Renaissance

Rillanon war in festlicher Stimmung.

Überall flatterten Fahnen im Wind. Girlanden aus Sommerblüten waren an die Stelle des schwarzen Flors getreten, der die Zeit der Trauer um den verstorbenen König und seinen Vetter Borric gekennzeichnet hatte. Jetzt würden sie also einen neuen König krönen, und das Volk jubelte.

Die Leute von Rillanon wußten nur wenig von Lyam, aber er war nett anzusehen, und er lächelte häufig in der Öffentlichkeit. Für die Bevölkerung war es, als wenn die Sonne hinter dunklen Wolken hervorgekommen wäre, die Rodrics Herrschaft umgeben hatten.

Nur wenige waren sich der vielen königlichen Posten bewußt, die durch die Stadt streiften, immer auf der Suche nach Zeichen von Guy du Bas-Tyras Agenten oder möglichen Mördern. Und noch wenigere bemerkten die schlicht gekleideten Männer, die immer in der Nähe waren, wenn sich Gruppen zusammenfanden, um über den neuen König zu reden.

Arutha ritt mit seinem Pferd auf den Palast zu. Er ließ Pug, Meecham und Kulgan weit hinter sich. Er verfluchte das Schicksal, das ihre Reise um fast eine Woche verzögert hatte. Es war schon später Vormittag, und die Priester von Ishap trugen bereits des Königs neue Krone durch die Stadt.

In weniger als drei Stunden würden sie vor dem Thron erscheinen, und dann würde Lyam die Krone übernehmen.

Arutha erreichte den Palast, und Rufe der Posten hallten durch den enormen Hof: »Prinz Arutha kommt!«

Er überließ sein Pferd einem Pagen und eilte die Treppe zum Palast hinauf. Als er den Eingang erreichte, kam Anita strahlend auf ihn zugeeilt. »Oh, es tut gut, dich zu sehen!« rief sie freudig.

Er erwiderte ihr Lächeln. »Es ist auch schön, dich wiederzusehen. Ich muß mich auf die Zeremonie vorbereiten. Wo ist Lyam?«

»Er hat sich ms königliche Grabmal zurückgezogen und die Nachricht hinterlassen, du solltest ihn unverzüglich dort aufsuchen.« Ihre Stimme klang besorgt. »Etwas Merkwürdiges geht hier vor, aber niemand scheint zu wissen, um was es sich handelt. Nur Martin Langbogen hat Lyam seit dem Abendessen gestern gesehen, und als ich Martin danach traf, trug sein Gesicht den merkwürdigsten Ausdruck.«

Arutha lachte. »Martin sieht immer merkwürdig aus. Komm, gehen wir zu Lyam.«

Sie wollte nicht, daß er ihre Warnung so in den Wind schlug. »Nein, du gehst allein. So hat Lyam es befohlen. Außerdem muß ich mich für die Zeremonie umkleiden. Aber glaube mir, Arutha, etwas äußerst Merkwürdiges liegt in der Luft.«

Arutha wurde nun doch nachdenklicher. Anita konnte so etwas immer gut beurteilen. »Also gut.

Ich muß sowieso darauf warten, daß meine Sachen vom Schiff heraufgebracht werden. Ich werde Lyam aufsuchen, und wenn dieses Geheimnis dann aufgeklärt ist, werde ich mich bei der Zeremonie zu dir gesellen.«

»Gut.«

»Wo ist Carline?«

»Sie regt sich über dies und das auf. Ich werde ihr sagen, daß du da bist.«

Sie küßte ihn auf die Wange und eilte davon. Arutha war nicht mehr im Grabmal seiner Vorfahren gewesen, seit er ein kleiner Junge war und das erste Mal zur Krönung Rodrics nach Rillanon gekommen war. Er bat einen Pagen, ihn hinzubringen, und der Knabe führte ihn durch ein Gewirr von Korridoren.

Im Laufe der Jahre hatte man den Palast vielen Änderungen unterzogen. Neue Flügel waren angefügt worden, neue Teile über denjenigen errichtet worden, die durch Feuer, Erdbeben oder Krieg zerstört worden waren. Aber im Zentrum des weitläufigen Gebäudes war die ehemalige, erste Burg erhalten geblieben. Der einzige Hinweis darauf, daß sie die alten Hallen betraten, war das plötzliche Auftauchen von dunklen Steinwänden, Hie im Laufe der Zeit glattgeschliffen worden waren. Zwei Wachen standen neben der einzigen Tür, über der ein Relief der conDoin-Könige prangte. Es war ihr Wappen, der gekrönte Löwe mit dem Schwert in den Klauen. Der Page sagte:

»Prinz Arutha«, und die Posten öffneten die Tür. Arutha trat hindurch und befand sich in einem kleinen Vorraum, von dem aus eine lange Treppenflucht nach unten führte.

Er folgte der Treppe, vorbei an hell leuchtenden Fackeln, die die Steine der Wand mit schwarzem Pech befleckten. Am Ende stand Arutha vor einem hohen, bogenförmigen Durchgang.

Zu beiden Seiten türmten sich heldenhafte Statuen einstiger conDoin-Könige. Rechts, mit Zügen, die vom Alter undeutlich geworden waren, stand die Statue von Dannis, dem ersten conDoin-König Rillanons. Er war vor ungefähr siebenhundertundfünfzig Jahren gekrönt worden. Linker Hand befand sich die Statue von Delong, dem einzigen König, den man »den Großen« genannt hatte. Er hatte als erster das Banner Rillanons aufs Festland getragen und Bas-Tyra erobert, zweihundertundfünfzig Jahre nach Dannis.

Arutha schritt an den Darstellungen seiner Vorfahren vorbei und betrat die Grabkammer. Er ging zwischen den ehemaligen Trägern seines Namens hindurch, die dort ruhten. Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen, Schurken und Halunken, Heilige und Gelehrte und Weise säumten seinen Weg. Am jenseitigen Ende der Gruft sah er Lyam neben dem Katafalk sitzen, der den steineren Sarg seines Vaters trug. Borrics Ebenbild war in die Oberfläche des Sarges eingemeißelt worden, und es sah aus, als würde der verstorbene Herzog von Crydee einfach schlafen.

Langsam näherte sich Arutha, denn Lyam schien tief in Gedanken versunken. Lyam blickte auf.

»Ich fürchtete schon, du würdest zu spät kommen.«

»Ich auch. Wir hatten schlechtes Wetter und sind nur langsam vorangekommen, aber wir sind doch alle hier. Also, was hat dein merkwürdiges Verhalten zu bedeuten ? Anita hat mir erzählt, daß du die ganze Nacht hier gewesen bist, und daß es irgendein Geheimnis gibt. Was ist das?«

»Ich habe gründlich über diese Angelegenheit nachgedacht Arutha. Das gesamte Königreich wird in wenigen Stunden Bescheid wissen, aber ich wollte, daß du siehst, was ich getan habe, und daß du hörst, was ich zu sagen habe, ehe es die anderen erfahren.«

»Anita sagte, daß Martin heute morgen hier bei dir gewesen ist. Was ist los, Lyam?«

Lyam trat beiseite und wies auf den Katafalk. In die Steine der Begräbnisstätte waren folgende Worte eingemeißelt:

HIER RUHT BORRIC,

DRITTER HERZOG VON CRYDEE,

EHEMANN VON CATHERINE,

VATER VON

MARTIN,

LYAM,

ARUTHA

UND CARLINE

Arutha bewegte die Lippen, aber kein Wort entrang sich seiner Kehle. Er schüttelte den Kopf.

»Was hat dieser Irrsinn zu bedeuten?«

Lyam trat zwischen Arutha und das Ebenbild seines Vaters. »Das ist kein Irrsinn, Arutha. Vater hat Martin auf seinem Sterbebett anerkannt. Er ist unser Bruder. Er ist der Älteste.«

Aruthas Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Warum hast du mir das nicht erzählt?« Sein Ton war gequält. »Welches Recht hattest du, das vor mir zu verbergen?«

Lyam hob nun auch die Stimme. »Alle, die davon wußten, wurden zur Geheimhaltung verpflichtet. Ich konnte nicht riskieren, daß irgend jemand davon erfuhr, ehe der Frieden besiegelt war. Es gab zu viel zu verlieren.«

Arutha drängte sich an seinem Bruder vorüber und starrte ungläubig auf die Inschrift. »Jetzt ergibt das alles einen verteufelten Sinn. Martins Ausschluß vom Großen Wählen. Die Art, wie Vater sich immer um ihn kümmerte und ein Auge auf ihn hatte. Seine Freiheit, zu kommen und zu gehen, wie es ihm beliebte.« Bitterkeit klang aus Aruthas Worten. »Aber warum jetzt? Warum hat Vater Martin nach so vielen Jahren des Leugnens doch noch anerkannt?«

Lyam versuchte, Arutha zu trösten. »Ich habe versucht, so viel wie möglich von Kulgan und Tully zu erfahren. Außer ihnen wußte niemand davon, nicht einmal Fannon. Vater war ein Gast Brucals, nach Großvaters Tod. Er hat sich mit einem hübschen Dienstmädchen eingelassen und Martin gezeugt. Erst fünf Jahre später hat Vater von ihm erfahren. Inzwischen war er am Hofe, hatte Mutter kennengelernt und geheiratet. Als er von Martin erfuhr, war dieser bereits von seiner Mutter verlassen und den Mönchen von Silbans Abtei übergeben worden. Vater beschloß, Martin in ihrer Obhut zu lassen.

Als ich dann geboren wurde, empfand Vater Trauer und Reue, weil er einen Sohn hatte, der ihm unbekannt war. Als ich dann sechs Jahre alt war, war Martin bereit für das Große Wählen. Vater sorgte dafür, daß er nach Crydee gebracht wurde. Aber er wollte ihn nicht anerkennen, aus Furcht, Mutter zu beschämen.«

»Warum hat er es dann jetzt getan?«

Lyam betrachtete die Darstellung ihres Vaters. »Wer weiß schon, was im Kopfe eines Mannes vorgeht, der im Sterben liegt?

Vielleicht ist er dann schuldbewußter, oder es ist ein Gefühl von Ehre. Was auch immer der Grund war, er hat Martin anerkannt und Brucal kann es bezeugen.«

Noch immer klang Zorn aus Aruthas Stimme. »Jetzt müssen wir mit diesem Irrsinn fertig werden, ungeachtet Vaters Gründe dafür, ihn zu schaffen.« Wütend starrte er Lyam an. »Was hat er gesagt, als du ihn hierhergebracht und ihm das gezeigt hast?«

Lyam schaute fort, als schmerze ihn, was er nun sagen mußte. »Er stand schweigend da. Dann sah ich ihn weinen. Und schließlich sagte er: ›Ich bin froh, daß er es dir erzählt hat.‹ Arutha, er hat es gewußt.« Lyam packte seinen Bruder am Arm. »All die Jahre hat Vater gedacht, er wüßte nichts davon, aber Martin hat es gewußt. Und nicht ein einziges Mal hat er versucht, daraus einen Vorteil zu ziehen.«

Aruthas Ärger ließ nach. »Hat er noch etwas gesagt?«

»Nur ›Danke, Lyam‹. Dann ist er gegangen.«

Arutha ging ein paar Schritte auf und ab. Dann wandte er sich wieder Lyam zu. »Martin ist ein guter Mann, einen besseren kenne ich nicht. Ich bin bestimmt der erste, der das sagt. Aber das jetzt! Meine Güte, weißt du eigentlich, was du getan hast?«

»Ich bin mir meiner Handlungen immer bewußt.«

»Du hast alles, was wir in den letzten neun Jahren gewonnen haben, aufs Spiel gesetzt, Lyam.

