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Kapitel zwölf

Adelia ließ sie Rowley zuerst herausziehen, wozu die zusätzliche Hilfe der Brüder James und Aelwyn benötigt wurde. Bruder Titus war vollauf damit beschäftigt, die heulende, um sich tretende Hilda zu bändigen.

Als Adelia an die Reihe kam und durch das breite Loch herausgehoben wurde, stellte sie fest, dass sie sich in den Trümmern des ehemaligen Hauses des Abtes von Glastonbury befand, nahe der Anlegestelle der Abtei.

Die Mönche wollten sie beide sogleich zur Küche des Abtes bringen, doch Adelia verbot ihnen, Rowleys Körper zu bewegen. Sie kniete sich neben ihn, flehte ihn an, von dort zurückzukommen, wo immer er jetzt auch war, bis sie sah, dass sich Luft ungehindert durch seine Nase bewegte. Er schlug die Augen auf – sie blickten klar – und sagte ihren Namen, worauf sie nach hinten sank und ein Gebet von solcher Dankbarkeit ausstieß, dass es die Wolkenfetzen, die vor einem bleichen, gleichgültigen Mond trieben, durchdringen und höher, immer höher steigen musste, bis es den Gott der Gnade erreichte, der erneut eine Wiederauferstehung gewährt hatte.

Aelwyn und James nahmen Rowley zwischen sich und führten ihn über das verbrannte Gras zur Küche. Titus trug die noch immer kreischende Hilda hinter ihnen her. Adelia folgte zum Schluss, schwer auf den Arm des Abtes gestützt.

»Nein, nein«, sagte der, als sie ihm danken wollte. »Ihr verdankt Euer Leben diesem wackeren Mann hier.« Er legte Godwyn, der stumm neben ihnen ging, eine Hand auf die Schulter. »Sonst hätten wir gar nichts mitbekommen. Ich hatte sogar völlig vergessen, dass es diesen unterirdischen Gang überhaupt gibt. Er wurde vor langer Zeit von einem meiner Vorgänger angelegt, vielleicht während der Überfälle der Dänen, und die Kuppel war in all den Jahren gänzlich zugerostet. Als Godwyn merkte, dass er sie nicht allein öffnen konnte, kam er zu uns gelaufen und bat um Hilfe, nicht wahr, mein Sohn?« Als der Wirt nicht antwortete, fügte der Abt hinzu: »Ich fürchte, es gibt allerlei Fragen zu beantworten, aber das muss warten, bis Ihr und unser guter Bischof Euch erholt habt.«

Sie fror und zitterte am ganzen Körper. Der tropfnasse Rock schlackerte ihr kalt um die Beine. Mit dem Gewitter war auch die Hitze verschwunden und war kühler Luft gewichen, die die Landschaft duftend zum Leben erweckte, und Adelia konnte in ihrem betäubten Zustand nichts anderes tun, als sie in sich aufsaugen. Die Befreiung aus der Gefahr, in der sie und Rowley gemeinsam geschwebt hatten, hatte die Intensität jener letzten Augenblicke nicht geschmälert. Die Menschen um sie herum, selbst Hilda und ihre Schreie, waren nur schattenhafte Figuren am Rande. Gewiss gab es Fragen zu beantworten, Tausende Fragen, aber im Moment flatterten sie wie Motten außerhalb ihrer Reichweite.

Ihr Körper genoss die Wärme der Küche, aber noch immer war nichts anderes verlässlich darin als Rowley, den man auf den einzigen Stuhl gesetzt hatte.

»Sumpfruhrkraut«, sagte sie automatisch. »Macht ihm einen Aufguss mit Sumpfruhrkraut.« Es regte die Atmung an.

Sie hörte ihn sagen: »Pfui Teufel. Ich trink lieber Branntwein.« Das war eine solche Musik in ihren Ohren, dass ihr Verstand wieder einsetzte und sie anfing, auch andere Dinge wahrzunehmen. So zum Beispiel, dass ihr Retter der Gastwirt des »Pilgrim Inn« war.

Godwyn. Der Gute.

Das erforderte einiges Umdenken. Seit einem Tag oder noch länger hatte der Mann in ihrem Kopf die Rolle des Fleisch gewordenen Bösen gespielt.

Hilda machte noch immer Schwierigkeiten. Die Brüder Titus und James murmelten Gebete vor sich hin, um die Flüche abzuwehren, die sie ihnen entgegenschleuderte, während sie sich gezwungen sahen, ihr einen Strick um die Taille zu schlingen, den sie dann an einem Haken in der Wand festbanden, damit sie nicht auf ihren Mann losgehen konnte. Die Kappe war ihr vom Kopf gerutscht, und die Haare standen ihr zu Berge, sodass sie aussah wie ein rötlich grauer Dachs. Speichelfäden tropften von ihren gebleckten Zähnen.

Der Abt schüttelte den Kopf und betrachtete sie ehrlich bekümmert. »Ich fürchte, sie ist verrückt geworden, die arme Seele.«

»Ein Leiden, das viele Frauen in einem gewissen Alter befällt, wie ich höre«, sagte Bruder Aelwyn, woraufhin sein Abt nickte.

Godwyn stand händeringend vor seiner Frau. »Ich hab’s nich gekonnt, Schatz, ich hab’s nich gekonnt. Um meiner Seele willen konnte ich das nicht zulassen. Das durftest du den beiden nicht antun, wo einer auch noch Bischof ist. Und auch nicht den anderen.«

Hilda spuckte ihn an.

»Anderen?«, fragte der Abt scharf.

»Neiiiiin!« Hilda warf sich nach vorne und wurde von dem Strick zurückgerissen. »Verräter, Verräter, Verräter!«

Andere? Andere? Wieder erinnerte sich Adelia fast verwundert, dass sie und Rowley auf der Suche nach Leichen in diesen Tunnel gegangen waren und keine gefunden hatten. Die tiefe Trauer um Emma und ihr Kind wurde von einer verzweifelten Hoffnung verdrängt. »Leben sie noch? Wo sind sie?«

»Geht es um die Lady, die verschwunden ist?« Der Abt war verwirrt.

»Wisst Ihr, ich konnt’s nich ertragen, dass die anderen sterben sollten – dann hätte sie Mord auf ihre Seele geladen. Und es war auch noch ein Kindchen dabei«, sagte Godwyn. »Aber ich konnte sie auch nich freilassen, weil sie sie dann verraten hätten. Das konnte ich doch nich machen, oder? Und das jetzt is nur, weil sie nich aufgehört hat.« Er wandte sich wieder seiner Frau zu. »Du hast nich aufgehört, Schatz. Der Bischof, die Lady hier … einmal musste doch Schluss sein, oder?« Tränen strömten ihm übers Gesicht.

»Wo sind sie?«

»Lazarus Island.«

»Lazarus?« Der Abt herrschte ihn an. »Du hältst drei Menschen seit über einem Monat auf Lazarus fest? Unmöglich, das hätten mir die Aussätzigen erzählt.«

Godwyn ließ den Kopf hängen. »Ich hab denen gesagt, ich würde Euch nich mehr rüberbringen, wenn sie irgendwas verraten. Ich schäm mich, Herr, aber ich wollte nur, dass sich alles ein bisschen beruhigt, dass Hilda wieder zu Sinnen kommt.« Wieder sah er seine Frau an. »Aber das bist du nich, Schatz, es wurde immer schlimmer mit dir.«

Abt Sigward schüttelte den Kopf und setzte sich.

»Die anderen waren ziemlich schlecht dran«, fuhr Godwyn fort, »wo sie doch so lange unten im Tunnel gewesen sind. Ganz schlecht ist es ihnen gegangen, dem großen Kerl und dem kleinen Jungen besonders, und die Frau hat sich auf alles eingelassen, damit sie am Leben bleiben. Ich hab gewartet, bis die Missus mal weg war, und dann hab ich sie rausgelassen. Ich hab ihnen gesagt, sie müssten machen, was ich sage, wenn sie am Leben bleiben wollen. Und dann hab ich sie rüber nach Lazarus gerudert.« Seine Schultern sanken herab. »Is jetzt sowieso vorbei. Ich konnte das doch nich noch mal zulassen, oder? Sie hat einfach nich aufgehört.«

Hilda spuckte ihn wieder an.

»Es is vorbei, Schatz«, sagte Godwyn erneut flehentlich zu ihr. Und dann zum Abt: »Die lassen sie doch laufen, nich, Herr? Weil sie verrückt is, lassen sie sie laufen. Sagt denen das. Es war alles nur für Euch. Alles, was sie gemacht hat, war immer nur für Euch.«

»Für mich?« Sigward starrte ihn an.

