Sklave

Der sterbende Sklave lag schreiend am Boden.

Der Tag war erbarmungslos heiß. Die anderen Sklaven gingen ihrer Arbeit nach und ignorierten dies Geräusch, so gut es ging. Das Leben im Arbeitslager war wertlos. Es war nicht ratsam, über das Schicksal zu grübeln, das so vielen bevorstand. Der sterbende Mann war von einem Relli gebissen worden, einer schlangengleichen Kreatur, die in den Sümpfen hauste. Sein Gift wirkte langsam und verursachte starke Schmerzen. Abgesehen von der Zauberei gab es dagegen kein Heilmittel.

Plötzlich wurde es ganz still. Pug schaute hinüber und sah, wie ein Tsurani-Soldat sein Schwert abwischte. Eine Hand legte sich auf Pugs Schulter. Lauries Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Sieht aus, als hätte sich unser ehrwürdiger Aufseher durch das Geräusch von Toffstons Sterben gestört gefühlt.«

Pug wand sich ein Seil fest um die Taille. »Wenigstens ist er schnell gestorben.« Er wandte sich dem großen, blonden Sänger aus der Stadt Tyr-Sog im Königreich zu und sagte: »Paß gut auf.

Dieser hier ist alt und könnte faulig sein.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, kletterte Pug den Stamm des Ngaggi-Baumes hinauf. Die Ngaggi waren tannenähnliche Gewächse, die in den Sümpfen wuchsen und von den Tsuranis geschlagen wurden, weil sie das Holz und das Harz benötigten. Da sie nur wenige Metalle besaßen, hatten die Tsuranis geschickt Ersatz gesucht und auch gefunden. Das Holz dieser Bäume wurde wie Papier bearbeitet und anschließend getrocknet, bis es eine unglaubliche Härte erreicht hatte. Es diente dann zur Herstellung von Hunderten von Dingen. Die Harze wurden verwendet, um Holz zu leimen und Felle haltbar zu machen. Aus den richtig behandelten Häuten konnte man einen Lederanzug herstellen oder eine Rüstung, so fest wie ein Kettenhemd aus Midkemia. Die Waffen aus dem laminierten Holz konnten sich fast mit dem Stahl aus Midkemia messen.

Vier Jahre im Sumpf hatten Pugs Körper gestählt. Seine sehnigen Muskeln traten hervor, als er auf den Baum kletterte. Seine Haut war von der unbarmherzigen Sonne in der Heimat der Tsuranis dunkelbraun gebrannt. Ein Sklavenbart bedeckte sein Gesicht.

Pug erreichte die ersten großen Zweige und schaute zu seinem Freund hinunter. Laune stand knietief im trüben Wasser und schlug abwesend nach den Insekten, die sie bei der Arbeit plagten.

Pug mochte Laurie. Der Troubadour hatte hier eigentlich nichts zu suchen. Andererseits hätte er auch nicht mit einer Patrouille in der Hoffnung ausziehen müssen, Tsurani-Soldaten zu erblicken.

Er hatte später erklärt, er hätte Material für Balladen gesucht, die ihn im ganzen Königreich berühmt machen sollten. Er hatte mehr gesehen, als er zu hoffen wagte. Die Patrouille war in einen Haupttrupp der Tsuranis geraten, und Laurie war gefangengenommen worden. Mehr als vier Monate war es jetzt her, daß er in dieses Lager gekommen war, und er und Pug waren schnell Freunde geworden.

Pug kletterte weiter hinauf. Mit einem Auge spähte er immer nach den gefährlichen Baumbewohnern von Kelewan. Als er die Stelle erreichte, die ihm am besten zum Kappen geeignet erschien, erstarrte er. Aus dem Augenwinkel hatte er eine Bewegung bemerkt. Er entspannte sich aber sogleich wieder, als er erkannte, daß es sich bloß um einen Nadler handelte. Der Schutz dieses Wesens bestand in seiner Ähnlichkeit mit einem Klumpen Ngaggi-Nadeln. Es huschte vor dem Menschenwesen davon und setzte mit einem kurzen Sprung zum Nachbarbaum hinüber. Pug schaute sich noch einmal um und fing dann an, seine Seile zu befestigen. Seine Aufgabe war es, die Spitzen der riesigen Bäume abzusägen, damit es für die Arbeiter am Boden weniger gefährlich wurde, wenn die Bäume umstürzten.

Pug hieb mehrmals in die Rinde. Dann fühlte er, wie die Kante seiner Holzaxt in das weichere Mark darunter eindrang. Ein schwach beißender Geruch stieg in seine sorgfältig schnüffelnde Nase.

Fluchend rief er zu Laurie hinunter: »Der hier ist verfault. Sag es dem Aufseher.«

Er wartete und schaute dabei über die Spitzen der Bäume hinweg. Überall flogen merkwürdige Insekten und vogelähnliche Wesen herum. In den vier Jahren, die er jetzt schon als Sklave in dieser Welt lebte, hatte er sich noch immer nicht an die Erscheinung dieser Lebensformen gewöhnen können. Sie unterschieden sich nicht sehr von denen in Midkemia. Aber es waren diese Ähnlichkeiten – genauso wie die Unterschiede –, die ihn immer wieder daran erinnerten, daß er hier nicht daheim war. Bienen sollten schwarzgelb gestreift sein, nicht leuchtendrot. Adler sollten keine gelben Streifen an ihren Schwingen haben und Habichte kein Purpur aufweisen. Diese Wesen hier waren keine Bienen, Adler oder Habichte, aber die Ähnlichkeit war dennoch verblüffend. Pug fand es leichter, die fremden Wesen von Kelewan zu akzeptieren als diese hier. Die sechsbeinige Needra, das gezähmte Lasttier, das aussah wie eine Art Rind mit zwei zusätzlichen Stummelbeinen, oder das Cho-Ja, das insektenähnliche Wesen, das den Tsuranis diente und ihre Sprache sprechen konnte. An diese hatte er sich inzwischen gewöhnt. Aber jedesmal, wenn er aus dem Augenwinkel eine Kreatur erblickte und sich umdrehte, in der Erwartung, etwas aus Midkemia zu finden, und es dann doch nicht der Fall war – dann packte ihn die Verzweiflung.

Lauries Stimme riß ihn aus seinen Träumen. »Der Aufseher kommt.«

Pug fluchte. Wenn der Aufseher sich schmutzig machen mußte, weil er durchs Wasser watete, dann würde er in verdammt schlechter Laune sein – und das konnte Schläge bedeuten, oder eine Reduzierung des ohnehin schon spärlichen Essens. Er würde schon wütend sein, weil es eine Verzögerung im Schlagen gab. Eine Familie von Wühltieren, biberähnlichen, sechsbeinigen Kreaturen, hatte es sich in den Wurzeln der großen Bäume gemütlich gemacht. Sie knabberten die zarten Wurzeln an, und die Folge davon war, daß die Bäume krank wurden und starben. Das süße, weiche Holz wurde erst sauer, dann wäßrig, und nach einer Weile brach der Baum von innen heraus zusammen. Man hatte schon mehrere Gänge der Wühltiere vergiftet, aber der Schaden war bereits angerichtet worden.

