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Kapitel vierzehn

Im Sattel eines geruhsamen Zelters und mit Millie im Rücken trabte Adelia am Kopf eines Reiterzuges über die Straße nach Wells.

In einer ihrer Satteltaschen steckte die Vorladung, im Bischofspalast vor König Henry von England zu erscheinen. Aus der anderen Tasche ragte ein langes, schlankes geflochtenes Behältnis, das für gewöhnlich dazu diente, Angelruten zu transportieren, und nun einen Gegenstand enthielt, für den die Monarchien und Abteien Europas ihren ganzen Besitz hergeben würden – oder zumindest den anderer Leute.

Hauptmann Bolt, der zum »Pilgrim Inn« gekommen war, um sie und Mansur abzuholen, hatte das Behältnis argwöhnisch beäugt, aber sie hatte sich geweigert, ihm zu erklären, was sich darin befand. »Ein Überraschungsgeschenk für den König«, hatte sie gesagt und sich dabei geschämt.

Als Gyltha und Mansur in den Gästesaal gerufen worden waren, um sich Excalibur anzusehen und zu erfahren, was in der Grabkammer oben auf dem Tor lag, hatte Adelia die Flamme in Roetgers und Emmas Augen in die ihren überspringen sehen, wie die Spiegelung eines Leuchtfeuers auf einem Berggipfel ein Signal an das nächste sendet.

Danach Stille. Niemand hatte darüber gesprochen, als genügte das Wissen darum, als würde es durch Äußerungen nur herabgewürdigt.

Rhys hätte als Kelte vielleicht den größten Anspruch darauf gehabt, es zu erfahren, aber sie hatten es ihm verschwiegen, weil sich das Wunder wohl nicht einmal im Lied hinreichend zum Ausdruck bringen ließ.

Adelia war klar geworden, wie unbedeutend es war, gegen wen Arthur und sein Schwert gekämpft oder wofür sie gekämpft hatten; ihre Legende genügte, weil sie ein Ideal verkörperte, um das sich eine Nation scharen konnte. Keine Religion dieser Erde, keine Botschaft von universaler Brüderlichkeit konnte die quälende Sehnsucht der Menschen nach einem Helden stillen, der allein ihnen gehörte. Dass Arthur anders als der fränkische Karl der Große oder der spanische El Cid oder der arabische Omar bin Al-Khattab – »Wollt ihr die Menschen versklaven, nachdem sie von ihren Müttern als frei geboren wurden?« – geschichtlich nicht nachzuweisen war, tat dem keinen Abbruch. Irgendwo, irgendwie hatte dieses Leuchtfeuer gestrahlt, und sein Schein hatte Jahrhunderte einer ansonsten undurchdringlichen Dunkelheit überlebt.

Ein Märchen, hatte sie verzagt gedacht, und doch bin ich seine Hüterin. Das Banner war an sie übergeben worden, ob sie wollte oder nicht, daran glaubte oder nicht.

Und ich bin dabei, sie zu verraten.

Denn Adelia hatte eine Gunst zu erbitten, und das Schwert in dem Angelkorb sollte dafür die Gegenleistung sein. Im Umgang mit Henry Plantagenet war es ebenso ratsam, ihm etwas anbieten zu können, wie es ratsam war, einen langen Löffel zu haben, wenn man mit dem Teufel zu tun hatte – was oftmals auf dasselbe hinauslief.

»Wie hat der König Master Mansurs Bericht aufgenommen, Hauptmann?«, fragte Adelia.

»Wie ich höre, war er … enttäuscht, Mistress.«

»Ist das ein Euphemismus dafür, dass er in den Teppich gebissen hat?«

Hautmann Bolt wusste nicht, was ein Euphemismus war, aber er vermutete, dass ihre Beschreibung die Szene ziemlich genau wiedergab, wenngleich sich die königlichen Zähne, da ihm der Bericht mitten auf dem englischen Kanal übergeben worden war, vermutlich mit Planken hatten begnügen müssen.

Excalibur sollte nicht als Friedensgabe dienen, sondern als Gegengeschäft, und sie fühlte sich furchtbar deswegen, als würde sie Britanniens mythische Vergangenheit für ein Linsengericht hergeben.

Hoffentlich ist er seiner würdig, dachte sie. Aber ach, wie würde er seinen toten Arthur ausschlachten, die Träume der Waliser ersticken, Arthurs Knochen benutzen, um Glastonbury wieder aufzubauen, die Trommel rühren wie ein Marktschreier, um Menschenmassen in diese stille Grabkammer im Berg zu locken.

So kam es, dass Adelia ungewohnt unschlüssig nach Wells ritt und Angst vor der Entscheidung hatte, die sie dort würde treffen müssen.

Zum Teil lag es auch daran, dass sie einfach müde war. Als Emma und Roetger vor einigen Tagen vor die Assise gerufen worden waren und Pippy mitgenommen hatten, hatte Adelia erwartet, ein paar erholsame Tage mit Allie verbringen zu können. Das hatte sie auch, aber dann waren die Bilder der vergangenen Wochen über sie hergefallen wie tollwütige Hunde, als hätten sie nur darauf gewartet, dass ihr Verstand nicht mehr auf der Hut war, hatten die Stunden im Marschland mit Bildern von Sigward und Hilda im Treibsand verdorben, hatten sie nachts wieder in dem unterirdischen Gang eingesperrt und sie Wolf ein ums andere Mal töten lassen.

Und dann waren sie und Mansur an die Abteimauer bestellt worden, um dem Bischof von St. Albans und den zwölf Männern in seiner Begleitung – den Geschworenen, die über die Zehnschaft urteilen würden, wenn sie vor der Assise erschien – Eustace’ Unschuld nachzuweisen. Es war leichter gewesen, als sie gedacht hatte. Die Geschworenen waren allesamt Bauern aus der Gegend, die sich mit Fallen auskannten, und sie hatten, obwohl sie Mansur zunächst misstrauisch beäugten, dem Bischof aufs Wort geglaubt, dass der Araber ein königlicher Ermittler war, ein Fachmann mit der Vollmacht des Königs, den Brand der Abtei zu untersuchen – schließlich wunderte es sie nicht, wenn König Henry, der ja selbst Ausländer war, sich merkwürdige Diener aussuchte.

»Ich hatte gehofft, der Fall würde jetzt, wo die Abtei ihre Beschuldigung gegen Eustace zurückgezogen hat, eingestellt werden«, hatte Rowley zu Adelia gesagt. »Aber der Brand war ein dermaßen schwerwiegendes Ereignis, dass die Richter der Sache nachgehen müssen. Die Zehnschaft ist aufgefordert worden, vor der Assise zu erscheinen.«

Sie wiederum hatte gehofft, Rowley könnte die Nacht bei ihr verbringen, sie brauchte seine Nähe, nicht bloß körperlich, sondern auch, um die Albträume abzuwehren. Aber seine Pflichten in der Assise riefen ihn nach Wells, und er war mit den Geschworenen im Schlepptau zurückgeritten.

Und während sie an diesem schönen, sonnigen Morgen die Waldstraße entlangritt, tat es ihrem aufgewühlten Zustand auch nicht gerade gut, im Geäst der Bäume, die die Straße säumten, menschliche Körperteile, hier ein Bein, dort einen Rumpf, hängen zu sehen.

Hauptmann Bolt und seine Männer hatten den Wald gründlich von Wolfs restlichen Briganten und allen anderen gereinigt, die für ihre Anwesenheit im Wald keine Erklärung oder Genehmigung vorzuweisen hatten. »Im Handumdrehen vor das Gericht der Forstwache, abgeurteilt und dann zack, Rübe ab«, sagte der Hauptmann anschaulich.

»Müssen sie denn so … zur Schau gestellt werden?«, fragte Adelia.

»Befehl des Königs«, sagte Bolt. »Damit andere Arsch… – Briganten es sich zweimal überlegen, bevor sie’s denen da nachtun.«

Und das, dachte Adelia, ist der König, den ich für zivilisiert gehalten habe.

Nun, er war es jedenfalls gewesen. Er hatte ihr einmal das Leben gerettet, als die Kirche sie verdammen wollte. Er konnte charmant sein, sie zum Lachen bringen. Er war dabei, neuere und gerechtere Prinzipien in die englische Rechtsprechung einzuführen, und obwohl das alles in ihr Hoffnung auf weitere Verbesserungen geweckt hatte, haftete ihm doch zugleich eine Brutalität an, die ihn als einen Mann seiner Zeit kennzeichnete.

Er verwirrt mich, dachte sie müde. Soll ich ihm seinen toten Arthur liefern? Oder nicht?

Holzarbeiter waren bereits dabei, die vorgeschriebene, einen Bogenschuss breite baumfreie Schneise rechts und links der Straße zu schlagen, sodass die Luft von dumpfen Axtschlägen erfüllt war und aromatisch nach frisch gefälltem Holz duftete – abgesehen von dem gelegentlichen Verwesungshauch, wenn der Reiterzug an einem Stück Fleisch vorbeikam.

Hinter den Pferden – mit einigem Abstand, weil die Anwesenheit eines königlichen Offiziers sie beunruhigte – ritt die Zehnschaft auf ihren Eseln, was nach Meinung von Hauptmann Bolt die Atmosphäre erheblich dämpfte.

Alf hatte seine Stimme wieder. Adelia konnte seine Bemerkungen und die der anderen hören – und hoffte, dass der Helm des Hauptmanns sie seinen Ohren fernhielt. Die Männer versuchten, die Besitzer der blutigen Fleischbrocken zu identifizieren.

»Will, meinst du, das da is ein Stück von Scarry?«

»Niemals. Scarry hatte schwarze Haare auf den Armen. Sieht mir mehr nach Abel aus. Der hatte so schiefe Finger.«

»Stimmt, die hatte er.«

Zu Adelias Bedauern war Gyltha im »Pilgrim Inn« geblieben. Allie hatte ihren Lurcher nicht allein lassen wollen, und da der Hund für die passionierten Weidmänner, die bei der Assise mit Sicherheit zugegen sein würden, ein canis non grata war, hatte Gyltha beschlossen, bei dem Kind zu bleiben. »Außerdem hab ich von Wells die Nase voll, is mir viel zu laut.«

»So bist du doch sonst nicht.« Gyltha liebte Abwechslung und Trubel.

»Wart’s ab, bis du da bist! Da kriegst du keine Luft mehr.«

Die Schicklichkeit verlangte zwingend eine weibliche Begleiterin, daher war Millie rekrutiert worden. Inwieweit das Mädchen die Zeichnungen verstanden hatte, mit denen Adelia versucht hatte, ihr die Reise und deren Zweck begreiflich zu machen, war schwer zu sagen.

Gyltha hatte in Bezug auf Wells recht gehabt. Der lärmende Tumult war schon aus einer Meile Entfernung zu hören.

Das durchs Land reisende Assisengericht war eine gefürchtete Heimsuchung, eine neuartige Idee von König Henry II., so war allen erzählt worden, um im Laufe der Zeit ein allgemeingültiges Recht im ganzen Land einzuführen. Es sollte an die Stelle der willkürlichen und oftmals voreingenommenen Urteile treten, die durch die örtlichen Gerichte gefällt wurden, in denen Sheriffs, Barone und Grundherren saßen. Diese hatten, während die Assise vor Ort war, praktisch keinerlei Befugnis mehr.