»Sagt uns einfach, ob sie noch leben!«, beschwor Adelia ihn. Es war keine Zeit für Nebensächlichkeiten. »Leben sie noch?«

»Ich hab nich gewusst, was ich sonst machen soll«, sagte Godwyn an den Abt gewandt. Er deutete mit dem Kinn auf seine Frau. »Die hätten sie sonst verraten. Immer, wenn ich konnte, hab ich heimlich was zu essen nach Lazarus gebracht.« Er sank noch mehr in sich zusammen. »Jetzt is es vorbei, so oder so. Gott sei uns beiden gnädig!«

Leprakranke. Sie waren zusammen mit Leprakranken von der Außenwelt abgeschnitten. Adelia umklammerte den Arm des Abtes. »Wir müssen sie da wegholen. Sofort. Bitte, wir müssen sofort zu ihnen.«

Sigward hatte zwar Mühe, den Ereignissen zu folgen, aber auf diese Bitte antwortete er sofort mit Nachdruck. »Im Dunkeln können wir nirgendwohin. Am Morgen, mein Kind. Wenn die Morgendämmerung kommt, werden wir tun, was getan werden muss.«

Ja, Morgendämmerung. Jetzt war Nacht, auch wenn sie kaum noch wusste, welche Nacht. Sie vermutete, dass sie erst am vergangenen Morgen von ihrem Versteck aus zugesehen hatte, wie Gyltha, Allie und Mansur nach Wells aufbrachen, dass es erst wenige Stunden her war, seit das Gewitter den Regen und die Dunkelheit brachte, in der Millie ihnen …

Millie.

Adelia umklammerte erneut den Arm des Abtes. »Millie, die Magd. Hilda hat sie niedergeschlagen …«

»Wo war das?«

»Im Gasthof. Ich hab sie fallen sehen … Ich muss zu ihr …«

»Ihr bleibt hier.« Sigward hatte die Führung übernommen. »Bruder James? Zum Gasthof, wenn ich bitten darf.«

Der Mönch verneigte sich, und als er hinaus in die Nacht ging, um sich um die Magd zu kümmern, ließ er eine saft- und kraftlose Adelia zurück.

Sie wurde zu einer Bank am Tisch geführt, spürte den glatten Ton des Bechers, der ihr an die Lippen gedrückt wurde, und schmeckte Branntwein. Sie schluckte ein wenig davon, legte den Kopf auf die Tischplatte und hörte, wie Hilda tobte und Abt Sigward Fragen stellte, die Rowley beantwortete … und schlief ein.

Schon während des Traumes ärgerte sie sich darüber. Guinevere war jetzt unerheblich, und die schlafende Adelia wollte nicht von ihr belästigt werden, doch die Frau mit dem Gesicht eines Totenschädels kam aus dem Nebel auf sie zu. Diesmal hielt sie Arthurs Excalibur in der Hand; diesmal sprach sie: »Du bist jetzt ganz nah«, sagte sie. »Du bist mir ganz nah. Komm näher!«

Mürrisch wachte Adelia auf, nicht verängstigt – welcher Traum konnte die Schrecken der Wirklichkeit überbieten? –, nur aufgebracht, weil man ihre Ruhe gestört und sie mit dem nagenden Gefühl zurückgelassen hatte, eine Pflicht nicht erfüllt zu haben.

Es war noch dunkel draußen, doch im Feuerschein war zu erkennen, dass die Küche voller Körper war – nur das beruhigende Schnarchen von allen Seiten widerlegte den Eindruck, dass es ein Massaker gegeben hatte.

Ihr gegenüber schliefen die Brüder James und Aelwyn, die Köpfe in der Kapuze ihrer Kutte auf den Tisch gebettet. Andere Gestalten, im Schatten kaum erkennbar, lagen auf Strohsäcken, die irgendwer geholt hatte, auf dem Boden verteilt. Eine an zwei Haken aufgehängte Hängematte enthielt den Bischof von St. Albans. Adelia stand auf, wobei ihr ein Umhang, den irgendwer in der Nacht über sie gebreitet hatte, von den Schultern glitt, und eilte zu ihm.

Rowleys Gesichtsfarbe sah gesund aus, und auch seine Atmung war gut. Ohne ihn aufzuwecken, strich sie ihm die Haare aus der Stirn, ehe sie nach den anderen auf dem Boden sah.

Der Abt lag auf der Seite, eine elegante Hand ums Kinn, als dächte er nach, aber seine Augen waren geschlossen. Neben ihm kauerte Bruder Titus und schnarchte lauter als alle anderen, den Kopf auf die Knie gelegt – ein schlafender Wächter für Hilda, die in der Nähe ausgestreckt auf dem Boden lag; der Strick um ihre Taille war noch immer an dem Wandhaken befestigt. Die Lider der Frau waren nur halb geschlossen, und ihre Zähne waren gebleckt, sodass sie selbst im Schlaf einem angeketteten geduckten Hund ähnelte, allzeit bereit, jeden Eindringling anzuknurren.

Ehe Adelia eingeschlafen war, hatten Rowley, Sigward und die anderen Mönche übereinstimmend geäußert, dass Hilda verrückt war; damit war für sie alles geklärt. Es war eine praktische, alles umschließende Erklärung, die Hilda vielleicht vor dem Galgen retten würde, weil Wahnsinnige laut Gesetz für ihre Taten nicht verantwortlich waren und somit nicht hingerichtet werden durften. In ihrer männlichen Vorstellung war die rätselhafte Unruhe, die Frauen ihrer Meinung nach in den Wechseljahren befiel, dafür verantwortlich. In dem Gespräch, an dem Adelia sich aus lauter Müdigkeit nicht beteiligt hatte, hatte Rowley felsenfest behauptet, Hilda habe unter dem Zwang gestanden, Glastonbury davor zu schützen, dass die Skelette von Arthur und Guinevere sich als die falschen erwiesen.

Es gab keinen Grund, irgendetwas anderes zu denken; die Frau war zweifellos geistesgestört. Und ebenso zweifellos hing die Zukunft des »Pilgrim Inn« und die der Abtei davon ab, dass Wallfahrer das Grab von König Arthur besuchen kamen.

Und doch genügte Adelia diese Erklärung nicht. Es konnte nur Hilda gewesen sein, die versucht hatte, Mansur und sie unter dem Erdhügel zu ersticken – die Frau hatte eindeutig die Neigung, Leute lebendig zu begraben. Und eine derartige Brutalität sprach für einen tieferen, zwingenderen Grund, falls es überhaupt einen Grund gab.

Adelia ging weiter und betrachtete den Körper gleich an der Tür. Millie, Gott sei Dank! Das Mädchen atmete gleichmäßig. Sie hatte einen Verband um den Kopf. Ihre fahle Gesichtshaut war nicht bleicher als sonst auch. Also noch jemand, der mit einigem Glück diese verzweifelte Nacht mehr oder weniger unbeschadet überstanden hatte.

Der Einzige, der fehlte, war Godwyn.

Adelia ging nach draußen, um einem Ruf der Natur zu folgen. Sie mied den, wie der Adel sagte, odeur de merde, der aus der Latrine stieg. Die Mönche hatten diese in der Nähe des Küchengartens ausgehoben – so gut für das Gemüse – und ein Brett mit einem säuberlich herausgesägten Loch darübergelegt. Adelia suchte sich stattdessen ein geeignetes Gebüsch und ging anschließend zu der Pumpe vor der Küche, um sich zu waschen.

Im Osten hellte der Himmel allmählich auf. Irgendwo versuchte eine Drossel, ihren ersten Gesang des Tages anzustimmen. Es würde bald dämmern, und falls ein gnädiger Gott noch ein weiteres Mal Seine Hochherzigkeit zeigte und die drei Seelen auf Lazarus Island lebend gefunden wurden, nun, dann stünde sie, Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar, für immer in Seiner Schuld.

Eine Gestalt, die dabei war, im Licht einer Laterne mit dem Netz Forellen aus dem Teich zu fangen, rief ihr einen Gruß zu und kam zu ihr herübergestakst.

Bruder Peter wirkte freundlicher als bei ihren früheren Begegnungen. »Der sarazenische Zauberer ist ein wahres Wunder, nicht?«, sagte er. »Hat viel Gutes getan für …« Er stockte und zwinkerte Adelia zu. »Ihr wisst schon. Meint Ihr, er würde sich über ein paar von meinen Kürbissen freuen? Die sind in der Sonne prächtig gediehen, falls das Unwetter sie nicht ruiniert hat.«

Ja, erwiderte Adelia mit einem Seufzer, Master Mansur wäre erfreut, wenn er mit Kürbissen dafür belohnt würde, dass er Will und die Zehnschaft gerettet hatte.

Bruder Peter trat von einem Bein aufs andere. »Hab gehört, dass es letzte Nacht mächtig Aufregung gegeben hat. Was habt Ihr und der Bischof denn in diesem fürchterlichen Loch gemacht?«

»Wir haben uns jedenfalls nicht amüsiert, das kann ich Euch versichern«, sagte sie.

