Legat

Das Schiff ging vor Anker.

Die Mannschaft sicherte die Segel, während die Gesellschaft sich für den Landgang bereit machte. Meecham sah zu, wie das Langboot fertiggemacht wurde. Die Magier konnten es kaum erwarten, das Schloß Macros’ zu erreichen, denn sie hatten mehr Fragen als die anderen. Auch Arutha war neugierig darauf, nachdem er sich damit abgefunden hatte, die Reise mitzumachen. Er hatte feststellen müssen, daß er nur wenig Lust gehabt hätte, an dem langen Begräbniszug teilzunehmen, der am Tage ihrer Abreise ebenfalls Ylith verlassen hatte. Er hatte die Trauer um seinen Vater tief in seinem Innern begraben, und er würde allein damit fertig werden – zu seiner Zeit. Laurie war bei Kasumi geblieben, um ihm zu helfen, die Tsurani-Soldaten in die Garnison von LaMut einzugliedern; er würde später in Rillanon zu ihnen stoßen.

Lyam und seine Edlen waren per Schiff nach Krondor aufgebrochen. Sie hatten die Leichen von Borric und Rodric begleitet. Anita und Carline wollten sich unterwegs zu ihnen gesellen, um dann alle zusammen die Toten nach Rillanon zu geleiten, wo sie im Grab ihrer Vorfahren die letzte Ruhestätte finden sollten. Nach der traditionellen Trauerzeit von zwölf Tagen würde Lyam dann zum König gekrönt werden. Bis dahin könnten sich alle, die an der Krönungszeremonie teilnehmen wollten, in Rillanon eingefunden haben. Pug und Kulgan mußten ihre Aufgabe rechtzeitig fertiggestellt haben, um die Hauptstadt ebenfalls zu erreichen.

Das Boot war klar, und Arutha, Pug und Kulgan gesellten sich zu Meecham. Es wurde zu Wasser gelassen, und sechs Soldaten ergriffen die Ruder. Die Matrosen waren außerordentlich erleichtert gewesen, daß man von ihnen nicht verlangte, an Land zu gehen. Obwohl die Magier sie beruhigt hatten, wollten sie doch nicht den Fuß auf das Eiland des Zauberers setzen.

Das Boot wurde auf den Strand gezogen, und die Passagiere stiegen aus. Arutha schaute sich um.

»Hier scheint sich nichts verändert zu haben, seit wir das letzte Mal da waren.«

Kulgan streckte sich, denn das Schiff war überfüllt gewesen, und er genoß das Gefühl von festem Boden unter den Füßen. »Es hätte mich auch überrascht, wenn es anders gewesen wäre.

Macros ist jemand, der sein Haus in Ordnung hält, darauf wette ich.«

Arutha befahl: »Ihr sechs bleibt hier. Wenn ihr uns rufen hört, kommt schnell.« Der Prinz schickte sich an, dem Pfad den Hügel hinauf zu folgen, und die anderen schlossen sich ihm wortlos an. Sie erreichten die Stelle, an der sich der Weg gabelte, und Arutha sagte: »Wir kommen als geladene Gäste. Ich hielt es für das Beste, wenn wir nicht wie Eindringlinge auftreten.«

Kulgan sagte nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, das Schloß zu beobachten, dem sie sich näherten. Das merkwürdige blaue Eicht, das so deutlich sichtbar gewesen war, als sie die Insel das erste Mal besucht hatten, war aus dem Fenster des hohen Turmes verschwunden. Das Schloß wirkte verlassen, bar jeglicher Bewegung und jeglichen Tones. Die Zugbrücke war herabgelassen, und Meecham bemerkte: »Wenigstens müssen wir das Schloß nicht stürmen.«

Als sie den Rand der Brücke erreichten, blieben sie stehen. Das Schloß türmte sich vor ihnen auf.

Es wirkte abschreckend auf sie mit seinen hohen Mauern und noch höheren Türmen. Es war aus einem dunklen Stein erbaut, der ihnen unbekannt war. Merkwürdig geschnitzte, fremdartige Kreaturen beobachteten sie mit starrem Blick vom Torbogen her. Gehörnte und geflügelte Tiere hockten hoch auf den Simsen, scheinbar ganz plötzlich erstarrt, so naturgetreu waren sie angefertigt.