Sollen wir ehrgeizige Herrscher aus dem Osten bekämpfen, die sich vielleicht in Martins Namen erheben werden? Haben wir einen Krieg beendet, bloß, um einen noch bittereren zu beginnen?«

»Es wird keinen Streit geben.«

Arutha blieb stehen. Seine Augen wurden zu Schlitzen. »Wie meinst du das? Hat Martin versprochen, keinen Anspruch zu erheben?«

»Nein. Ich habe beschlossen, mich nicht gegen Martin zu stellen, sollte er sich für die Krone entscheiden.«

Arutha war einen Augenblick lang sprachlos, und er sah Lyam entsetzt an. Zum erstenmal verstand er die schrecklichen Zweifel, die seinen Bruder plagten. »Du willst nicht König werden«, sagte er, und sein Ton war eine einzige Anklage.

Lyam lachte verbittert. »Kein gesunder, normaler Mann würde das wollen. Du hast es selbst gesagt, Bruder. Ich weiß nicht, ob ich den Erfordernissen gewachsen wäre. Aber jetzt liegt die Angelegenheit nicht mehr in meinen Händen. Wenn Martin sich dafür einsetzt, König zu werden, dann werde ich ihm sein Recht zugestehen.«

»Sein Recht! Das königliche Siegel ist auf deine Hand übergegangen, in Anwesenheit fast aller Herrscher des Königreiches. Du bist nicht der kranke Erland, der aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit und weil es keine klare Nachfolge gab, vor dem Sohn seines Bruders weichen konnte.

Du bist der benannte Erbe!«

Lyam ließ den Kopf sinken. »Das gilt nicht, Arutha. Roderic benannte mich als ›ältesten männlichen Vertreter der conDoins‹ zum Thronfolger, und das bin ich nicht. Das ist Martin.«

Arutha funkelte seinen Bruder wütend an. »Hübsch gesagt, Lyam. Aber das kann den Zerfall des Königreichs bedeuten! Sollte Martin vor dem versammelten Kongreß seinen Anspruch anmelden, dann werden die Priester von Ishap die Krone brechen, und die ganze Angelegenheit wird dem Kongreß der Herrscher zur Lösung übergeben werden. Selbst wenn Guy sich noch weiterhin versteckt, gibt es mindestens ein Dutzend Herzöge, Scharen von Grafen und eine Unmenge von Baronen, die bereitwillig die Kehle ihres Nachbarn durchschneiden würden, um einen solchen Kongreß einzuberufen. Und das Ende wäre, daß das halbe Land, die ganzen Ländereien im Königreich sich gegenseitig in die Hände arbeiten würden, um Stimmen zu erzielen. Das wäre lächerlich!

Wenn du dagegen die Krone annimmst, kann Bas-Tyra nichts machen. Doch wenn du Martin unterstützt, werden sich viele weigern, ihm zu folgen. Ein handlungsunfähiger Kongreß – das ist genau das, was Guy sich wünscht. Ich wette um alles, was ich besitze, daß er in diesem Augenblick irgendwo hier in der Stadt steckt und Intrigen schmiedet. Wenn die östlichen Herrscher sich erheben, dann wird Guy auftauchen, und viele werden seinem Banner folgen.«

Lyam schien von den Worten seines Bruders überwältigt. »Ich weiß auch nicht, was geschehen wird, Arutha. Aber ich weiß, daß ich nicht anders handeln konnte, als ich es getan habe.«

Es sah aus, als wollte Arutha Lyam schlagen. »Du hast vielleicht Vaters Sinn für Familienehre geerbt, aber uns anderen wird es zukommen, mit dem Töten fertig zu werden! Himmel, Lyam, was glaubst du eigentlich, was passieren wird, wenn irgendein bisher namenloser Jägersmann daherkommt und sich auf den conDoin-Thron setzt, bloß weil unser Vater vor fast vierzig Jahren einmal mit einer hübschen Magd poussiert hat! Das bedeutet den Bürgerkrieg!«

Lyam gab nicht nach. »Wenn du an meiner Stelle gewesen wärest, Arutha, hättest du Martin dann sein Geburtsrecht abgesprochen?«

Aruthas Ärger verging. Er sah seinen Bruder sehr erstaunt an. »Großer Gott! Du hast ein schlechtes Gewissen, nur weil Vater Martin sein Leben lang verleugnet hat, ist es das?« Er trat einen Schritt von Lyam zurück, als wollte er ihn besser betrachten. »Wäre ich an deiner Stelle gewesen, dann hätte ich Martin ganz gewiß sein Geburtsrecht abgestritten. Was machen ein paar Tage mehr oder weniger nach siebenunddreißig Jahren schon aus? Aber wenn ich dann erst König wäre und fest auf meinem Thron sitzen würde, dann würde ich ihn zum Herzog ernennen, würde eine Armee seinem Kommando unterstellen und würde ihn zum Ersten Berater ernennen, alles, was eben nötig wäre, um mein Gewissen zu beruhigen. Aber doch erst, wenn das Königreich gesichert wäre.«

Lyam seufzte bedauernd. »Dann sind wir eben aus unterschiedlichem Stoff gemacht, du und ich, Arutha. Ich habe dir schon im Lager gesagt, daß ich glaube, daß du einen besseren König abgeben würdest als ich. Vielleicht hast du recht, aber was geschehen ist, ist nun einmal geschehen.«

»Weiß Brucal davon?«

»Nur wir drei.« Er sah Arutha offen an. »Nur die Söhne unseres Vaters.«

Arutha errötete, zornig über diese Bemerkung. »Versteh mich nicht falsch, Lyam. Ich bringe Martin gewiß eine Menge Zuneigung entgegen. Aber hier geht es um weit mehr als nur um persönliche Erwägungen.« Einen Augenblick dachte er schweigend nach. »Dann liegt jetzt alles in Martins Händen. Wenn du das wirklich tun mußtest, dann war es zumindest vernünftig von dir, es nicht in aller Öffentlichkeit zu tun. Der Schock wird groß genug sein, wenn Martin während der Krönung vortritt. Aber nachdem wir vorgewarnt sind, können wir uns wenigstens vorbereiten.«

Arutha ging auf die Treppe zu, an deren Fuß er noch einmal stehenblieb und seinen Bruder anschaute. »Lyam, vielleicht bist du doch ein besserer König als ich, weil du Martin nicht verleugnen kannst. Aber sosehr ich dich auch hebe, ich werde nicht zulassen, daß das Königreich über der Nachfolge zerfällt.«

Lyam schien unfähig, sich noch länger mit seinem Bruder zu streiten. Müdigkeit und Resignation klang aus seinen Worten. »Was willst du tun?«

»Was getan werden muß. Ich werde dafür sorgen, daß diejenigen, die uns treu sind, vorgewarnt werden. Wenn ein Kampf nötig wird, dann wollen wir den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite haben.« Er machte eine kurze Pause. »Ich empfinde nichts als Zuneigung für Martin, Lyam, das weißt du. Ich bin als Junge mit ihm auf die Jagd gegangen, und er war zu einem nicht geringen Teil dafür verantwortlich, daß ich Anita vor Guys Wachhunden in Sicherheit bringen konnte. Also stehe ich zutiefst in seiner Schuld. Zu anderer Zeit und an einem anderen Ort wäre ich jederzeit mit Freuden bereit, ihn als meinen Bruder anzuerkennen. Aber wenn es zu Blutvergießen kommt, Lyam dann werde ich ihn auch töten.«

Mit diesen Worten verließ Arutha die Gruft seiner Ahnen. Lyam blieb allein zurück, und die Kälte von Jahrhunderten lastete schwer auf ihm.

 

Pug schaute aus dem Fenster und schwelgte in Erinnerungen. Katala trat an seine Seite und riß ihn aus seinen Träumen. »Du siehst reizend aus«, sagte er. Sie trug ein leuchtendrotes Kleid mit goldenen Litzen am Mieder und an den Ärmeln. »Die hübscheste Herzogin bei Hofe kann nicht so schön sein wie du.«

Sie lächelte über seine Schmeichelei. »Ich danke meinem Gatten.« Sie drehte sich, um ihm das Gewand vorzuführen. »Dein Herzog Caldric ist der wahre Magier, finde ich. Wie es seinen Leuten gelungen ist, all diese Sachen zu finden und sie innerhalb von zwei Stunden fertigzustellen, ist mir ein Rätsel.« Sie strich über den weiten Rock. »Aber an diese schweren Gewänder muß man sich erst gewöhnen. Ich glaube, ich ziehe doch die kurzen Kleider meiner Heimat vor.« Sie streichelte das Material. »Aber der Stoff ist wundervoll. Und in eurer kalten Welt braucht man so etwas wohl auch, das kann ich verstehen.« Es war kühler geworden, jetzt, da der Sommer sich seinem Ende zuneigte.

Es würde keine zwei Monate mehr dauern, bis der erste Schnee fiel.

»Wenn du jetzt schon glaubst, es wäre kalt, dann warte nur einmal den Winter ab, Katala.«

William stürzte ins Zimmer. Sein Schlafzimmer lag direkt neben dem ihren. »Marna, Papa«, brüllte er froh. Er trug die Tunika und Hose eines kleinen Edelmannes, die aus feinstem Stoff waren. Er sprang in die ausgestreckten Arme seines Vaters. »Wohin geht ihr?« wollte er wissen und sah sie aus großen Augen an.

»Wir gehen und schauen zu, wie Lyam zum König gekrönt wird, William. Während wir fort sind, mußt du schön auf dein Kindermädchen hören, und ärgere Fantus nicht immer.«

Er erklärte, daß er das tun beziehungsweise nicht tun würde, aber sein Grinsen ließ an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Die Magd, die als Kindermädchen fungieren sollte, trat ein und nahm den Jungen mit zurück in sein eigenes Zimmer.

Pug und Katala verließen die Gemächer, die Caldric ihnen zugewiesen hatte, und gingen auf den Thronsaal zu. Als sie um eine Ecke bogen, entdeckten sie Laurie, der aus seinem Zimmer kam.

Kasumi stand nervös an seiner Seite.

Laurie strahlte bei ihrem Anblick. »Ah! Da seid ihr ja. Ich hatte schon gehofft, daß wir euch noch zu Gesicht bekommen würden, ehe die Zeremonie anfängt.«

Kasumi verneigte sich vor Pug, obwohl der Magier jetzt eine modische rostfarbene Tunika und passende Hosen anstelle der schwarzen Robe trug. »Erhabener«, murmelte er.

»Das gehört jetzt der Vergangenheit an, Kasumi. Bitte, nenn mich einfach Pug.«

»Ihr seht beide in euren neuen Kleidern und der Uniform sehr gut aus«, bemerkte Katala. Laurie trug leuchtende Kleider nach der neuesten Mode. Er hatte eine gelbe Tunika mit einer ärmellosen Überjacke aus grünem Material an. Dazu gehörten enganliegende schwarze Hosen, die er in hohe Stiefel gesteckt hatte. Kasumi trug die Uniform eines Ritterhauptmanns aus der Garnison von LaMut, dunkelgrüne Tunika und Hose, dazu den Heroldsrock mit dem grauen Wolfskopf von LaMut.

Der Minnesänger lächelte Katala an. »Über all der Aufregung der letzten paar Monate habe ich ganz vergessen, daß ich ein kleines Vermögen an Edelsteinen bei mir hatte. Da ich sie kaum dem Herrn der Shinzawai zurückgeben kann, und da sich sein Sohn weigert, sie anzunehmen, vermute ich, daß sie jetzt von Rechts wegen mir gehören. Also brauche ich mir nicht länger Gedanken darüber zu machen, wie ich eine Witwe mit einem Gasthof finde.«

»Kasumi, wie geht es mit deinen Männern?« erkundigte sich Pug.