Eine rauhe Stimme, die lautstark fluchte, während ihr Inhaber durch den Sümpf planschte, verkündete die Ankunft des Aufsehers Nogamu. Er war selbst ein Sklave, hatte aber den höchsten Rang inne, den ein Unfreier erlangen konnte. Und wenngleich er nicht hoffen durfte, jemals frei zu werden, so hatte er doch viele Privilegien und konnte Soldaten oder freie Männer herumkommandieren, die unter seinen Befehl gestellt worden waren. Ein junger Soldat ging hinter ihm her. Sem Gesicht zeigte nachsichtige Belustigung. Er war wie ein freier Tsurani glattrasiert, und als er zu Pug emporschaute, konnte der Sklave ihn gut sehen. Er hatte die hohen Wangenknochen und nahezu schwarzen Augen, die so viele Tsuranis besaßen. Seine dunklen Augen entdeckten Pug, und er schien leicht zu nicken. Seine blaue Rüstung war Pug unbekannt.

Aber bei der merkwürdigen militärischen Organisation der Tsuranis war das nicht verwunderlich.

Jede Familie, Domäne, Kreisstadt, Stadt und Provinz schien ihre eigene Armee zu haben. Es war Pug unbegreiflich, wie sie innerhalb des Kaiserreiches alle zueinander standen.

Der Aufseher stand am Fuß des Baumes. Seine kurze Robe hielt er über dem Wasser hoch. Er brummte wie der Bär, dem er ähnlich sah, und rief zu Pug hinauf: »Was höre ich da von einem weiteren verfaulten Baum?«

Pug sprach die Sprache der Tsuranis besser als jeder andere Midkemianer im Lager, denn er war mit Ausnahme von ein paar alten Tsurani-Sklaven länger hier als alle anderen. Jetzt rief er hinab: »Er riecht faulig. Wir sollten einen anderen bestimmen und diesen stehen lassen, Sklavenmeister.«

Der Aufseher schüttelte die Faust. »Ihr seid alle bloß zu faul. Mit dem Baum ist alles in Ordnung. Du willst bloß nicht arbeiten. Jetzt schlag ihn!«

Pug seufzte. Es hatte keinen Sinn, mit dem Bären zu streiten, wie alle Midkemianer Nogamu nannten. Er war offensichtlich wütend über irgend etwas, und die Sklaven würden dafür bezahlen müssen. Pug fing an, den oberen Teil abzuhacken, und bald darauf fiel er zu Boden. Der faulige Geruch war stark, und hastig löste Pug seine Seile. Gerade als er das letzte Stück um seine Taille wickelte, hörte er direkt vor sich ein splitterndes Geräusch. »Er stürzt!« rief er den Sklaven zu, die unten im Wasser standen. Ohne zu zögern, hasteten sie alle davon. Der Schrei ›Er fällt!‹ wurde niemals ignoriert.

Der Stamm des Baumes teilte sich jetzt genau in der Mitte, da die Spitze fehlte. Wenn das auch nicht üblich war, so konnte ein Baum doch unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen, wenn das Mark seine Kraft verloren hatte. Jedes kleinste Löchlein in der Rinde konnte das dann auslösen.

Die Äste zerrten dann die Hälften auseinander. Wäre Pug noch an den Stamm gebunden gewesen, dann hätten ihn die Seile in zwei Teile getrennt, ehe sie gerissen wären.

Pug schätzte die Richtung des Falles. Dann, als die Hälfte, auf der er stand, anfing zu stürzen, stieß er sich davon ab. Er kam flach, mit dem Rücken zuerst, auf dem Wasser auf und versuchte, dadurch seinen Sturz zu lindern. Dem Schlag auf dem Wasser folgte fast unmittelbar der Aufprall auf dem Boden. Aber dieser bestand größtenteils aus Schlamm, und so kam Pug kaum zu Schaden.

Als er aufschlug, strömte die Luft in seinen Lungen jedoch aus seinem Mund heraus. Einen Augenblick verlor er das Bewußtsein. Dann jedoch war er geistesgegenwärtig genug, um sich aufzusetzen und seine Lungen wieder mit Luft zu füllen.

Plötzlich traf ihn ein schweres Gewicht auf den Bauch. Ihm ging die Luft aus, und sein Kopf wurde wieder unter Wasser gedrückt. Er wollte sich bewegen und stellte fest, daß ein großer Ast auf seinem Magen lag. Er konnte kaum sein Gesicht aus dem Wasser recken, um Luft zu holen. Seine Lungen brannten, und er atmete unbeherrscht. Wasser schoß ihm in die Luftröhre, er fing zu husten an. Keuchend und spuckend versuchte er, ruhig zu bleiben, spürte aber Panik in sich aufkommen.

Verzweifelt stieß er gegen das Gewicht über sich, aber es rührte sich nicht.

Abrupt befand sich sein Kopf über Wasser. Laurie sagte: »Spuck, Pug! Sieh zu, daß du den Schlamm aus deinen Lungen bekommst, sonst erwischt dich das Lungenfieber.«

Pug hustete und spie. Jetzt, wo Laurie seinen Kopf hielt, konnte er atmen.

Laurie rief: »Nehmt diesen Ast. Ich ziehe ihn darunter hervor.«

Mehrere Sklaven planschten herbei. Ihre Körper waren schweißbedeckt. Sie streckten die Arme unter Wasser und griffen nach dem Ast. Keuchend gelang es ihnen, ihn leicht zu bewegen, aber Laurie konnte Pug dennoch nicht herausziehen.

»Holt Äxte; wir müssen den Ast vom Baum schlagen.«

Gerade brachten andere Sklaven Äxte herbei, als Nogamu rief: »Nein! Laßt ihn. Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Es sind Bäume zu fällen.«

Laurie kreischte fast: »Wir können ihn nicht einfach so liegen lassen! Er wird ertrinken!«

Der Aufseher kam herbei und schlug Laurie mit seiner Peitsche quer über das Gesicht. Eine tiefe Wunde klaffte in der Wange des Sängers auf, aber er ließ den Kopf seines Freundes nicht los.

»Zurück an die Arbeit, Sklave. Du wirst heute abend ausgepeitscht werden, weil du so mit mir gesprochen hast. Es gibt noch andere, die klettern können. Und jetzt laß ihn los!« Wieder hieb er zu.

Laurie zuckte zusammen, aber er hielt Pugs Kopf weiterhin über Wasser.