Sie betraten die Brücke und überquerten einen tiefen Abgrund, der das Schloß von der übrigen Insel trennte. Meecham schaute hinab und sah die Felsen zum Meeresspiegel hin abfallen. Wellen rauschten durch die Passage. »Der ist besser als die meisten Burggräben, die ich je gesehen habe.

Man überlegt bestimmt zweimal, ehe man den hier überquert, wenn von der anderen Seite auf einen geschossen wird.«

Sie betraten den Hof und sahen sich um, als erwarteten sie, daß jemand an einer der vielen Türen in den Mauern erscheinen würde. Nirgendwo gab es Anzeichen einer lebenden Kreatur, und doch war alles hier im Burginnern gepflegt und ordentlich.

Als niemand erschien, sagte Pug: »Ich nehme an, daß wir das, was wir suchen, in der Burg selbst finden werden.« Die anderen gingen mit ihm auf die große Treppe zu, die zur Eingangstür führte.

Als sie die Stufen erklommen hatten, schwang die große Pforte auf, und schließlich konnten sie alle eine Gestalt in der Dunkelheit dahinter stehen sehen. Als die Tür schließlich laut gegen die Burgmauer fiel und damit ihre Bewegung endete, trat die Gestalt ins Sonnenlicht vor.

Sofort hatte Meecham sein Schwert in der Hand, völlig ohne nachzudenken, denn das Wesen vor ihnen hatte große Ähnlichkeit mit einem Troll. Nach einer kurzen Begutachtung steckte Meecham seine Waffe wieder fort. Das Wesen hatte keine drohende Geste angedeutet. Es stand einfach oben an der Treppe und wartete auf sie.

Es war größer als ein durchschnittlicher Troll, fast so riesig wie Meecham selbst. Dicke Wülste beherrschten seine Stirn, und eine große Nase war der Mittelpunkt seines Gesichtes. Aber seine Züge wirkten edler als die eines Trolls. Zwei schwarze, blinzelnde Augen sahen ihnen zu, als sie weiter die Treppe hinaufstiegen. Als sie die Gestalt erreichten, verzog sie das Gesicht zu einem zahnlosen Grinsen. Der Kopf war mit einer dicken, filzigen Matte aus schwarzem Haar bedeckt.

Seine Haut war leicht grünlich, wie die der Trolle, aber das Wesen hielt sich nicht so gekrümmt, sondern stand aufrecht, fast wie ein Mann. Es trug eine fein gearbeitete Tunika, dazu Beinkleider, beides in leuchtendem Grün. An seinen Füßen saß ein Paar glänzender schwarzer Stiefel, die fast bis zu seinen Knien reichten.

Grinsend sagte das Wesen: »Willkommen, Herren, willkommen. Ich bin Gathis, und ich habe die Ehre, in Abwesenheit meines Meisters Euer Gastgeber zu sein.« Die Kreatur lispelte leicht.

»Macros der Schwarze ist dein Meister?« erkundigte sich Kulgan.

»Natürlich. Es ist schon immer so gewesen. Bitte, tretet ein.«

Die vier Männer begleiteten Gathin in die große Eingangshalle und blieben stehen, um sich umzusehen. Abgesehen davon, daß es hier weder Menschen noch die üblichen Standarten gab, sah die Halle fast so wie die auf Schloß Crydee aus.

»Mein Meister hat genaue Anweisungen für Euren Besuch hinterlassen, alles betreffend, was vorauszusehen war. So habe ich das Schloß für Eure Ankunft vorbereitet. Möchtet Ihr eine Erfrischung? Speisen und Wem stehen bereit.«

Kulgan schüttelte den Kopf. Er war sich nicht sicher, mit was für einem Wesen er es hier zu tun hatte. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl in Anwesenheit von etwas, das einem Diener der Düsteren Brüderschaft so ähnlich sah. »Macros sagte, eine Nachricht würde uns hier erwarten. Ich möchte sie umgehend sehen.«

