gedanke, dass sie sich auf dem Rückweg durch die Finsternis kämpfen mussten … Aber in dem Keller war es geräumig, und es gab tröstliche normale Dinge wie die Ale-Fässer … und vielleicht war Millie nicht tot und konnte sie herauslassen … irgendwas.

Ihr fiel etwas ein. »Die Luke über der Rutsche für die Fässer war aus Holz, vielleicht können wir sie zerhacken und das, was daraufsteht, irgendwie von der Stelle bewegen.«

»Oder uns wenigstens zu Tode saufen.«

Dass er aufgehört hatte zu schreien und sich jetzt nur noch verdrossen anhörte, war ihr ein Trost. Sie konnte durchhalten, wenn er es konnte, aber nur, wenn er es konnte.

Auf dem Hintern, mit tastenden Füßen, rutschte sie die Stufen hinab. Als sie hörte, dass auch Rowley unten angekommen war, breitete sie die Arme aus, um sich an den rauen Tunnelwänden entlangzutasten, und begann, das Gefälle hinunterzuwaten, das sie heraufgekommen waren.

Und sie watete tatsächlich. Wasser umspülte ihre Knie. Sie ging weiter. Es stieg ihr bis zur Taille.

Benommen fragte sie sich, ob sie aus Versehen eine Abzweigung im Tunnel genommen hatte, die in einen großen Ablaufkanal führte. Aber es hatte keine Abzweigung gegeben.

Jemand sagte: »Irgendwo dringt Wasser ein, Rowley.«

Jemand anderes sagte: »Stimmt, Liebste. Wir müssen zurück.«

Sie spürte eine Hand, die über ihr Gesicht nach unten zu ihrer Schulter glitt und sie zurück zu der Treppe führte, um ihr dann bis zu dem Absatz am oberen Ende hinaufzuhelfen.

Sie klammerte sich an ihn. »Wo kommt das Wasser her? Was geht hier vor?«

»Ich kann dir sagen, was hier vorgeht …« Und dem Klang seiner Stimme nach zu schließen, spie er die Worte zwischen zusammengepressten Zähnen heraus. »Unser feiner Wirt hat die verdammte Luke über der Rutsche geöffnet. Das ist Regenwasser.«

»Regenwasser?«

»Falls dir das entgangen ist, es hat draußen geregnet. Vermutlich regnet es immer noch. Es kommt diese Scheißrutsche runter. Es hat den Keller gefüllt und flutet jetzt diesen gottverfluchten Tunnel.«

»Aber … das müsste doch Stunden dauern.«

»Liebes, wir sind seit Stunden hier unten.«

Vor ihrem geistigen Auge sah Adelia die Hügel um Glastonbury. Der strömende Regen, der nicht in die steinhart getrocknete Erde eindringen konnte, musste in zahllosen reißenden Flüssen an ihren Hängen herab auf die Hauptstraße fließen. Der Hof des »Pilgrim Inn« hatte schon völlig unter Wasser gestanden, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Und wenn die Luke geöffnet worden war, würde das Wasser die Rutsche hinablaufen …

»Ein Gutes hat die Sache«, sagte Rowleys Stimme. »Das Ale von diesem Hundsfott ist hinüber.«

»Wird es uns hier oben erreichen?«

Die Antwort war ein weiteres ohrenbetäubendes Klirren. Er schlug wieder mit dem Schwertknauf gegen die Eisenhaube.

Dumme Frage: Wie sollte er das wissen? Es würde davon abhängen, ob der Regen früh genug aufhörte. Aber, dachte sie, wir sind tot, ob er nun aufhört oder nicht. Sie waren in einem kleiner werdenden Raum umgeben von Steinen, Eisen und steigendem Wasser, alle drei luftundurchlässig. Die Luft würde schlecht werden. In Salerno hatte sie einmal an einer Leiche gearbeitet, die ihr Ziehvater für sie zum Üben gekauft hatte. Es war ein Mann gewesen, der in einen großen leeren Weinbottich gefallen war und im Fallen mit rudernden Armen den Deckel erwischt hatte, der dann über ihm zugefallen war.

»Erstickungstod«, hatte sie nach ihrer Untersuchung gesagt.