Wie die Mühlen Gottes, so mahlte auch die Assise langsam – sie war seit über zwei Wochen in Wells, ohne dass ein Ende abzusehen war –, und sie mahlte äußerst fein, ließ sich Einsprüche, Beschwerden und Berufungen vortragen, erforschte den Zustand des Countys und die Angelegenheiten fast all seiner Bewohner, verhandelte Fälle von Mord, Vergewaltigung, Diebstahl und Raub, überprüfte sogar, ob selbst die kleinste Bäckerei und Schankwirtschaft ehrliche Maße hatte.

Sie war für Somerset, das sie tatsächlich gefürchtet hatte, etwas völlig Neues, keine Frage. Die Richter, große und ehrfurchtgebietende Lords mit gewaltigem Grundbesitz und eigenen Burgen in England und der Normandie, mussten beherbergt werden, ganz zu schweigen von ihren Dienern und den Hunderten Schreibern, die für die Arbeit erforderlich waren. Wohin mit ihnen?

Die Wahl war auf Wells gefallen, die größte Stadt im County.

Und jetzt, Gott sei uns gnädig, war der König gekommen, um seine schreckliche Assise bei der Arbeit zu beobachten, sogar auf ihrer Bank Platz zu nehmen. Wohin mit ihm?

Letzten Endes hatte der Bischof von Wells seinem königlichen Herrn den Bischofspalast zur Verfügung gestellt und sich mit Kopfschmerzen ins Bett gelegt.

Die Straßen waren verstopft. Noch immer wurden Männer und Frauen aus Kerkern in entlegenen Teilen des Landes in vergitterten Karren hergebracht, um sie hier vor Gericht zu stellen. Überall hasteten Gerichtsschreiber herum, Vorladungen in der Hand. Offizielle Ale-Koster standen leicht schwankend in Schankhaustüren und prüften, ob das Gebräu aus Gerste und Hefe auch nicht mit zu viel Wasser verdünnt war. Bäcker warteten neben ihren Öfen, während festgestellt wurde, ob die Brotlaibe auch das vorgeschriebene Gewicht hatten. Marktschreier, die ihre Handelserlaubnis deutlich sichtbar zur Schau stellten, priesen ihre Waren an. Spielleute, Gaukler und Geschichtenerzähler nutzten die Gelegenheit, um die Menschenscharen zu unterhalten. Pferde wurden verschachert – ebenso wie junge Frauen im heiratsfähigen Alter. Viele Leute kamen von weit her, nur um einen Blick auf ihren König werfen zu können.

Hauptmann Bolt und seine Männer bahnten sich mit der flachen Seite ihrer Schwerter einen Weg durch die Menge.

Auf einem großen Feld vor dem Bischofspalast saßen die Reiserichter – die Earls, Barone und Bischöfe, denen Henry zutraute, Recht zu sprechen – auf Bänken im Schatten eines gestreiften Sonnensegels, die Beklagten, Zeugen und Geschworenen vor ihnen. Scharfrichter standen bei ihren Galgen, und auf Tischen daneben lagen Brandeisen und Äxte bereit.

Hauptmann Bolts Reiterzug überquerte hufeklappernd die Brücke über den bischöflichen Wassergraben und trabte dann durch die gepflegten und nach Rosen duftenden bischöflichen Gärten, um vor dem prächtigen Bischofspalast zu halten.

Mansur half Adelia und Millie vom Pferd und zog den langen Korb aus der Satteltasche. »Pass gut darauf auf!«, sagte Adelia zu ihm.

Ein Reitknecht übernahm ihre Pferde, zuckte aber zurück, als er die Esel der Zehnschaft sah. »Die kommen mir nich in meinen Stall.«

Hauptmann Bolt hielt ihm eine Vorladung unter die Nase. »Der Bischof von St. Albans wünscht diese Männer zu sehen.«

»Was, die da?« Der Reitknecht blickte von dem Siegel zur Zehnschaft und dann zu Mansur. »Und den da?«

»Nun mach schon!«, sagte der Hauptmann.

Dieser Wortwechsel wiederholte sich noch einige Male, ehe sie die Stufen zum Palast hinaufgehen und die Eingangshalle betreten durften. Sie warteten, während der Bischof von St. Albans geholt wurde. Die Zehnschaft nutzte die Zeit, um herumzuschlendern und sich die Ausstattung und Ornamente der Halle anzusehen, wobei der Haushofmeister sie mit der Miene eines Mannes beobachtete, über dessen Teppiche eine verdreckte Schafherde trampelt.

»Sieh dir das an, Will!« Alf starrte einen besonders schönen Wandteppich an. »Das is doch Noah, wie er die Arche baut, nich?«

»Da is mordsmäßig dran rumgestickt worden, Alf. Kostet mindestens zehn Shilling, würd ich schätzen«, sagte Will mit Kennerblick.

»Na, so kriegt er die Arche jedenfalls nich gebaut, der hält die Krummaxt ganz falsch.«

Rowley kam mit großen Schritten auf sie zu. In vollem Ornat und mit Mitra sah er imposant aus, aber müde. Er verneigte sich vor Mansur. »Was um alles in der Welt hast du da?«

»Das ist ein Korb für Angelruten«, antwortete Mansur wahrheitsgemäß auf Arabisch, da andere Leute zuhörten.

Rowley zog die Augenbrauen hoch, fragte aber nicht weiter. Er verneigte sich in Adelias Richtung und nickte der Zehnschaft zu. »Kommt mit!«

Hauptmann Bolt sagte: »Mylord, ich muss Mistress Adelia so bald wie möglich zum König bringen.«

»Der König ist in einer geheimen Beratung mit dem päpstlichen Gesandten, die noch einige Zeit dauern wird«, erwiderte Rowley. »In der Zwischenzeit muss die Lady gegebenenfalls für Master Mansur übersetzen. Es wird nicht lange dauern.«

Er führte sie nach draußen und über einen kleinen Pfad auf das Gerichtsfeld. Es war, als suchte man sich einen Weg zwischen Hunderten aufgeregter Bienen hindurch. Geschworene, eine Neuerung, die der König verlangt hatte, trugen den Richtern halblaut vor, was sie über eine Beschuldigte und den Fall wussten. Eine Frau war angeklagt, ihre Nachbarin verprügelt zu haben, weil die ihre Wäsche auf der Leine mit Schlamm beworfen hatte.

»Aber wir meinen, es muss zwischen den beiden schon immer böses Blut gegeben haben«, sagte der Obmann. »Davor hat Alice nämlich Margaret angegriffen, und da ging’s um einen Krug Milch. Da is eine so schlimm wie die andere, meinen wir …«

Adelia wäre gern noch etwas geblieben, um sich das Urteil im Fall Alice und Margaret anzuhören, aber Rowley scheuchte sie vorwärts.

Ein Stück weiter wurde ein Kerl aus dem Königreich verbannt, obwohl er von der Anklage der Vergewaltigung freigesprochen worden war, nachdem die Anklägerin keine Beweise gehabt hatte. Aber die Geschworenen erklärten, dass er ihres Wissens ein schlechter Charakter und eine Plage für alle Frauen war.

Adelia merkte, dass sie Henry Plantagenet gegenüber wieder etwas milder gestimmt war. Wie viel gerechter war es doch, solche Geschworenen einzusetzen, anstatt Menschen in einen Teich zu werfen, um festzustellen, ob Gott sie oben bleiben (schuldig) oder untergehen (unschuldig) ließ – eine Form von Gerichtsverfahren, von der der König hoffte, sie irgendwann ganz abzuschaffen.

Sie hörte den Richter sagen: »Und sein Hab und Gut fällt der Krone anheim.«

Na schön, das auch. Wenn es um Geld ging, kannte Henry keine Hemmungen.

Hinter Adelia ging Millie, deren unstete Augen alles aufnahmen, was ihren Ohren verschlossen blieb. Sie erreichten ihr Ziel, eine Esche, unter der ein Richter auf einem Podium saß und übellaunig einen Fliegenwedel vor dem schweißnassen Gesicht schwenkte. Vier Männer wurden aus einem heillos überfüllten Pferch in der Nähe geholt, wo die Angeklagten des Tages verwahrt wurden – Adelia vermutete in ihnen die übrigen Mitglieder von Eustace’ Zehnschaft, die gefangen genommen worden waren.

Ein tonsurierter Schreiber saß an einem niedrigeren Tisch neben dem Richter, einen ganzen Berg Pergamentrollen vor sich.

Will, Alf, Toki, Ollie und das Mitglied der Zehnschaft, das Jesse hieß, wie Adelia erfahren hatte, wurden von einem Gerichtsdiener mit der Statur eines Goliath zu ihren Kameraden gestoßen.

Der Schreiber griff nach einer der Rollen. »Mylord, nun kommen wir zu einem Fall, in dem der Abt von Glastonbury einen gewissen Eustace aus Glastonbury, Mitglied der vor Euch erschienenen Zehnschaft, beschuldigt, das große Feuer gelegt zu haben …«

Der Richter funkelte die Zehnschaft an. »Kann mir gut vorstellen, dass er’s getan hat, dieser Unhold. Die sehen doch alle aus wie Brandstifter!«

»Ja, Mylord, aber …«

»Und diese Halunken haben mich auch noch warten lassen.« Der Richter zeigte auf Will und seine Männer. »Das ist an sich schon ein Verbrechen.«

»Ja, Mylord, aber die Anklage wurde zurückgezogen.«

»Zurückgezogen?« Es klang wie das Bellen einer Füchsin, der man ihre Jungen geraubt hat.

»Sowohl der Abt von Glastonbury als auch Eustace sind unterdessen verstorben, Mylord, und …«

Der Zorn des Richters legte sich ein wenig. »Guter Mann, Abt Sigward. Bin ihm mal zu Ostern in Winchester begegnet. Frommer Mann.« Er sammelte sich. »Aber nur weil Kläger und Beklagter tot sind, heißt das nicht, dass Eustace es nicht getan hat oder dass diese Halunken aus ihrer Verantwortung für ihn entlassen werden sollten.«

»Anscheinend hat er es wirklich nicht getan, Mylord.«

»Nein? Woher wissen wir das? Hat irgendwer gesehen, wie er es nicht getan hat? Der Brand war eine Tragödie, irgendwer muss dafür bezahlen.«

»Ja, Mylord, aber …«

Rowley trat vor. »Ich vertrete die Abtei in diesem Verfahren, Mylord. Die Mönche dort trauern noch immer um ihren Abt und können nicht selbst kommen. In ihrem Namen wird die Klage zurückgezogen.«

Der Richter stand auf und verbeugte sich. »Mylord Bischof.«

»Mylord.« Rowley verbeugte sich ebenfalls. »Es wurde bewiesen, dass Eustace keine Schuld an dem Feuer trug …«

»Von wem?« Der Richter weigerte sich, seine Beute ziehen zu lassen.

»Es wurde unabsichtlich von einem der Mönche verursacht.« Rowley holte ein Dokument aus seiner Tasche, die er an einer Goldkordel um die Taille hängen hatte. »Das hier ist die Aussage eines gewissen Bruders Titus …«

»Der zweifellos aus christlicher Nächstenliebe die Schuld auf sich nimmt. Seid Ihr sicher, dass dieser Eustace nicht doch seine Hände im Spiel hatte?«

Der Schreiber mischte sich ein und deutete auf zwölf Männer, die die ganze Zeit dabeistanden. »Mylord, um der Sache auf den Grund zu gehen, wurden Geschworene benannt, die sich zur Abtei begeben haben, um sich den Beweis für Eustace’ Unschuld zeigen zu lassen …« Der Gerichtsdiener winkte den Männern, denen ihre Nervosität anzusehen war.