»Ganz gut, wenngleich sie und die Soldaten von LaMut sich immer noch etwas unbehaglich in Gegenwart der anderen fühlen. Aber das wird sich mit der Zeit schon geben. In der Woche nach unserem Abmarsch sind wir mit der Bruderschaft zusammengestoßen. Sie können wirklich kämpfen, aber wir haben sie aufgerieben. Alle Männer in der Garnison haben gefeiert, Tsuranis ebenso wie die Männer aus LaMut. Es war ein guter Anfang.«

Es ist mehr als ein Zusammenstoß gewesen. Die Kunde von der Schlacht hatte Rillanon bereits erreicht. Die Düsteren Brüder und ihre Verbündeten, die Trolle, waren in Yabon eingefallen. Sie hatten eine der Garnisonen an der Grenze überrannt, die während des Krieges geschwächt worden war. Die Tsuranis hatten ihren Marsch gen Zun unterbrochen, waren nach Norden geeilt und hatten die Garnison befreit. Wie die Wahnsinnigen hatten die Tsuranis gekämpft, um ihre ehemaligen Feinde aus den Klauen der Trolle zu befreien, die sie in die Berge nördlich von Yabon zurückgedrängt hatten.

Laurie zwinkerte Pug zu. »Sind so etwas wie Helden geworden, unsere Tsurani-Freunde.

Deshalb sind sie auch prächtig empfangen worden, als sie hier in Rillanon eintrafen.« Da die Stadt dem Zentrum des Krieges fern gewesen war, brachten ihre Einwohner dem ehemaligen Feind nur wenig Furcht oder Haß entgegen und hieß die Männer auf eine Art willkommen, die in den Freien Städten, in Yabon oder längs der Fernen Küste undenkbar gewesen wäre. »Ich glaube, Kasumis Männer waren von dem allen ein wenig überwältigt.«

»Das waren sie allerdings«, stimmte Kasumi zu. »In unserer Heimatwelt wäre ein solcher Empfang unwahrscheinlich gewesen, aber hier…«

»Trotzdem haben sie es gut verkraftet«, fuhr Laurie fort. »Die Männer haben den Wein und das Bier des Königreiches schnell schätzen gelernt, und selbst ihre Abscheu großen Frauen gegenüber haben sie überwunden.«

Mit einem verlegenen Lächeln wandte sich Kasumi ab. Laurie erzählte: »Unser schöner Ritter-Hauptmann war vor einer Woche Gast einer der reicheren Händlersfamilien – eine Familie, die bemüht ist, den Handel mit dem Westen weiter auszubauen. Seither hat man ihn des öfteren in Gesellschaft einer gewissen Händlerstochter erblickt.«

Katala lachte, und auch Pug amüsierte sich über Kasumis Verlegenheit. Er sagte: »Er war schon immer ein guter Schüler.«

Kasumi senkte den Kopf. Seine Wangen waren gerötet, aber er grinste breit. »Trotzdem ist es schwer zu verstehen, daß eure Frauen in ihrem Verhalten so frei sind. Jetzt verstehe ich, warum ihr beiden so willensstark gewesen seid. Das müßt ihr von euren Müttern gelernt haben.«

Lauries Aufmerksamkeit wurde von jemandem erregt, der sich ihnen näherte. Pug bemerkte den Ausdruck offener Bewunderung auf dem Gesicht des Sängers. Der Magier drehte sich um, und er wurde durch den Anblick einer wunderschönen jungen Frau belohnt, die sich mit einer Ehreneskorte näherte. Pug riß die Augen auf, als er Carline erkannte. Sie war genauso hübsch als Frau, wie sie es als Mädchen zu werden versprochen hatte. Sie kam auf sie zu und entließ die Wache mit einem kurzen Winken ihrer Hand. In ihrem feinen, grünen Gewand sah sie wirklich königlich aus. Eine perlenbesetzte Tiara krönte ihr dunkles Haar.

»Meister Magier«, sagte sie, »wollt Ihr eine alte Freundin nicht begrüßen?«

Pug verneigte sich vor der Prinzessin, und Kasumi und Laurie folgten seinem Beispiel. Katala machte einen Hofknicks, wie es ihr eine der Zofen gezeigt hatte. »Prinzessin, Ihr schmeichelt mir, indem Ihr Euch an einen einfachen Burgjungen erinnert.«

Carline lächelte, und ihre blauen Augen funkelten. »Ach, Pug… du bist niemals ein einfacher Irgendwas gewesen.« Sie schaute an ihm vorüber auf Katala. »Ist das deine Frau?« Als er nickte und sie miteinander bekannt machte, küßte die Prinzessin Katala auf die Wange und sagte: »Meine Liebe, ich hatte gehört, daß Ihr reizend seid, aber die Berichte meines Bruders sind Euch nicht gerecht geworden.«

»Eure Hoheit ist sehr großzügig«, erwiderte Katala.

Kasumi hatte erneut seine nervöse Haltung eingenommen, aber Laurie stand nur regungslos da.

Er war unfähig, den Blick von der jungen Frau in Grün zu wenden. Katala mußte ihn fest am Arm nehmen, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Laurie, würdest du Kasumi und mich ein wenig im Palast herumführen, ehe die Zeremonie beginnt?«

Laurie lächelte breit, verbeugte sich vor der Prinzessin und begleitete Kasumi und Katala den Gang entlang. Pug und die Prinzessin sahen ihnen nach.

»Deine Frau ist eine äußerst umsichtige Frau.«

Pug lächelte. »Sie ist allerdings bemerkenswert.«

Carline schien ehrlich erfreut, ihn zu sehen. »Ich habe gehört, du hättest auch einen Sohn.«

»William. Er ist ein kleiner Teufel und ein Schatz.«

Carlines Ausdruck verriet eine Spur von Neid. »Ich würde ihn gern kennenlernen.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Du mußt sehr glücklich sein.«

»Sehr glücklich, Hoheit.«

Sie ergriff seinen Arm, und langsam setzten sie sich in Bewegung. »So formell, Pug? Oder sollte ich dich besser Milamber nennen? Ich habe gehört, daß das dein Name war.«

Er sah sie lächeln. »Manchmal weiß ich es selbst nicht so recht. Aber hier scheint Pug angemessener zu sein.« Er grinste nun auch. »Du scheinst eine Menge über mich gehört zu haben.«

»Du warst schon immer mein Lieblingsmagier.«

Dann lachten sie beide. Mit gesenkter Stimme meinte Pug anschließend: »Der Tod deines Vaters tut mir so schrecklich leid, Carline.«

Ihr Gesicht verdüsterte sich ein wenig. »Lyam hat mir erzählt, daß du zum Schluß noch bei ihm gewesen bist. Ich freue mich, daß er gesehen hat, daß du sicher zurückgekehrt bist, ehe er starb.

Hast du eigentlich gewußt, wie gern er dich hatte?«

Pug spürte, wie er vor Gefühl errötete. »Er hat mir einen Namen gegeben. Besser hätte er mir kaum zeigen können, was er für mich empfand. Hast du das gewußt?«

Sie strahlte auf. »Ja, Lyam hat mir auch davon erzählt. Jetzt sind wir so etwas wie Cousin und Cousine«, meinte sie lachend. Leise sprach sie weiter, während sie gingen: »Du warst meine erste Liebe, Pug, aber was noch wichtiger ist, du warst immer mein Freund. Und ich freue mich, dich wieder daheim begrüßen zu können.«

Er blieb stehen und küßte sie sanft auf die Wange. »Und dein Freund freut sich, wieder daheim zu sein.«

Mit leicht geröteten Wangen führte sie ihn in einen kleinen, erhöht liegenden Garten. Sie traten in die helle Sonne hinaus und setzten sich auf eine Steinbank. Carline seufzte lange. »Ich wünschte nur, Vater und Roland könnten jetzt auch hier sein.«

»Ich war traurig, als ich von Rolands Tod hörte.«

Sie schüttelte den Kopf. »Dieser Narr hat in seinen wenigen Jahren mehr gelebt als die meisten Männer in ihrem ganzen Leben. Hinter seiner liederlichen Art hat er viel verborgen, aber ich glaube, er war einer der weisesten Männer, die ich je kennengelernt habe. Er hat jede Minute genossen und alles an Leben aus ihr herausgepreßt, was er nur konnte.« Pug musterte ihr Gesicht und sah, daß ihre Augen in der Erinnerung leuchteten. »Wenn er noch leben würde, würde ich ihn heiraten. Ich vermute, daß wir jeden Tag miteinander gestritten hätten, Pug. Oh, wie wütend er mich doch machen konnte! Aber er konnte mich genauso auch zum Lachen bringen. Er hat mir so viel über das Leben beigebracht. Ich werde ihn immer in guter Erinnerung behalten.«

»Ich bin froh, daß du deinen Frieden mit deinen Verlusten gemacht hast, Carline. So viele Jahre als Sklave, dann als Magier in einem fremden Land haben mich sehr verändert. Es scheint, als hättest auch du große Veränderungen durchgemacht.«

Sie neigte den Kopf, um ihn anzuschauen. »Ich glaube nicht, daß du dich so sehr verändert hast, Pug. In dir steckt immer noch etwas von dem Knaben, der sich durch meine Aufmerksamkeiten so leicht aus der Fassung bringen ließ.«

Pug lachte. »Wahrscheinlich hast du recht. Und in gewisser Weise bist auch du unverändert, oder zumindest weißt du immer noch, wie man Männer aus der Fassung bringt – wenn Lauries Reaktion ein Maßstab ist.«

Sie lächelte ihn strahlend an, und ihr Gesicht glühte. Pug verspürte einen leisen Schmerz, ein Sehnen, ein Echo des Gefühls, das er ihr einst entgegengebracht hatte. Aber jetzt fühlte er sich deshalb nicht mehr unwohl, denn er wußte, er würde Carline immer lieben, wenngleich nicht auf die Art, wie er es sich als Knabe vorgestellt hatte. Das war nicht die rasende Leidenschaft, auch nicht das tiefe Band, das ihn mit Katala verband. Er wußte, was er für Carline fühlte, war Zuneigung und Freundschaft.

Sie griff seine letzte Bemerkung auf. »Dieser hübsche blonde Mann, der vor ein paar Minuten bei dir war? Wer ist das?«

Pug lächelte verständnisvoll. »So, wie es aussieht, dein treuester Untertan. Er heißt Laurie. Er ist ein Troubadour aus Tyr-Sog und ein Schurke mit grenzenlosem Charme und Witz. Er hat ein liebendes Herz und einen mutigen Geist, und er ist ein wahrer Freund. Ich werde dir irgendwann einmal erzählen, wie er mir das Leben gerettet und dabei sein eigenes aufs Spiel gesetzt hat.«

Wieder neigte Carline den Kopf zur Seite. »Klingt, als wäre er ein äußerst interessanter Kerl.«

Pug erkannte, daß sie zwar älter und selbstbewußter geworden war und viel Kummer hinter sich gebracht hatte, aber im Grunde ihres Wesens war sie unverändert geblieben.