»Richtig«, hatte er gesagt. »Dergleichen geschieht, wenn Menschen in abgeschlossenen Räumen eingesperrt sind.«

»Ich weiß«, hatte sie gesagt, »aber warum? Der Bottich war riesengroß, wieso konnte er nicht weiteratmen? Was führt dazu, dass Menschen in abgeschlossenen Räumen ersticken?«

»Luftnot«, hatte er geantwortet. »Unsere Atmung braucht die Luft auf und vergiftet sie. Ich weiß nicht, wie.«

Sie würden sterben wie der Mann in dem Bottich.

»Allie!« Wieder ein qualvoller Schrei, der von jemand anderem zu kommen schien.

Das Klirren hörte auf und wurde durch Rowleys Stimme ersetzt: »Für sie ist gesorgt. Ich habe ein Testament gemacht.«

»Allie!« Ein Dokument konnte ein Kind nicht in die Arme schließen oder ein aufgeschlagenes Knie küssen oder das Verlangen nach einer Mutter stillen, die nicht mehr da war.

Wieder ein Klirren, das letzte, dann spürte sie einen Stoß, weil Rowley falsch eingeschätzt hatte, wo sie saß, und mit dem Körper gegen ihren prallte, ehe er seinen Platz an ihrer Seite fand. »Verdammt, Frau!« Heißer Atem fächelte ihr Ohr. »Das ist deine Schuld. Warum zum Teufel hast du mich nicht geheiratet?«

Sie wusste es nicht mehr. Wieso hatte sie nicht?

»In einer hübschen kleinen Burg«, sagte der Atem. »Wir hätten sie gemeinsam großziehen können. Du hättest im Sonnenzimmer munter an deinen Wandteppichen gestickt, und ich hätte ihr auf dem Übungsplatz gezeigt, wie man mit dem Schwert kämpft.«

Er wollte sie zum Lachen bringen, und merkwürdigerweise gelang ihm das auch fast, aber unter seiner Tapferkeit hörte sie den Zorn über ein verpasstes Leben.

Meine Schuld, dachte sie, meine große, große Schuld. Welchen Preis hat die Unabhängigkeit, wenn ich stattdessen Glück hätte wählen können, seines, Allies, meines? Einen zu hohen. »Ich würde mich nicht wieder so entscheiden«, sagte sie.

»Das kommt ein bisschen spät.« Wieder spürte ihre Haut seinen Atem. »Du hast mich in die Hölle geschickt, ist dir das klar? Meine Seele ist verdammt. Ich habe gesündigt, bei der Prim, der Matutin, den Laudes. Ich habe die Hostie zum Herrn erhoben und dabei in Wahrheit deinen mageren Körper gehoben. Ich habe mich gefragt: Was sehe ich in ihr? Aber du warst das Einzige, was ich sehen konnte.« Ein Seufzen. »Ich habe gegen meinen geliebten Herrn gesündigt. Der heilige Petrus wird mich wohl kaum durchs Himmelstor lassen.«

»Die Hölle wird für mich keine Hölle sein, wenn ich mit dir dort bin«, sagte sie und streckte die Arme nach ihm aus. »Wir werden gemeinsam im Feuer schmoren.«

Stimmen in der Dunkelheit, die von Liebe sprachen. Schwache Flammen, die flackernd erloschen.

Das Atmen wurde immer schwerer.

Nach einer Weile fiel sein Kopf schwer gegen ihren Hals, und als sie etwas zu ihm sagte, antwortete er nicht.

»Nein«, flehte sie ihn an. »Warte auf mich. Geh nicht ohne mich!«

Ein tiefes Knirschen erklang, und die Kuppel über ihren Köpfen hob sich langsam, als spähte ein vorsichtiger Koch in einen Topf.

Die Fäulnis der Todeskammer entwich nach oben – sie spürte sie vorbeiziehen wie einen Wind –, um von feuchter frischer Luft ersetzt zu werden.

»Gebe Gott, dass wir noch rechtzeitig kommen«, sagte jemand.

Benommen, Rowleys Körper noch immer fest an sich gedrückt, schaute sie nach oben. Das Gesicht des Abtes von Glastonbury starrte zu ihr herab, daneben das von Godwyn, und beide blickten ängstlich.

Hinter ihnen tobte Hilda. »Lasst sie da!«, kreischte sie. »Lasst sie da!« Nur die massigen Arme von Bruder Titus hielten die Frau davon ab, die Auferstehung des Paares zu verhindern, das sie zum Tode verurteilt hatte.