Gathis verneigte sich leicht. »Wie Ihr wünscht. Bitte kommt mit mir.«

Er führte sie durch eine Reihe von langen Gängen zu einer Treppe, die sich in den großen Turm emporwand. Sie erklommen die Stiegen und erreichten bald einen verschlossenen Eingang. »Mein Meister sagte, Ihr würdet in der Lage sein, diese Tür zu öffnen. Sollte es Euch nicht gelingen, wäret Ihr Eindringlinge, und dann sollte ich Euch hart bestrafen.«

Als er das hörte, umklammerte Meecham sein Schwert, aber Pug legte beruhigend eine Hand auf den Arm des großen Freisassen. »Seit der Spalt geschlossen ist, ist die Hälfte meiner Kraft verloren, der Teil, den ich aus Kelewan bezogen habe. Aber dennoch sollte dies kein Hindernis für uns sein.«

Pug konzentrierte sich darauf, die Tür zu öffnen. Doch statt normal aufzuschwingen, ging eine Veränderung mit der Tür selbst vor. Das Holz schien flüssig zu werden, floß hin und her, während die Oberfläche eine neue Gestalt annahm. Nach wenigen Augenblicken wurde ein Gesicht erkennbar. Es sah aus wie ein Relief, das eine leichte Ähnlichkeit mit Macros hatte. Es war sehr lebensnah in seinen Einzelheiten und schien zu schlafen. Dann öffneten sich die Augenlider, und die Gäste konnten sehen, daß die Augen lebendig waren, mit schwarzen Zentren vor dem Weiß des Augapfels. Der Mund bewegte sich, und eine Stimme erklang. Der Ton war tief und widerhallend, als sie in perfektem Tsuranisch fragte: »Was ist die erste Pflicht?«

Ohne zu überlegen, antwortete Pug: »Dem Kaiserreich zu dienen.«

Das Gesicht floß zurück in die Tür, und als keine Spur mehr davon zu sehen war, schwang sie beiseite. Sie traten ein und befanden sich im Arbeitszimmer von Macros dem Schwarzen, einem riesigen Raum, der die gesamte Spitze des Turmes einnahm.

Gathis erklärte: »Ich nehme an, ich habe die Ehre, die Herren Kulgan, Pug und Meecham zu bewirten?« Dann musterte er das vierte Mitglied der Gruppe. »Und Ihr seid sicher Prinz Arutha?«

Als sie nickten, erklärte er: »Mein Meister war sich nicht sicher, ob Eure Hoheit kommen würden, wenngleich er es auch für wahrscheinlich hielt. Doch er war gewiß, daß die drei anderen Herren hier sein würden.« Mit einer Handbewegung umfaßte er den gesamten Raum. »Alles, was Ihr hier seht, steht zu Eurer Verfügung. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet. Ich werde mit der Nachricht und einigen Erfrischungen für Euch wiederkehren.«

Gathis ging, und alle vier betrachteten die Ausstattung des Raumes. Abgesehen von einer kahlen Wand – es war deutlich zu erkennen, daß hier erst kürzlich ein Schrank oder ein Regal entfernt worden war-, war der ganze Raum von hohen Regalen umgeben, die vom Boden bis zur Decke reichten. Alle waren voll von Büchern und Schriftrollen. Pug und Kulgan waren wie gelähmt vor Unentschlossenheit, wo sie mit ihrer Untersuchung beginnen sollten.

Arutha löste das Problem, indem er zu einem Regal hinüberging, auf dem ein großes, mit einem roten Band zusammengehaltenes Pergament lag. Er nahm es herunter und legte es auf den runden Tisch in der Mitte des Zimmers. Ein Sonnenstrahl fiel durch das einzige, große Fenster auf das Pergament, als er es entrollte.

Kulgan trat zu ihm, um zu sehen, was er gefunden hatte. »Das ist ja eine Karte von Midkemia!«

Pug und Meecham traten nun auch hinter Kulgan und Arutha. »Aber welch eine Karte!« rief Arutha aus. »Noch niemals habe ich etwas Derartiges gesehen.« Sein Finger deutete auf einen Punkt innerhalb einer riesigen Landmasse im Zentrum. »Seht her! Das ist das Königreich.« Über einen kleinen Teil der Karte waren die Worte Königreich der Inseln geschrieben. Darunter konnte man die größeren Grenzen des Kaiserreiches von Großkesh erkennen. Südlich vom Kaiserreich waren die Staaten der Konföderation von Kesh deutlich aufgezeigt.