»Diese Hilda ist völlig verrückt. War sie schon immer. Hab nie verstanden, wie der arme alte Godwyn es mit ihr ausgehalten hat.«

Adelia fiel etwas ein. »Könntet Ihr mir einen Gefallen tun, Bruder Peter?«

Sie gingen zu der Tunnelkuppel, die noch immer neben dem Ausstieg lag. Adelia brachte es nicht über sich, in das Loch zu schauen, doch der Laienbruder kletterte bereitwillig hinunter und tauchte mit der Kiste und dem Schwert wieder auf. Beides war noch trocken, weil es oben auf der Treppe gelegen hatte, wo das Wasser, das inzwischen wieder zurückgegangen war, es nicht erreicht hatte. »Wo kommt das denn her?«, fragte er.

»Könnt Ihr mir Eure Laterne leihen?«

Er gab sie ihr, und sie dankte ihm knapp, dann wandte sie sich ab, ehe er noch mehr Fragen stellen konnte.

 

Die Kiste interessierte Adelia. Die Tatsache, dass sie so tief in dem unterirdischen Gang versteckt worden war, deutete darauf hin, dass sie etwas Wertvolles enthielt. Oder etwas Belastendes. Oder beides. Emmas Juwelen, wahrscheinlich. Falls ja, wie schön wäre es dann – vorausgesetzt Emma lebte –, sie einer Frau wiederzugeben, die alle Entbehrungen einer Ausgestoßenen durchlitten hatte, gleichsam als Pfand dafür, dass sie in ihr altes Leben zurückkehren konnte.

Und, wie Pandora vor ihr, dachte Adelia: Ach, in drei Teufels Namen, ich will einfach nur wissen, was drin ist.

Es blieb genug Zeit, sie zu öffnen, ehe sie zu ihrer Rettungsfahrt aufbrachen, und es wäre unnötig, die Leute in der Küche früher zu wecken als erforderlich, was sie zweifellos tun würde, wenn sie dort hineinging – denn es würde Krach machen, falls die Haspe an der Kiste weiterhin so hartnäckig klemmte wie zuvor.

Sie marschierte mit Laterne, Schwert und Kiste zu dem einzigen Ort, der sowohl Ungestörtheit als auch einen Tisch bot.

Trotz der Ärmlichkeit ihres Ruheortes und obwohl das Unwetter die Tücher durchnässt hatte, die sie bedeckten, hatten Arthurs und Guineveres Überreste die Würde bewahrt, die allen Toten in stummer Reglosigkeit eigen ist.

Sie wurde gestört, als Adelia mit einer gemurmelten Entschuldigung das Tuch von Arthurs Füßen entfernte und die Laterne zwischen sie stellte. Dann entweihte sie Guinevere ebenso, indem sie die Kiste zwischen ihre Füße platzierte.

Sie ließ die Hüttentür offen, um zusätzlich zum Licht der Laterne das spärliche Licht von draußen hereinzulassen.

Es machte tatsächlich Krach. Die Schwertspitze unter die Haspe zu schieben war nicht leicht und ging mit viel Gekratze und seitens Adelia auch mit zahlreichen keuchend ausgestoßenen Flüchen einher.

Endlich lockerte sich die Haspe und gab den Stift frei. Adelia legte das Schwert beiseite und hob den Deckel der Kiste an.

Keine Juwelen. Knochen. Beckenknochen.

Hinter ihr hustete jemand.

Adelia fuhr herum, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, schirmte die Kiste mit ihrem Körper ab.

Godwyn stand im Eingang. Godwyn der Gute, dem sie ihr Leben und das Rowleys und vielleicht auch das Emmas verdankte. Godwyn der Böse, der zugelassen hatte, dass seine außer Kontrolle geratene Frau versuchte, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die ihr in die Quere kamen. Godwyn, der nicht verhindert hatte, dass Millie niedergeschlagen wurde.

»Was wollt Ihr?«, blaffte sie. Sie wurde mitten in einer Entdeckung gestört, und sie wollte nicht, dass er die Kiste sah. Die mochte ihm gehören, aber ihr Inhalt ganz sicher nicht.

Überhaupt, diesem Mann haftete eine entsetzliche Geduld an, die ihre Nerven strapazierte. Er bewegte sich nicht, und sein Gesicht war teilnahmslos. Nur seine Augen ließen die Ergebenheit eines Ochsen erkennen, der darauf wartet, dass das Schlachtbeil fällt.

»Ihr werdet Euch für sie einsetzen, nicht wahr, Lady?«, sagte er. »Der Bischof hält viel von Euch. Sagt ihm, dass sie nix dafür kann, was sie getan hat. Wenn sie vor Gericht kommt, ein Wort von Seiner Lordschaft an die Richter … das würd mächtig was bewirken …«

Adelia schüttelte den Kopf, nicht ablehnend, sondern um ihn zu klären. Sie fühlte sich dem Mann gegenüber irgendwie verpflichtet, weil er die Menschen gerettet hatte, die diese Frau hatte töten wollen, für die er sich einsetzte.

Er sprach weiter, hatte sich wahrscheinlich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, um dieses Verteidigungsplädoyer vorzubereiten.

»Wenn Ihr sie gesehen hättet, als sie noch jung war, Haare wie Feuer, immer geschwätzig, ein kleines Plappermaul … Sie war damals nett anzusehen, meine Hilda. Als sie elf war, hat sie angefangen, die Kühe vom gnädigen Herrn zu melken …«

Konzentrier dich. Da war irgendwas, irgendeine Erklärung dafür, warum ein hübsches Milchmädchen mordgierig geworden war.

»Der gnädige Herr?«, fragte Adelia nach. »Meint Ihr Abt Sigward?«

»Damals noch Lord Sigward, Abt is er jetzt. Ich hab bei ihm als Stallbursche angefangen, wisst Ihr, hab für seine Familie gearbeitet wie schon mein Vater und davor mein Großvater. Sie waren gute Herrschaften, alle, solange wir unsere Arbeit gemacht und ihnen treu gedient haben. Ich bin später Stallmeister geworden, und Hilda hat es zur Wirtschafterin gebracht.«

»Habt Ihr sie immer geliebt?« Die Frage war unverfroren. Adelia nutzte jemanden aus, der sich als hilfloser Bittsteller an sie wandte, aber sie war gezwungen, sie zu stellen. In der Beziehung zwischen diesem Mann und seiner Frau musste ein Anhaltspunkt für das, was geschehen war, zu finden sein.

Er war verblüfft, gekränkt. Wenn er Adelia nicht um Hilfe angefleht hätte, wäre er einfach gegangen. »Eine gute Arbeiterin war sie, Hilda«, sagte er. Das war die einzige Antwort, die er geben konnte. Liebe war ein Wort, das dem Adel und den Dichtern vorbehalten blieb. Er versuchte zu lächeln. »Hab ihr den Hof gemacht, weil sie’s wert war. Musste mich ganz schön anstrengen, jawohl. Die ersten Jahre hatte sie überhaupt keine Augen für mich.«

»Weil sie den Herrn geliebt hat?« Adelia drang tief ein, aber irgendwo unter ihrem Skalpell war der Entzündungsherd.

Godwyn war brüskiert und reagierte empört. »Zwischen denen is nie irgendwas Unreines gewesen«, sagte er. »Nie. Die halbe Zeit hat er nich mal gemerkt, wenn sie da war. Bis heute nich.«

Ja, das stimmte. Adelia hatte es selbst gesehen. Abt Sigwards Freundlichkeit zu seiner ehemaligen Wirtschafterin war die eines Herrn zu seinem Lieblingshund. »Aber Ihr habt ihm weiter gedient?«

Wieder war der Mann verwundert. »Er war mein Herr. War nich seine Schuld, nich Hildas Schuld und auch nich meine. Es war, wie’s war. Wir waren Gesinde, versteht Ihr? Gute Diener, guter Herr, einer dem anderen treu.«

»Verstehe.« Aber Adelia wusste, dass sie es nicht verstand. Sie war außerhalb des Feudalsystems aufgewachsen und würde diese Bindung zwischen den Ständen nie begreifen, der eine herrschend, der andere dienend, beide einander billigend, eine Tradition, die seit Jahrhunderten währte und beiden ihren Platz zuwies, ein System, das grässlich missbraucht werden konnte und das doch in seiner besten Ausformung – wie etwa in Sigwards Haus, ehe er ein Mann Gottes wurde – eine Art von Liebe ermöglichte.

»Und sein Sohn?«, fragte sie. »Habt Ihr ihn geliebt?«

Jetzt bereitete sie ihm Schmerzen. Godwyn brachte in einer gequälten Grimasse seine Zähne zum Vorschein und drückte die geballten Fäuste dagegen. Aber er war machtlos. Wenn diese Fremde, die da vor ihm stand, seine Frau retten sollte, musste er diese Folter ertragen.