Nogamu erhob seine Peitsche zu einem dritten Schlag, aber eine Stimme hinter seinem Rücken gebot ihm Einhalt. »Holt den Sklaven unter dem Ast hervor.« Laurie sah, daß der Sprecher ein junger Soldat war, der den Sklavenmeister begleitet hatte. Der Aufseher wirbelte herum. Er war es nicht gewohnt, daß man seinen Befehlen nicht Folge leistete. Als er jedoch sah, wer mit ihm gesprochen hatte, verkniff er sich die Worte, die ihm auf der Zunge lagen. Statt dessen verneigte er sich und erklärte: »Der Wunsch meines Herrn ist mir Befehl.«

Er bedeutete den Sklaven mit den Äxten, Pug zu befreien, und bald darauf konnte dieser unter dem Ast hervorgezogen werden. Laune trug ihn zu der Stelle hinüber, wo der junge Soldat stand.

Pug hustete das Wasser aus seinen Lungen und keuchte: »Ich danke dem Herrn für mein Leben.«

Der Mann antwortete nicht. Als sich jedoch der Aufseher näherte, wandte er sich an diesen. »Der Sklave hatte recht, nicht Ihr. Der Baum war verfault. Es ziemt sich nicht für Euch, ihn für Euer falsches Urteil und Eure schlechte Laune zu bestrafen. Ich sollte Euch auspeitschen lassen, aber die Zeit ist zu kostbar dafür. Die Arbeit geht ohnehin nur langsam voran, und dies mißfällt meinem Vater.«

Nogamu neigte den Kopf. »Ich habe viel an Gesicht verloren. Gewährt Ihr mir die Erlaubnis, meinem Leben ein Ende zu setzen?«

»Nein. Das wäre zuviel der Ehre. Kehrt an die Arbeit zurück.«

Das Gesicht des Aufsehers lief vor Scham und Wut rot an. Er hob die Peitsche, deutete auf Laurie und Pug. »Ihr zwei da, zurück an die Arbeit.«

Laurie stand auf. Pug versuchte es ebenfalls. Seine Knie waren weich, weil er fast ertrunken wäre; aber nach einigen vergeblichen Versuchen blieb auch er stehen.

»Diese beiden sind für den Rest des Tages von der Arbeit entschuldigt«, erklärte der junge Herr.

»Dieser da« – damit wies er auf Pug – »ist nur von geringem Nutzen. Und der andere muß die Wunden versorgen, die Ihr ihm zugefügt habt, sonst werden sie sich entzünden.« Er wandte sich an eine Wache. »Bring sie ins Lager zurück und sorge dafür, daß sie alles bekommen, was sie brauchen.«

Pug war ihm dankbar, nicht so sehr seinetwegen als wegen Laurie. Nach einer kurzen Rast hätte er selbst an die Arbeit zurückkehren können. Aber hier im Morast kam eine offene Wunde einem Todesurteil gleich! In der Hitze dieser schmutzigen Umgebung kam es schnell zu Infektionen, und es gab kaum eine Möglichkeit, damit fertig zu werden.

Sie folgten dem Wachtposten. Als sie gingen, warf Pug noch einen Blick auf den Sklavenmeister, der sie beobachtete. Nackter Haß sprach aus seinem Blick.

 

Die Dielenbretter knarrten. Sofort war Pug hellwach. Der Argwohn, den er sich als Sklave angeeignet hatte, warnte ihn, daß dieses Geräusch in der Stille der Nacht nicht in die Hütte gehörte.

In der Dämmerung konnte er Schritte hören, die näher kamen. Dann blieben sie plötzlich am Fuß seiner Schlafstatt stehen. Er vernahm, wie Laurie auf dem Sack neben ihm scharf Luft holte. Daran erkannte er, daß auch der Sänger wach war. Wahrscheinlich hatte der Eindringling die Hälfte der Schlafenden geweckt. Der Fremde zögerte, und Pug wartete, unsicher und angespannt. Ein Grunzen. Ohne zu zögern, rollte sich Pug von seiner Matte hinunter. Etwas schoß herab, und Pug spürte, wie sich mit einem dumpfen Aufprall ein Dolch in die Matratze bohrte, dort, wo vor einem Augenblick noch seine Brust gewesen war. Und plötzlich barst der Raum vor Aktivität. Sklaven schrien. Man konnte hören, wie sie zur Tür rannten.

Pug fühlte, wie in der Dunkelheit Hände nach ihm griffen. Dann breitete sich ein scharfer Schmerz in seiner Brust aus. Blindlings tastete er nach seinem Angreifer und rang mit ihm um die Klinge. Noch ein Schnitt. Diesmal erwischte es seine rechte Handfläche. Ganz plötzlich hörte der Angreifer auf, sich zu rühren. Erst jetzt erkannte Pug, daß ein dritter Mann auf dem Möchtegernmörder hockte.

Soldaten mit Laternen eilten in die Hütte. Pug erkannte Laurie, der über der reglosen Gestalt Nogamus lag. Der Mann atmete noch – aber wohl nicht mehr lange, so, wie der Dolch aus seinen Rippen ragte.

Der junge Soldat, der Pug und Laurie das Leben gerettet hatte, trat ein, und die anderen machten ihm Platz. Er stand hoch aufgerichtet vor den drei Widersachern und fragte bloß: »Ist er tot?«

Der Aufseher öffnete die Augen und erklärte in schwachem Flüsterton: »Ich lebe, Herr. Aber ich sterbe durch die Klinge.« Ein schwaches, aber trotziges Lächeln trat auf sein schweißnasses Gesicht.

Der junge Soldat verriet keinerlei Gefühle, aber seine Augen funkelten. »Das glaube ich nicht«, widersprach er leise. Er wandte sich an zwei der Soldaten in der Hütte. »Bringt ihn hinaus, sofort, und hängt ihn auf. Sein Clan wird nicht für ihn singen. Laßt seinen Körper hängen, für die Insekten.

Es soll den anderen eine Warnung sein, daß man meinen Befehlen nicht zuwiderhandelt. Geht nun.«

Das Gesicht des sterbenden Mannes wurde bleich. Seine Lippen bebten. »Nein, Herr, ich flehe Euch an. Laßt mich, auf daß ich durch die Klinge sterbe. Nur wenige Minuten noch.« Blutiger Schaum trat aus einem Mundwinkel.

Zwei kräftige Soldaten bückten sich zu Nogamu hinunter, und ohne sich um seine Schmerzen zu kümmern, schleiften sie ihn hinaus. Man konnte hören, wie er die ganze Zeit über heulte. Es war erstaunlich, wieviel Kraft noch in seiner Stimme lag. Es war fast, als hätte die Angst vor der Schlinge Reserven wachgerufen, die tief in ihm geruht hatten.

Wie erstarrt standen sie alle, bis das Geräusch in einem erstickten Aufschrei endete. Dann wandte sich der junge Offizier an Pug und Laune. Pug saß am Boden, und Blut strömte aus einem langen, aber nicht tiefen Schnitt über seiner Brust. Mit einer Hand hielt er seine verletzte andere fest. Hier war der Schnitt sehr tief, und er konnte die Finger nicht bewegen.

»Führe deinen verwundeten Freund«, befahl der junge Soldat Laurie.