Nach Auffassung des Richters waren sie nicht viel höher einzustufen als die Zehnschaft, weil sie aus derselben Schicht stammten. »Benannt von guten Leuten, hoffe ich?«

»Von ausgezeichneten, Mylord, und sie haben sowohl die Spuren des Brandes als auch den Beweis in Augenschein genommen.«

»Dann gab es wirklich einen Beweis?«

Der Obmann der Geschworenen trat vor. »Mylord, der dunkle Herr dort hat uns alles gezeigt und erklärt … Es ging dabei um Finger in einer Falle, sehr schlau war das …«

Der Richter hatte seine Aufmerksamkeit auf Mansur gerichtet. »Ein Sarazene? Und was hat er da bei sich? Irgendeine fremdländische Waffe?«

Der Obmann ließ nicht nach. »Klar, die Lady hat uns sagen müssen, was er erklärt hat, wo sie doch dieselbe Sprache reden kann wie der …«

»Sie spricht Arabisch, ja?« Die Augen des Richters ruhten jetzt auf Adelia. »Ist wahrscheinlich nicht viel christlicher als er. Und das sind also Zeugen?«

»Mylord«, sagte der Bischof von St. Albans, »Master Mansur wird vom König als besonderer Ermittler eingesetzt …«

»Wo er die bloß immer auftreibt«, sagte der Richter zum Himmel gewandt. Und dann: »Von mir aus kann er vom Engel Gabriel eingesetzt werden. Ausschlaggebend sind die Geschworenen hier. Falls sie ihrer Sache sicher sind …«

»Sind wir, Mylord. Eustace hat’s nich getan.«

»Na dann.« Aber der Richter suchte noch immer nach einer Schwachstelle. »Dennoch, verehrte Geschworene, könnt Ihr Euch für den guten Charakter dieser Zehnschaft verbürgen?«

Eine schreckliche Pause entstand. Tokis Hand fuhr unter seine Tunika, und er fing an, sich zu kratzen wie ein Hund, den Fliegen in den Wahnsinn treiben.

»Wir wissen nich genau, wie sie gelebt haben, seit ihre Häuser niedergebrannt sind«, sagte der Obmann vorsichtig, »aber keiner weiß irgendwas, was gegen sie spricht, also nix Genaues. Und Will aus Glastonbury, der da vorne, is ein richtig guter Bäcker.«

Die Richter seufzte. »Dann sind sie frei.« Sein Schreiber reichte ihm eine Pergamentrolle, und er kritzelte eine Unterschrift darauf. »Wir danken dem Bischof von St. Albans für sein Erscheinen. Ruft den nächsten Fall auf!«

Der nächste Fall, ein Mann, der Fußfesseln trug, wurde vom Gerichtsdiener aus der Umzäunung gezerrt und zum Richter geschleppt. Eine neue Gruppe von Geschworenen schlurfte in den Schatten des Baumes.

Die Zehnschaft blieb einen verwirrten Moment wie angewurzelt stehen, ehe Will vortrat und dem Richter eine verdreckte Hand hinstreckte. »Sehr verbunden, Mylord.«

Der Gerichtsdiener stieß ihn weg. Alf rannte hinter dem Obmann der Geschworenen her, die im Gehen begriffen waren, und versuchte, ihn zu küssen.

Will lupfte seine Kappe vor dem Bischof, brabbelte irgendwas in Mansurs und Adelias Richtung und latschte davon.

»Das ist aller Dank, den du bekommst«, sagte Rowley. Es war das erste Mal, dass er Adelia an diesem Tag ansprach. Er hatte sie kaum eines Blickes gewürdigt.

Gerührt sah sie die Zehnschaft in der Menge verschwinden. »Es gibt Geschworene«, sagte sie. »König Henry, für diese Männer, für alle, die vor Gericht stehen, danke ich dir.«

»Der größte Gesetzgeber seit Salomon«, sagte Rowley, und dann zwinkerte er. »Wohlgemerkt, es ist auch sehr einträglich. Aber all die Geldstrafen und beschlagnahmten Güter sind in Henrys Taschen immer noch besser aufgehoben als bei irgendwem sonst.«

Ein Schreiber versuchte, den Bischof auf sich aufmerksam zu machen. »Mylord, Ihr seid als Richter für die Verhandlung gegen den Lord von Newcastle vorgesehen. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet …«

Mit einem Winken war Rowley verschwunden.

Und so wird es fortan sein, dachte Adelia, keine Anerkennung in der Öffentlichkeit, kurze Augenblicke, nichts von Dauer. Trotzdem, Allie und ich entscheiden uns frohen Herzens dafür.

Hauptmann Bolt stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Der König, Mistress …«

Adelia nahm Mansur den langen Korb ab. Im Geist entschuldigte sie sich bei den Knochen oben auf dem Hügel: Ihr müsst wissen, dass Henry letztlich Euer Erbe ist. Seht nur, wie viel Gerechtigkeit er auf Eure Insel gebracht hat!

Im Palast führte der Haushofmeister den Hauptmann, Adelia, Mansur und Millie über eine prächtige Treppe auf eine lange, von zahllosen Fenstern erhellte Galerie, in der eine ebenso lange Schlange von Menschen wartete. Man hatte ihnen Bänke hingestellt.

»Bittsteller«, sagte Hauptmann Bolt abfällig. »Wie lange müssen wir warten? Der König möchte diese Lady dringend sehen.«

»Der Lord König berät sich mit dem päpstlichen Gesandten, Mistress«, sagte der Haushofmeister. »Sobald er fertig ist … Herrgott, willst du wohl dafür sorgen, dass dieses verdammte Schwein nicht auf den Boden scheißt!«

Es war ein hübscher Boden, mit Keramikwappen gefliest. Es war ein hübsches Schwein, wenn auch mit einer unberechenbaren Verdauung. Die beleibte Bäuerin, die es an der Leine führte, nickte freundlich, hob es sich auf den Schoß und wischte ihm den Hintern mit ihrem Ärmel ab.

»Was hat die überhaupt hier zu suchen?«, wollte der Haushofmeister von einem königlichen Schreiber wissen, der in der Tür des Empfangsraums stand, eine Pergamentrolle in der Hand und ein tragbares Schreibpult um den Hals gehängt. Adelia hatte ihn schon mal gesehen und versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern.

»Alle Bittsteller, hat der König angeordnet«, entgegnete der Schreiber. »Sie ist eine Bittstellerin. Vielleicht ja auch das Schwein.«

»Dann werde ich jetzt Bittsteller für einen verdammten Eimer und Lappen«, sagte der Haushofmeister verbittert.

Die meisten der bunt zusammengewürfelten Menschen in der Galerie waren aufgeregt und übten lautlos, was sie dem König sagen wollten. Nur die Bäuerin schien völlig entspannt und legte eine Kaltblütigkeit an den Tag, die einer Adeligen zur Ehre gereicht hätte.

Adelia und Millie setzten sich neben sie. Aus den geöffneten Fenstern des Empfangszimmers, in dem der König mit dem Gesandten sprach, drangen Gesprächsfetzen durch die sonnige Luft und die offenen Fenster der Galerie, wenngleich nur Henrys Stimme deutlich zu vernehmen war. Schon in guten Zeiten war sie durchdringend – und im Augenblick waren die Zeiten offensichtlich nicht gut.

»Kommt nicht in Frage, Monseigneur. Ich werde ihnen nicht die Zunge rausreißen und ihnen auch nicht die Eier oder irgendeinen anderen Teil der Anatomie abschneiden lassen. Und ich lasse sie erst recht nicht hinrichten.«

Die Antwort des Gesandten war leiser und beherrschter. Adelia verstand nur das Wort »Ketzer«. Dann: »Ketzer? Weil sie den Ablasshandel ablehnen? Mir gefällt der auch nicht. Ich habe gelernt, dass Sünden in der Hölle bezahlt werden und nicht mit einer Handvoll Barem an den nächstbesten Priester. Macht mich das auch zum Ketzer?«

Erneutes Gemurmel.

Adelia sah dem Schreiber an der Tür an, dass er unruhig wurde – Robert, so hieß er, Master Robert.

»Dann macht ihr es doch!« Wieder die Stimme des Königs. »Soll die Kirche sie doch bestrafen – ach, ich vergaß, das dürft ihr ja nicht, richtig? Die Kirche darf kein Blut vergießen, aber sie sieht frohen Herzens zu, wenn Ketzer von einem weltlichen Gericht bei lebendigem Leibe gehäutet werden. Nur nicht eure Schreiberlinge, oh nein, das würden sie niemals tun. Ich hab einen Fall in Nottingham, wo sich ein Priester an einem Sechsjährigen vergangen hat. Stellt den Angeklagten vor Euer Kirchengericht, hab ich dem Bischof gesagt, und wenn Ihr ihn schuldig sprecht, was Ihr tun werdet, übergebt ihn an mein Gericht – wir sorgen dann dafür, dass er sich nie mehr an irgendwem vergreift. Aber oh nein, der Mann ist Priester; Priester darf ich nicht anrühren, das ist reine Kirchenangelegenheit – und so läuft der Hundsfott frei rum, um es bei der nächsten Gelegenheit wieder zu tun.«

Fang nicht von Becket an!, dachte Adelia und verzog das Gesicht. Gib ihnen keinen Trumpf in die Hand!

Dass er den Streit mit dem König gewonnen hatte, mochte Erzbischof Becket das Leben gekostet haben, aber es hatte ihm die Heiligsprechung eingebracht und dem Klerus die fortgesetzte Unantastbarkeit durch weltliche Gerichtsbarkeit.

Die Tür des Empfangsraums öffnete sich. Ein dicker, wütender Mann im Gewand und mit dem scharlachroten Hut eines Kardinals kam heraus. Adelia nahm einen Hauch Parfüm- und Schweißgeruch wahr, als er schwerfällig vorbeistapfte. Der Plantagenet stand in der Tür und sah ihm hasserfüllt nach.

»Ähm«, sagte Master Robert kläglich.

»Was?«, herrschte sein König ihn an.

»Nun, wir bewegen uns hier auf recht dünnem Eis, Mylord. Der Monseigneur ist immerhin Repräsentant des Papstes. Und der Papst …«

»Kann das Interdikt über England verhängen, falls ich seine Ketzer nicht bestrafe. Danke, Robert, ich weiß. Wie viele von diesen verdammten Häretikern sind es denn?«

»Drei, Mylord.«

Henry seufzte. »Also schön. Sag dem Scharfrichter, er soll ihnen ein H in die Stirn brennen und sie dann laufen lassen. Mal sehen, ob das Seine Heiligkeit zufriedenstellt. Aber das Eisen soll nicht zu tief eindringen!«

»Jawohl, Mylord.« Master Robert machte sich eine Notiz. »Ich fürchte, Ihr werdet der Brandmarkung beiwohnen müssen. Dann kann der Kardinal dem Papst immerhin melden, dass Ihr die Strafe durch Eure Anwesenheit gebilligt habt.«

Der König spuckte aus. »Der kann froh sein, wenn er nicht berichten muss, dass ich ihm das Eisen in den Arsch geschoben habe … Ach, also gut, sag Bescheid, wenn der Scharfrichter bereit ist. Nun denn, wer ist als Nächstes dran?« Sein Blick fiel auf das Schwein. »Was macht das hier?«

»Ich glaube, Mistress Hackthorn hat eine Bitte, Mylord.«

»Nee, hab ich nich.« Die Bäuerin wuchtete ihre Körperfülle von der Bank, das Schwein noch immer im Arm. »Ich bin hier, weil ich mich bedanken will, jawohl. Das Mastschweinchen hier is ein Geschenk für Euch, König Henry, Ihr Grundguter.«

»Tatsächlich?« Henry ging interessiert auf sie zu. »Wofür denn?«

»Von meinen lieben Triffin, Mylord. Lord Kegworth, der Gurney Manor besitzt, hat gesagt, dass unser Grundstück ihm gehört. Er hat gesagt, weil mein Triffin kein Freier is, würd’s ihm nich gehören, und hat’s uns weggenommen. Was gelogen war, wo wir das Land doch schon seit König Harold hatten …«

Henry sah Master Robert an.