»Soviel ich weiß«, bemerkte Kulgan, »hat sich noch niemals jemand aus dem Königreich bis zur Konföderation vorgewagt. Alles, was wir darüber wissen, kennen wir nur durch das Kaiserreich.

Uns sind kaum die Namen dieser Nationen bekannt, und wir wissen nichts über sie.«

»Wir werden bald eine Menge über unsere Welt erfahren«, meinte Pug. »Seht nur, ein welch kleiner Teil dieses Kontinents das Königreich ist.« Er wies auf das große Gebiet der Nordlande nördlich vom Königreich und auf das weitreichende Land unterhalb der Konföderation. Der gesamte Kontinent trug die Inschrift Triagia.

Kulgan sagte: »Es scheint so, als ob zu unserem Midkemia sehr viel mehr gehörte, als wir es uns haben träumen lassen.« Damit wies er auf zusätzliches Land jenseits des Meeres. Es war als Winet und Novindus gekennzeichnet. Auf beiden waren Städte und Staaten eingezeichnet. Auch zwei lange Inselketten waren zu erkennen, von denen zahlreiche von Städten beherrscht wurden. Kulgan schüttelte den Kopf. »Das muß ein tapferer Kapitän sein, der sein Schiff einen so fernen Hafen ansteuern läßt. Kein Wunder, daß wir noch nie von diesen Orten vernommen haben.«

Gathis kehrte zurück und riß sie aus ihren Beobachtungen. Er trug ein Tablett mit einer Karaffe und vier Weinbechern. »Mein Meister hat mir aufgetragen zu sagen, daß Ihr die Gastfreundschaft dieses Hauses in Anspruch nehmen möget, so lange Ihr es wünscht.« Er setzte das Tablett auf dem Tisch ab und schenkte den Wein ein. Dann zog er eine Schriftrolle aus seiner Tunika und reichte sie Kulgan. »Er bat mich, Euch dies zu geben. Ich werde mich zurückziehen, während Ihr über die Botschaft meines Herrn nachdenkt. Solltet Ihr mich benötigen, so sprecht einfach meinen Namen, und ich werde schnell zurückkehren.« Er verbeugte sich und verließ den Raum.

Kulgan betrachtete die Schriftrolle. Sie war mit schwarzem Wachs versiegelt, in das der Buchstabe M gepreßt war. Er fing an, für sich zu lesen, meinte dann aber: »Setzen wir uns.«

Pug rollte die große Karte zusammen und legte sie beiseite. Dann kehrte er an den Tisch zurück, an dem die anderen bereits Platz genommen hatten. Er zog sich einen Stuhl heran und wartete mit Meecham und Arutha, während Kulgan las. Langsam schüttelte er den Kopf. »Hört zu«, sagte er und las dann laut:

»An die Magier Kulgan und Pug übermittle ich meine Grüße. Ich habe einige Eurer Fragen vorhergeahnt und mich bemüht, sie zu beantworten, so gut ich es vermag. Ich fürchte, daß es noch andere geben wird, die unbeantwortet bleiben müssen, denn vieles über mich selbst darf nur ich persönlich wissen. Ich bin nicht, was die Tsuranis einen Erhabenen nennen würden, wenngleich ich diese Welt besucht habe, wie Pug weiß – mehrmals sogar, zu verschiedenen Gelegenheiten. Meine Magie ist etwas Besonderes und nur mir eigen, und sie läßt sich nicht mit Euren Bezeichnungen der Magie des Geringeren oder Erhabeneren Pfades beschreiben. Möge es genügen zu sagen, daß ich ein Beschreiter vieler Pfade bin.

Ich betrachte mich selbst als Diener der Götter, aber vielleicht spricht da auch nur meine Eitelkeit aus mir. Was auch immer die Wahrheit sein mag, ich bin in viele Lande gereist und habe für viele Dinge gearbeitet.