Dieser half Pug auf die Beine. Dann folgten sie dem Offizier aus der Sklavenhütte hinaus. Er führte sie durch das Lager zu seinem eigenen Quartier und befahl ihnen, hier einzutreten. Dann wies er einen Posten an, den Arzt des Lagers zu holen. Bis der Mann eintraf, ließ er sie schweigend stehen. Der Arzt war ein alter Tsurani. Er war in die Robe eines ihrer Götter gekleidet – welcher von ihnen es war, konnten die Männer aus Midkemia nicht sagen. Er untersuchte Pugs Wunden und erklärte die auf der Brust für oberflächlich. Mit der Hand jedoch sei es etwas anderes, lautete sein Urteil.

»Der Schnitt ist tief, und die Muskeln und Sehnen sind durchtrennt. Es wird heilen, sie wird aber nicht mehr so beweglich sein. Und auch die Kraft beim Greifen wird nachlassen.

Höchstwahrscheinlich wird er nur noch leichte Arbeit verrichten können.«

Der Soldat nickte. Sein Gesicht zeigte einen merkwürdigen Ausdruck: eine Mischung aus Abscheu und Ungeduld. »Gut. Verbindet die Wunden, und dann laßt uns allein.«

Der Arzt schickte sich an, die Stellen zu säubern. Er vernähte die Wunde in der Hand mit ein paar Stichen. Dann verband er sie und wies Pug nochmals an, sie sauberzuhalten, und ging. Pug ignorierte die Schmerzen; um es sich leichter zu machen, griff er auf eine alte Geistesübung zurück.

Nachdem der Arzt gegangen war, musterte der Soldat die beiden Sklaven vor sich. »Das Gesetz verlangt, daß ich euch hänge, weil ihr den Sklavenmeister getötet habt.«

Sie antworteten nichts. Sie würden schweigen, bis man ihnen zu reden befahl.

»Aber da ich den Sklavenmeister hängen ließ, steht es mir frei, euch am Leben zu lassen, sollte das meinen Zwecken dienlich sein. Ich kann euch nur dafür bestrafen lassen, daß ihr ihn verletzt habt.« Er machte eine Pause. »Betrachtet euch als bestraft.«

Dann winkte er mit der Hand. »Geht nun, aber kehrt bei Tagesanbruch hierher zurück. Wir werden beschließen müssen, was mit euch geschehen soll.«

Sie gingen von einem Glücksgefühl erfüllt davon. Unter gewöhnlichen Umständen hätten sie jetzt gleich neben dem ehemaligen Sklavenmeister hängen müssen. Als sie den Platz überquerten, meinte Laune: »Möchte wissen, was das zu bedeuten hat.«

»Ich habe zu große Schmerzen, um mich das zu fragen. Ich bin einfach schon dankbar, daß wir den morgigen Tag noch erleben dürfen.«

Laurie sagte nichts mehr, bis sie die Sklavenhütte erreichten. »Ich glaube, der junge Herr hat etwas vor.«

»Was auch immer. Ich habe es schon lange aufgegeben, unsere Herren zu verstehen. Deshalb bin ich auch so lange am Leben geblieben, Laurie. Ich tue einfach, was man mir aufträgt, sage nichts und dulde.« Pug wies auf den Baum, an dem man im blassen Mondlicht die Gestalt des ehemaligen Aufsehers hängen sehen konnte. Heute nacht leuchtete nur der kleine Mond. »Es ist viel zu leicht, so zu enden.«

Laurie nickte. »Vielleicht hast du recht. Ich denke immer noch an Flucht.«

Pug lachte. Es war ein kurzes, bitteres Geräusch. »Wohin denn, Sänger? Wohin könntest du laufen? Auf den Spalt und zehntausend Tsuranis zu?«

Laurie sagte nichts. Sie kehrten zu ihren Plätzen zurück und versuchten, in der feuchten Hitze zu schlafen.

Der junge Offizier saß auf einem Stapel Kissen. Es war so Sitte bei den Tsuranis. Er schickte den Wachtposten weg, der Pug und Laurie begleitet hatte, und bedeutete dann den beiden Sklaven, sich zu setzen. Zögernd gehorchten sie, denn für gewöhnlich war es einem Sklaven nicht gestattet, in Gegenwart eines Meisters zu sitzen.

»Ich bin Hokanu, von den Shinzawai. Meinem Vater gehört dieses Lager hier«, berichtete er ohne Einleitung. »Er ist höchst unzufrieden mit der Ernte in diesem Jahr. Er hat mich geschickt, damit ich nachsehe, was getan werden kann. Jetzt habe ich keinen Aufseher, der die Arbeit überwacht, weil ein dummer Mann dich für seine eigene Dummheit verantwortlich machte. Was soll ich tun?«

Sie antworteten nicht, denn sie wußten nicht, ob die Frage nur rein rhetorisch war. »Wie lange seid ihr schon hier?«

Pug und Laurie sprachen nacheinander. Er dachte darüber nach und sagte dann: »Du« – er wies auf Laurie – »bist nichts Besonderes. Abgesehen davon, daß du unsere Sprache besser sprichst als die meisten Barbaren. Aber du« – er wies auf Pug –, »du bist länger am Leben geblieben als die meisten deiner halsstarrigen Landsleute, und auch du sprichst unsere Sprache gut. Man könnte dich sogar für einen Bauern aus einer der fernen Provinzen halten.«

Sie saßen ganz still. Worauf wollte Hokanu hinaus? Entsetzt erkannte Pug, daß er wahrscheinlich ein, zwei Jahre älter war als dieser junge Herr hier. Er war sehr jung, um solche Macht zu haben.

Die Sitten und Gebräuche der Tsuranis waren außerordentlich seltsam. In Crydee würde er noch immer ein Lehrling sein oder – wenn er dem Adel angehörte – weiterhin in der Kunst der Staatspolitik unterwiesen werden.

»Wie kommt es, daß du unsere Sprache so gut sprichst?« wollte er von Pug wissen.

»Herr, ich war unter den ersten Gefangenen und wurde hierher gebracht. Wir waren nur sieben, unter unzähligen Tsuranisklaven. Wir haben gelernt, zu überleben. Nach einiger Zeit war ich der einzige, der noch übrig war. Die anderen starben am Fieber oder an eiternden Wunden, manche wurden auch von den Wachen getötet. Es gab niemanden, mit dem ich in meiner eigenen Sprache hätte reden können. Mehr als ein Jahr lang kam kein Landsmann von mir in dieses Lager.«

Der Offizier nickte. Dann wandte er sich an Laurie: »Und du?«

»Herr, ich bin Sänger, ein Troubadour in meiner Heimat. Es ist Sitte bei uns, daß wir viel reisen, und wir müssen viele Sprachen lernen. Außerdem habe ich ein gutes Ohr für Musik. In eurer Sprache kommt es auf den Ton an. Gewisse gleiche Worte haben eine andere Bedeutung, wenn sie mit einem anderen Tonfall ausgesprochen werden. Im Süden unseres Königreiches gibt es mehrere solcher Sprachen. Ich lerne schnell.«

Ein Schimmern trat in die Augen des Soldaten. »Es ist gut, diese Dinge zu wissen.« Er versank tief in Gedanken. Nach einer Weile nickte er vor sich hin. »Viele Überlegungen sind nötig, um das Glück eines Mannes zu schmieden, Sklaven.« Er lächelte und sah plötzlich mehr wie ein Junge aus als wie ein Mann. »Dieses Lager ist eine Schande, ein einziges Durcheinander. Ich werde meinem Vater, dem Herrn der Schinzawai, Bericht erstatten. Ich denke, ich weiß jetzt, wo die Probleme liegen.« Er zeigte auf Pug. »Ich möchte gern wissen, was du dazu denkst. Du bist länger hier als irgend jemand sonst.«

Pug riß sich zusammen. Es war lange her, daß jemand ihn um seine Meinung gebeten hatte.