»Äh, ja, Mylord«, sagte der Schreiber und ging seine Notizen durch. »Ein Gesuch von Master Hackthorn aus Westbury, dass Lord Kegworth sich ungerechtfertigt sein Land angeeignet hat. Er hat einen Erlass zur neuen Besitzergreifung erworben, und die Angelegenheit wurde vor zwei Tagen vor einer Jury Gleichgestellter verhandelt, die besser über den Fall Bescheid wussten, als die Richter …«

»Ach ja?«, fragte Henry plötzlich hocherfreut. Er sah Mistress Hackthorn an. »Wie viel hat Euch der Erlass gekostet?«

»Zwei Shilling, Mylord. Was er denen wert war … wie nennen die sich noch? Geschworene?«

»Zwölf gute und wahrhaftige Männer«, sagte Henry und nickte.

»Und das waren sie, Mylord. Sonst wären wir jetzt ohne Obdach. Die haben gesehen, dass wir recht hatten, und uns unser Land zurückgegeben. Wo wir Euch für danken wollen, und wir hoffen, dass Ihr das Mastschwein zum Dank annehmt, wo unsere Sau doch dieses Frühjahr gut geferkelt hat und wir das hier übrig haben.«

»Gott, ich liebe die Engländer«, sagte Henry. »Madam, ich fühle mich geehrt.«

Das Schwein wurde überreicht, und als der König es in den Empfangsraum trug, rief er über die Schulter: »Der Nächste!«

»Das seid Ihr, Mistress«, sagte Master Robert zu Adelia.

Hauptmann Bolt verbeugte sich und ging davon – seine Pflicht war getan.

Mit Millie und Mansur trat Adelia ein und lehnte den Angelkorb an die Wand. Der Schreiber folgte ihnen, schloss die Tür und beeilte sich, die Fenster zu schließen.

Es war ein schöner Raum, sehr groß und sonnig und mit einer üppig verzierten Decke, die Adelia den Atem verschlug. Tische, Stühle und Truhen waren mit Schnitzwerk versehen und so glänzend poliert, dass es aussah, als würden sie sich wie lebendige Wesen krümmen und winden, ein edelsteinbesetztes Astrolabium, Bronzestatuen … Der Bischof von Wells ließ es sich gut ergehen.

Henry hatte dem Raum seinen Stempel aufgedrückt. Auf sämtlichen Oberflächen lagen Pergamente und Dokumente mit baumelnden Siegeln herum. Sein Lieblingsfalke hockte auf einer Sitzstange, unter der sich Exkremente sammelten. Zwei schlammfarbene Jagdhunde lagen ausgestreckt vor einem riesigen Marmorkamin.

Der König war ausnahmsweise prächtig gekleidet, doch Adelia kannte ihn und vermutete, dass er schon im Morgengrauen draußen auf der Jagd gewesen war.

Er stellte das Schwein auf den Boden. Die beiden Jagdhunde hoben die Köpfe, um es anzusehen, doch auf ein Wort ihres Herrn hin schlossen sie die Augen wieder.

Ein Platschen ertönte, als das Schwein seinen Beitrag zum bischöflichen Perserteppich leistete. Der Geruch von Dung setzte sich gegen die duftenden Potpourris in den Rosenschalen des Bischofs durch.

Henry tätschelte das Tier liebevoll. »Ganz meine Meinung«, sagte er anerkennend.

»Mistress Adelia«, rief der Schreiber ihm in Erinnerung.

»Ich weiß, wer das ist«, sagte der König bissig. Es folgte ein überaus knappes Salaam an Mansur und ein sogar noch knapperes Nicken Richtung Millie, ehe er mit seinen kurzen, dicken Fingern schnippte und Master Robert ihm die Pergamentrolle mit Adelias Bericht reichte. »Ich habe heute Morgen den Bischof von St. Albans gesehen, Mistress – er sah ungemein vergnügt aus. Seid Ihr der Grund dafür, dass ihn der Hafer sticht?«

Adelia presste die Lippen zusammen. Es würde noch schlimmer kommen. Sie hatte den König Geld gekostet – das frevelhafteste Verbrechen, das man gegen einen Mann begehen konnte, der Armeen zu unterhalten hatte – aber, bei Gott, er war eben anzüglich. Das ist das letzte Mal, dass ich für ihn arbeite, schwor sie sich, das allerletzte Mal.

Er wedelte mit der Pergamentrolle vor ihrem Gesicht. »Ich hätte nicht übel Lust, das hier an Euch zu verfüttern. Ich hab Euch nach Glastonbury gesandt, damit Ihr mir Arthur und Guinevere liefert. Und was hab ich bekommen? Zwei Sodomiten.«

»Ihr habt um die Wahrheit gebeten, Mylord«, entgegnete Adelia. »Ihr habt sie bekommen. Was Ihr damit macht, ist Eure Sache. Ihr könntet sie als Arthur und Guinevere wiederauferstehen lassen, denke ich.« Henry war nicht der Einzige, der grob sein konnte.

Das brachte ihn noch mehr auf. »Ich nicht, Mistress, ich nicht. Denn auch ich achte die Wahrheit. Wäre dem nicht so, hättet Ihr in Euren Scheißsümpfen bleiben können, wo Ihr hingehört. Wenn sie Sodomiten waren, werden sie Sodomiten bleiben müssen.«

Er hatte natürlich recht. Sie sollte ihn nicht falsch einschätzen, doch es war, als hätte sich der gegenseitige Respekt, den er und sie in den vergangenen fünf Jahren aufgebaut hatten, in Luft aufgelöst. Die blauen Augen, die sie durch fast unsichtbare rötliche Wimpern hindurch ansahen, hätten ebenso gut eine Fremde betrachten können.

»Ja, Mylord. Es tut mir leid, Mylord.«

»Das sollte es auch.« Er dachte kurz nach. »Aber ich wette, sobald ich tot bin, lässt die Abtei sie als Arthur und seine Königin wiederauferstehen.«

Er warf wieder einen Blick auf das Pergament. »Und wieso ist Abt Sigward im Treibsand gestorben?«

»Selbstmord, Mylord. Aus Reue über die Ermordung seines Sohnes – steht alles da drin. Der Bischof von St. Albans hat den Mönchen jedoch gesagt, dass es ein Unfall war.«

»Ein Jammer. Ich mochte Sigward; er war auf meiner Seite. Weiß der Himmel, wen sie jetzt wählen werden. Ist Euch klar, was mich das kosten wird? Wo soll denn jetzt das Geld für den Wiederaufbau dieser verfluchten Abtei herkommen, hä?«

»Es tut mir leid, Mylord.«

Der König las laut weiter. »›Ich würde wünschen, dass der Wirt des ›Pilgrim Inn‹, Godwyn, nicht noch mehr Gram erdulden muss, als er bereits hat …‹ Bei allen Heiligen, Weib, er hat seiner Frau bei versuchtem Mord geholfen! Da könntet Ihr genauso gut darum bitten, Kain nicht dafür zu bestrafen, dass er Abel erschlagen hat.«

»Dennoch, Mylord, dem Mann ist es zu verdanken, dass Emma, Lady Wolvercote, und ihr Kind gerettet werden konnten …«

»Ach ja, die reiche junge Witwe.« Das Gesicht des Königs, das sie von der Seite ansah, nahm etwas Raubtierhaftes an. »Ich habe einige erfreuliche Angebote für sie bekommen.«

Bestürzt sagte Adelia: »Mylord, Ihr habt mir Euer Wort gegeben, dass Ihr sie nicht in die Ehe verkaufen würdet. Sie wünscht, ihren Kämpen zu heiraten. Ich flehe Euch an, erlaubt diese …«

»Da hatte ich statt Arthur auch noch keinen Sodomiten bekommen.« Er klopfte auf ihren Bericht. »Wir werden sehen. Angesichts der Lage der Dinge bin ich möglicherweise gezwungen, alle Geldquellen zu nutzen, die sich mir anbieten. Kommen wir zu der alten Lady Wolvercote … ›Ihr, der Ihr Gerechtigkeit über alles schätzt‹ … jaja … ›das große Unrecht wiedergutmachen.‹ Was erwartet Ihr denn von mir, Weib? Dass ich sie aus ihrem Herrenhaus schmeiße?«

»Es wäre nur gerecht, Mylord. Sie hat ihre eigene Schwiegertochter und die anderen in den Tod geschickt …« Adelia hörte, dass ihre Stimme schrill wurde, und versuchte, sie zu senken. »Nur die Gnade Gottes und der gute Schwertarm ihres Kämpen haben Emma und ihr Kind gerettet …«

»Könnt Ihr das beweisen?«

Warum bloß unterbrach er sie immerzu? Es beweisen? Adelia überlegte.

Da hat Wolf von dort die Nachricht erhalten, dass eine reiche Lady mit Begleitung von Wolvercote kommen würde … Wills Worte. Der Mörder, der die Nachricht erhalten hatte, war tot. Die Person, die sie überbracht hatte, zählte gewiss zu den Dienern, die das Vertrauen der alten Lady Wolvercote genossen, und würde wohl kaum gegen sie aussagen. Somit war das Wissen der Zehnschaft lediglich Hörensagen. Und überhaupt, bei deren schlechtem Leumund würde ihre Aussage schwerlich gegen die einer geachteten und vor allem reichen Aristokratin standhalten, die in den besten Kreisen Somersets verkehrte.

Adelia schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich.«

»Ich auch.«

»Aber das ist ungerecht!« Mit diesem Aufschrei protestierte Allie immer, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. »Mylord, sie hat nahezu eigenhändig sechs Menschen ermordet.«

Henry zuckte die Achseln. »Es mag ja ungerecht sein, aber wenn ich einschreiten und sie ohne Beweise von ihrem Besitz vertreiben würde, wäre das noch schlimmer, es wäre Willkür. Ich muss mich an die Gesetze dieses Landes halten wie jeder andere auch, sonst fallen wir in die Tyrannei zurück und von dort in die Barbarei. Das Gesetz ist mein Vertrag mit meinem Volk.«

Und was ist mit dem Vertrag mit mir?, dachte Adelia. Was ist mit dem Umgang zwischen einzelnen Menschen, Versprechungen, dem Lohn für treue Dienste oder auch nur einem kleinen Dankeschön?

Und dann sah sie, dass der König Master Robert einen Blick zuwarf und zwinkerte.