»Hat mir leid getan«, sagte er. »War ein trauriges Kerlchen. Genau wie seine Ma, bis sie gestorben is. Hatte immerzu Angst. Ich hab ihn auf sein erstes Pony gesetzt, und schon dabei hatte er Angst. Ganz anders als sein Pa. Der hat sich vor nix und niemandem gefürchtet, der Herr. Aber der Junge war …« Godwyn suchte nach den richtigen Worten. »Der hat Blumen gemocht, zum Beispiel, und gemalt und gelesen und so. Aber geheult hat er nie, das muss man ihm lassen. Er hat jedes Mal gekotzt, wenn der Herr ihn mit auf Jagd genommen hat, aber er musste mit, und er is mit, keine Widerrede.«

»Musste er auch Kreuzfahrer werden?« Wieso bohre ich immer weiter nach?, fragte sie sich. Doch der Antrieb dazu schien nicht einfach nur aus ihr selbst zu kommen, sondern von den Skeletten hinter ihr, als drängten sie sie dazu.

Sie war zu weit gegangen. Godwyns Augen suchten nach einem Ausweg.

Adelia nahm seine Hand. »Ich werde mich für sie einsetzen, Godwyn. Und der Bischof ebenso, das verspreche ich Euch.« Das war sie diesem unvollkommenen, seltsam wunderbaren Mann schuldig.

Der Wirt nickte, nahm dann seine Kappe ab und drückte sie sich an die Brust, eine so unterwürfige Geste, dass ihr fast die Tränen kamen. »Ich geh dann mal das Boot klarmachen«, sagte er.

Sie sah ihm nach, wie er zur Anlegestelle ging, eine plumpe, unauffällige Gestalt vor dem Rosa und Gold einer aufgehenden Sonne.

Sie wandte sich um. Es blieb nicht viel Zeit, und sie musste es jetzt wissen. Trotzdem kniete sie sich kurz neben Guineveres Katafalk nieder, ehe sie das Tuch herunterriss und die obere Hälfte des Skelettes von der unteren abrückte, sodass wieder die schauerliche Lücke entstand, wo der Beckengürtel hätte sein sollen. Dann begann sie mit raschen Bewegungen, die Knochen aus der Kiste dort einzusetzen.

Einige waren stark zersplittert, andere dagegen hatten den Angriff fast unversehrt überstanden. So passte beispielsweise der Kopf des rechten Oberschenkelknochens vollkommen in die Höhlung der Hüftgelenkspfanne. Das Rückgrat war glatt durchtrennt worden, und die drei zusammengewachsenen unteren Wirbelknochen fügten sich so nahtlos an das übrige Kreuzbein an, dass sie ganz offensichtlich zusammengehörten.

Adelia trat zurück und betrachtete ihr Werk. Guinevere war zweifelsohne wieder ein Ganzes. Die Knochen passten. Das war das richtige Becken, endlich wieder an seinem richtigen Platz.

Und doch war es das falsche.

Sie machte Messungen, benutzte das Schwert als Lineal, indem sie Markierungen in seine schwarze Patina kratzte. Sie betrachtete die Hüftknochen, die, obwohl sie zertrümmert waren, doch noch deutlich steile Darmbeinschaufeln aufwiesen. Sie schob Arthurs Tuch beiseite, diesmal ohne sich zu entschuldigen, und nahm weitere Messungen vor, verglich seinen Schambogen mit dem, den sie aus der Kiste geholt hatte.

Zurück zu Guinevere.

Schließlich war sie sicher; ein Irrtum blieb ausgeschlossen. »Das also hast du versucht, mir zu sagen«, murmelte sie sanft.

Guinevere war männlich.

Sie deckte die Skelette wieder zu und setzte sich auf den Boden, lehnte den Kopf gegen Arthurs Katafalk.

Zwei Männer. Zusammen begraben. Beide getötet, einer brutal im Geschlechtsbereich verstümmelt. Vor zwanzig Jahren.

Nuancen, Sätze, Träume, Hinweise aus diesen vergangenen Tagen, die sie hätte bemerken sollen, flatterten ihr jetzt erneut durch den Kopf, setzten sich zu einem erkennbaren Mosaik zusammen.

Das also war die Antwort – Liebe. Liebe war die einzig mögliche Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten, die hier in dieser traurigen Ansammlung von Knochen vereint waren. Liebe in ihren vielen Erscheinungsformen – zerstörerisch, sexuell, schön, schützend, besitzerergreifend – war das Bindeglied. Es war auch eine Art Liebe, die Rowley und sie selbst beinahe getötet hatte, und in einer anderen Form hatte sie das Paar, das Arthur und Guinevere genannt worden war, ins Grab gebracht.

Wie traurig.

Adelia ging hinaus und schloss die Tür der Hütte behutsam hinter sich.

Eine warme frühe Sonne sog die Feuchtigkeit als Nebel aus dem durchweichten Boden, sodass es aussah, als ragten die großen Hügel aus dem Nichts in einen durchscheinenden Himmel. Schwalben verschwanden in diesem Nebel, wenn sie hinabstießen, um Insekten zu fangen, und tauchten dann wieder auf.

Ob Glastonbury wirklich der Omphalos war, den Mansur darin erkannt haben wollte, oder nicht, an diesem Morgen war es magisch, zeigte ihr, dass Avalon, wenn es überhaupt irgendwo existierte, hier war; es verzauberte, war imstande, einen ruhelosen Geist zu wecken, der sie verfolgt und bedrängt hatte, bis sie die Wahrheit über ihn herausfand.

Wie leicht war es an diesem Ort, sich den gesunden Menschenverstand von der atemberaubenden natürlichen Schönheit der Landschaft untergraben zu lassen.

Adelia, nüchterne Wissenschaftlerin, die sie war, kämpfte gegen diese Versuchung an: zu glauben, dass die Guinevere-Albträume von irgendwo außerhalb von ihr gekommen waren und nicht von unbewussten Zweifeln, die sie von Anfang an gehabt hatte, ein diffuses Schuldgefühl ob der Annahme, dass ein Skelett weiblich war, nur weil alle das behaupteten …

»Nicht mit mir!«, sagte sie laut. Es war fast ein Fauchen.

Aber dennoch schritt sie auf unsichtbaren Füßen durch den Nebel von Glastonbury.

 

Sie erreichte die Anlegestelle. Es war alles ruhig hier bis auf das Kreischen von Möwen und das Piepsen von Sumpfvögeln, die zwischen Schilfrohr und Riedgras ihre Jungen versorgten. Der Fluss hatte durch die Regenfälle der vergangenen Nacht neue Kraft gewonnen und floss schneller, als sie bislang gesehen hatte, ein dunkelblaues Band, das sich um Inseln herum Richtung See wand. Ein kleines Stück weiter am rechten Ufer, wo das Bootshaus stand, sah sie Godwyn Vorräte in ein Boot laden. Diesmal war es ein großer Kahn, der sie nach Lazarus Island und zu den drei Ausgesetzten bringen sollte.

Und gebe Gott, dass wir nicht zu spät kommen!

Adelia zog ihre ruinierten, vom Wasser verformten und mit Asche beschmierten Stiefel aus und setzte sich so auf einen Steg, dass sie die Zehen in den Fluss tauchen und verspielte schillernde Wasserbögen aufspritzen lassen konnte.

Wieder flüsterte ihre Umgebung, dass die Welt in Ordnung war, besonders hier – dass Emma, Pippy und Roetger in dieser herrlichen Landschaft überlebt haben mussten, dass ein großer König aus alter Zeit sich keinen besseren Ort für seine letzte Ruhestätte hätte aussuchen können.

Sie wünschte, sie könnte es glauben. Wie schön wäre es, menschliche Bosheit zu vergessen, sich der Natur ringsum hinzugeben, Beweise außer Acht zu lassen und einzuräumen, dass die verstümmelten Knochen in der Hütte tatsächlich die von Arthur und Guinevere waren, getötet in einer legendären Schlacht in so ferner Vorzeit, dass ihre Schreie und Schläge längst verhallt und zu einem sanften Hauch in der geschichtengeschwängerten Luft geworden waren.

Sie spürte den kleinen Steg erbeben, als jemand ihn betrat und zu ihr kam. Neben ihr tauchten die langen weißen, in Sandalen steckenden Füße von Abt Sigward auf.

»Wir haben Euch gesucht, mein Kind. Wollt Ihr mitkommen und etwas essen, ehe wir aufbrechen?«

Sie blinzelte zu ihm hoch, schirmte die Augen gegen die Sonne ab. »Wie starb Euer Sohn?«, fragte sie.

Einen Moment lang war er still wie der Tod. Sie sah ihn weiter an.

»Ihr also seid Nemesis«, sagte er.

Sie nickte.

Dann veränderte sich das Gesicht des Abtes, wurde schön, als würde die Sonne, die es beschien, von einem inneren Licht gespiegelt. »Auf diese Frage habe ich zwanzig Jahre lang gewartet.« Er streckte die Arme seitlich vom Körper, als wollte er alles, was er sah, umarmen, ein Kormoran, der seine Flügel ausbreitet, um sie in der Wärme trocknen zu lassen. »Seht nur, was für einen wunderbaren Tag der Herr dafür ausgesucht hat! Er hat mir sogar einen Bischof für meine Beichte gesandt.« Er lächelte zu ihr hinab. »Bleibt hier, mein Kind, während ich die anderen hole!«

Er schritt davon, Richtung Küche, blieb dann stehen und wandte sich um.