»Herr, der erste Aufseher, der hier war, als ich gefangengenommen wurde, war ein schlauer Mann.

Er wußte, daß Männer, auch Sklaven, nicht arbeiten können, wenn sie vor Hunger ganz schwach sind. Damals hatten wir mehr zu essen, und wenn wir verletzt waren, ließ er uns Zeit, um gesund zu werden. Nogamu war ein übellauniger Mann, der jeden Rückschlag als eine persönliche Beleidigung ansah. Ruinierten Wühltiere einen Hain, dann war das die Schuld der Sklaven. Starb einer von ihnen, dann sah er darin eine Verschwörung und einen Anschlag auf sein Ansehen als Aufseher über die Arbeitskräfte. Jede auftretende Schwierigkeit wurde mit einer weiteren Kürzung unserer Mahlzeiten bestraft – oder mit einer längeren Arbeitszeit. Hatten wir aber einmal Glück, dann sah er das als ein ihm zustehendes Verdienst an.«

»Das habe ich fast vermutet. Nogamu war zu seiner Zeit ein sehr wichtiger Mann. Er war der Hadonra – also der Verwalter der Domäne seines Vaters. Seme Familie wurde der Verschwörung gegen das Kaiserreich für schuldig befunden. Sem eigener Clan hat sie alle als Sklaven verkauft – diejenigen, die nicht gehängt worden waren. Er war niemals ein guter Sklave. Es wurde angenommen, daß es seinen Fähigkeiten entgegenkommen würde, wenn man ihm die Verantwortung für dieses Lager übertragen würde. Aber das erwies sich als falsch.

Gibt es unter den Sklaven einen guten Mann, der fähig wäre, hier die Leitung zu übernehmen?«

Laurie senkte den Kopf, ehe er sagte: »Herr, Pug hier…« »Das glaube ich nicht. Ich habe andere Pläne mit euch beiden.« Pug war überrascht und fragte sich, was er damit meinte. »Vielleicht Chogana, Herr. Er war Bauer, bis seine Ernte schlecht war und er als Sklave verkauft wurde, um die Steuern zahlen zu können. Er hat einen klugen Kopf.«

Der Soldat klatschte einmal in die Hände. Augenblicklich erschien eine Wache im Raum. »Holt den Sklaven Chogana.«

Der Posten salutierte und ging. »Es ist gut, daß er Tsurani ist«, bemerkte der Soldat. »Ihr Barbaren kennt eure Stellung nicht. Ich hasse die Vorstellung, was geschehen könnte, wenn ich einem von euch die Verantwortung übertragen würde. Wahrscheinlich müßten dann meine Soldaten die Bäume fällen, und die Sklaven würden Wache halten.«

Einen Augenblick herrschte Stille. Dann lachte Laune auf. Es war ein volles, tiefes Geräusch.

Hokanu lächelte. Pug beobachtete ihn scharf. Der junge Mann, in dessen Händen ihrer beider Leben lag, bemühte sich sehr, ihr Vertrauen zu gewinnen. Bei Laurie schien es ihm schon gelungen zu sein, aber Pug hielt seine Gefühle noch im Zaum. Er war von der alten Gesellschaftsart Midkemias sehr weit entfernt. Dort machte der Krieg Adlige wie einfache Bürger zu Waffenkameraden, die ohne Rücksicht auf Rang und Herkunft Essen und Leid miteinander teilten. Eines hatte er schon gleich zu Anfang über die Tsuranis gelernt: Sie vergaßen niemals, wer und was sie waren. Was immer jetzt in dieser Hütte geschah, es war der Wunsch des Soldaten – nicht Zufall. Hokanu schien Pugs Augen auf sich zu fühlen, denn er sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich kurz, ehe Pug wegblickte, wie es sich für einen Sklaven geziemte. Für einen Augenblick bestand eine Möglichkeit der Verständigung zwischen ihnen. Es war, als hätte der Soldat gesagt: Du glaubst nicht, daß ich ein Freund bin. Sei’s drum, solange du nur deiner Rolle gerecht wirst.

Mit einem Winken seiner Hand sagte Hokanu dann: »Kehrt in eure Hütte zurück. Ruht euch gut aus, denn wir werden nach dem Nachmittagsmahl unsere Reise antreten.«

Sie erhoben und verbeugten sich, ehe sie rückwärts die Hütte verließen. Pug schritt schweigend dahin, aber Laurie schwatzte munter. »Ich frage mich, wohin wir reisen?« Als er keine Antwort erhielt, fügte er hinzu: »Auf jeden Fall muß es dort besser sein als hier.«

Pug fragte sich, ob es das wohl wirklich sein würde.

Jemand schüttelte Pug an der Schulter, und er wachte auf. Er hatte in der Morgenhitze gedöst und die zusätzliche Ruhepause ausgenutzt, ehe er und Laune nach dem Nachmittagsmahl mit dem jungen Adligen aufbrechen sollten. Chogana, der ehemalige Bauer, den Pug empfohlen hatte, zeigte auf Laurie, der fest schlief, und bedeutete Pug, leise zu sein.

Pug folgte dem alten Sklaven aus der Hütte hinaus. Im Schatten des Gebäudes ließen sie sich nieder. Langsam, wie es seine Art war, sagte Chogana: »Mein Herr Hokanu hat mir erzahlt, daß du dafür gesorgt hast, daß ich zum Sklavenmeister dieses Lagers ausgewählt wurde.« Sein braunes, verwittertes Gesicht strahlte Würde aus, als er den Kopf neigte. »Ich stehe in deiner Schuld.«

Pug erwiderte seine Verbeugung, die im Lager recht ungewöhnlich war. »Aber nicht doch. Du wirst dich so verhalten, wie ein Aufseher es tun sollte. Du wirst gut für unsere Brüder sorgen.«

Choganas altes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Dabei zeigte er Zähne, die vom jahrelangen Kauen von Tateen-Nüssen braune Flecken bekommen hatten. Die Nuß, die überall im Sumpf gefunden wurde, hatte eine leicht betäubende Wirkung. Darunter litt zwar die Arbeitskraft nicht, aber es erschien alles weniger hart.