»Ich habe ihm einmal, im Scherz, versprochen, ihn dir vorzustellen. Ich bin sicher, er wäre jetzt entzückt, die Bekanntschaft Ihrer Hoheit machen zu dürfen.«

»Dann müssen wir dafür sorgen, daß er das tut.« Sie erhob sich. »Ich fürchte, ich muß mich jetzt für die Krönung vorbereiten. Jeden Augenblick können jetzt die Glocken erklingen und die Priester eintreffen. Wir unterhalten uns noch, Pug.«

Auch Pug sprang auf. »Ich freue mich darauf, Carline.«

Er bot ihr den Arm. Eine Stimme erklang hinter ihnen. »Junker Pug, darf ich wohl mit Euch sprechen?«

Sie drehten sich um und sahen Martin Langbogen, der in einiger Entfernung stand. Er verneigte sich in die Richtung der Prinzessin. Carline sagte: »Meister Langbogen! Da seid Ihr. Ich habe Euch seit gestern nicht mehr gesehen.«

Martin lächelte leicht. »Ich hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Wenn mich eine solche Stimmung m Crydee überkommt, dann kehre ich einfach in den Wald zurück. Hier« – er wies auf den großen, terrassenförmigen Garten – »war dies das Beste, was ich finden konnte.«

Fragend blickte sie ihn an, aber sie kümmerte sich nicht weiter um seine Bemerkung. »Nun, ich denke, es wird Euch gelingen, an der Krönung teilzunehmen. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigt, ich muß mich beeilen.« Sie nahm ihren höflichen Abschied entgegen und ging.

Martin sah Pug an. »Es tut gut, dich wiederzusehen, Pug.«

»Dich auch, Martin. Von allen meinen alten Freunden hier bist du der letzte, der mich begrüßt.

Abgesehen von denen, die noch in Crydee sind und die ich erst dort wiedersehen werde, hast du meine Heimkehr jetzt vervollständigt.« Pug bemerkte, daß Martin Sorgen hatte. »Stimmt etwas nicht?«

Martin schaute auf den Garten hinaus, auf die Stadt und das Meer dahinter. »Lyam hat mir alles erzählt, Pug. Er hat mir auch gesagt, daß du ebenfalls Bescheid weißt.«

Pug verstand ihn sofort. »Ich war dabei, als dein Vater starb, Martin«, sagte er, und seine Stimme blieb ganz ruhig.

Schweigend ging Martin los, und als er die niedrige Steinmauer erreichte, die den Garten umgab, umklammerte er sie fest. »Mein Vater«, sagte er verbittert. »Wie viele Jahre habe ich darauf gewartet, daß er sagen würde ›Martin, ich bin dein Vater‹.« Er schluckte hart. »Ich habe mir nie etwas aus dem Erbe und solchen Dingen gemacht. Ich war es zufrieden, Jagdmeister von Crydee zu bleiben. Wenn er es mir nur selbst gesagt hätte.«

Pug dachte über seine nächsten Worte nach. »Martin, viele Männer tun Dinge, die sie später bereuen. Nur wenigen wird die Gelegenheit gewährt, sie wiedergutzumachen. Hätte ein Tsurani-Pfeil ihn schnell getötet oder wäre irgend etwas anderes geschehen, hätte er vielleicht nicht einmal die Zeit gehabt, das wenige zu tun, was er getan hat.«

»Ich weiß, aber auch das tröstet mich nicht.«

»Hat Lyam dir seine letzten Worte überbracht? Er sagte: ›Martin ist dein Bruder. Ich habe ihm Unrecht getan, Lyam. Er ist ein guter Mann, und ich habe ihn von Herzen gern.‹«

Martins Knöchel wurden weiß, so fest umklammerte er die Steinmauer. Leise antwortete er:

»Nein, das hat er nicht.«

»Lord Borric war kein einfacher Mann, Martin, und ich war noch ein Junge, als ich ihn kennenlernte. Aber was immer man auch von ihm sagen kann, dieser Mann war nicht schlecht. Ich behaupte nicht, zu verstehen, warum er so gehandelt hat, wie er es tat, aber daß er dich geliebt hat, das steht fest.«

»Es war alles eine solche Dummheit. Ich wußte, daß er mein Vater war, und er hat nie erfahren, daß meine Mutter es mir erzählt hatte. Wie anders hätte unser Leben verlaufen können, wäre ich zu ihm gegangen und hätte es ihm gesagt.«

»Nur die Götter können das wissen.« Pug berührte Martins Arm. »Aber was jetzt zählt, ist: Was wirst du tun? Daß Lyam es dir erzählt hat, bedeutet, daß er dein Geburtsrecht öffentlich bekanntgeben will. Wenn er es schon anderen mitgeteilt hat, dann wird der Hof in Aufruhr sein. Du bist der Älteste und hast den ersten Anspruch. Weißt du, was du tun wirst?«

Martin musterte Pug und antwortete: »Du sprichst recht ruhig über all das. Beunruhigt dich mein Anspruch auf den Thron denn überhaupt nicht?«

Pug schüttelte den Kopf. »Du kannst es nicht wissen, aber in Tsuranuanni gehörte ich zu den mächtigsten Männern. In mancher Hinsicht galt mein Wort mehr als ein Befehl des Königs. Ich glaube, ich weiß, was Macht bedeuten kann, und welche Art von Männer sie sucht. Ich bezweifle, daß du über viel persönlichen Ehrgeiz verfügst, außer du hast dich sehr verändert, seit ich in Crydee gelebt habe. Wenn du die Krone an dich nimmst, dann aus Gründen, die du für gut hältst. Vielleicht ist es die einzige Möglichkeit, einen Bürgerkrieg zu verhindern. Denn wenn du den Königsmantel wählst, dann wird Lyam der erste sein, der dir Lehenstreue schwört. Aus welchem Grund auch immer, du würdest dein Bestes tun, um klug zu handeln. Und du wirst dein Bestes geben, um ein guter Herrscher zu sein.«

Martin schien beeindruckt. »Du hast dich sehr verändert, Pug, mehr, als ich erwartet hatte. Ich danke dir für deine freundliche Beurteilung, aber ich glaube, du bist der einzige Mann im ganzen Königreich, der dieser Meinung ist.«

»Wie auch immer die Wahrheit aussehen mag: Du bist der Sohn deines Vaters und würdest keine Unehre über sein Haus bringen.«

Wieder sprach Bitterkeit aus Martins Worten. »Es gibt Leute, die meine Geburt als solche schon als Unehre ansehen.« Er starrte auf die Stadt unterhalb. Dann wandte er sich Pug zu. »Wenn die Wahl doch nur einfach wäre. Aber Lyam hat schon gemerkt, daß das nicht der Fall ist. Wenn ich die Krone nehme, werden viele stutzen und sich zurückziehen. Wenn ich zu Lyams Gunsten zurücktrete, schützen mich vielleicht einige vor, um Lyam ihre Unterstützung zu verweigern.

Götter, Pug. Ginge es um Arutha und mich, würde ich auch nicht eine Sekunde lang zögern, zu seinen Gunsten zurückzutreten. Aber Lyam? Ich habe ihn sieben Jahre lang nicht gesehen, und diese Zeit hat ihn verändert. Er scheint ein von Zweifeln geplagter Mann zu sein. Er ist sicher ein fähiger Kommandeur im Feld, aber ein König? Ich überlege, ob ich mich nicht als der fähigere König erweisen könnte.«

Pug sprach leise und sanft. »Wie ich schon sagte: Wenn du den Thron beanspruchst, dann aus guten Überlegungen heraus, aus Pflichtgefühl.«

Martins rechte Hand ballte sich zur Faust, die er vor sein Gesicht hielt. »Wo endet Pflichtgefühl und fängt persönlicher Ehrgeiz an? Wo endet Gerechtigkeit und beginnt Rache? Ein Teil von mir, ein zorniger Teil, sagt: ›Hole aus diesem Augenblick heraus, was du kannst, Martin.‹ Warum nicht König Martin? Und dann wieder fragt ein anderer Teil in mir, ob Vater mir das auferlegt hat, weil er wußte, daß ich eines Tages König werden müßte. Oh, Pug, was ist denn nur meine Pflicht?«

»Das ist etwas, was jeder von uns allein für sich entscheiden muß. Ich kann dir keinen Rat anbieten.«

Martin beugte sich vor, über die Mauer hinweg, und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

»Ich glaube, ich möchte jetzt lieber für eine Weile allein sein, wenn du erlaubst.«

Pug zog sich zurück. Er wußte, daß ein besorgter Mann über sein Schicksal nachdachte. Und über das Schicksal des Königreichs.

 

Pug fand Katala bei Laurie und Kasumi. Sie unterhielten sich mit Herzog Brucal und Graf Vandros. Als er näher kam, konnte er den Herzog sagen hören: »Also wird es endlich eine Hochzeit geben, jetzt, wo dieser junge, begriffstutzige Kerl« – er wies auf Vandros – »endlich um die Hand meiner Tochter angehalten hat. Vielleicht bekomme ich also doch noch ein paar Enkelkinder, ehe ich sterbe. Das kommt davon, wenn man so viele Jahre wartet, ehe man heiratet. Man ist alt, ehe seine Kinder heiraten.« Er neigte den Kopf, als er Pug sah. »Ah, Magier, da seid Ihr ja.«

Katala lächelte, als sie ihren Ehemann erblickte. »Hattet die Prinzessin und du eine hübsche Wiedervereinigung?«

»Sehr hübsch.«

Sie bohrte einen Zeigefinger in seine Brust. »Und wenn wir allein sind, wirst du mir jedes einzelne Wort wiederholen.«

Die anderen lachten über Pugs Verlegenheit, obwohl ihm klar war, daß sie nur einen Scherz mit ihm machte.

»Ach, Magier, Eure Gemahlin ist so reizend. Ich wünschte, ich wäre noch einmal sechzig.«

Brucal zwinkerte Pug zu. »Dann würde ich sie Euch rauben, und zum Teufel mit dem Skandal.« Er nahm Pug beim Arm und sagte zu Katala: »Wenn Ihr mir verzeiht, meine Dame, so werde ich statt dessen einen Augenblick der Zeit Eures Gatten rauben.«

Er steuerte Pug von der überraschten Gruppe fort. Als sie außer Hörweite waren, meinte er: »Ich habe schlimme Nachrichten.«

»Ich weiß.«

»Lyam ist ein Narr, ein edler Narr.« Er schaute kurz fort, und ein Schleier der Erinnerung legte sich über seine Augen. »Aber er ist seines Vaters Sohn, und ebenso seines Großvaters Enkelsohn, und wie die beiden hat auch er einen ausgeprägten Sinn für Ehre.« Die alten Augen blickten wieder scharf. »Dennoch wünschte ich, sein Sinn für seine Pflicht wäre ebenso klar.« Er lenkte seine Stimme noch weiter. »Behalte deine Gemahlin in der Nähe. Die Posten in der Halle tragen Purpur und werden ihr Leben lassen, um den König zu verteidigen, wer immer das sein mag. Aber es könnte gefährlich werden. Viele der östlichen Herrscher sind impulsive Männer, die zu sehr daran gewöhnt sind, daß auch ihre kleinsten Forderungen unverzüglich erfüllt werden. Ein paar öffnen vielleicht den Mund und stellen fest, daß sie auf Stahl beißen.

Meine Männer und auch die von Vandros halten sich überall im Palast bereit, während Kasumis Tsuranis auf Lyams Bitte hin draußen bleiben. Den östlichen Herrschern gefällt das gar nicht, aber Lyam ist der Thronerbe, und sie können nicht nein sagen. Zusammen mit denen, die auf unserer Seite stehen, können wir den Palast in unsere Gewalt bringen und auch halten.