Von meinem frühen Leben werde ich nur wenig offenbaren. Ich bin nicht von dieser Welt, sondern bin in einem Land geboren, das in Raum und Zeit fern von hier ist. Es ist dieser Welt nicht unähnlich, aber es gibt ausreichend Gründe, um es gemessen an Euren Maßstäben als fremdartig, wenn nicht als merkwürdig erscheinen zu lassen.

Ich bin älter, als ich zurückdenken kann, alt selbst nach dem Ermessen der Elben. Aus Gründen, die ich nicht verstehe, habe ich jahrhundertelang gelebt, obwohl mein eigenes Volk ebenso sterblich ist wie das Eure. Es mag sein, daß ich mir selbst diese Fast-Unsterblichkeit verlieh, als ich in die magischen Künste eindrang, aber vielleicht ist es auch ein Geschenk – oder ein Fluch – der Götter.

 

Seit ich ein Zauberer geworden bin, war es mein Schicksal, meine eigene Zukunft zu kennen, so, wie andere ihre Vergangenheit. Ich habe mich nie von dem zurückgezogen, was, wie ich wußte, vor mir lag, obwohl ich es mir oftmals gewünscht habe. Ich habe großen Königen gedient, und auch einfachen Bauern. Ich habe in den größten Städten und den kleinsten Hütten gehaust. Oft habe ich die Bedeutung meiner Mitwirkung verstanden, manchmal nicht, aber immer bin ich dem vorgezeichneten Pfad gefolgt, der mir bestimmt war.«

Kulgan unterbrach sich kurz. »Das erklärt, warum er so viel wußte.« Dann nahm er sein Lesen wieder auf. ‘ »Von allen meinen Arbeiten war die Rolle, die ich im Spalt spielte, die härteste. Nie zuvor war das Verlangen, mich von dem Pfad vor mir abzuwenden, so groß. Nie war ich für den Verlust so vieler Leben verantwortlich, und ich beweine sie mehr, als Ihr ahnen könnt. Aber, selbst wenn Ihr über meinen ›Verrat‹ nachdenkt, bedenkt auch meine Lage.

Ich war unfähig, den Spalt ohne Pugs Hilfe zu schließen. Es war vom Schicksal vorherbestimmt, daß der Krieg andauern würde, während Pug in Kelewan sein Handwerk erlernte. Der gezahlte Preis ist entsetzlich, aber bedenkt auch den Gewinn. Jetzt gibt es jemanden in Midkemia, der die Erhabene Kunst beherrscht, die während der Chaotischen Kriege verlorengegangen war. Nur die Geschichte kann uns lehren, welchen Nutzen wir daraus ziehen können. Aber ich glaube, sie wird uns sehr wertvoll sein.

Was nun die Tatsache angeht, daß ich den Spalt geschlossen habe, gerade als der Frieden so nahe war, dazu kann ich nur eines sagen: Es war lebenswichtig. Die Erhabenen der Tsuranis hatten vergessen, daß ein Spalt immer dem Feind unterworfen ist.« Kulgan sah überrascht auf. »Feind?

Pug, das bezieht sich auf etwas, das du uns wohl erklären mußt.«

Pug erzählte ihnen schnell, was er über den legendären Feind wußte. Arutha sagte: »Kann ein so schreckliches Wesen tatsächlich existieren?« Sein Gesicht verriet seinen Unglauben.

»Es gibt keinen Zweifel daran, daß es einmal existiert hat«, erwiderte Pug, »und ich kann mir vorstellen, daß ein Wesen von solcher Macht alles überdauert hat. Aber von allen erdenklichen Gründen für Macros’ Taten ist das der letzte, den ich für möglich gehalten hätte. Nicht einer aus der Versammlung hat auch nur im Traum daran gedacht. Es ist unvorstellbar.«

Wieder las Kulgan weiter. »Für ihn sind sie wie ein Leuchtfeuer, das ihn über Raum und Zeit hinweg anzieht. Vielleicht wären noch Jahre vergangen, ehe er erschienen wäre. Aber wenn er erst einmal hier aufgetaucht wäre, dann hätten sich alle Kräfte Eurer Welt schwergetan, ihn aus Midkemia zu vertreiben. Der Spalt mußte geschlossen werden. Die Gründe, warum ich beschloß, ihn unter Aufwand so vieler Menschenleben zuzumachen, dürften Euch klar sein.«