Pug hatte sich gewehrt, diese Gewohnheit anzunehmen – ohne daß er hätte sagen können, weshalb –, genau wie die meisten anderen Midkemianer. Irgendwie schien es ihnen ein Zeichen dafür zu sein, daß diejenigen, die es taten, ihren eigenen Willen vollends aufgegeben hatten.

Chogana starrte auf das Lager. Im grellen Licht kniff er die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. Das Lager war jetzt leer, abgesehen von der Leibwache des jungen Herrn und den Gehilfen des Koches. Aus der Ferne drang der Lärm der arbeitenden Männer herüber.

»Als ich noch ein Junge war, auf dem Hof meines Vaters in Szetac«, begann Chogana,

»entdeckte man eines Tages, daß ich ein Talent hatte. Ich wurde untersucht, überprüft und als unvollständig angesehen.« Diese letzte Bemerkung verstand Pug nicht, aber er wollte den alten Mann nicht unterbrechen. »Also wurde ich Bauer, wie mein Vater. Aber mein Talent war da.

Manchmal sehe ich Dinge, Pug, Dinge in den Menschen. Als ich älter wurde, verbreitete sich die Kunde über mein Talent. Leute, vornehmlich arme Leute, kamen und baten um meinen Rat. Als junger Mann war ich arrogant und habe viel dafür verlangt, daß ich ihnen sagte, was ich sah. Als ich älter wurde, wurde ich bescheiden und habe genommen, was man mir angeboten hat. Aber immer noch sagte ich, was ich sah. Und immer waren die Leute böse, wenn sie mich verließen. Weißt du, warum?« fragte er kichernd. Pug schüttelte den Kopf. »Weil sie nicht gekommen waren, um die Wahrheit zu hören, sondern um zu vernehmen, was sie hören wollten.«

Pug fiel in Choganas Lachen ein. »Also habe ich behauptet, das Talent hätte mich verlassen, und nach einer Weile hörten die Leute auch auf, meinen Hof aufzusuchen. Aber es hat mich niemals wirklich verlassen, Pug, und ich kann immer noch Dinge sehen, manchmal. In dir habe ich etwas entdeckt, und ich will es dir sagen, ehe du für alle Zeiten gehst. Ich werde in diesem Lager sterben, aber du hast ein anderes Schicksal vor dir. Willst du es hören?« Pug bejahte es, und Chogana sagte:

»In dir befindet sich eine Kraft. Sie ist in dir gefangen. Was es ist, was es bedeutet, das weiß ich nicht zu sagen.«

Da Pug die merkwürdige Einstellung der Tsuranis Magiern gegenüber kannte, wurde er von plötzlicher Panik bei dem Gedanken ergriffen, jemand könnte seine ehemalige Berufung erkannt haben. Für die meisten hier im Lager war er einfach irgendein Sklave, für einige wenige auch ein ehemaliger Junker.

Chogana fuhr mit geschlossenen Augen fort. »Ich habe von dir geträumt, Pug. Ich sah dich auf einem Turm stehen, einem schrecklichen Feind gegenüber.« Er öffnete die Augen. »Ich weiß nicht, was der Traum bedeutet, aber eines mußt du wissen: Ehe du diesen Turm besteigst, um deinem Feind gegenüberzutreten, mußt du dein Wallum finden. Es ist dies der geheime Mittelpunkt deines Seins, der Ort des vollkommenen Friedens in dir selbst. Wenn du erst einmal dort ruhst, so bist du vor allem sicher. Dein Fleisch mag leiden, sogar sterben, aber innerhalb deines Wallums wirst du alles in Frieden ertragen. Suche mit allen Mitteln danach, Pug, denn nur wenige Männer finden ihr Wallum.«

Chogana stand auf. »Ihr werdet bald abreisen. Komm, wir müssen Laurie wecken.«

Als sie zum Eingang der Hütte gingen, fragte ihn Pug: »Ich danke dir, Chogana. Aber eines möchte ich doch wissen: Du hast von einem Feind dort oben auf dem Turm gesprochen. Kannst du ihn beschreiben?«

Chogana lachte und ließ seinen Kopf auf und nieder wippen. »Aber ja, ich habe ihn gesehen.« Er kicherte, während er die Stufen zur Hütte erklomm. »Er ist der Feind, den du unter allen Menschen am meisten zu fürchten hast.« Aus schmalen Augen musterte er Pug. »Er war du.«

 

Pug und Laurie saßen auf den Stufen zum Tempel. Sechs Wachtposten der Tsuranis befanden sich in ihrer Nähe. Während der ganzen Reise hatten sich die Wachen ziemlich zivilisiert verhalten.

Die Reise war ermüdend, um nicht zu sagen schwierig gewesen. Da es keine Pferde gab und auch nichts, was sie hätte ersetzen können, war jeder Tsurani, der nicht in einem Needra-Karren fuhr, auf Schusters Rappen angewiesen. Die Vornehmen wurden von keuchenden, schwitzenden Sklaven auf Sänften die weiten Boulevards hinauf- und hinuntergetragen.

Pug und Laurie hatten die kurzen, einfachen, grauen Röcke der Sklaven erhalten. Ihr Lendenschurz, der im Sumpf angebracht gewesen war, galt als zu unschicklich, um sich damit zwischen Tsurani-Bürgern zu bewegen. Pug schloß daraus, daß die Tsuranis Wert auf Sittsamkeit legten, wenn auch nicht so sehr wie im Königreich.

Sie waren die Küstenstraße heraufgekommen und an dem großen Wasser entlanggegangen, das man die Schlachtenbucht nannte. Wenn es wirklich eine Bucht war, dann war sie größer als alles, was man in Midkemia so nannte, denn nicht einmal von den hohen Klippen aus konnte man das jenseitige Ufer sehen. Nachdem sie ein paar Tage lang unterwegs gewesen waren, hatten sie bebautes Acker- und Weideland erreicht. Bald darauf konnte Pug sehen, wie das jenseitige Ufer immer näher kam. Noch ein paar Tage auf der Straße, und sie hatten die Stadt Jamar erreicht.

Pug und Laurie beobachteten den vorbeiziehenden Verkehr, während Hokanu im Tempel sein Opfer darbrachte. Die Tsuranis schienen ganz wild auf Farben zu sein. Selbst der niedrigste Arbeiter kleidete sich hier in ein leuchtendbuntes, kurzes Gewand. Die Reichen dagegen hüllten sich in auffallende, kunstvoll bedruckte Stoffe. Nur Sklaven mußten sich einfach kleiden.