Der Raum kippte weg und zerfiel in einzelne Teile. Da war Wolfs Wald und die Bestie, die auf sie zukam, da war der unterirdische Gang, und sie watete hindurch. Sie sah zwei Gestalten hinaus in das Sumpfland von Avalon schreiten …

»Gott verdamme Euch, Henry!«, schrie sie. »Ihr habt mich in die Hölle geschickt, und ich bekomme nichts … nichts … Ich habe schreckliche Dinge gesehen, schreckliche, schreckliche Dinge. Ich habe für Euch gearbeitet … aber niemals wieder. Das ist das letzte Mal, dass ich mich aus meiner Heimat reißen lasse … nie wieder, niemals. Ich bin nicht Eure Untertanin. Ihr seid nicht mein König … Ich bin müde, und ich bin arm und will nach Hause.« Sie sank schluchzend in einen Sessel und trommelte mit den Fersen auf den Boden wie ein trotziges Kind.

Die Stille im Raum war furchtbar.

Er wird mich umbringen, dachte Adelia. Mir egal.

Nach einer ganzen Weile öffnete sie widerstrebend die Augen und blickte in Mansurs besorgtes Gesicht. Millie hockte neben ihr, hielt ihre Hand. Im Raum war es still, weil Henry ihn verlassen hatte. Stattdessen stand ein junger Mann neben der Tür, der die Kappe eines Advokaten trug.

Die Jagdhunde beobachteten sie. Das Schwein furzte mitfühlend. Master Robert goss etwas Wein aus einem Silberkrug in einen Silberbecher. Er durchquerte den Raum, gab ihr den Becher und stützte ihre Hände, während sie trank. Er wirkte gelassen, als würden tagtäglich Leute in Anwesenheit des Plantagenets Wutanfälle bekommen.

»Der König ist fort, um der Brandmarkung der Ketzer beizuwohnen, Mistress.«

»Ach ja?«, sagte sie benommen.

»Dergleichen ist ihm zuwider. Ich fürchte, das hat ihn in eine spöttische Stimmung versetzt.«

»Ja.«

»Aber wenn Ihr unserem Master Dickon dort folgen würdet, er führt Euch zu Lady Wolvercote. Master Dickon ist der Advokat, der sie vertritt.«

Master Dickon nahm seine Kappe ab und schwang sie durch die Luft, während er eine kunstvolle und tiefe Verbeugung machte. »Bitte begleitet mich, Miss. Heiß heute, nicht wahr? Macht einen völlig fertig, die Hitze.«

Mansur nahm Adelias Arm mit einer Hand und hob den Angelkorb mit der anderen hoch, dann gingen sie, gefolgt von Millie, hinter dem Advokaten an den wartenden Bittstellern vorbei und die Treppe hinunter.

»Willst du wirklich nach Hause?«, fragte Mansur auf Arabisch.

Während ihres Anfalls hatte sie das gewollt. Sie hatte sich nach Sicherheit gesehnt, der Ruhe im Haus ihrer Zieheltern und der Disziplin der Medizinschule, wo Entscheidungen auf schlichten Tatsachen basierten, wo es keinen moralischen Treibsand gab, wo Gefühle vom Gehirn beherrscht wurden, wo sie ihre unsterbliche Seele nicht aufs Spiel setzen würde, weil sie in Sünde lebte, wo es einen König gab, der sie in Frieden ließ.

»Willst du?«, fragte sie müde zurück.

»Ich habe daran gedacht«, sagte er, »aber ich habe Gyltha.«

Und die habe ich auch, dachte Adelia. Und dich, der du mein Fels bist, und Allie, und einen Mann, den ich liebe und der mich liebt, obwohl es unsere Hoffnung auf Gottes Gnade gefährdet.

Ach, aber sie war es so satt, dieses Gefühl zu haben, diese Gabe – oder war, es ein Fluch? –, die England ihr aufgezwungen hatte. Ob das besser war, als gar nichts zu fühlen, in diesem Moment hätte sie es nicht sagen können.

»Du hast ihm Excalibur nicht gegeben«, sagte Mansur.

»Er hat mir auch nichts gegeben.«

In Salerno war Adelia nur Advokaten begegnet, die bärtige alte Männer waren und von Gesetzessammlungen und Codices sprachen und von der Summa Azonis, dem römischen Recht, das sie an der Universität von Bologna studiert hatten. Master Dickon war da ganz anders, in England aufgewachsen, jung, ohne besondere Herkunft, aber mit einem hellen Verstand, und im Gegensatz zu den sonstigen Vertretern seiner Zunft wollte er Wissen vermitteln und nicht verschleiern. Als Sohn eines Kahnschiffers auf der Themse hatte er in einer Schule, die von seinem Onkel geführt wurde, Schönschreiben gelernt und als einfacher Schreiber in der Hofkanzlei angefangen, wo er dem Schatzkanzler höchstselbst aufgefallen war, der ihn daraufhin zum Studium des englischen Rechts schickte.

All das erzählte er ihnen in seinem Londoner Tonfall über die Schulter hinweg, während er sie hinunter in die Eingangshalle führte.

»Wissen Sie, Mistress, das ist für mich der erste Fall, in dem es um den Erlass zum Recht der Erben geht, und im ganzen Land ist es erst der dritte, soweit ich weiß.« Er hüpfte beinahe vor lauter Begeisterung darüber.

»Erlass zum Recht der Erben?«, fragte Adelia verwundert.

»Habt Ihr nicht davon gehört? Oh, Mistress, den muss ich Euch erklären, weil er einfach großartig ist.« Er sah sich um, erblickte eine Nische, in der sie alle Platz fanden, während er ihnen diesen großartigen Erlass erläuterte. Dass Mansur dabei war, schien ihn nicht zu stören, und er sprach sowohl ihn als auch Millie mit an. Da er davon ausging, dass sie kein Latein verstanden, sprach er Englisch. Er bewunderte Henry Plantagenet, wie Adelia das schon öfter bei gebürtigen Engländern einfacher Herkunft beobachtet hatte, die ihren König höher schätzten, als der normannische Adel das tat, weil sie Nutzen aus seinen Gesetzen zogen und, wenn sie intelligent waren, Posten erreichen konnten, die zuvor nur den Söhnen des Adels vorbehalten waren.

»Oho, unser König Henry ist gerissen«, sagte Dickon. »Seht Ihr, er schätzt das römische Recht nicht, ich auch nicht – zu viel Inquisition, zu sehr den alten Byzantinern verhaftet, zu viele Verzögerungen. Und er macht Folgendes: Er benutzt das alte angelsächsische Recht, wie unsere Urgroßväter es kannten. Er ist wie ein Bäcker, wenn Ihr versteht, was ich meine, der guten englischen Teig nimmt und ihn verfeinert, knetet, neu formt und mit einer Prise Genie würzt. Irgendwann wird jedes Gericht im Land den Erlass verwenden.«

»Und was hat es mit diesem Erlass zum Recht der Erben auf sich?«, fragte Adelia, die nicht begriff, wohin das alles führen sollte, und nicht mal wusste, ob sie es begreifen wollte.

»Ha, der Erlass zum Recht der Erben.« Aus Master Dickons Mund klang es wie eine Zauberformel. »Das ist der jüngste der königlichen Erlasse. Er hat uns schon den Erlass zum Eigentum und den zur neuen Besitzergreifung gegeben und jetzt …« Er sah Adelias Verwirrung. »Versteht Ihr, das alles sind Möglichkeiten, die anderen Gerichte zu umgehen, indem sie dem Klagesteller das Recht auf königliche Gerichtsbarkeit gewähren. Sie müssen sich nicht mehr an die der Lords oder Sheriffs oder Grundherren wenden, sondern können direkt die des Königs anrufen. Ein Recht, das jedermann zur Verfügung steht, der einen Erlass erwirbt, der auf seinen Fall zutrifft.«

»Wie viel hat Euch der Erlass gekostet?«, hatte der König Mistress Hackthorn gefragt.

Ernüchtert fragte Adelia: »Dann muss man sich die Gerechtigkeit also erkaufen?« Wie typisch für Henry, dachte sie.

Master Dickon runzelte die Stirn. »Gewissermaßen, aber der Preis richtet sich danach, was der Käufer aufbringen kann. Eigentlich geht es jedoch weniger darum, sich Gerechtigkeit zu kaufen, als vielmehr darum, sich die Hilfe des Königs zu sichern, damit die Sache schnell entschieden wird. Nach altem Recht kann es Jahre dauern, bis ein Urteil gefällt wird. Und im Fall von Lord Wolvercote gegen die alte Lady Wolvercote hat Eure Lady Wolvercote einen Erlass zum Recht der Erben für ihren Sohn gekauft. Na ja, selbstverständlich hab ich ihr dazu geraten, wo sie ja eine Frau ist und Lord Wolvercote noch ein Kind.«

»Das hat sie getan?« Seit Emma und Roetger nach Wells aufgebrochen waren, hatte Adelia nichts mehr von ihnen gehört. Und jetzt hatten sie – oder zumindest Emma – ein Gerichtsverfahren, einen Erlass und einen Advokaten. »Also kein Gerichtskampf?«

»Mistress!« Dickon war schmerzlich berührt. »Das ist Barbarei, jawohl. Ich halte nichts von Gerichtskämpfen, viel zu riskant. Wir haben einen Erlass.«

Ein Bürschchen, dem die Mütze eines Schreibers bis über die Ohren hing, zupfte Master Dickon am Ärmel. »Sie kommen, Master.«

»Hoppla. Wir müssen uns sputen. Die Richter kommen.«

Mit flotten Schritten folgten sie dem Bürschchen, und Adelia fragte sich, ob die Mutter des Jungen wohl wusste, dass ihr Kind als Schreiber für einen Advokaten arbeitete.

Das Gerichtsverfahren von Lord Philip Wolvercote gegen seine Großmutter, die alte Lady Wolvercote, hatte großes Aufsehen erregt und fast so viele Menschen angelockt wie ein Gerichtskampf; ein Gerichtsdiener musste ihnen einen Weg nach vorne bahnen, wo in gewisser Weise auch ein Kampfplatz aufgebaut worden war. Ein Sonnensegel mit gekräuseltem Rand schützte das hohe Podium der Richter, die just in diesem Moment ihre Plätze einnahmen. Auf der Wiese vor ihnen hatte man mit einigen Schritten Abstand zwei verzierte Sessel aufgestellt. Pippy, der sich vor den Richtern verneigt hatte, saß in einem davon, und seine kurzen Beine baumelten in der Luft. In dem anderen saß seine Großmutter.

Eine Hand packte Adelias Arm. »Ich wollte dir nichts erzählen, ehe es entschieden ist. Es sollte eine schöne Überraschung sein, falls wir gewinnen. Und es ging alles furchtbar schnell. Aber ich bin so froh, dass du da bist.« Emma ließ ihren Sohn nicht aus den Augen. »Sieh ihn dir an, er hält sich großartig! Ist er nicht süß?«

Das war er wirklich. Aber falls das Ganze eine Art Kampf sein sollte, dann wurde das Kind, das neugierig um sich schaute, von der Frau auf der anderen Seite in den Schatten gestellt. Die alte Lady Wolvercote wirkte ungemein würdevoll. Mit ihrem blassen, starren Gesicht, das durch ein dunkles Kinntuch gerundet wurde, hätte sie eine Statue aus weißem und schwarzem Marmor sein können. Zudem hatte sie mehrere Advokaten neben sich stehen, Männer, die im Gegensatz zu Master Dickon, der jetzt seinen Platz neben Pippy einnahm, auch wirklich aussahen wie Advokaten.