»Ich habe ihn getötet«, sagte er.

 

Wenn Adelia sich später an die Fahrt nach Lazarus Island erinnerte, machten ihr unweigerlich deren Widersprüche zu schaffen. Die Fahrt hätte im Dunkeln stattfinden sollen oder zumindest einen Schatten werfen müssen, der alles verkümmern ließ, an dem sie vorbeikamen. Stattdessen stakte Godwyn geschickt den Kahn mit Sigward, Adelia, Rowley und Hilda an Bord, während die Sonne auf sie schien, als machten sie einen vergnüglichen Ausflug.

Einmal unterbrach der Abt sogar seine Beichte und nahm ein Tuch von einem Korb, den Bruder Titus für ihn gefüllt hatte, ehe sie losgefahren waren. Zum Vorschein kamen ein Krug Met und Kekse aus Hafermehl und Honig. Der Abt reichte sie herum. »Esst, trinkt!«, ermunterte er die anderen.

Er war überschwänglich. Er saß dem Bischof von St. Albans gegenüber auf der mittleren Ruderbank des Kahns und gestand ihm seine Sünde beinahe freudig, manchmal auf Latein, manchmal auf Englisch, als fürchtete er, dass Adelia, seine Nemesis, die hinter Rowley im Heck saß, ihn nicht verstehen würde.

Hilda – Sigward hatte darauf bestanden, dass sie mitkam – kauerte nun ruhig auf dem Boden des Kahns, den Kopf auf seinem Knie wie ein erschöpfter Hund.

Seine Erzählung – denn es war ebenso sehr eine Erzählung wie eine Beichte – handelte von Spaltungen. Von einem jungen Mann, der in zwei Teile gehackt wurde. Von einem Erdbeben, das nicht nur Abgründe im Boden geöffnet, sondern auch jenen Sigward, der Herr großer Besitztümer war, von dem Sigward getrennt hatte, der ein einfacher Mönch in der Abtei von Glastonbury werden sollte und schließlich ihr Abt.

Er sprach von ihnen als von zwei unterschiedlichen Personen. »Lord Sigward war ein selbstgerechter Mann«, sagte er. »Er gab Almosen an die Armen, er ließ Kirchen und Kapellen erbauen, um Gott an seine Tugend zu erinnern. Er herrschte gerecht über sein kleines Königreich mit der Bibel in der Hand und in dem Bewusstsein, dass er ihre Gebote befolgte. Er sonnte sich in der Bewunderung seiner Nachbarn. Seine Diener hatten Grund, ihn zu lieben …« Gedankenverloren tätschelte der Abt Hildas Schulter. »Zumindest diejenigen, die er bei sich behielt, denn er konnte ebenso schnell bestrafen wie sich jener entledigen, die ihn nicht liebten.«

Adelia wünschte, sie müsste ihm nicht zuhören. Sie hielt die Augen auf den Fluss gerichtet, ließ die Finger durchs Wasser gleiten und betrachtete die Spur, die sie zogen. Ein Moorhuhn scheuchte seine Küken weg von der kleinen Welle.

»Lord Sigward wählte sein Eheweib sorgfältig aus, doch sie war eine Enttäuschung. Er verstand nicht, warum sie sich vor ihm fürchtete. Sie gebar ihm einen Sohn und verstarb dabei. Doch Lord Sigward hatte seinen Erben und hielt ein großes Fest ab, um mit dem Sohn vor dem Adel von Somerset zu prahlen. Aber auch der Junge war eine Enttäuschung. Er war schwach wie seine Mutter. Er duckte sich, wenn sein Vater mit ihm sprach. Er versagte auf dem Turnierplatz, er war ein unfähiger Jäger. Wie irgendein Schreiberling zog er Bücher vor, anstatt sich in mannhaften Dingen zu üben.«

Adelia warf einen Blick auf Rowleys starren Rücken. Er hatte das Gesicht von seinem Gegenüber abgewandt, wie er es in der Stille eines Beichtstuhls getan hätte. Es hatte vor ihrem Aufbruch keinen geeigneten Moment gegeben, um ihn zu warnen. Als der Abt sich bekreuzigt und die Formel gesprochen hatte: »Hört mich an, Vater, und segnet mich, denn ich habe gesündigt« – hatte sie gesehen, dass ihr Geliebter sich widerwillig wegdrehte.

Es war ihm schon immer zuwider gewesen, die Beichte abzunehmen. »Wer bin ich denn, über Sünden zu urteilen?« Wie schon Thomas à Becket vor ihm war er von seinem König ernannt worden, nicht von der Kirche, und er war buchstäblich über Nacht zum Priester gemacht worden – an einem Tag geweiht, am nächsten auf den Bischofsstuhl gesetzt.

Der Kahn beschleunigte und verlangsamte sich, während Godwyn die Stakstange mühelos ins Flussbett stieß und wieder anhob, das Gesicht ausdruckslos. Die Worte, die aus dem Mund des Mannes drangen, der sein Herr gewesen war, hätten auch nur das Zwitschern der im Schilfgras versteckten Ammern sein können.

»Als der Junge sechzehn war, erschien es Lord Sigward unerlässlich, dass sich sein Sohn die Bewunderung des Landes und die Anerkennung des allmächtigen Gottes verdienen sollte, indem er ihn auf einen Kreuzzug schickte. Er rüstete ihn freigebig mit Waffen und Zubehör aus, schenkte ihm ein schönes Schlachtross … das zu groß für ihn war.« Zum ersten Mal bebte die Stimme des Abtes, er holte tief Luft und fand seinen Rhythmus wieder. »Dann ein Abschiedsfest mit den Nachbarn, damit sie dem Sohn Glück wünschen und den Vater rühmen konnten, der zwar in seinem Stolz schwelgte, aber zugleich auch dem Jungen grollte, der offensichtlich glücklich war, ihn zu verlassen.«

Eine Libelle huschte dicht über das Wasser und landete wie ein schillernder Edelstein auf dem Dollbord des Kahns, ehe sie wieder davonflog.

»Vier Jahre vergingen ohne ein Wort. Andere Väter erhielten von Heimkehrern aus dem Heiligen Land Nachrichten über ihre Sprösslinge, manchmal, dass sie am Leben und wohlauf waren, manchmal, dass sie tot waren. Lord Sigward jedoch hörte nichts und dachte allmählich, dass auch sein Sohn gestorben war, vielleicht in der Schlacht von Askalon, in der so viele christliche Ritter erschlagen wurden, als die Sarazenen die Stadt zurückeroberten. Falls ja, wäre das ein Grund für ihn, ein weiteres Fest abzuhalten, diesmal zum Gedenken an den Toten – denn welche Ehre für Lord Sigward, dass sein Kind sein Leben bei dem Bemühen geopfert hatte, das Heilige Land wieder in die Hand Gottes zu geben.«

Adelia beobachtete einen Eisvogel, der auf einem Erlenzweig gesessen hatte und sich plötzlich in einen regenbogenfarbenen Pfeil verwandelte, als er ins Wasser hinabschoss, um mit einem Frosch im Schnabel wieder aufzutauchen.

Es wurde heiß. Abt Sigward warf seine Mönchskapuze zurück, damit Luft seinen tonsurierten Kopf umspielen konnte. Sein Überschwang hatte ihn nicht verlassen, aber seine Finger, die er im Schoß gefaltet hielt, waren weiß verfärbt – er näherte sich dem Höhepunkt.

Aus Selbstschutz versuchte Adelia, sich die klare Stimme, die über dem Wasser erklang, als die irgendeines Geschichtenerzählers auf einem Markt vorzustellen. Vor zwanzig Jahren, sagte sie sich. Sie sind seit zwanzig Jahren tot. Der Mann hier ist nicht derselbe Mann, der sie getötet hat.

Aber er war es.

Es sei der Abend vor dem Fest des heiligen Stephanus gewesen, sagte der Abt, eine stürmische Nacht. Die Weihnachtsfestlichkeiten waren vorüber. Als gütiger Herr, der er war, habe Lord Sigward seinen Dienern bereits erlaubt, zum jährlichen Besuch ihrer Heimatdörfer aufzubrechen.