Da Bas-Tyra sich immer noch versteckt hält und Richard von Salador tot ist, haben die östlichen Herrscher jetzt ihre Führer verloren. Trotzdem sind genügend von ihnen auf der Insel. Viele Mitglieder ihrer ›Ehrengarden‹ sind in und um die Stadt verteilt, um diese Insel in ein hübsches Schlachtfeld zu verwandeln, wenn es ihnen einfallen sollte, den Palast zu verlassen, ehe ein König ernannt worden ist. Nein, wir halten den Palast. Kein verräterischer Östlicher wird uns verlassen, um mit dem Schwarzen Guy Ränke zu schmieden. Ein jeder wird das Knie vor demjenigen Bruder beugen, der die Krone nimmt.«

Pug war überrascht. »Dann unterstützt Ihr also Martin?«

Die Stimme des alten Brucal wurde rauh und hart, blieb aber immer noch leise. »Niemand wird mein Königreich in einen Bürgerkrieg führen, Magier. Nicht, solange ich noch einen einzigen Atemzug machen kann. Arutha und ich haben miteinander gesprochen. Keinem von uns gefällt das, aber wir sind uns einig in unserem Kurs. Sollte Martin König werden, dann werden sich alle vor ihm neigen. Sollte Lyam die Krone übernehmen, wird Martin ihm Treue schwören oder aber diesen Palast nicht lebend verlassen. Sollte die Krone gebrochen werden, halten wir diesen Palast, und kein einziger Herrscher wird ihn verlassen, bis nicht ein Kongreß einen der Brüder zum König ernannt hat. Und sollten wir ein ganzes verdammtes Jahr in dieser Halle verbringen müssen! Wir haben schon ein paar von Guys Agenten in der Stadt geschnappt. Er ist hier in Rillanon, daran besteht kein Zweifel. Wenn auch nur eine Handvoll von Adligen den Palast verlassen kann, ehe ein Kongreß aufgestellt worden ist, dann haben wir den Bürgerkrieg.« Er schlug mit der Faust in die andere, offene Hand. »Zum Teufel mit diesen Traditionen. Während wir hier sprechen, marschieren die Priester auf den Palast zu. Jeder Schritt bringt sie dem Augenblick der Wahl näher. Wenn Lyam nur früher gehandelt hätte, uns mehr Zeit gegeben hätte, oder wenn er überhaupt nichts getan hätte. Oder wenn wir Guy hätten fangen können. Wenn wir mit Martin hätten sprechen können, aber der ist verschwunden…«

»Ich habe mit Martin gesprochen.«

Brucals Augen verengten sich. »Wie ist seine Stimmung? Was hat er für Pläne?«

»Er ist ein Mann voller Sorgen und Unruhe, wie Ihr Euch wohl denken könnt. All das wird ihm auferlegt, und er hatte kaum Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen! Er hat immer gewußt, wer sein Vater war. Er war entschlossen, dieses Geheimnis mit sich ins Grab zu nehmen, möchte ich wetten. Aber jetzt wird er plötzlich in den Mittelpunkt gedrängt. Ich weiß nicht, was er tun wird. Ich glaube, er weiß es selbst nicht bis zu dem Augenblick, wo die Priester die Krone vor ihm absetzen werden.«

Brucal strich sich übers Kinn. »Daß er es wußte und nicht versucht hat, dieses Wissen zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen, das spricht für ihn. Aber dennoch bleibt uns keine Zeit.« Er deutete auf die Gruppe, die noch immer neben der Haupttür zur Halle stand. »Du kehrst am besten zu deiner Frau zurück. Halte deinen Verstand beisammen, Magier, denn es kann gut sein, daß wir deiner Künste bedürfen, ehe dieser Tag zu Ende geht.«

Sie gingen zu den anderen zurück, und Brucal führte Vandros und Kasumi hinein. Er unterhielt sich in gedämpftem Ton mit ihnen. Ehe Katala noch etwas sagen konnte, fragte Laurie: »Was Ast los? Als ich mit Katala und Kasumi auf einen der Balkone hinaustrat, von denen aus man den Hof überblicken kann, habe ich überall Kasumis Männer gesehen. Einen Augenblick lang dachte ich schon, das Kaiserreich hätte den Krieg gewonnen. Aber von ihm konnte ich nichts erfahren.«

»Brucal weiß, daß diese Männer Kasumis Befehlen gehorchen, ohne Fragen zu stellen«, war Pugs Antwort.

»Was hat das zu bedeuten, Gemahl? Ärger?«

»Ich habe nicht viel Zeit, um es zu erklären. Es könnte sein, daß mehr als nur einer die Krone für sich beanspruchen wird. Bleibe in Kasumis Nähe, Laurie, und halte dein Schwert locker. Wenn es Ärger gibt, folge Aruthas Führung.«

Laurie nickte mit grimmigem Gesicht. Er verstand. Er betrat die Halle, und Katala fragte: »Und William?«

»Er ist sicher. Wenn es Ärger gibt, dann nur in der großen Halle, nicht in den Gästeunterkünften.

Der wahre Kummer wird erst anschließend beginnen.« Ihr Gesicht verriet, daß sie ihn nicht völlig verstand, aber sie akzeptierte stillschweigend, was er sagte. »Komm, wir müssen drinnen unsere Plätze einnehmen.«

Sie eilten in die große Halle und setzten sich auf ihre Ehrenplätze in der ersten Reihe. Als sie an der Menge vorbeischritten, die sich versammelt hatte, um die Krönung anzusehen, konnten sie Stimmen hören, die ein Gerücht im Saal verbreiteten. Sie erreichten Kulgan, und der untersetzte Magier nickte ihnen grüßend zu. Meecham wartete einige Schritte hinter ihm, mit dem Rücken zur Wand. Seine Blicke wanderten durch den Raum und prägten sich all jene ein, die nur eine Schwertlänge von Kulgan entfernt waren. Pug bemerkte, daß das alte Jagdmesser mit seiner langen Klinge ganz locker in der Scheide saß. Er wußte vielleicht nicht, wo das Problem lag, aber Meecham würde augenblicklich bereit sein, seinen alten Kameraden zu beschützen.

Kulgan zischte: »Was geht hier vor? Bis vor ein paar Minuten war noch alles ganz ruhig. Jetzt ist der Raum ein einziges Brummen.«

Pug beugte sich näher zu Kulgan. »Martin meldet vielleicht seinen Anspruch auf die Krone an.«

Kulgan riß die Augen auf. »Bei allen Heiligen! Das wird diesen Hof entzweien!« Er schaute sich um: Die meisten Adligen des Königreiches hatten ihre Plätze in der Halle eingenommen. Mit einem Seufzer des Bedauerns sagte er: »Es ist zu spät, um irgend etwas zu unternehmen. Wir können bloß abwarten.«

 

Amos brauste wild fluchend durch den Garten. »Warum, zum Teufel, kann irgend jemand nur wünschen, daß all diese verdammten Posten überall rumstehen?«

Martin sah auf und fing gerade noch den Kristallkelch auf, den Amos Trask ihm entgegenschleuderte. »Was?« fing er an, als Amos den Kelch mit Wein aus einer Karaffe füllte, die er hielt.

»Dachte, du könntest vielleicht ‘nen anständigen Schluck gebrauchen, der dir Mut macht, und dazu einen Kumpel, der ihn mit dir teilt.«

Martins Augen verengten sich. »Was meinst du damit?«

Amos füllte seinen eigenen Kelch und nahm einen tiefen Zug. »Der ganze Palast weiß inzwischen Bescheid, Kumpel. Lyam ist ja ein guter Kerl, aber er muß schon ganz schön bescheuert sein, wenn er glaubt, er könnte eine ganze Gruppe von Steinmetzen anstellen, die deinen Namen auf den Grabstein Eures Vaters meißeln, und sie dann mit nichts weiter als einem königlichen Befehl zum Schweigen bringen. Jeder Diener im Palast wußte bereits eine Stunde nachdem die Jungs ihre Arbeit beendet hatten, daß du der älteste männliche conDoin bist. Herrscht ‘ne ganz schöne Aufregung, das kannst du mir glauben.«

Martin trank seinen Wein. »Danke, Amos.« Er betrachtete die rote Flüssigkeit in seinem Glas.

»Soll ich König werden?«

Amos lachte. Es war ein gutmütiges, herzhaftes Lachen. »Dazu habe ich zwei Gedanken, Martin.

Erstens ist es immer besser, Kapitän als einfacher Matrose zu sein, und deshalb bin ich Kapitän und nicht einfacher Matrose. Und zweitens gibt es einen gewissen Unterschied zwischen einem Schiff und einem Königreich.«

Martin grinste. »Pirat, du bist wirklich überhaupt keine Hilfe.«

Amos sah betroffen drein. »Verdammt, immerhin hab’ ich dich zum Lachen gebracht, oder etwa nicht?« Er beugte sich vor und stützte einen Ellbogen auf die Gartenmauer, während er mehr Wein in sein Glas schenkte. »Sieh mal, da ist dieser hübsche Dreimaster im königlichen Hafen. Ich habe noch nicht viel Zeit gehabt, aber nachdem die Amnestie des Königs verkündet worden ist, gibt es mehr als genug Kerle, die jederzeit bereit sind, unter einem Kapitän zu segeln. Warum werfen wir nicht einfach die Leinen los und sehen uns ein wenig um?«

Martin schüttelte den Kopf. »Klingt gut. Ich war erst dreimal in meinem Leben auf einem Schiff, und mit dir als Kapitän bin ich jedesmal nur knapp mit dem Leben davongekommen.«

Amos sah ihn beleidigt an. »Die beiden ersten Male war es Aruthas Schuld, und bei dem dritten Mal nicht meine. Ich habe diese Piraten nicht geschickt, die uns von Salador bis Rillanon verfolgt haben. Außerdem, wenn du für mich arbeitest, dann übernehmen wir das Jagen. Das Meer des Königreiches wäre für mich ein vollkommen neues Gewässer. Nun, was sagst du?«

Martins Stimme wurde ernst. »Nein, Amos, obwohl ich fast genauso gern mit dir segeln wie in den Wald zurückkehren würde. Aber ich kann nicht vor der Entscheidung davonlaufen, die ich fällen muß. Ich bin nun einmal der älteste Sohn, und ich habe das erste Recht auf die Krone.«

Martin schaute Amos scharf an. »Glaubst du, Lyam könnte der König sein?«

Amos schüttelte den Kopf. »Natürlich, aber das ist auch nicht die Frage, oder? Was du wissen willst, ist doch, ob Lyam ein guter König wäre. Ich weiß es nicht, Martin. Aber ich will dir eines sagen. Ich habe schon viele Matrosen vor Angst im Kampf blaß werden sehen, und doch haben sie ohne zu zögern gekämpft. Manchmal weiß man nicht, wozu ein Mann fähig ist, bis es Zeit für ihn wird, zu handeln.« Amos unterbrach sich und dachte gut über seine folgenden Worte nach. »Lyam ist ein guter Kerl, wie gesagt. Er hat wahnsinnige Angst davor, König zu werden, und ich mache ihm daraus wirklich keinen Vorwurf. Aber wenn er erst einmal auf dem Thron sitzt… Ich denke schon, daß er ein recht guter König sein könnte.«

»Ich wünschte, ich würde wissen, daß du recht hast.«

Eine kleine Glocke ertönte, dann folgten auch die größeren. »Nun, dir bleibt nicht mehr viel Zeit, deinen Entschluß zu fassen«, bemerkte Amos. »Die Priester von Ishap stehen an den äußeren Toren, und wenn sie den Thronsaal erreichen, dann kannst du nicht mehr einfach davon segeln. Dann ist dein Kurs festgelegt.«

Martin wandte sich von der Mauer ab. »Danke für deine Gesellschaft, Amos, und für den Wem.

Wollen wir also gehen und das Schicksal des Königreichs verändern?«

Amos trank den letzten Rest Wein aus der Kristallkaraffe. Dann warf er sie beiseite und erklärte, während sie zersplitterte: »Geh du nur das Schicksal des Königreiches entscheiden, Martin. Ich komme vielleicht später nach, wenn es mir nicht gelingt, das kleine Schiff zu bekommen, von dem ich gesprochen habe. Vielleicht segeln wir doch wieder zusammen. Wenn du deine Meinung darüber änderst, daß du König werden willst, oder wenn du glaubst, du müßtest Rillanon auf schnellstem Wege verlassen, dann sieh zu, daß du vor Sonnenuntergang unten am Hafen bist. Ich werde irgendwo da unten sein, und du bist mir immer in meiner Mannschaft willkommen.«

Martin drückte ihm fest die Hand. »Leb wohl, Pirat.«

Amos ging davon, und Martin blieb allein zurück. Er ordnete seine Gedanken, so gut er es vermochte. Als er dann seine Entscheidung gefällt hatte, trat er den Weg zum Thronsaal an.