Pug unterbrach ihn. »Was meint er damit?«

Kulgan erklärte: »Nun, Macros scheint die menschliche Natur genau studiert zu haben. Hätte er denn allem den König und den Kaiser dazu überreden können, den Spalt zu schließen, wenn soviel dadurch zu gewinnen war, ihn offen zu halten? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber auf jeden Fall wäre da die allzumenschliche Versuchung gewesen, ihn >nur noch ein bißchen längen offen zu halten. Ich glaube, das wußte er und wollte sichergehen, daß uns keine Wahl blieb.« Kulgan wandte sich wieder der Schriftrolle zu. »Was jetzt geschehen wird, kann ich nicht sagen. Mein Blick in die Zukunft endet mit der Explosion des Spaltes. Ob es sich dabei schließlich doch um meine letzte Stunde handelt oder es einfach nur der Beginn einer neuen Ära meiner Existenz ist, weiß ich nicht.

Solltet Ihr Zeugen meines Todes geworden sein, so habe ich mich zu folgendem entschlossen: All meine Forschungsergebnisse, mit wenigen Ausnahmen, befinden sich in diesem Raum. Sie sollen dazu benutzt werden, die Erhabeneren und Geringeren Künste zu fördern. Es ist mein Wunsch, daß Ihr die Bücher, Schriftrollen und anderen Gegenstände in Euren Besitz nehmt, und daß Ihr sie zu diesem Zwecke einsetzt. Eine neue Epoche der Magie nimmt im Königreich ihren Anfang, und ich wünsche, daß andere von meiner Arbeit profitieren. Ich überlasse dieses neue Zeitalter Euren Händen. Unterschrieben ist es mit ›Macros‹.«

Kulgan legte die Rolle auf den Tisch. Pug sagte: »Etwas, was er ganz zum Schluß noch zu mir gesagt hat, war, er möchte m guter Erinnerung bleiben.«

Eine Weile sagten sie nichts. Dann rief Kulgan: »Gathis!«

Innerhalb von Sekunden erschien das Wesen an der Tür. »Ja, Meister Kulgan?«

»Weißt du, was in dieser Schriftrolle steht?«

»Ja, Meister Kulgan. Mein Herr hat mir immer sehr genaue Anweisungen erteilt. Er hat sich vergewissert, daß wir seine Wünsche genau kannten.«

»Wir?« fragte Arutha.

Gathis lächelte. »Ich bin nur einer der Diener meines Herrn. Die anderen haben Weisung erhalten, sich Euren Blicken fernzuhalten, denn es wurde befürchtet, daß ihre Gegenwart Euch Unbehagen verursachen würde. Meinem Herrn fehlten die meisten menschlichen Vorurteile. Er war zufrieden, jede Kreatur, der er begegnete, nach ihren eigenen Verdiensten zu beurteilen.«

»Was bist du eigentlich genau?« wollte Pug wissen.

»Ich gehöre einer Rasse an, die mit den Trollen verwandt ist. Wir waren eine alte Rasse und sind bis auf einige wenige schon ausgestorben gewesen, lange ehe die Menschen das Bittere Meer überquerten. Diejenigen, die noch übrig waren, wurden von Macros hierhergebracht, und ich bin davon der letzte.«

Kulgan betrachtete dieses Geschöpf. Trotz seiner äußeren Erscheinung hatte es doch etwas Gefälliges an sich. »Was wirst du jetzt tun?«

»Ich werde hier auf die Rückkehr meines Meisters warten und sein Heim in Ordnung halten.«

»Du erwartest ihn zurück?« fragte Pug.

»Höchstwahrscheinlich. In einem Tag, einem Jahr, einem Jahrhundert. Das ist nicht wichtig.

Alles wird für ihn bereit sein, sollte er zurückkehren.«

»Und wenn er nun gestorben ist?« gab Arutha zu bedenken.