»Außer Hilda« – der Abt tätschelte den Kopf der Frau, die neben ihm kauerte –, »die sich weigerte, ihn zu verlassen, und Godwyn« – er lächelte zu dem Mann hoch, der den Kahn stakte –, »der sich weigerte, sie zu verlassen, war niemand im Haus.«

Lord Sigward speiste also allein in seiner Halle zu Abend, als Godwyn, der als Türhüter diente, ein lautes Klopfen hörte und nachschaute, wer gekommen war. Zwei junge Männer wurden hereingeführt, und Lord Sigward lag plötzlich in den Armen seines Sohnes, dessen tropfnasser Regenumhang nasse Flecken auf dem Seidengewand seines Vaters hinterließ. Lachend und laut, stellte der Junge seinen stattlichen und groß gewachsenen Freund vor. »Wir sind seit drei Monaten von Outremer hierher unterwegs, Vater, und wir sind sehr, sehr hungrig.«

Sogleich verspürte Lord Sigward Zorn in sich hochsteigen. Wenn sein Sohn Boten vorausgeschickt hätte, dann hätte er die Nachbarn einladen können, um den Jungen als Helden zu empfangen. Er übte jedoch Nachsicht und rief nach Hilda, die Speis und Trank bringen sollte.

Als er den jungen Männern beim Essen zusah, wuchs sein Zorn.

»Er hätte sich freuen sollen«, sagte der Abt. »Sein Sohn war zu dem Mann geworden, als den er sich ihn immer gewünscht hatte. Die Jahre im Heiligen Land hatten dem Jungen Selbstvertrauen gegeben. Er sah Lord Sigward in die Augen. Er hatte keine Angst mehr. Er war Lord Sigward ebenbürtig – und Lord Sigward hasste es.«

Und dann war da noch eine Herzlichkeit im Lächeln seines Sohnes, wenn dieses seinem Freund galt, die fehlte, wenn er seinen Vater ansah.

Beide jungen Männer hatten blasse kreuzförmige Flecken auf ihren Tuniken, wo das Kreuzfahrerkreuz abgerissen worden war. Als Lord Sigward fragte, was es damit auf sich habe, fand er endlich die Rechtfertigung für seinen Zorn auf die beiden. »Sie verleumdeten die Heiligkeit des Kreuzzuges, sie häuften Häme auf das heilige Ziel, die Sarazenen aus dem Land zu jagen, in dem Jesus gewandelt war. Sie hätten zu viel Tod gesehen, sagten sie. Der Islam würde nur immer weiter aufgestachelt. Was habe es für einen Sinn, moslemische Männer, Frauen und Kinder zu töten, wenn doch für jeden Leichnam hundert Lebende mehr die Christenheit hassten? Sei das die Befolgung der Lehren unseres Herrn?«

Lord Sigward, dem vor Wut die Worte versagten, hatte die Halle verlassen und sich in sein Gemach zurückgezogen. Der Gedanke an die Schande, die durch die Gottlosigkeit seines Sohnes auf seinen Namen fallen würde, ließ ihn keinen Schlaf finden. Mitten in der Nacht stand er auf und ging zur Kammer des Jungen, um ihn zur Rede zu stellen.

»Er fand seinen Sohn und den Freund zusammen im Bett«, sagte der Abt. »Sie waren nackt und in einem sodomitischen Akt begriffen.«

In dem Augenblick war Lord Sigward von Hybris befallen worden. Leise und unbemerkt von den beiden Liebenden schloss er die Tür und ging eine Axt holen.

Der Abt sagte: »Er … Nein, ich darf mich selbst nicht in der dritten Person denken … Ich. Ich war der Schlächter. Mit der Axt in der Hand stürmte ich zu den beiden Jungen hinein und hackte sie zu Tode, während sie einander in den Armen lagen. Ich schlug und schlug und schlug auch dann noch weiter, als beide längst tot waren.«

Schilfrohr verengte von beiden Ufer her die Fahrrinne, und der Kahn schob mit seinem Bug gelbe Seerosen beiseite. Der Ruf der Flussuferläufer erklang von Land her, ein Diskant zu der unerbittlichen menschlichen Stimme.

»Ich glaubte mich im Recht. Hatte ich nicht ähnlich gerichtet wie der Allmächtige über Sodom und Gomorra? Steht nicht im 3. Buch Mose, dass ein Mann, der bei einem Mann wie bei einer Frau liegt, eine abscheuliche Tat begeht und des Todes schuldig ist?«

Blutbesudelt wankte Lord Sigward nach unten, setzte sich an den Tisch und starrte ins Leere.

Hilda, die die Schreie gehört hatte, war herbeigelaufen und hatte das Blutbad gesehen. Die toten Jungen waren ihr nicht so wichtig wie ihr Herr. Niemand durfte erfahren, was ihr lieber Herr getan hatte.

Sie übernahm die Führung. Godwyn wurde beauftragt, einen Sarg zu zimmern, während sie wischte und putzte. Die Leichen wurden auf Tücher gelegt, die Bettwäsche verbrannt.

»Dass ich meine treuen Diener mit in die Sache verwickelte, war eine meiner vielen Sünden in jener Nacht, und nicht die kleinste.« Abt Sigward blickte hoch, doch Godwyn hielt die Augen auf den Fluss gerichtet.

Die Leichen wurden in den Sarg gelegt und sollten heimlich irgendwo auf dem Anwesen begraben werden …

Und dann kam das Erdbeben.

»Die Welt schwankte. Der Boden öffnete sich. Am schlimmsten war das Geräusch, als wäre Gottes Stimme nahe und schleuderte Vernichtung durch die Wolken.« Abt Sigward nickte vor sich hin. »Sie war es, sie war es wahrhaftig. Ich hörte Ihn: Hast du das Recht zu verurteilen, du Mörder? Habe ich dafür Meinen Sohn gesandt, um Liebe und Vergebung zu predigen? Wer bist du, dich gegen Ihn zu erheben? Du hast die Kinder zweier Mütter getötet, Sigward. In deiner Hoffart und Bosheit hast du zweifachen Sohnesmord begangen, und der Menschensohn ist erneut gekreuzigt worden.«

Es war die Stimme, die Saul auf der Straße nach Damaskus gehört hatte. Und wie schon Saul, so hielt sie auch Lord Sigward den Spiegel vor. Was er da sah, zwang ihn in die Knie: eine hasserfüllte Kreatur, einen eitlen, unbarmherzigen Gesetzesprediger, der das eine Gesetz missachtete, das am wichtigsten war, einen Mörder, nicht zuletzt auch den Mörder einer sanftmütigen Frau, die ungeliebt gestorben war. Er sah den Höllenpfuhl auf ihn warten, und der war nicht voller lodernder Flammen, sondern dürr und leer wie seine Seele. Er würde dazu verdammt sein, in alle Ewigkeit allein darin zu frieren.

»Ich warf mich nieder, flehte um Gnade, die mir nicht gewährt werden würde, weil ich keine gezeigt hatte«, sagte der Abt. »Der Boden schwankte und bebte unter mir, und diese Katastrophe war Gottes Verdammnis.«

Als die Erde sich endlich wieder beruhigte, stand ein gewandelter Sigward auf, wenngleich er sich vor lauter Entsetzen über seine Tat kaum aufrecht halten konnte. Er wusste jetzt, dass die Jungen, die er getötet hatte, nicht in ungeweihter Erde verscharrt werden durften. Um einen rachsüchtigen Gott zu beschwichtigen, würde er ihre Leichname zum nächsten und heiligsten Ort bringen, den er kannte, zum Friedhof der Abtei von Glastonbury.

»Ich sündige Kreatur versuchte natürlich, mit meinem Herrn zu feilschen. Ich überließ Ihm die Entscheidung, ob mein Verbrechen entdeckt werden sollte. Falls ja, würde ich meine Strafe hinnehmen. Falls nicht, so versprach ich Ihm, würden all meine Ländereien an die heilige Mutter Kirche fallen, und ich würde den Rest meiner Zeit Seinem gütigen Sohne dienen.« Sigward sah Adelia an. »Mylady, ich sagte Euch ja, ich war ein Glücksspieler, und auch das war ein Glücksspiel.«

Sie nickte.

Eines hatte er nicht über sich gebracht. »Ich konnte den Leichnam meines Sohnes nicht vollständig seiner letzten Ruhe übergeben. In meiner Wut hatte ich ihn in drei Stücke gehackt, den Lendenbereich auf den Boden geschleudert. Und selbst dann noch – Heilige Maria Muttergottes, welch kranke Raserei – wollte ich ihn nicht damit bestatten, als könnte ich noch immer verbergen, was er war. Hilda übernahm es, seine sterblichen Überreste getrennt zu beseitigen, eine weitere Sünde, die sie um meinetwillen auf sich nahm.«

Nicht Hilda, dachte Adelia. Es war Godwyn; Tränen rannen dem Mann übers Gesicht. Er war es – Herr, wie wundersam und eigentümlich war doch die menschliche Natur! Sie fragte sich, was er wohl mit diesem grässlichen Fleischklumpen gemacht hatte, bis er skelettiert war und er den Knochen eine würdigere Ruhestätte bieten konnte, weil er den Jungen, dem sie gehört hatten, geliebt und bemitleidet hatte.

In jener Nacht wurde der Sarg mit den beiden Liebenden in ein Ruderboot geschafft und zur Anlegestelle der Abtei gebracht. Dort war niemand – die Mönche beteten oben auf dem Tor um Errettung.