 

Wenn er den Hals reckte, konnte Pug diejenigen erkennen, die die große Halle betraten. Herzog Caldric begleitete Erlands Witwe, Prinzessin Alicia, den langen Gang hinunter, der zum Thron führte. Anita und Carline folgten. Kulgan bemerkte: »Ihren grimmigen und bleichen Gesichtern nach zu urteilen, hat Arutha ihnen erzählt, was auf sie zukommen könnte.«

Pug bemerkte, wie Anita Carlines Hand ganz fest hielt, als sie ihre Plätze erreichten. »Wie schrecklich, unter solchen Umständen zu erfahren, daß man einen älteren Bruder hat.«

»Aber sie scheinen es alle recht gut aufzunehmen«, flüsterte Kulgan zurück.

Gongs verkündeten, daß die Priester von Ishap den Vorraum erreicht hatten, und Arutha und Lyam traten ein. Beide trugen den roten Umhang eines königlichen Prinzen und begaben sich schnell zur Front der Halle. Aruthas Blicke wanderten hastig durch den Saal, als versuche er die Laune aller Anwesenden zu beurteilen. Lyam wirkte ruhig, als wäre er bereit, alles hinzunehmen, was das Schicksal ihm bringen würde.

Pug sah Arutha Fannon etwas zuflüstern, und der alte Schwertmeister wandte sich seinerseits an Hauptmann Gardan. Beide drehten sich um, die Hand nah am Schwertgriff, und beobachteten alles, was im Saal vorging.

Von Martin konnte Pug nirgendwo etwas entdecken. »Vielleicht hat Martin beschlossen, der Streitfrage aus dem Wege zu gehen«, meinte er zu Kulgan.

Kulgan sah sich um. »Nein, da ist er.« Er deutete mit dem Kopf auf die jenseitige Wand. Dort erhob sich in einer Ecke eine riesige Säule. Tief in ihrem Schatten stand Martin. Seine Züge waren verborgen, aber seine Haltung war unverkennbar.

Glöckchen klingelten, und als Pug sich umwandte, konnte er den ersten der Priester von Ishap in die große Halle eintreten sehen. Hinter ihm folgten andere. Alle gingen im Gleichschritt in langsamem Tempo. Von den Seitentüren konnte man hören, wie Riegel vorgeschoben wurden, denn traditionsgemäß wurde die Halle vom Beginn der Zeremonie bis zu ihrem Ende hin verschlossen.

Als die sechzehn Priester den Raum betreten hatten, wurden auch die großen Türen hinter ihnen geschlossen. Der letzte Priester blieb kurz vor der Tür stehen. Er hielt einen schweren, hölzernen Stab in einer Hand, ein großes Wachssiegel in der anderen. Flink befestigte er das Siegel an der Tür.

Pug konnte sehen, daß es das siebenseitige Zeichen von Ishap trug, und er spürte die Gegenwart von Magie darin. Er wußte, daß nur derjenige, der das Siegel angebracht hatte, die Türen wieder öffnen konnte. Nur unter größtem Risiko konnte dies eventuell auch noch von einem anderen Mitglied der hohen Künste versucht werden.

Nachdem die Türen versiegelt worden waren, schritt der Priester mit dem Stab vorwärts. Er ging zwischen den Reihen seiner Mitpriester hindurch, die warteten und leise Gebete sangen. Einer hielt die neue Krone, die von den Priestern entworfen und hergestellt worden war, auf einem Kissen aus purpurfarbenem Samt. Rodrics Krone war von dem Schlag zerstört worden, der auch seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Aber selbst wenn sie überlebt hätte, wäre sie mit dem König beerdigt worden, denn so verlangte es die Sitte. Sollte heute kein neuer König gekrönt werden, dann würde diese neue auf den Steinen des Bodens zerschmettert werden. Eine andere würde erst angefertigt werden, wenn der Kongreß der Herrscher die Priester darüber informierte, daß er einen neuen König auserwählt hatte. Pug staunte über die Wichtigkeit, die einem solchen einfachen Goldring beigemessen werden konnte.

Die Priester bewegten sich vorwärts, bis sie vor dem Thron standen, wo bereits andere von den geringeren Orden warteten. Wie es Sitte war, war Lyam gefragt worden, ob er wünsche, daß sein Familienpriester den Gottesdienst der Amtseinsetzung leitete. Er hatte es bejaht. Vater Tully stand am Kopf der Abordnung des Tempels von Astalon. Pug wußte, der alte Priester würde die Sache schnell in die Hand nehmen, gleichgültig, welcher von Borrics Söhnen die Krone nehmen würde, und er hielt es für eine weise Entscheidung.

Der oberste Priester von Ishap stieß mit seinem Stab auf den Boden, sechzehn gleichmäßige Schläge. Der Ton hallte durch den Saal, und als er fertig war, herrschte Stille im Thronsaal.

»Wir sind gekommen, um den König zu krönen!« rief der oberste Priester aus.

»Möge Ishap den König segnen!« antworteten die anderen Priester.

»Im Namen Ishaps, des einen Gottes über alle anderen, und im Namen der vier erhabenen und zwölf niedrigeren Götter, mögen alle jene vortreten, die Anspruch auf die Krone erheben.«

Pug hielt den Atem an, als er Lyam und Arutha vortreten sah. Einen Augenblick später erschien auch Martin. Er kam hinter seiner Säule hervor und schritt nach vorne.

Als Martin auftauchte, hörte man ein Zischen im Saal, als Unzählige scharf Luft holten, denn viele in der Halle hatten von dem Gerücht noch nicht gehört oder hatten es nicht geglaubt.

Als alle drei vor dem Priester standen, schlug dieser erneut mit seinem schweren Stab auf den Boden. »Jetzt ist die Stunde, und dieses ist der Ort.« Dann berührte er Martin mit dem Stab an der Schulter und fragte: »Mit welchem Recht trittst du vor uns?«

Martin antwortete mit klarer, kräftiger Stimme: »Mit dem Recht der Geburt.« Pug konnte die Gegenwart von Magie spüren. Die Priester überließen nicht alles einfach der Ehre und Tradition.

Solange ein Mensch von dem Stab berührt wurde, konnte er keine falsche Aussage machen.

Dieselbe Prozedur wurde mit Lyam und Arutha durchgeführt, und beide antworteten wie Martin.

Wieder ruhte der Stab auf Martins Schulter, als der Priester fragte: »Nenne deinen Namen und deinen Anspruch.«

Martins Stimme erklang: »Ich bin Martin, der älteste Sohn von Borric, der Älteste von königlichem Blut.«

Ein Raunen ging durch die Halle, das der Priester zum Verstummen brachte, indem er mit seinem Stab auf den Boden klopfte. Dann wurde der Stock auf Lyams Schulter gelegt, und er antwortete: »Ich bin Lyam, Sohn von Borric, von königlichem Geblüt.«

Ein paar Stimmen konnten vernommen werden, die sagten: »Der Erbe!«

Der Priester zögerte, wiederholte dann aber die Frage an Arutha, der antwortete: »Ich bin Arutha, Sohn des Borric, von königlichem Blut.«

Der Priester schaute die drei jungen Männer an. Dann sagte er zu Lyam: »Bist du der anerkannte Erbe?«

Lyam antwortete, wobei der Stab auf seiner Schulter lag: »Das Recht der Nachfolge wurde mir übertragen, da man von Martin nicht wußte. Rodric hielt mich für den ältesten männlichen conDoin.«

Der Priester zog seinen Stab zurück und beriet sich mit seinen Mitpriestern. In der Halle blieb alles still, als sie sich versammelten, um diese ungeahnte Wendung der Ereignisse zu diskutieren.

Die Zeit verging quälend langsam, bis sich schließlich der oberste Priester erneut ihnen zuwandte.

Er legte den Stab nieder, und man reichte ihm den goldenen Kreis, der die Krone des Königreiches war. Er stieß ein kurzes Gebet aus: »Ishap, wir bitten dich um Führung und Weisheit für alle, die hier vor uns stehen. Laß den Auserwählten das Richtige tun.« Mit lauter Stimme sagte er dann: »Es ist klar, daß sich ein Fehler in die Nachfolge eingeschlichen hat.« Er setzte die Krone vor Martin ab.

»Martin, als ältester Sohn von königlichem Blut hast du das Recht des ersten Anspruchs. Willst du, Martin, diese Bürde auf dich nehmen und willst du unser König sein?«

Martin schaute auf die Krone. Stille hing im Saal, als sich aller Augen auf den großen Mann in Grün richteten. Der Atem wurde angehalten, während die Menge in der Halle seine Antwort erwartete.

Dann streckte Martin langsam die Arme aus und nahm die Krone von dem Kissen, auf dem sie ruhte. Er hob sie hoch, und alle Blicke folgten ihr. Ein Lichtstrahl, der durch eines der hohen Fenster fiel, fing sich in ihr, und sie sandte ein Funkeln und Glitzern durch die ganze Halle.

Martin hielt sie hoch über seinen Kopf und erklärte: »Ich, Martin, trete hiermit meinen Anspruch auf die Krone des Königreichs der Inseln ab, für jetzt und alle Zeiten, in meinem Namen und im Namen all meiner Nachkommen bis hin zur letzten Generation.« Dann bewegte er sich plötzlich, und die Krone ruhte auf Lyams Kopf. Wieder erklang Martins Stimme, und seine Worte waren eine trotzige Herausforderung. »Heil Lyam! Wahrer und einziger König!«

Eine Pause entstand, als alle Anwesenden verarbeiteten, was sie gesehen hatten. Dann wandte sich Arutha einer verblüfften, schweigenden Menge zu, und seine Stimme erfüllte die Luft. »Heil Lyam! Wahrer und einziger König!«

Lyam stand zwischen seinen Brüdern, einen auf jeder Seite, und in der Halle brach Jubel und lautes Rufen aus. »Heil Lyam! Heil dem König!«

Der oberste Priester ließ diesem Jubel einige Zeit freien Lauf. Dann ergriff er wieder seinen Stock und schlug damit auf den Boden. Als Ruhe eingetreten war, sah er Lyam an. »Willst du, Lyam, diese Bürde auf dich nehmen und unser König werden?«

Lyam schaute den Priester an und erwiderte: »Ich werde euer König sein.«

Wieder hallte der Raum von Jubel wider, und diesmal ließ der oberste Priester es geschehen. Pug schaute sich um und bemerkte die Erleichterung in vielen Gesichtern, bei Brucal, Caldric, Fannon, Vandros und Gardan, bei allen, die bereit gewesen waren, sich dem Ärger und der Unruhe zu stellen.

Wieder rief der oberste Priester die Menge mit einem Stoßen seines Stabes zur Ruhe. »Tully vom Orden von Astalon«, rief er, und der alte Familienpriester trat vor.

Andere Ordensmitglieder entledigten Lyam seines roten Mantels und ersetzten ihn durch den purpurfarbenen Umhang des Königs. Dann traten die Priester beiseite, und Tully stellte sich vor Lyam. Zu Martin und Arutha gewandt, sagte er: »Alle im Königreich danken euch für euren Verzicht und eure Weisheit.« Die Brüder verließen Lyams Seite und kehrten auf ihre Plätze neben Anita und Carline zurück.