»In diesem Fall werde ich über dem Warten alt werden und sterben. Aber ich glaube es nicht. Ich habe dem Schwarzen eine lange Zeit gedient. Zwischen uns gibt es ein… ein Verstehen. Ich glaube, ich würde es wissen, wenn er tot wäre. Er ist bloß… abwesend. Selbst wenn er tot ist, kommt er vielleicht dennoch zurück. Für andere Menschen bedeutet die Zeit nicht dasselbe wie für meinen Herrn. Ich bin zufrieden damit, zu warten.«

Pug dachte darüber nach. »Er muß wahrlich der Meister aller Magie gewesen sein.«

Gathis Lächeln wurde noch breiter. »Er würde lachen, wenn er das hören würde, Meister. Er hat sich immer darüber beklagt, daß es so viel zu lernen und so wenig Zeit zum Lernen gibt. Und das waren die Worte eines Mannes, der unzählige Jahre gelebt hat.«

Kulgan erhob sich von seinem Stuhl und sagte: »Wir müssen Männer holen, die all diese Dinge zum Schiff tragen.«

»Macht Euch darum keine Sorgen, Meister. Zieht Euch auf Euer Schiff zurück, wenn Ihr bereit seid. Laßt zwei Boote am Strand liegen. Beim ersten Licht des folgenden Tages werdet Ihr alles an Bord vorfinden, fertig zu Verschiffung.«

Kulgan nickte. »Also gut. Dann wollen wir unverzüglich damit beginnen, all diese Arbeiten zu katalogisieren, ehe wir sie fortbringen.«

Gathis trat zu einem Regal hinüber und kehrte mit einem zusammengerollten Pergament zurück.

»In Vorahnung Eurer Bedürfnisse, Meister, habe ich eine solche Liste aller Werke hier angefertigt.«

Kulgan entrollte das Pergament und fing an, die Aufstellung der Werke zu prüfen. Seine Augen wurden immer größer. »Hört nur«, rief er aufgeregt, »da ist eine Ausgabe von Vitalus’ Erwartungen einer Umwandlung dabei. Seit über hundert Jahren hielt man dieses Werk für verloren!« Er sah die anderen an, und Erstaunen zeigte sich auf seinem Gesicht. »Und Hunderte von Büchern mit Macros’ Namen. Das ist ein unermeßlicher Schatz!«

Gathis erklärte: »Ich bin erfreut, daß Ihr das findet, Meister.«

Kulgan wollte gerade darum bitten, daß ihm diese Bände gebracht würden, als Arutha sagte:

»Warte, Kulgan. Wenn du erst einmal damit anfängst, müssen wir dich fesseln, um dich von hier fortzubringen. Laß uns zum Schiff zurückkehren und warten, bis all das gebracht wird. Wir müssen bald wieder abreisen.«

Kulgan sah aus wie ein Kind, dem man seine Schokolade fortgenommen hat. Arutha, Pug und Meecham lächelten über den dicken Magier. Pug meinte: »Es gibt wirklich keinen vernünftigen Grund, jetzt hierzubleiben. Wir haben noch Jahre vor uns, um diese Bücher zu studieren, wenn die Krönung erst einmal hinter uns liegt. Sieh dich doch um, Kulgan. Willst du das alles wirklich in einem einzigen Atemzug in dich aufnehmen?«

Ein resignierter Ausdruck zog über Kulgans Gesicht. »Also gut.«

Pug schaute sich noch einmal gründlich im Raum um. »Überlege mal. Eine Akademie zum Studium der Magie und Macros’ Bibliothek im Herzen des Ganzen.«

Kulgans Augen fingen an zu leuchten. »Ich hatte die Bitte des Herzogs schon fast vergessen. Nie mehr wird ein Lehrling von einem Meister lernen, sondern von vielen. Mit diesem Vermächtnis und deiner eigenen Erfahrung und Ausbildung, Pug, haben wir eine wundervolle Grundlage.«

»Machen wir uns lieber auf den Weg. Es gibt einen neuen König zu krönen, und je länger ihr hier zögert, desto wahrscheinlicher ist es, daß ihr alles andere darüber Vergeßt«, meinte Arutha.

Kulgan sah ihn an, als hätte er ihn beleidigt. »Nun, ich werde wenigstens ein paar Dinge zum Studium mit an Bord nehmen, wenn Ihr nichts dagegen einzuwenden habt?«