Gemeinsam schleppten Sigward, Hilda und Godwyn den Sarg an Seilen zum geweihten Friedhof der Mönche. »Dort hatte sich ein Riss aufgetan, als hätte Gott mit Seinem Erdbeben ein Grab für unsere Last vorbereitet. Wir ließen den Sarg in den Spalt hinab, und ich betete um Gnade für die Seelen der beiden und die meine. Zum ersten Mal in meinem Leben weinte ich …«

Adelia hob den Kopf. »Wie hieß Euer Sohn?«

Rowley fuhr herum. Er hatte vergessen, dass sie da war. Der Abt nicht; er lächelte sie an. »Arthur«, sagte er. »Sein Name war Arthur.«

Natürlich. »Und der andere Junge?« Es schien ihr unerlässlich, ihm eine Identität zu geben.

»Gott möge mir verzeihen«, sagte Sigward, »aber wenn ich seinen Namen je wusste, so habe ich ihn vergessen.« Er streckte ihr eine Hand entgegen. »Verdammt Ihr mich?«

Das stand ihr nicht zu. Der Mann trug seine eigene Verdammnis in sich. Wichtiger war für Adelia, ob diese eine grauenhafte Sünde mit ihren weitreichenden Folgen durch Hildas Versuch, sie zu verbergen, drei weitere Menschen zum Tode verurteilt hatte. Wie weit war es noch bis Lazarus Island? Jedes Mal, wenn sie an einer der kleinen Inseln vorbeikam, von denen die meisten unbewohnt waren und nur von Rindern und Schafen bevölkert wurden, wuchs Adelias erwartungsvolle Anspannung – und wurde enttäuscht.

Doch die Landschaft veränderte sich: Die Luft wurde salziger, und mancherorts, wo die Flut besonders weit ins Inland vorgedrungen war und genug Sand mit sich gebracht hatte, machte das Schilf nun Strandhafer Platz.

Adelia hielt den Blick auf eine Bodenerhöhung gerichtet, die noch recht weit entfernt war und die dunkelblaue gerade Linie des Horizonts durchbrach. Sie hörte nur noch mit halbem Ohr der Beichte zu, die immer weiterging und derer sie überdrüssig geworden war.

Nachdem er die Mönchskutte angelegt hatte, so sagte der Abt, führte er ein Leben voller Buße und verbissener Selbstverleugnung … »Selbst dann noch konnte ich Sünder, der ich war, niemandem meine Tat gestehen, obwohl ich tagtäglich Gott beichtete und um Seine Gnade flehte.«

Er war so vorbildlich gewesen, dass seine Mitbrüder ihn zum Abt wählten, als der alte starb. Er hatte das als Zeichen dafür aufgefasst, dass Gott sich seiner erbarmte und dass Er sich vielleicht noch mehr erbarmen würde, wenn es ihm gelang, Glastonburys Frömmigkeit und Reichtum weiter zu fördern.

»Was ich durch die Gnade Gottes auch tat«, stellte Abt Sigward fest. »Mit jeder Verbesserung stieg meine Gewissheit, dass ich endlich Vergebung erlangt hatte.« Er schüttelte den Kopf. »Doch Gottes Gedächtnis währt länger und anscheinend auch das eines walisischen Barden. Als König Henry uns durch einen Boten ausrichten ließ, wir sollten zwischen den Pyramiden graben, dachte ich: Ist Nemesis endlich gekommen? Nun, ich werde es hinnehmen. Aber nein, ich erhielt eine weitere Gnadenfrist, denn die Leichname wurden für die von König Arthur und Guinevere gehalten. Ich dachte, der Herr hat mir erlaubt, noch schwerer für Ihn zu arbeiten. Vielleicht war das Feuer, das meine Abtei zerstört hat, Seine letzte Strafe, und indem Er ermöglicht, dass mein Sohn und sein Freund für andere gehalten werden, können die beiden und ich die Pilger zurück nach Glastonbury holen.«

Verblüfft riss Adelia ihren Blick von der Insel vor ihnen los und sah den Abt an. Er hatte gelacht, tatsächlich gelacht.

»Unser Herr hat Humor«, sagte er zu Rowley, »wisst Ihr das? Die wahre Nemesis sandte er in Gestalt eines Sarazenen und einer Frau – Vertreter einer Rasse und eines Geschlechts, die der alte Sigward verachtete.«

Adelia wandte sich wieder ab, dankbar, dass die Stimme endlich verstummte. Jetzt waren nur noch die Schreie eines Gänseschwarms zu hören, der landeinwärts flog.

»… Deinde, ego te absolvo a peccatis tuis in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.« Rowley sprach die Absolution mit einer Stimme, die sie kaum wiedererkannte.

Sigward sagte: »Und nun zu diesem armen Kind hier. Ich würde mir wünschen, dass sie von den Sünden freigesprochen wird, die aus meinen entsprangen. Komm, Hilda, danach wirst du dich besser fühlen!« Er hätte die Frau neben seinem Knie ebenso gut ermuntern können, eine Arznei zu schlucken und sich zusammenzureißen.

Adelia hörte Hildas Stimme irgendetwas stammeln, und dann die Rowleys, gepresst, die ihr im Namen Gottes Vergebung gewährte.

Lazarus Island war nun ganz nah, und Adelia konnte erkennen, warum es seine Bewohner gefangen hielt. Der Brue wurde hier träge, zog sich zwischen der Insel und vorgelagerten Sandbänken hindurch, die alle an ihrem tiefsten Punkt einen Tümpel hatten. Sphagnum-Moos, das sich so wunderbar zur Behandlung entzündeter Wunden eignete, gedieh in üppigen Matten.

Aber hier war nichts gesund. Die Matten waberten und stanken nach fauliger Vegetation. Der Treibsand darunter machte schmatzende Geräusche, als lutschte ein Greis an den Zähnen.

Und … »Oh nein, seht nur!«, rief Adelia.

Ein Hirsch zappelte in einer der Matten. Seine Vorderhufe schlugen auf das Moos und den Sand darunter ein. Er warf den Kopf mit dem Geweih hin und her, während er versuchte, den Hinterleib aus dem Sumpf zu befreien. Er brüllte gequält.

»Helft ihm! Können wir ihm nicht helfen?«

Der Abt sah Godwyn an. »Können wir?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wir könnten ihn doch rausziehen«, bettelte Adelia.

»Zu schwer«, sagte Godwyn. »Der Sand … der saugt nach unten. Verzehnfacht das Gewicht. Da könnten wir auch versuchen, ein Haus wegzuschleppen. Würde uns mit in die Tiefe ziehen.«

»Er wird ersticken.« Es war unerträglich, das mit anzusehen, mit anzuhören.

»Nein«, sagte Godwyn wieder sanft. »Er geht nicht unter. Er treibt jetzt und wird weiter so treiben. Die Flut kommt bald – wir sind hier nämlich in einem Mündungsarm. Dann wird es ertrinken, das arme Tier. Is ein leichterer Tod.«

Adelia glaubte das nicht. Der Hirsch wohl auch nicht. Sie konnten sein Brüllen noch hören, als sie um die Insel herumfuhren und auf einen langen Steg zuhielten.

Dahinter lag ein Gelände, das so ordentlich aussah wie ein Bauerndorf mit reetgedeckten Hütten aus Flechtwerk. Es gab Gärten und Felder, auf denen Rinder und Schafe weideten, eine kleine Steinkirche mit Glockenturm. Was immer er auch sonst getan hatte, seine Leprakranken hatte Abt Sigward so gut versorgt, wie er nur konnte.

Jemand läutete die Kirchenglocke, und Menschen strömten zur Anlegestelle, riefen dem Abt Willkommensgrüße zu.

Rowley drehte sich zu Adelia um. »Sie sehen nicht aus wie Leprakranke.«

Auf diese Entfernung vermutlich nicht, dachte Adelia. Manche von ihnen waren wohl noch gehfähig und konnten arbeiten; andere waren vielleicht gar nicht befallen, aber dazu verurteilt, ihr Leben hier zu verbringen, weil sie mit der Krankheit in Berührung gekommen waren.

Jedenfalls waren weder Emma noch Roetger, noch Pippy unter ihnen. Aber sie sah Kinder. Oh Gott, da waren Kinder …

»Kinder?«, hörte sie Rowley fragen.

»In der Tat«, bestätigte der Abt froh. »Die Kirche verlangt zwar, dass Aussätzige in Keuschheit leben, und ich dürfte eigentlich keine Trauungen vollziehen, aber ich tue es trotzdem. Und Taufen. Ich habe menschliche Liebe ebenso schätzen gelernt wie göttliche.«

Wie ihre Häuser, so machten auch die Menschen, die sie an der Anlegestelle erwarteten, einen gepflegten Eindruck, obwohl sie, anders als normale Dorfbewohner, überwiegend einheitlich schwarz gekleidet waren und breitkrempige Hüte trugen, die an Pilgerhüte erinnerten. Als der Kahn anlegte und Godwyn ihn vertäute, wobei er das Tau sorgfältig mit einem Vorhängeschloss an einem Poller sicherte, drängten die Wartenden vor, um Abt Sigward beim Aussteigen zu helfen, umarmten ihn, küssten seine Hände und redeten auf ihn ein. Einige versuchten, ihn zu ihren Hütten zu ziehen, damit er die Kranken segnete, die darin lagen.