Eine Stimme ertönte vom Podium. Sie hatte den tonlosen, dünnen Klang des Alters und schallte doch bis zu den Zuschauern und darüber hinaus. »Sheriff, hat Philip Wolvercote Euch beauftragt, dafür zu sorgen, dass sein Anspruch vor Gericht verhandelt wird?«

»Das ist Richard De Luci«, hauchte Emma. »Der Oberste Richter. Oh Gott, das ist alles so feierlich. Kann ich Pippy das überhaupt zumuten?«

Der Sheriff von Somerset, ein rotgesichtiger, gehetzt wirkender Mann, dessen Gewänder ebenso gekräuselt waren wie das Sonnensegel über seiner Einzelbank, erhob sich. »Das hat er, Mylord.«

»Und habt Ihr zwölf freie und rechtschaffene Männer aus der Gegend um das Herrenhaus von Wolvercote berufen, die bereit sind, unter Eid auszusagen, ob Lord Ralph Wolvercote, Vater des besagten Philip, am Tage seines Todes im Besitz des besagten Herrenhauses war?«

»Das habe ich, Mylord.« Der Sheriff deutete auf eine Tribüne in der Nähe, auf der zwölf Männer so eng zusammengedrängt waren wie Milchkannen auf einem Karren.

»Wer wird für sie sprechen?«

Einer der Männer befreite sich aus der drangvollen Enge und stand auf. »Ich, Mylord. Richard de Mayne, Ritter, Herr über Ländereien in der Gemeinde Martlake. Mein Land grenzt im Norden an das der Wolvercotes.«

»Habt Ihr und die anderen das in Frage stehende Herrenhaus in Augenschein genommen?« Der Oberste Richter Englands war ebenso dünn wie seine Stimme. Sein Kopf, der an den einer Schlange erinnerte, bewegte sich langsam in die Richtung, in die er seine Fragen stellte, sodass es den Eindruck machte, als würde er bei einer Lüge vorschnellen wie eine Natter, die sich einen Frosch schnappt.

»Das haben wir, Euer Ehren, und aus eigener Kenntnis können wir sagen, dass Lord Wolvercote die Abgaben und Dienste daraus bezog. Er starb andernorts, doch wir sind uns einig, dass das Herrenhaus zu diesem Zeitpunkt sein Eigentum war und dass seine Mutter es nach seinem Ableben in Besitz nahm, nachdem sie zuvor ein Witwengut in der Gemeinde Shepton bewohnt hatte.«

»Damit ist die erste Frage beantwortet«, sagte Emma. Auf Adelias fragenden Blick hin sagte sie zur Erklärung: »Der Erlass zum Recht der Erben stellt nur zwei Fragen … Ich halte das nicht mehr aus, ehrlich, ich werde gleich ohnmächtig.«

Plötzlich erklang eine neue Stimme, ein Kontraalt, über die Wiese, ebenso leidenschaftslos wie De Lucis, aber weit schöner. »Mein Sohn wurde widerrechtlich wegen Verrats von ebendem König gehängt, dem Ihr dient.«

Der Kopf des Richters drehte sich ein paar Zoll zu dem Sessel der alten Lady Wolvercote. »Meines Wissens wurde Euer Sohn wegen Mordes gehängt, Madam, nicht wegen Verrats. Doch diese Frage soll hier nicht geklärt werden. Und Euch als Frau ist es verboten, vor diesem Gericht zu sprechen. Lasst Eure Auslassungen durch Eure Rechtsvertreter äußern.«

Der Einwurf hatte bei den Advokaten, die den Sessel der alten Lady Wolvercote flankierten, für helle Aufregung gesorgt, und der Älteste von ihnen flüsterte ihr beschwörend ins Ohr. Er legte eine mahnende Hand auf ihre Schulter, doch sie schnippte sie mit einem weißen Finger weg.

Der Oberste Richter war noch nicht fertig. »Master Thomas, Eure Mandantin wurde dreimal aufgefordert, vor uns zu erscheinen, doch sie hat sich erst jetzt eingefunden.«

»Ich weigere mich, die Machtbefugnis dieses Gerichts anzuerkennen.« Wieder war die Stimme der alten Lady Wolvercote klar zu vernehmen.

Diesmal umklammerte Master Thomas’ Hand die Schulter der Frau und ließ sich nicht mehr abschütteln. »Mylord, meine Mandantin bittet um Gnade. Dieses Verfahren ist neu für sie, wie überhaupt für uns alle. Ihr Alter verwirrt sie.«

Ein mitfühlendes Raunen lief durch die Menge. Ob beliebt oder unbeliebt, die alte Lady Wolvercote war eine Frau aus Somerset, einem County, in dem sogar das angrenzende Devonshire als Ausland betrachtet wurde. »Was soll das?«, rief jemand. »Aus Lunnon herzukommen und diese arme alte Seele zu drangsalieren?«

De Luci beachtete den Ruf nicht. »Und nun, Sir Richard …«

»Lieber Gott, jetzt kommt sie!« Emma umklammerte Adelias Arm so fest, dass es wehtat. »Die zweite Frage.«

»Könnt Ihr bestätigen, dass der Kläger Lord Ralph Wolvercotes Erbe ist?«

Die Geschworenen auf der Tribüne wurden unruhig.

Der Anwalt der Gegenseite trat vor. »Mylord, meine Mandantin bestreitet das. Sie wird einen Eid schwören, dass zwischen ihrem Sohn und der Mutter des Klägers niemals die Ehe geschlossen wurde und dass der Kläger demzufolge ein Betrüger oder ein Bastard ist oder beides.«

Die Menge blickte auf den kleinen Jungen in dem Sessel. Die Vorgänge um ihn herum waren ihm unverständlich, und weil er sich allmählich langweilte, hatte er einen Faden aus seinem Ärmel gezupft und spielte damit herum.

Emma und Adelia sahen sich gequält an.

Die alte Lady Wolvercote hatte im Grunde recht. Falls eine Braut ihre Einwilligung geben musste, was laut Gesetz erforderlich war, dann war Emma nie verheiratet gewesen.

Wolvercote hatte sie um ihres Vermögens willen aus dem Kloster in Oxfordshire entführt, in dem sie erzogen worden war, und als sie dem Priester, der bestochen worden war, um die Eheschließung vorzunehmen, ihr »Nein« entgegenschleudern wollte, hatte die Hand des Entführers ihren Mund verschlossen.

Genau genommen war Pippy ein uneheliches, durch eine Vergewaltigung gezeugtes Kind.

Nun war Master Dickon an der Reihe, und er trat vor. Er genoss den Augenblick, und Adelia bemerkte, dass er seinen Londoner Tonfall deutlich abschwächte. »Mylord, wir haben den Geschworenen einen Zeugen vorgeführt und ihnen die eidesstattliche Erklärung einer unanfechtbaren Quelle vorgelegt, und beide bestätigen, dass es tatsächlich zur Eheschließung gekommen ist und dass mein Mandant neun Monate später das Licht der Welt erblickte.«

»Wurde ein solcher Zeuge und eine solche Erklärung erbracht?«, fragte De Luci die Geschworenen.

Sir Richard wand sich. »Nun ja, schon, aber wir würden sie gern noch einmal anhören und Eure Meinung dazu erfahren.«

»Es geht hier nicht um meine Meinung, sondern darum, was für Euch damit bewiesen wird. Wie dem auch sei, ich erlaube es. Möge der Zeuge kommen.«

Master Dickons junger Helfer flitzte los und zog gleich darauf einen kleinen alten Mann im langen Gewand eines Priesters aus der Menge.

Dickon stellte ihn dem Richter vor. »Das ist Father Simeon, Mylord, ein Priester aus Oxford, der bestätigen wird, dass er die Ehe zwischen dem verstorbenen Lord Wolvercote und Emma, der Tochter von Master Bloat, einem Weinhändler aus Abingdon, geschlossen hat.«

»Heilige Muttergottes, ich halte es kaum aus, ihn anzusehen«, flüsterte Emma. »Er war es. Er hat die Worte gesprochen.« Bei der Erinnerung daran wurde ihr schlecht.

Wolvercote war es darum gegangen, sich Emmas Vermögen zu sichern, und da war Father Simeon für ihn genau der Richtige gewesen. Wie so viele Priester, die ihre eigene Pfarrei oder Gemeinde verloren hatten und von der Kirche im Stich gelassen wurden, erbettelte er sich sein Brot an den Tischen der Großherzigen und erteilte jedem seinen Segen, der dafür mit einem Krug Ale bezahlte. Seine Tunika war verdreckt, seine Tonsur wegen der nachgewachsenen Haarstoppeln kaum noch zu erkennen, und er schlotterte, vielleicht vor Aufregung oder weil er alt war oder weil er länger nichts zu trinken bekommen hatte – möglicherweise alles zusammen.

Wo hatte Master Dickon ihn aufgetrieben?, fragte sich Adelia. Und war es die Mühe wert gewesen? Der Mann war schwerlich ein glaubwürdiger Zeuge.

Immerhin legte Father Simeon ein Dokument vor, das ebenso abgerissen war wie er selbst und das belegte, dass er in ferner Vergangenheit ordnungsgemäß zum Priester geweiht worden war.

»Er wird aussagen, dass die Eheschließung rechtmäßig war«, sagte Adelia beruhigend zu Emma, »sonst müsste er zugeben, dass er eine gesetzeswidrige Zeremonie geleitet hat.«

»Aber ob sie ihm glauben? Wollen sie nicht doch irgendwelche Papiere sehen? Soweit ich weiß, gab es keine Urkunde oder etwas in der Art – wahrscheinlich kann das alte Schwein da nicht mal schreiben.«

Da einige Geschworene nicht lesen konnten, wurde ihnen der Beweis für Father Simeons Priesterschaft vorgelesen und dann dem Richter vorgelegt.

Die Menschen lauschten andächtig. Das hier war ja fast so gut wie ein Gerichtskampf.

Auf ein Nicken von De Luci hin begann Master Dickon, den Zeugen zu befragen. Hatte Father Simeon am Festtag des heiligen Vintula im Jahre des Herrn 1172 die Trauung von Ralph, Lord Wolvercote, und Emma Bloat vorgenommen?

Das Schlottern des Priesters wurde heftiger, und er wurde aufgefordert, lauter zu sprechen. »Ja, ja«, brachte er hervor. »Ja, das habe ich. Lord Wolvercote … ja, ich erinnere mich genau, er hat mich gebeten, sie zu trauen, und das hab ich getan.«

»Und wurde die Trauung gemäß den geltenden Gesetzen vorgenommen?«

»Jawohl, wurde sie. Ganz bestimmt, wie es sich gehört.«

Master Dickon nickte dem Richter zu und überließ seinen Zeugen der Befragung durch den respekteinflößenden Master Thomas.

War Emma Bloats Vater anwesend, um seine Tochter dem Bräutigam zu übergeben? Falls nicht, warum nicht? War die Zeremonie ordnungsgemäß durchgeführt worden? War eine Bekanntmachung an die Kirchentür geschlagen worden? Warum war Lady Wolvercote nicht von der Eheschließung ihres Sohnes in Kenntnis gesetzt worden?