Überall in der Stadt drängten sich die Menschen: Bauern, Händler, Reisende. Unzählige Needras trotteten vorüber. Sie zogen hoch beladene Wagen. Allein die Anzahl von Menschen überwältigte Pug und Laurie. Ihnen erschienen die Tsuranis wie Ameisen, die selbst in dieser ungewöhnlichen Hitze einherhasteten, so als könnte das Handelswesen des Kaiserreichs seinen Bürgern in ihrer Bequemlichkeit nicht Genüge tun. Viele, die vorüberkamen, blieben stehen, um die Midkemianer anzustarren, die ihnen wie gigantische Barbaren erschienen. Sie selbst waren im Durchschnitt etwa fünfeinhalb Fuß groß, und selbst Pug galt hier als riesig, denn er maß fast sechs Fuß, nachdem er jetzt ausgewachsen war. Ihrerseits wiederum nannten die Midkemianer die Tsuranis ›Knirpse‹.

Pug und Laurie schauten sich um. Sie warteten dort im Zentrum der Stadt, wo sich die großen Tempel befanden. Zehn Pyramiden von unterschiedlicher Größe, aber alle kunstvoll bearbeitet, standen inmitten einer Reihe von Parkanlagen. Von der Stelle aus, wo sie saßen, konnten die jungen Männer drei Parks überblicken. Jeder war terrassenförmig angeordnet, mit Miniaturflüssen, die sich hindurchwanden, und es gab sogar winzige Wasserfälle. Zwergbäume ebenso wie große Schattenbäume standen vereinzelt auf dem grasbewachsenen Boden. Umherziehende Musikanten spielten auf Flöten und sonderbaren Saiteninstrumenten eine fremdartige Musik, um diejenigen zu unterhalten, die im Park rasteten oder spazierengingen.

Als Hokanu zurückkehrte, machten sie sich wieder auf den Weg. Sie wanderten durch die Stadt.

Noch immer musterte Pug die Menschen, denen sie begegneten. Das Gedränge war unglaublich, und Pug fragte sich, wie sie es ertragen konnten. Wie Bauern, die zum erstenmal im Leben in eine Stadt kommen, sperrten Pug und Laurie Mund und Augen auf, als sie den Wundern Jamars gegenüberstanden. Selbst der scheinbar so weltgewandte Troubadour stieß bei dem einen oder anderen Anblick einen Ausruf der Überraschung aus. Schon bald konnte man hören, wie die Wachen über das offensichtliche Entzücken dieser Barbaren über die gewöhnlichsten Dinge lachten.

Jedes Gebäude, an dem sie vorüberkamen, war aus Holz und einem durchsichtigen Material geschaffen, das wie Stoff wirkte und doch fest war. Einige, wie zum Beispiel die Tempel, waren auch aus Stein erbaut. Was jedoch am meisten auffiel, war die Tatsache, daß von der einfachen Hütte eines Arbeiters bis hin zum Tempel alles weiß gestrichen war, bis auf die Stützbalken und Türrahmen, die dunkelbraun abgesetzt waren. Jede offene Fläche war mit farbenprächtigen Bildern bemalt. Tiere, Landschaften und Kampfszenen waren dabei in der Überzahl.

Im Norden der Tempel, jenseits eines Parks und an einem breiten Boulevard gelegen, stand ein einzelnes Gebäude. Große Rasenflächen, von Hecken umrahmt, sonderten es ab. Zwei Männer, deren Rüstung und Helm denen ihrer eigenen Wachen glich, standen an der Tür. Sie salutierten, als Hokanu sich ihnen näherte.

Die anderen Soldaten marschierten ohne ein Wort um das Haus herum und ließen die Sklaven bei dem jungen Offizier zurück. Er machte ein Zeichen, und einer der Wachtposten schob die große, stoffbespannte Tür beiseite. Sie betraten einen offenen Korridor mit Türen zu beiden Seiten.

Hokanu führte sie zu einem rückwärtigen Eingang, den ein Haussklave für sie öffnete.

Jetzt erkannten Pug und Laurie, daß das Haus wie ein großer Platz angeordnet war. In der Mitte befand sich ein von allen Seiten aus erreichbarer, großer Garten. Neben einem Teich saß ein älterer Mann, der eine schlichte, aber kostbar aussehende, dunkelblaue Robe trug. Er betrachtete gerade eine Schriftrolle, schaute jedoch auf, als die drei eintraten, und erhob sich, um Hokanu zu begrüßen.

Der junge Mann nahm seinen Helm ab und stand still. Pug und Laurie blieben ein Stückchen hinter ihm zurück. Sie sagten nichts. Der Mann nickte, und Hokanu näherte sich ihm. Sie umarmten einander. Dann sprach der ältere Mann: »Mein Sohn, es tut gut, dich wiederzusehen. Wie sieht es im Lager aus?«

Hokanu erstattete ihm Bericht, kurz, knapp, aber genau. Er ließ nichts von Wichtigkeit aus. Dann erzählte er, was er unternommen hatte, um die Lage zu verbessern. »Der neue Aufseher wird also dafür sorgen, daß die Sklaven genug zum Essen bekommen und sich auch ausruhen können.

Dadurch sollte die Produktion bald wieder anwachsen.«

Sein Vater nickte. »Ich denke, du hast weise gehandelt, mein Sohn. In einigen Monaten werden wir erneut jemanden hinschicken müssen, um die Fortschritte zu überprüfen, aber es kann kaum schlechter werden, als es war. Der Kriegsherr verlangt höhere Produktion, und wir sind bei ihm schon fast in Ungnade gefallen.«

Erst jetzt schien er die Sklaven zu bemerken. »Was ist mit denen?« fragte er bloß und wies auf Laurie und Pug.

»Sie sind ungewöhnlich. Ich dachte an unser Gespräch am Abend, ehe mein Bruder gen Norden zog. Sie könnten sich als wertvoll erweisen.«

»Hast du zu irgend jemandem davon gesprochen?« Seine grauen Augen blickten scharf. Obwohl er viel kleiner war, erinnerte er Pug doch an Lord Borric.

»Nein, mein Vater. Aber diejenigen, die in jener Nacht -«

Mit einer Handbewegung brachte ihn der Herr des Hauses zum Schweigen. »Hebe dir deine Bemerkungen für später auf. Vertraue einer Stadt keine Geheimnisse an. Informiere Septiem. Wir schließen dieses Haus und begeben uns morgen auf unsere Güter.«

Hokanu verbeugte sich leicht. Dann wandte er sich zum Gehen. »Hokanu.« Die Stimme seines Vaters hielt ihn zurück. »Du hast recht getan.« Der Stolz stand dem jungen Mann deutlich im Gesicht geschrieben, als er den Garten verließ.

Der Herr des Hauses setzte sich wieder auf eine Bank aus Stein, dicht neben einem kleinen Brunnen, und betrachtete die beiden Sklaven. »Wie heißt ihr?«

»Pug, Herr.«

»Laurie, Herr.«

Aus diesen einfachen Antworten schien er etwas zu lernen. »Durch diese Tür dort«, befahl er und zeigte nach links, »kommt ihr zur Küche. Mein Hadonra trägt den Namen Septiem. Er wird für euch sorgen. Geht nun.«

Sie verneigten sich und verließen den Garten. Als sie durchs Haus gingen, hätte Pug fast ein junges Mädchen umgerannt, das um eine Ecke bog. Sie trug Sklavenkleider und schleppte ein großes Bündel Wäsche. Jetzt flog es den Korridor entlang.