So nervös und aufgewühlt Adelia auch war, die Wissenschaftlerin in ihr nahm gleich bei einigen von ihnen die ersten Anzeichen der Krankheit wahr: Magerkeit wegen Appetitverlust, verbogene Hände, Flecken und Ausschlag im Gesicht. Doch selbst diese Menschen hatte die Ankunft des Abtes aus ihrer Mattigkeit gerissen, die unabwendbar mit Lepra einherging.

Wären ihre Gedanken nicht bei Emma gewesen, sie hätte gern Fragen gestellt und Untersuchungen vorgenommen. Was war Lepra? Wurde sie von Eltern auf Kinder übertragen? Warum erkrankten manche daran und andere nicht? Welche Bedingungen begünstigten sie und welche nicht?

So jedoch … »Wo sind meine Freunde?«, fragte sie Godwyn scharf.

Rowley verzog das Gesicht, als er die Menschen vor sich sah, stieg widerstrebend aus dem Kahn, um sich zu Godwyn und Adelia auf dem Steg zu gesellen, und hielt bewusst Abstand zu den Menschen, die sich um Sigward scharten.

Hilda blieb auf dem Boden des Kahns knien. Sie hatte den Kopf auf die Ruderbank gelegt, auf der der Abt gesessen hatte, und ihre offenen Augen starrten ins Leere. »Bin gleich wieder da, Schatz«, sagte ihr Mann zu ihr. Sie rührte sich nicht.

Rowley und Adelia ließen den Abt bei den Leprakranken zurück und folgten Godwyn einen Pfad hinunter, der durch das Dorf führte – das allerdings mit jedem Schitt die Ähnlichkeit mit einem normalen Dorf verlor. Die Menschen, die da vor den Häusern in der Sonne saßen oder an Türen lehnten, plauderten nicht, sie webten nicht und kümmerten sich auch nicht um ihre Kinder; sie wurden bei lebendigem Leibe von einer Krankheit aufgefressen, die an ihrem Fleisch nagte wie eine Ratte an einem Kadaver. Sie sahen einander auf schreckliche Weise ähnlich, weil die fortgeschrittene Lepra ihre Gesichter gleich machte, sie in Löwenfratzen verwandelte.

Der Gefühlsverlust in den Extremitäten, wodurch manche sich verbrannt oder verletzt hatten, ohne es zu merken, war mit für das Fehlen von Fingern und Zehen verantwortlich, die durch Nekrose abgefallen waren. Ein blinder Alter mit nackten Beinen merkte nicht, dass eine Möwe am Stumpf seines Fußes herumhackte.

Adelia scheuchte den Vogel weg, bückte sich und breitete das Ende der Decke, auf der er saß, über seine Beine. Rowley zog Adelia weg. »Um Gottes willen, fass ihn nicht an! Du kannst nichts tun.« Er schob sie weiter.

Alles in ihr schrie danach, irgendetwas zu unternehmen, aber sie wusste von ihrem Stiefvater, dass sich die Schmerzen der Krankheit im frühen Stadium zwar durch Opium lindern ließen, bei diesen Leidenden aber selbst das nicht mehr half. Sie würden langsam sterben, Zoll um Zoll. Nichts blieb ihnen erspart, nicht einmal der Gestank ihres eigenen faulenden Fleisches.

»Des Todes Erstgeborener.« Rowley zitierte aus dem Buch Hiob.

Kein Wunder, dass die Kirche behauptete, diese Menschen würden nicht in die Hölle fahren, wenn sie starben. Sie bewohnten sie schon zu Lebzeiten. Aus einer der Hütten drang ein gestammelter Schrei nach Wasser, ob von einem Mann oder einer Frau war unmöglich zu sagen. Ein kleines Mädchen kam mit einem Eimer heraus und lief zu einer Pumpe. Auch das würde nichts nutzen. Der Durst am Ende war unstillbar.

Sie hatten das Dorf jetzt hinter sich gelassen und sahen in der Ferne das Meer. Die Flut kam, erfrischte die Marsch und die Luft, als wollte sie die Erinnerung an das Gesehene aus ihrem Gedächtnis tilgen.

Lass ein Gutes in dieser Welt sein!, dachte Adelia. Mach, dass Emma und Pippy leben! Und auch Roetger. »Wo sind sie?«

Godwyn zeigte nach vorne, wo im Schatten eines niedrigen Wäldchens eine Schäferhütte stand. »Wollte sie ja nich zu den Aussätzigen stecken«, sagte er.

Adelia fing zu laufen an, scheuchte im Rennen verschreckte Schafe beiseite. Gott sei Dank, Gott sei Dank! Ein dünner Rauchfaden stieg von einer Feuerstelle auf.

Da war ein Bach, und ein kleines, schmutziges Kind in Lumpen baute mit Ästen einen Damm hinein. Adelia sprang über den Bach, riss den Jungen im Laufen hoch und überhäufte ihn mit Küssen.

Eine Vogelscheuche von einer Frau erschien in der Tür der Hütte, die Augen mit der Hand abgeschirmt. Dann fiel sie auf die Knie wie eine Marionette, deren Fäden unversehens durchtrennt worden waren.

Adelia hob auch sie auf, umarmte beide so fest, dass Pippy fast zerquetscht wurde. »Jetzt ist alles gut, Em, du liebes, liebes Ding! Alles wird wieder gut.«

 

Von den drei Ausgesetzten war Roetger in der schlechtesten Verfassung, erschien ausgezehrt und fiebrig. »Er war so tapfer, Delia«, sagte Emma unter Tränen. »Ohne ihn wären wir gestorben.«

Auf dem Rückweg zur Anlegestelle musste er sich auf einer Seite auf eine Krücke und auf der anderen auf Rowley stützen. Godwyn bot seine Hilfe an, doch Emma fauchte: »Komm uns nicht zu nahe, komm uns ja nicht zu nahe!«

»Godwyn hat euch das Leben gerettet«, sagte Adelia sanft zu ihr.

»Ist mir egal. Er soll wegbleiben.«

Immerhin konnte der Wirt sie um das Dorf herumführen, sodass sie sich dem Kahn von einer anderen Seite näherten und ihnen die Bilder des Elends auf der Dorfstraße erspart blieben. Sie nahmen einen Pfad, der hinter den Hütten verlief, als aus Richtung der Anlegestelle ein Schrei ertönte.

Noch mehr Stimmen wurden laut. Godwyn lief los. Eingeschränkt, wie sie waren – Adelia trug noch immer Pippy –, konnten die anderen nicht mit ihm Schritt halten.

Die Kirchenglocke begann zu läuten, feierliche, einzelne Schläge, die einen Tod verkündeten.

Jetzt konnten sie den Kahn sehen. Er war leer. Godwyn war auf dem Steg, wehrte sich gegen zwei Männer, die ihn zurückhielten. Er heulte und schrie.

Verwirrt blickte Adelia in die Richtung, in die die Leute verzweifelt zeigten.

Rowley sagte: »Heilige Maria, sei uns gnädig.«

Die hohe Gestalt von Abt Sigward, durch die Ferne verkleinert, schritt hinaus in den Sumpf. Er hatte einen Arm um Hilda gelegt, die sich an ihn klammerte, während er sie stützte. Ihre Füße ließen das Wasser der nahenden Flut aufspritzen.

Rowley fragte einen der Männer in der Nähe: »Können wir nicht hinter ihnen her?«

»Geht nich«, sagte der Mann – er weinte. »Treibsand. Gott sei ihnen gnädig!«

Sie konnten nur zusehen. Die Glocke schlug weiter. Die beiden Gestalten waren jetzt bis zu den Knien im Wasser, doch der Abt drängte immer weiter vorwärts, trug die Frau beinahe, die an ihm hing.

Plötzlich, als hätte irgendetwas ihre Beine gepackt, blieben sie wie angewurzelt stehen und sanken, ganz, ganz langsam, bis nur noch ihre Schultern über der steigenden, sich kräuselnden Flut zu sehen waren. Der Abt hievte die Frau hoch, sodass ihr Kopf auf einer Höhe mit seinem war, und etwa eine Minute lang – die wie eine Ewigkeit schien – verharrten sie so.

Zuletzt hob sich der Arm des Abtes, der sich als Umriss vor einem metallisch blauen Himmel abzeichnete, und sie hörten seine Stimme über das Wasser schallen.

»Herr Jesus, Sohn Gottes, sei uns gnädig!«