»Es lag sehr viel Schnee, wisst Ihr«, sagte Father Simeon entschuldigend. »Das weiß ich noch genau, sehr viel Schnee. Die Leute kamen gar nicht mehr durch die Verwehungen durch. Ich selbst … Ja, ich glaube ganz sicher, dass ich eine Bekanntmachung an die Tür geschlagen habe, aber bei dem Schnee, ja, das hab ich bestimmt … aber der viele Schnee, wisst Ihr.«

»Waren Zeugen dabei?«, wollte Master Thomas wissen – er sprach Latein: testes adfuerunt.

Father Simeon war perplex. »Was?«, fragte er.

Adelia stöhnte.

Mit elegant ausgestrecktem Arm wandte sich Master Thomas an den Richter. »Und so einem Mann sollen wir glauben?«

De Luci wandte den Kopf in Richtung der Geschworenen. »Glaubt ihr ihm?«

Sir Richard beratschlagte sich mit seinen Gefährten. »Tja, er ist ein bisschen, nun ja, Mylord, sein Gedächtnis …«

Wieder trat Master Dickon vor und hielt ein Dokument hoch. »Mylord, wenn ich dem Gericht helfen dürfte. Ich habe hier eine eidesstattliche Erklärung der Äbtissin von Godstow im County Oxfordshire, einer Lady, die für ihre Frömmigkeit und Redlichkeit allseits bekannt ist. Sie erfreut sich noch immer eines scharfen Verstandes, Mylord, aber sie ist hochbetagt und konnte sich daher die Reise hierher nicht zumuten, wofür sie das Gericht um Verzeihung bittet. Ihre eidesstattliche Erklärung ist den Geschworenen bereits verlesen worden, aber falls Eure Lordschaft die Güte hätten, selbst einen Blick darauf zu werfen.«

Seine Lordschaft nickte. Das Dokument wurde ihm gereicht.

»Großer Gott«, flüsterte Adelia. »Mutter Edyve.« Sie war die Äbtissin des Klosters, aus dem Emma entführt worden war. »Wie? Wer?« Oxfordshire lag weit entfernt; es war nicht genug Zeit gewesen …

»Der König«, erklärte Emma. »Ich dachte, du wüsstest das. Sobald er deinen Bericht erhielt, hat er berittene Boten losgeschickt, um das Schwein von einem Priester zu suchen und die eidesstattliche Erklärung von Mutter Edyve zu holen. Master Dickon meint, dass Henry offenbar die Möglichkeit sah, seinen Erlass zum Recht der Erben in meinem Fall einzusetzen. Der ist nämlich sein ganzer Stolz. Laut Master Dickon haben er und Lord De Luci nächtelang daran rumformuliert.«

Deshalb also hatte Henry Plantagenet seinem Schreiber zugezwinkert. Das war der Grund für seine spöttische Stimmung. Er hatte es die ganze Zeit gewusst, seinen heiß geliebten Erlass als Trumpf im Ärmel …

»Ich bring ihn um«, sagte Adelia.

Der Oberste Richter Englands las: »Mutter Edyve, Äbtissin von Godstow, bezeugt hiermit, dass Braut und Bräutigam kurz nach der mutmaßlichen Hochzeit an den Weihnachtsfeierlichkeiten in ihrer Abtei teilnahmen und dass sie hörte, wie Lord Wolvercote die Mutter des Klägers als ›Eheweib‹ bezeichnete.«

Das entsprach zwar vollauf der Wahrheit, aber reichte das aus?

Adelia umklammerte Emmas Arm ebenso fest wie Emma den ihren.

De Luci hob seinen Reptilienkopf. »Ich muss darauf hinweisen, dass mir die Äbtissin von Godstow persönlich bekannt ist.«

»Eine gute Frau, Mylord?«, fragte Sir Richard.

»Eine sehr gute Frau.«

»Dann genügt uns das.« Sir Richard blickte auf die nickenden Köpfe um sich herum. »Mylord, wir erklären hiermit, dass der verstorbene Lord Wolvercote rechtmäßig mit der Mutter des Klägers verehelicht war und dass Philip Wolvercote aus ebendieser Ehe hervorgegangen ist, was ihn zum rechtmäßigen Erben aller Wolvercote-Ländereien und Besitzungen macht.«

Master Dickon stieß einen für einen Advokaten ungebührlichen Jubelschrei aus. Adelia und Emma sanken einander in die Arme. Der neue Lord Wolvercote blickte von dem Schrei überrascht von seinem Fadenspiel auf. Die alte Lady Wolvercote blieb in ihrem Sessel. Wütend schleuderte Master Thomas seine Kappe auf den Boden, hob sie wieder auf, setzte sie sich auf den Kopf und begann, beschwörend auf seine Mandantin einzureden, die ebenso gut eine taube, steinerne Statue hätte sein können.

»Die zwei Fragen des Erlasses sind zur Befriedigung der Geschworenen beantwortet worden«, verkündete De Luci. »Dieses Gericht erklärt, dass der Kläger rechtmäßiger Besitzer von Wolvercote Manor ist.« Er erhob sich.

Der schöne Kontraalt schallte über die Wiese. »Ich erkenne weder dieses Gericht an noch sein Urteil. Ihr, De Luci, seid eine Marionette des Plantagenets.«

Über das Raunen der Menge hinweg bat Master Thomas, seiner Mandantin genügend Zeit zu gewähren, um ihre Habe aus dem strittigen Herrenhaus zu entfernen. Doch der Oberste Richter Englands war bereits gegangen.

Master Dickon schob sich durch das Gedränge zu Emma und Adelia. Emma umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen. Roetger kam angehumpelt, und sie küsste auch ihn, ehe sie zu ihrem Sohn lief und ihn hoch in die Luft schwang. »Wir haben gewonnen, Pippy! Ach, das hast du prima gemacht.«

Master Dickon wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ein- oder zweimal stand die Sache auf Messers Schneide«, sagte er, »aber die Bemerkung der alten Lady Wolvercote, dass sie das Gericht nicht anerkennt, war der Nagel zu ihrem Sarg. Da wusste ich, dass wir es geschafft haben. So was mögen Richter nämlich nicht.«

»Und damit ist alles geklärt?«, fragte ihn Adelia. »Emma hat gewonnen? Sie kann Wolvercote Manor in Besitz nehmen?«

»Wann immer sie es wünscht«, erklärte der junge Mann. »Aber natürlich sollte sie vorsichtshalber Büttel mitnehmen. Und nein, damit ist nicht alles geklärt. Die alte Lady Wolvercote wird das Urteil mit Sicherheit anfechten, die Ehe und die Rechtmäßigkeit des kleinen Erben erneut in Frage stellen. Aber das wird einige Zeit dauern. Bringt uns noch mehr Arbeit.« Master Dickon rieb sich die Hände vor Vorfreude auf die Honorare, die er bekommen würde.

»Dann verstehe ich das alles nicht.«

»Nein, Mistress?« Dickon deutete mit einer schwungvollen Armbewegung auf die Wiese, wo die Menschenmenge sich allmählich zerstreute und die alte Lady Wolvercote noch immer saß und über die Köpfe der um sie gescharten Advokaten hinwegsah, als wären sie Geschmeiß. »Kein Blut auf dem Gras, nicht wahr? Lady Emma war nicht gezwungen, Gewalt anzuwenden, um ihrem Sohn Recht zu verschaffen, ebenso wenig wie die alte Lady Wolvercote Gewalt angewendet hat, um das zu verteidigen, von dem sie meint, dass es ihr gehört. Kein Kampf. Keine Wunden. Nur ein Erlass des Königs. Eine vorläufige Maßnahme, damit der Erbe sein Eigentum in Besitz nehmen kann, während die Advokaten weiter ihre Argumente ins Feld führen. Damit der Frieden erhalten bleibt, versteht Ihr?«

»Ja, ich verstehe.«

»Den Baronen missfällt das natürlich – es schmälert die Macht ihrer Gerichte und macht allgemeingültiges Recht für jedermann zugänglich. Aber sie sind nicht gewillt, deswegen zu den Waffen zu greifen, Gott sei Dank. Oh ja, unser Henry ist ein ausgefuchster Gesetzgeber.«

»Ja«, sagte Adelia und dachte kurz nach. Dann: »Master Dickon, könntet Ihr mir wohl Feder und Tinte besorgen? Ich muss dem König einen Brief schreiben.«

 

Auf ihrem Weg zu Pippys neuem Herrenhaus schwang sich Emmas klarer Sopran zum blauen Himmel hinauf, begleitet von Vogelgezwitscher, der Harfe ihres Barden, der hellen Stimme ihres Sohnes, Roetgers tiefem Bass und dem Hufgeklapper ihrer Pferde.

Ihr Mädel und Burschen, sagt dem Vater adieu

und eilt schnell zum Tanz in den Mai!

Adelia wippte im Sattel zu der Melodie, während Millie hinter ihr über eine Fröhlichkeit lächelte, die sie nicht hören konnte.

Emma verstummte kurz, beugte sich hinüber und berührte das Knie ihres Geliebten. »Ich habe nie ja zu ihm gesagt, Liebster, niemals.«

Roetger nahm ihre Hand und küsste sie. »Das weiß ich doch, mein tapferes Mädchen.«

Da hat jeder Bursch seine Maid und jede Maid ihren Bursch,

und der Spielmann spielt auf der Schalmei …

Wieder hörte Emma auf zu singen. »Aber im Grunde haben wir durch die Lüge eines alten Priesters gewonnen.«

»Das stört mich überhaupt nicht«, entgegnete Roetger.

»Gottes Gerechtigkeit für das weibliche Geschlecht«, sagte Adelia.

»Und Willy tanzt mit seiner Jane,

Und Stephen hat seine Joan …«

Und Rowley hat seine Adelia, dachte Adelia glücklich. Nur dass es sich nicht richtig reimt.

Und sie lachen und springen hopp hopp hopp.

Welch Freude, sie anzuschauen.

Ein Reiterzug kam ihnen entgegen. Als Rhys ihn erblickte, legte er eine Hand flach auf die Harfensaiten, um sie zu dämpfen. Alle verstummten und hielten am Straßenrand, um die Entgegenkommenden vorbeizulassen, als wären sie ein Beerdigungszug.

Die alte Lady Wolvercote saß elegant und kerzengerade auf einem prächtigen Fuchs, die Augen auf die Straße geheftet. Hinter ihr kamen Zugpferde mit zwei großen Wagen, auf denen sich Möbel türmten. Die scharlachrot-silbernen Kriegsfahnen der Wolvercotes ragten daraus hervor. Dahinter folgten einzelne Diener, manche zu Pferd, manche auf Mauleseln, manche zu Fuß. Sie trieben Kühe und Gänse vor sich her, und alle trugen sie ihre Habe mit sich wie Flüchtlinge.

Was sie, wie Adelia dachte, wohl auch waren. Und sie empfand Mitleid mit ihnen allen, nur nicht mit der Mörderin an ihrer Spitze.

Emma jedoch lenkte ihr Pferd zu ihrer Schwiegermutter. »Ihr hättet länger bleiben können«, sagte sie leise. »Wohin werdet Ihr gehen?«

Sie hätte ebenso gut ein Stück Abfall sein können, das auf der Straße lag. Die Augen der alten Lady Wolvercote flackerten nicht; ihr Pferd umging das Hindernis und schritt ungerührt weiter.

»Oje«, sagte Emma und sah ihm nach.