»Oh!« rief sie. »Ich habe sie gerade erst gewaschen! Jetzt muß ich die ganze Arbeit noch einmal machen.« Pug bückte sich schnell, um ihr beim Aufheben zu helfen. Für eine Tsurani war sie groß, fast so wie Pug, und gut proportioniert. Ihr braunes Haar hatte sie zurückgebunden, und lange, dunkle Wimpern umrahmten ihre großen, braunen Augen. Pug hörte auf, die Wäsche einzusammeln, und starrte sie in offener Bewunderung an. Sie zögerte unter seinem scharfen Blick.

Dann hob sie schnell den Rest der Kleider auf und hastete davon. Unter dem kurzen Sklavengewand ragten lange, braune Beine hervor.

Laurie schlug Pug auf die Schulter. »Ha! Ich habe dir doch gesagt, daß alles besser werden würde!«

Sie verließen das Gebäude und näherten sich dem Kochhaus. Der Duft der heißen Speisen ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Ich glaube, du hast Eindruck auf dieses Mädchen gemacht, Pug.«

Pug hatte nicht viel Erfahrung mit Frauen. Jetzt fühlte er, wie seine Ohren bei Lauries Worten zu brennen anfingen. Im Sklavenlager war viel über Frauen geredet worden, und mehr als alles andere hatte gerade das ihm den Eindruck vermittelt, noch ein Junge zu sein. Er drehte sich um, um festzustellen, ob sich Laurie über ihn lustig machte. Aber der blonde Sänger schaute an ihm vorbei.

Er folgte Lauries Blick und konnte gerade noch sehen, wie ein schüchtern lächelndes Mädchen hastig den Kopf vom Fenster zurückzog und im Haus verschwand.

 

Am nächsten Tag war das ganze Haus der Shinzawai-Familie in Aufruhr. Sklaven und Bedienstete eilten hierhin und dorthin, um alles für die Reise in den Norden vorzubereiten. Pug und Laurie blieben sich selbst überlassen, denn niemand im Haus hatte Zeit, ihnen ihre Aufgaben zuzuweisen. So hockten sie im Schatten eines großen, Weide-ähnlichen Baumes und genossen das neuartige Gefühl von freier Zeit, während sie den anderen zusahen.

»Diese Leute sind verrückt, Pug. Nicht einmal für ganze Karawanen wird bei uns so viel vorbereitet. Sieht aus, als wollten sie alles mitnehmen.«

»Wollen sie vielleicht auch. Diese Leute überraschen mich schon längst nicht mehr.« Pug stand auf und lehnte sich an den Stamm. »Ich habe schon viele Dinge gesehen, die jeglicher Logik entbehren.«

»Stimmt schon. Aber wenn man so viele verschiedene Lande gesehen hat wie ich, dann lernt man eines: Je verschiedener die Dinge aussehen, desto ähnlicher sind sie sich.«

»Was meinst du damit?«

Laurie stand ebenfalls auf und lehnte sich an die andere Seite des Baumes. Leise erklärte er: »Ich bin nicht sicher, aber irgend etwas geht hier vor. Und wir haben dabei auch eine Rolle zu spielen, da kannst du ganz sicher sein. Wenn wir schlau sind, können wir daraus vielleicht einen Vorteil für uns ziehen. Vergiß das niemals. Wenn ein Mann etwas von dir will, dann kannst du immer handeln, ganz gleich, wie unterschiedlich deine Stellung sonst auch zu sein scheint.«

»Natürlich. Gib ihm, was er will, und dafür läßt er dich am Leben.«

»Du bist zu jung, um so zynisch zu sein«, gab Laurie zurück, aber in seinen Augen funkelte Fröhlichkeit. »Ich will dir was sagen. Du überläßt diese Haltung alten Reisenden wie mir, und dafür sorge ich dafür, daß dir keine Gelegenheit entgeht.«

Pug grunzte. »Was für eine Gelegenheit?«

»Nun, zum Beispiel diese.« Laurie zeigte auf einen Punkt hinter Pug. »Dieses kleine Ding, das du gestern fast über den Haufen gerannt hättest, scheint Schwierigkeiten mit den schweren Kisten zu haben.« Pug drehte sich um und entdeckte das Waschmädel. Sie kämpfte hart, um ein paar große Kisten zu stapeln, die fertig waren, um in den Wagen verladen zu werden. »Ich denke, sie würde sich über ein wenig Hilfe freuen.«

Pugs Verwirrung spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Was… ?«

Laurie stieß ihm sanft in die Rippen. »Los, Alter. Ein bißchen Hilfe jetzt, und später… wer weiß!«

Pug stolperte davon. »Später?«

»Himmel!« stöhnte Laurie lachend und versetzte Pug einen spielerischen Tritt.

Der Humor des Troubadours war ansteckend, und Pug lächelte, als er sich dem Mädchen näherte. Sie versuchte gerade, eine große Holzkiste auf eine andere zu hieven. Pug nahm sie ihr ab.

»Laß nur. Das kann ich doch machen.«

Unsicher trat sie zurück. »Sie ist nicht schwer. Bloß zu hoch für mich.« Sie sah überall hin, nur nicht auf Pug.

Pug hob die Kiste mit Leichtigkeit auf die anderen. Dabei nahm er kaum Rücksicht auf seine kranke Hand. »Das hätten wir«, sagte er, als wäre es ganz nebensächlich.

Das Mädchen strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist ein Barbar, nicht wahr?« fragte sie zögernd.

Pug zuckte zusammen. »Ihr nennt uns so. Ich denke, daß ich genauso zivilisiert bin wie jeder andere Mann hier.«

Sie errötete. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Auch mein Volk nennt man Barbaren. Jeder, der nicht Tsurani ist, wird so genannt. Ich wollte nur sagen, daß du aus einer anderen Welt stammst.«

Pug nickte. »Wie heißt du?«

»Katala«, erwiderte sie zögernd und fügte dann hastig hinzu: »Und du?«

»Pug.«

Sie lächelte. »Das ist ein merkwürdiger Name. Pug.« Der Klang schien ihr zu gefallen.

In diesem Augenblick bog der Hadonra, Septiem, ein alter, aber noch immer aufrechter Mann mit der Haltung eines pensionierten Generals, ums Haus. »Ihr beiden da!« bellte er. »Es gibt Arbeit genug! Steht hier nicht herum!«

Katala lief ins Haus zurück. Pug blieb zögernd vor dem gelbgewandeten Verwalter zurück. »Du!

Wie heißt du?«

»Pug, mein Herr.«

»Wie ich sehe, hat man dir und deinem blonden Riesenfreund nichts zu arbeiten gegeben. Das werde ich ändern. Ruf ihn herbei.«

Pug seufzte. So viel zu ihrer freien Zeit. Er winkte Laurie, daß er herbeikommen sollte, und man trug ihnen auf, Wagen zu beladen.