Carline lächelte Martin herzlich an, nahm seine Hand und flüsterte: »Danke, Martin.«

Tully wandte sich nun der Menge zu: »Jetzt ist die Stunde, und dieses ist der Ort. Dir ist diese Bürde zugefallen, Lyam, erster dieses Namens, Sohn von Borric, aus der conDoin-Linie der Könige. Willst du diese Bürde auf dich nehmen und willst du unser König sein?«

Lyam antwortete: »Ich will euer König sein.«

Tully zog seine Hand von Lyams Kopf zurück und ergriff die mit dem königlichen Siegelring daran. »Jetzt ist die Stunde, und dieses ist der Ort. Schwörst du, Lyam conDoin, Sohn des Borric aus der Linie der Könige, das Königreich der Inseln zu verteidigen und zu schützen, und seinem Volke treu zu dienen, für sein Wohlergehen und sein Heil zu sorgen?«

»Ich schwöre es.«

Tully begann eine lange Liturgie. Dann, als die Gebete alle gesprochen waren, erhob sich Lyam.

Tully nahm seine Mitra ab und reichte sie dem obersten Priester des Ishap, der sie einem anderen Mitglied von Tullys Orden weitergab. Tully kniete vor Lyam nieder und küßte den Ring. Dann erhob er sich und geleitete Lyam zum Thron, während der Priester von Ishap rief: »Ishap segne den König!«

Lyam setzte sich. Ein altes Schwert, das einst Dannis, dem ersten conDoin-König gehört hatte, wurde ihm gebracht und ruhte auf seinen Knien. Es galt als das Zeichen, daß er das Königreich mit seinem Leben verteidigen würde.

Tully drehte sich um und nickte dem obersten Priester von Ishap zu, der mit seinem Stock auf den Boden stieß. »Jetzt ist sie vergangen, die Stunde unserer Wahl. Hiermit ernenne ich Lyam den Ersten zu unserem rechtmäßigen, wahren und unbestrittenen König!«

Die Menge antwortete mit Gebrüll. »Heil Lyam! Lang lebe der König!«

Die Priester von Ishap fingen an zu singen, und das oberste Ordensmitglied führte sie zur Tür.

Mit seinem Stab berührte er das Wachssiegel, und es zerbarst mit einem Krachen. Dann schlug er noch dreimal an die Tür, und die Posten davor öffneten sie. Ehe er hinaustrat, verkündete er jenen, die nicht das Privileg gehabt hatten, an der Krönungszeremonie teilzunehmen: »Lyam ist unser König! Macht es überall bekannt.«

Schneller als ein Vogel fliegen kann, verbreitete sich die Kunde im Palast und dann in der Stadt.

Feiernde Menschen auf den Straßen brachten Trinksprüche auf den neuen Monarchen aus, und nicht einer unter tausend wußte, wie nahe das Königreich an diesem Tag dem Unheil gewesen war.

Die Priester von Ishap verließen die Halle, und aller Augen wandten sich dem neuen Herrscher des Königreichs zu.

Tully machte den Mitgliedern der königlichen Familie ein Zeichen, und Arutha, Martin und Carline traten vor ihren Bruder hin. Lyam steckte die Hand aus, und Martin kniete nieder und küßte den Ring seines Bruders. Arutha folgte, dann kam Carline.

Alicia führte Anita zum Thron, als erste einer langen Reihe von Adligen, die dann folgten. Jetzt begann eine langwierige Prozedur: Ein jeder Adliger des Königreiches mußte dem König Treue geloben. Lord Caldric beugte ein zitterndes Knie vor seinem König, und Tränen der Erleichterung standen auf seinem Gesicht, als er sich erhob. Als Brucal Treue schwor, sprach er noch kurz mit dem König, nachdem er aufgestanden war, und Lyam nickte.

Einer nach dem anderen kamen dann die übrigen Edlen des Königreiches an die Reihe, bis schließlich, Stunden später, der letzte der Grenzbarone, dieser Wächter der Nördlichen Marschen, die niemandem als dem König unterworfen waren, aufstand und zu den anderen in der Halle zurückkehrte.

Lyam reichte das Schwert des Dannis einem wartenden Pagen und erhob sich. »Es ist unser Wunsch, daß eine Zeit des Feierns anbricht. Aber es gibt da Staatsangelegenheiten, die unverzüglich erledigt werden müssen. Die meisten sind glücklicher Natur, aber zuerst habe ich eine traurige Pflicht, derer ich mich entledigen möchte.

Jemand ist heute hier nicht anwesend, jemand, der versucht hat, den Thron an sich zu bringen, auf dem zu sitzen unser Privileg ist. Es kann nicht abgestritten werden, daß Guy du Bas-Tyra zum Verrat aufgerufen hat. Es steht außer Frage, daß er einen Mord begangen hat. Aber es war der Wunsch des verstorbenen Königs, daß in dieser Angelegenheit Gnade walten würde. Ich werde Rodrics Wunsch entsprechen, obwohl es uns ein Vergnügen sein würde, Guy du Bas-Tyra voll für seine Taten büßen zu sehen.

Macht überall bekannt, daß Guy du Bas-Tyra von diesem Tage an vogelfrei und aus unserem Königreich verbannt ist. Seine Titel und sein Besitz fallen an die Krone. Sein Name und sein Wappen sollen von der Liste der Herrscher des Königreichs gestrichen werden. Niemand soll ihm Schutz, Feuer, Speisen oder Wasser anbieten.« Zu den versammelten Herrschern gewandt, fügte er dann hinzu: »Einige der Anwesenden hier hatten sich mit dem ehemaligen Herzog verbündet. So zweifeln wir nicht daran, daß er von unserem Urteil erfahren wird. Sagt ihm, er soll fliehen, er soll nach Kesh, Queg oder Roldem ziehen. Und wenn ihn sonst niemand aufnimmt, dann soll er sich in den Nordlanden verbergen. Aber sollten wir ihn in einer Woche noch innerhalb unserer Grenzen finden, dann hat er sein Leben verspielt.«

Einen Augenblick sprach niemand in der Halle ein Wort. Dann war Lyam zu hören. »Es war eine Zeit der großen Sorgen und des großen Leids für uns alle. Laßt uns nun eine neue Ära beginnen, eine des Friedens und Wohlstands.« Er bedeutete seinen beiden Brüdern, an seine Seite zurückzukehren, und sie traten näher, wobei Arutha Martin ansah. Plötzlich grinste er und – völlig unerwartet – umarmte sowohl Martin als auch Lyam. Einen Moment waren alle Anwesenden ganz still, während die drei Brüder so dicht aneinander gedrängt dastanden. Dann erfüllte neuer Jubel den Saal.

Während der Lärm noch anhielt, sprach Lyam mit seinen beiden Brüdern. Zuerst lächelte Martin breit, doch dann veränderte sich plötzlich sein Ausdruck. Sowohl Arutha als auch Lyam nickten heftig, aber aus Martins Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Er setzte zum Reden an, aber Lyam unterbrach ihn. Er hielt eine Hand empor, um Schweigen zu gebieten.

»Die Dinge müssen in unserem Königreich neu geordnet werden. Hiermit erklären wir, daß vom heutigen Tage an unser geliebter Bruder Arutha Prinz von Krondor ist. Bis zu dem Tag, an dem unserem Haus ein Sohn geboren wird, ist er ebenfalls Thronerbe.« Dieses letzte schien Arutha alles andere als zu gefallen. Dann fuhr Lyam fort: »Und es ist unser Wunsch, daß das Herzogtum von Crydee, Heim unseres Vaters, in unserer Familie bleibt, solange seine Linie fortbesteht. Aus diesem Grunde ernenne ich Martin, unseren geliebten Bruder, zum Herzog von Crydee, mit allem Land, Titeln und Rechten, die sich daraus ergeben.«

Wieder erhob sich ein Jubeln unter der Menge. Martin und Arutha verließen Lyams Seite, und der neue König sagte: »Der Graf von LaMut und Ritterhauptmann Kasumi von LaMut mögen sich dem Thron nähern.«

Kasumi und Vandros schraken zusammen. Kasumi war schon den ganzen Tag über nervös gewesen, denn Vandros hatte großes Vertrauen in ihn gesetzt. Doch seine Tsurani-Erziehung zur Gleichgültigkeit ermöglichte es ihm, ruhig neben Vandros einherzugehen.

Beide Männer knieten vor Lyam nieder, der dann sprach: »Herzog Brucal hat uns gebeten, diese glückliche Neuigkeit zu verkünden. Graf Vandros wird seine Tochter, die Dame Felinah, ehelichen.«

Deutlich konnte man Brucals Stimme in der Menge sagen hören: »Wird auch Zeit.« Einige der älteren Höflinge von Rodrics Hofstaat erbleichten, aber Lyam fiel in das allgemeine Gelächter ein.

»Es ist ebenfalls der Wunsch des Herzogs, daß es ihm gestattet wird, sich auf seinen Besitz zurückzuziehen, nachdem er dem Königreich lange und gut gedient hat. Wir haben unsere Einwilligung dazu gegeben. Und da er keinen Sohn hat, wünscht er außerdem, daß sein Titel an jemanden weitergegeben wird, der seinen Dienst am Königreich fortsetzen wird. Es soll ein Mann sein, der seine Fähigkeiten im Kommando der Garnison von LaMut bewiesen hat, als er die Armeen des Westens im erst kürzlich beendeten Kriege geführt hat. Für seine vielen tapferen Taten und treuen Dienste danken wir ihm und billigen diese Heirat, und so freuen wir uns, Vandros zum Herzog von Yabon zu ernennen, mit allem Landbesitz, Titeln und Rechten, die sich daraus herleiten. Erhebt Euch, Herzog Vandros.«

Vandros stand ein wenig zitternd auf und kehrte an die Seite seines zukünftigen Schwiegervaters zurück. Brucal versetzte ihm einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken und ergriff seine Hand. Lyam wandte dann seine Aufmerksamkeit Kasumi zu und lächelte. »Unter uns ist einer, der noch vor kurzem als unser Feind galt. Nun sehen wir in ihm unseren treuen Untertanen. Kasumi von den Shinzawai, für Eure Bemühungen, zwei kriegführenden Welten den Frieden zu bringen, und für Eure Weisheit und Euren Mut bei der Verteidigung unseres Landes gegen die Bruderschaft des Düsteren Pfades übertragen wir Euch das Kommando über die Garnison von LaMut und ernennen Euch zum Grafen von LaMut, mit allem Landbesitz, Titeln und Rechten, die sich daraus ergeben. Erhebt Euch, Graf Kasumi.«

Kasumi war sprachlos. Langsam streckte er die Hand aus und ergriff die des Königs, wie er es die anderen Edlen hatte tun sehen. Dann küßte er den Siegelring. »Mein Herr König, mein Leben und meine Ehre verpfände ich Euch.«

Lyam fragte: »Herzog Vandros, akzeptiert Ihr Graf Kasumi als Euren Vasallen?«

Vandros grinste. »Aber gerne, Herr.«

Kasumi kehrte zu Vandros zurück. Seine Augen leuchteten vor Stolz. Brucal gab auch ihm einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken.