Rhys begann erneut zu klimpern. »Sie hat kein ›Oje‹ verdient«, sagte er. »Singt weiter, Lady!«

Manch einer ging, manch einer lief,

Und manche trödelten gar.

Und jeder herzte noch sein Lieb

Bis zum Maitag im nächsten Jahr.

Adelia stellte sich vor, wie die Klänge jubelnd durch die warme Luft schwebten und die Ohren der Frau erreichten, die gerade vorbeigeritten war, und welchen Schmerz sie ihr bereiten mussten. Keine ausreichende Wiedergutmachung für die Leichname, die einst in einem Waldgrab verscharrt worden waren und jetzt auf dem Friedhof in Wells ruhten. Aber eine kleine.

Sie sahen das Wabern im Himmel gleich einer Hitzeschwade über Wolvercote Manor, lange ehe sie dort waren. Bis sie ihre Pferde zum Galopp getrieben und das Tor erreicht hatten, war das Wabern zu schwarzem Rauch geworden.

Das Herrenhaus stand in Flammen. Das Dach war bereits eingestürzt. Einige Männer mit Eimern hasteten zwischen Haus und Wassergraben hin und her, um wenigstens die Außengebäude zu retten. Tauben kreisten verzweifelt in der Luft, unfähig, in dem Flammenmeer zu landen, das ihre Zuflucht umzüngelte. Ein Heuschober war wie Zunder verbrannt, sodass nun die bislang noch unversehrte kleine Kirche dahinter zu sehen war.

Jeder Rettungsversuch war sinnlos. Auch viele Eimer Wasser konnten dieses Inferno nicht löschen. Die Reiter mussten bleiben, wo sie waren, und tatenlos zusehen.

»Diese Hexe«, sagte Roetger. »Sie hat es angezündet, ehe sie ging.«

Adelia verspürte Trauer um das Haus, das so schön gewesen war und so alt. Es war wie eine Meeresmuschel gewesen, in der man dem Wellenschlag der Geschichte lauschen konnte. Jetzt war es verloren und die Wellen für immer verstummt.

Die Männer mit den Eimern zogen sich zurück, gaben den Kampf auf.

»Gottogott«, sagte Rhys. »Was für ein Jammer! So ein Jammer!«

Da sagte Emma resolut: »Nein, Rhys, es ist kein Jammer, überhaupt nicht.«

Sie sah Roetger an und lächelte. »Ich hätte es ohnehin abreißen lassen. Ich könnte niemals ein Haus bewohnen, in dem er gewohnt hat. Oder sie.«

»Wir werden es neu aufbauen«, sagte Roetger.

»Ja, neu und noch mal so schön. Nicht wahr, Pippy? Alles neu.«

Nach einer Weile verabschiedete Adelia sich von ihnen. Sie nahm Millie mit und ritt nach Glastonbury.

Es lag eindeutig etwas Neues in der Luft. Heute verpesteten keine Leichenteile die Luft, weil die Bäume, an denen sie gehangen hatten, verschwunden waren. Stattdessen erstreckte sich nun ein breiter, mit Holzresten übersäter Grasstreifen zwischen Straße und Wald. Frauen sammelten Äste und trugen sie zu ihren Männern, damit die sie zu Feuerholz zerhackten. Als Adelia und Millie vorbeiritten und winkten, schauten sie auf, lächelten.

Auf der Hügelkuppe, wo die Straße nach Glastonbury abging, stiegen Adelia und Millie ab. Adelia bückte sich, um ein Blatt von der Erde aufzuheben, und drückte es Millie in die Hand. »Für Gyltha«, sagte sie und bewegte dabei die Lippen überdeutlich. Millie hatte den Namen gelernt, weil sie Adelia beim Aussprechen beobachtet hatte, während diese Gyltha auf die Schulter klopfte. Adelia hoffte, ihr noch weitere Wörter beizubringen. Aber wie sollte sie vermitteln, dass sie nicht lange fortbleiben würde? Sie zeigte auf die Sonne und bewegte ihren Finger ein Stückchen gen Westen, dann hauchte sie einem imaginären Kind auf ihren Knien einen Kuss zu. »Sag Allie, ich hab sie lieb und dass ich bald wieder bei ihr bin!«

Millie nickte und ging den Hang hinunter. Am Fuß des Hügels fegte Godwyn gerade Staub zur Vordertür des »Pilgrim Inn« hinaus. Er blickte auf, und als er Millie auf sich zukommen sah, lächelte er zum ersten Mal seit dem Sumpfland.

Gut, dachte Adelia. Das lässt sich gut an.

Die Abtei lag reglos da, doch auf der Hauptstraße im Ort war Leben. Männer schaufelten die Trümmer zusammen, die mal ihre Häuser gewesen waren, bereit, sie wiederaufzubauen. Unbemerkt von ihm, beobachtete sie Alf, der geschickt eine Krummaxt schwang, um einen frisch gefällten Stamm zu behauen.

Besser als Noah, dachte Adelia und war glücklich.

Ja, heute lag wirklich etwas Neues in der Luft.

Sie stieg wieder aufs Pferd und ritt den Weg hinunter, der zwischen Abteimauer und dem Fuß des Hügels entlangführte.

Oben auf der Höhe schirmten einige Berittene die Augen mit den Händen gegen die Sonne ab und reckten die Hälse, um einen Jagdfalken zu beobachten, der am Himmel kreiste. Vom Bellen eines Hundes aufgeschreckt, flatterten ein paar Wildtauben aus einem kleinen Wäldchen auf. Der Vogel über ihnen nahm die Form eines gespannten Bogens samt Pfeil an und stieß herab. Die Tauben zerstreuten sich, und eine von ihnen flog sehr tief, vielleicht weil sie die Gefahr spürte. Der Falke jedoch war wie ein Geschoss. Mit ausgestreckten Klauen packte er die Taube mit solcher Wucht im Flug, dass es ihr das Genick brach.

Als Adelia die Gruppe erreichte, saß der Falke bereits wieder auf der Faust seines Besitzers und trug eine gefiederte Haube, unter der nur sein böser kleiner, stählern schimmernder Schnabel hervorlugte.

»Guten Tag, Mylord.«

Mit großer Vorsicht setzte der Falkner den Vogel auf den Handschuh seines Hüters, erklärte seinen Männern, sie sollten auf ihn warten – »Diese Lady und ich haben eine vertrauliche Angelegenheit zu erledigen« –, und ritt gemeinsam mit Adelia den Hügel hinauf.

»Ihr habt ein scheußliches Temperament, wisst Ihr das?«, sagte Henry Plantagenet. »Ihr müsst lernen, es zu beherrschen.«

Adelia fragte sich, was wohl aus ihrem Ruf am königlichen Hofe werden würde. »Ja, Mylord. Ich bitte um Verzeihung, Mylord.«

»Wie ich höre, hat Lady Wolvercote ihren Erlass zum Recht der Erben gewonnen.«

»Aber das Herrenhaus verloren.« Sie erzählte ihm von der Rache der alten Lady.

»Ach«, sagte der König, dann hellte sich seine Miene auf. »Tja, das gibt wieder Arbeit für die Gerichte. So, wo ist denn nun diese Höhle?«

Adelia hatte Schwierigkeiten, sie wieder zu finden. Jetzt, wo Eustace beerdigt war und die Mitglieder der Zehnschaft begonnen hatten, ihr Leben neu aufzubauen, wies nichts mehr auf sie hin. Hier oben sah ein bewachsener Vorsprung aus wie der nächste. Doch nach ein paar Fehlversuchen stieg sie schließlich ab und bog die Zweige beiseite, die den Eingang und den Mann verbargen, der auf sie gewartet hatte.

»Guten Tag, Mansur«, sagte Henry.

»Guten Tag, Mylord.«

Im Innern entfaltete die Elfenhöhle ihren Zauber, und niemand sagte mehr ein Wort.

Der König ließ den Blick schweifen, bekreuzigte sich und stieg durch das Loch in der rückwärtigen Mauer, das Mansur herausgebrochen hatte. Nach einer Weile folgte Adelia ihm.

Ein König kniete im Gebet vor dem ausgestreckten Skelett eines anderen. Grünes Licht, das durch einen Riss im Felsen über ihnen drang, fiel auf sie beide und den stillen Tümpel zu ihren Füßen.

Adelia betrachtete den Lebenden mit Tränen in den Augen.

Wirst auch du zur Legende werden? Nein, das wird die Kirche zu verhindern wissen. Künftige Generationen werden unter deinen Gesetzen leben, aber sich deiner nur wegen der Ermordung Beckets erinnern.

Schließlich stand Henry II. auf und räusperte sich, als hätte auch er geweint. Das Geräusch hallte wider. »Er ist nicht sehr groß, oder?«

»Vermutlich, weil er Kelte war«, sagte Adelia. »Einer von den kleinen, dunklen.«

»Aber ein Krieger. Seht Euch diese Wunden an! Jetzt ruht er in Frieden, Gott sei ihm gnädig!«

»Ja.« Doch schon drängten sich ihr Bilder von Tausenden Pilgern in den Sinn, wie sie im wahren Leben scharenweise in diese Höhle drängen würden, Bilder von Verkaufsständen, die billige Heiligenandenken feilbieten und sich draußen den Platz mit den Geldwechslern streitig machen würden, jenen Nachfahren habgieriger Männer, die Jesus einst aus Jerusalems Tempel geworfen hatte.

Henry seufzte. »Requiescat in pace, Arturus.« Er wandte sich um und kletterte durch das Loch.

Vor der Höhle griff er nach den Zügeln seines Pferdes, das aus der Quelle trank, und ließ sie dann wieder fallen. Er schaute nach unten, Richtung Glastonbury. »Wisst Ihr«, sagte er nachdenklich, »die Waliser sind längst nicht mehr so aufmüpfig, wie sie mal waren, die Schweinehunde. Sie stellen fest, dass meine Gesetze einige Vorzüge haben.«

»Ach ja?«

»Ja.«

Wieder griff er nach den Zügeln und ließ sie erneut fallen. »Und der da drin« – er deutete mit dem Kinn zur Höhle –, »der ist ja sozusagen ein Zwerg. Die Leute werden einen Riesen erwarten und enttäuscht sein.«

Adelias Herz machte einen Satz.

Der König von England stieß einen weiteren Seufzer aus. »Mansur?«

»Mylord?«

»Mauere ihn wieder ein! Lass ihn weiterschlafen!«

»Wartet!« Adelia ging in die Höhle, stieg durch das Loch und holte das Schwert aus dem Tümpel, in den Mansur es zurückgelegt hatte. Als sie damit wieder ins Licht trat, blitzte die Waffe auf wie ein jäher Sonnenstrahl. Sie legte sie sich auf die ausgestreckten Hände und kniete nieder. »Mylord, das ist Excalibur. Es gehört dem größten König seiner Zeit, und damit gehört es Euch. Ihr seid der einstige und zukünftige König.«

Gemeinsam gingen sie plaudernd den Hügel hinunter, ihre Pferde am Zügel führend.

Ein Mann, der Scarry genannt wurde, lag im Schatten eines Wacholderbusches und beobachtete sie, als sie an ihm vorbeikamen. Zumindest beobachtete er nicht den König, weil er nicht wusste, dass es der König war. Er beobachtete Adelia, und seine Augen waren die eines mordlüsternen Marders – eines Marders, der Latein sprach.