Noch einige andere Ämter wurden vergeben, denn durch Intrigen an Rodrics Hof und durch Verluste im Krieg waren Lücken entstanden. Als es schien, als wären alle Geschäfte vorüber, sagte Lyam: »Junker Pug aus Crydee möge vor den Thron treten.«

Pug sah Katala und Kulgan an. Er war überrascht, daß er aufgerufen wurde. »Was…?«

Kulgan schob ihn vorwärts. »Geh nur und finde es heraus.«

Pug trat vor Lyam hin und verneigte sich. Der König sagte: »Was bisher geschehen ist, war eine private Angelegenheit zwischen unserem Vater und diesem Mann. Jetzt jedoch ist es unser Wille, daß ein jeder im Königreich erfahren möge, daß dieser Junker, ehemals Pug, die Waise aus Crydee genannt, nun seinen Namen zu unserer Familie gehörig zählen darf.« Er streckte die Hand aus, und Pug kniete vor ihm nieder. Lyam präsentierte seinen Ring, ergriff dann Pug bei den Schultern und forderte ihn auf, sich zu erheben. »Wie es der Wunsch unseres Vaters war, so ist es auch der unsrige. Vom heutigen Tage an sollen alle im Königreich wissen, daß dieser Mann Pug conDoin ist, ein Mitglied der Familie des Königs.«

Viele in der Halle waren überrascht durch Pugs Adoption und Erhebung, aber diejenigen, die von seinen Taten wußten, jubelten laut, als Lyam sagte: »Seht unseren Cousin Pug, Prinz des Königreiches.«

Katala kümmerte sich nicht um Schicklichkeit, sondern stürzte vor, um ihren Gatten zu umarmen. Einige der Herrscher aus dem Osten runzelten die Stirn, aber Lyam lachte und küßte sie auf die Wange.

»Kommt!« rief der König dann. »Die Zeit zum Feiern ist gekommen. Laßt die Tänzer, Musiker und Narren vortreten. Laßt Tische bringen und Speisen und Getränke darauf stellen. Laßt Fröhlichkeit herrschen!«

 

Die Feierlichkeiten hielten an. Den ganzen Nachmittag über wurde die Fröhlichkeit nicht gezügelt. Ein Herold, der neben der Tafel des Königs stand, las diesem Botschaften von jenen vor, die den Festivitäten nicht beiwohnen konnten. Sie kamen von vielen Edelleuten und dem König von Queg, aber auch von Monarchen aus den kleinen Königreichen der östlichen Küsten. Auch wichtige Händler und Gildemeister aus den Freien Städten sandten ihre Glückwünsche. Selbst von Aglaranna und Tomas erhielt er Nachricht, ebenso wie von den Zwergen des Westens in Bergenstein und den Grauen Türmen. Der alte König Halfdan, Herrscher über die Zwerge des Ostens in Dorgin, sandte seine besten Wünsche, und selbst aus Großkesh erhielt er Grüße. Gleichzeitig wurde ihm von dort die Bitte überbracht, sich häufiger zu treffen, um die Streitfrage um das Tal der Träume friedlich regeln zu können. Die Kaiserin persönlich hatte diese Nachricht unterzeichnet.

Als er die letzte Nachricht vernahm, sagte Lyam zu Arutha: »Wenn Kesh uns in so kurzer Zeit eine persönliche Nachricht schicken kann, dann muß die Kaiserin über die talentiertesten Spione von Midkemia verfügen. Du mußt in Krondor auf der Hut sein.«

Arutha seufzte, ganz und gar nicht über diese Aussicht erfreut. Pug, Laurie, Meecham, Gardan, Kulgan, Fannon und Kasumi saßen alle an der königlichen Tafel. Lyam hatte darauf bestanden, daß sie sich zu der königlichen Familie gesellten. Der neue Graf von LaMut schien sich immer noch in einer Art Schockzustand über sein neues Amt zu befinden. Aber sein Glück war deutlich zu sehen, und selbst im Lärm dieser Halle konnte man ganz leise seine Krieger vernehmen, die draußen Tsurani-Festlieder sangen. Pug dachte darüber nach, wie unwohl sich wohl manche der königlichen Pagen und Wachtposten angesichts dieses Gesangs fühlen mochten.

Katala gesellte sich zu ihrem Gatten und berichtete, daß ihr Sohn schlief. Er sei ebenso wie Fantus völlig erschöpft vom Spielen. Zu Kulgan gewandt, meinte sie: »Ich hoffe, Euer Tier ist fähig, diese ständigen Liebesbezeigungen zu ertragen.«

Kulgan lachte. »Fantus liebt das!«

Pug meinte: »Nachdem so viele Belohnungen verteilt worden sind, bin ich aber doch überrascht, daß du gar nicht erwähnt worden bist. Du hast der Familie des Königs länger als irgend jemand sonst gedient, mit Ausnahme von Tully und Fannon.«

Kulgan schnaubte. »Tully, Fannon und ich haben uns gestern mit Lyam getroffen, noch ehe wir wußten, daß er Martin anerkennen und den Hof in Verwirrung stürzen wollte. Er fing an, irgend etwas über Belohnungen und Ämter zu murmeln, aber wir haben alle abgelehnt. Als er protestieren wollte, habe ich ihm erklärt, mir wäre es egal, was er für Tully und Fannon tun würde, aber wenn er versuchen sollte, mich vor all diese Menschen zu schleppen, dann würde ich ihn auf der Stelle in einen Ziegenbock verwandeln.«

Anita lachte. »Also ist es wahr!«

Pug, der sich an die Unterhaltung in Krondor erinnerte, die nun schon so viele Jahre zurücklag, fiel in ihre Fröhlichkeit ein. Er dachte an alles, was ihm zugestoßen war, seit er zum erstenmal zufällig in Kulgans Hütte gelandet war. Aber jetzt, nach vielen Gefahren, war er sicher bei seiner Familie und seinen Freunden, und vor ihm lag ein großes Abenteuer, der Aufbau der Akademie. Er wünschte, daß ein paar andere – Hochopepa, Shimone, Kamatsu, Hokanu, aber auch Almorella und Netoha – sein Glück mit ihm teilen könnten. Und er wollte, daß Ichindar und die Herren des Hohen Rates den wahren Grund für den Verrat am Tage des Friedens erfahren würden. Vor allem aber wünschte er sich, daß Tomas hier bei ihnen sein könnte.

»So nachdenklich, mein Gemahl?«

Pug fuhr hoch und lächelte. »Geliebte, ich habe nur gedacht, daß ich in jeder Beziehung ein äußerst glücklicher Mann bin.«

Seine Frau legte ihre Hand auf seine und erwiderte sein Lächeln. Tully beugte sich über den Tisch vor und deutete mit dem Kopf zum anderen Ende, wo Laurie saß. Er war völlig verzaubert von Carline, die über irgend etwas Lustiges lachte, was er gerade gesagt hatte. Es war offensichtlich, daß sie ihn genauso charmant fand, wie Pug es versprochen hatte; tatsächlich sah sie aus, als hätte er sie gefangengenommen. »Ich glaube, ich erkenne diesen Ausdruck auf Carlines Gesicht«, meinte Pug. »Könnte sein, daß Laurie ein bißchen Ärger bekommt.«

»So, wie ich Freund Laurie kenne, ist ihm dieser Ärger nur allzu willkommen«, bemerkte Kasumi.

Tully schien nachdenklich. »Da gibt es ein Herzogtum, Bas-Tyra, dem ein Herzog fehlt. Der da scheint ein recht fähiger junger Mann zu sein, Hmm.«

Kulgan fuhr ihn an: »Genug! Hast du denn immer noch nicht genug gehabt? Mußt du diesen armen Kerl mit der Schwester des Königs verheiraten, damit du wieder ein Amt im Palast übernehmen kannst! Götter! Sie haben sich doch erst heute kennengelernt!«

Tully und Kulgan schienen wieder einmal eine ihrer berühmtberüchtigten Streitereien beginnen zu wollen, aber Martin unterbrach sie. »Laßt uns das Thema wechseln. Mein Kopf wirbelt ohnehin, und da brauchen wir nicht auch noch euer Gezänk.«

Tully und Kulgan wechselten einen überraschten Blick. Dann lächelten beide und sagten wie aus einem Mund: »Jawohl, Herr.«

Martin stöhnte auf, während die in der Nähe Sitzenden in ihr Gelächter einfielen. Martin schüttelte den Kopf. »Das kommt mir so komisch vor, nach all der Angst und Sorge vor so kurzer Zeit noch. Ich hätte mich doch fast entschlossen, mit Amos zu ziehen -« Er schaute auf. »Wo ist Amos?«

Als er den Namen des Seemanns hörte, blickte auch Arutha auf, der in eine Unterhaltung mit Anita vertieft war. »Wo ist der alte Pirat?«

Martin antwortete. »Er hat davon gesprochen, daß er ein Schiff besorgen will. Ich dachte, er hätte es nur so dahin gesagt, aber seit der Krönung habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Ein Schiff besorgen! Die Götter weinen!« Arutha stand auf. »Mit Eurer Majestät Erlaubnis.«

»Geh und hol ihn zurück«, erwiderte Lyam. »Nach allem, was du mir erzählt hast, verdient er eine Belohnung.«

Martin stand auf. »Ich reite mit dir.«

Arutha lächelte. »Gern.«

Die beiden Brüder eilten aus der Halle, und in kürzester Zeit erreichten sie den Hof. Hier hielten Posten und Pagen Pferde für die Gäste bereit, die schon früh aufbrechen wollten. Arutha und Martin griffen sich die beiden ersten, wodurch zwei kleine Landadelige ohne Pferde blieben. Mit offenem Mund starrten die beiden Edelmänner ihnen nach, halb wütend, halb überrascht. »Verzeiht uns, meine Herren!« rief Arutha noch, als er sein Pferd schon anspornte und aufs Tor zujagte.

Als sie durch die Palasttore und über die geschwungene Brücke ritten, die den Fluß Rillanon überspannte, sagte Martin: »Er hat gesagt, er wollte bei Sonnenuntergang aufbrechen!«

»Dann bleibt uns kaum noch Zeit!« rief Arutha. Durch gewundene Gäßchen flogen sie förmlich zum Hafen hinunter.

In den Straßen drängten sich die feiernden Bürger, und mehr als einmal mußten sie ihr Tempo verringern, damit niemand zu Schaden kam. Sie erreichten schließlich den Hafen und zügelten ihre Pferde.

Ein einsamer Posten saß wie schlafend am Eingang zum königlichen Dock. Arutha sprang vom Pferd und rüttelte den Mann. Der Helm fiel diesem vom Kopf, als er zur Seite kippte und zu Boden sackte. Arutha untersuchte ihn. »Er lebt, aber er wird morgen einen schönen Brummschädel haben.«

Schnell sprang er wieder in den Sattel, und sie eilten bis zum letzten Anlegeplatz. Ein herrliches Schiff entfernte sich gerade langsam von den Docks. Martin und Arutha verhielten ihre Tiere und konnten Amos Trask auf dem Achterdeck stehen sehen. Er winkte ihnen fröhlich zu, noch nahe genug, daß sie sein grinsendes Gesicht erkennen konnten. »Ha! Sieht ja aus, als wäre alles zu einem guten Ende gekommen!«

Arutha und Martin stiegen ab, während sich die Entfernung zwischen Schiff und Pier stetig vergrößerte. »Amos!« brüllte Arutha.

Amos deutete auf ein Gebäude in der Ferne. »Die Jungs, die hier Wache gehalten haben, sind alle in dem Lagerhaus da. Sind zwar ein bißchen benommen, aber noch am Leben.«

»Amos! Das ist das Schiff des Königs!« schrie Arutha und winkte ihm, daß er das Schiff zurückbringen möge.

Amos Trask lachte. »Ich dachte doch gleich, daß Königliche Schwalbe ein hochtrabender Name wäre. Nun, sag deinem Bruder, ich werde es eines Tages zurückgeben.«

Martin fing an zu lachen, und Arutha fiel ein. »Du Pirat!« brüllte der jüngste Bruder. »Ich werde dafür sorgen, daß er es dir schenkt.«

Mit einem Aufschrei der Verzweiflung heulte Amos: »Ach, Arutha, du kannst einem aber auch jeden Spaß im Leben verderben!«

ENDE