Krondor

Der Gasthof war überfüllt.

Amos führte Arutha und Martin durch die Schankstube zu einem freien Tisch in der Nähe der Feuerstelle. Als sie sich setzten, drangen Bruchstücke von Unterhaltungen an Aruthas Ohr. Bei näherer Betrachtung schien die Stimmung im Raum bedrückter, als es zuerst den Anschein hatte.

Aruthas Gedanken rasten. Innerhalb weniger Minuten nachdem sie den Hafen erreicht hatten, waren seine Pläne, sich Erlands Hilfe zu versichern, zunichte gemacht worden. Überall in der Stadt bemerkte er Anzeichen, daß Guy du Bas-Tyra nicht nur als Gast in Krondor weilte, sondern daß er die Stadt beherrschte. Männer der Stadtwache folgten Offizieren, die das Schwarz und Gold von Bas-Tyra trugen, und Guys Banner flatterte über jedem Turm der Stadt.

Als eine schmuddelige Bedienung sich ihnen näherte, bestellte Amos drei Krüge Bier.

Schweigend warteten die Männer, bis sie gebracht worden waren. Als das Weib wieder gegangen war, sagte Amos: »Wir müssen unseren Weg jetzt vorsichtig wählen.«

Aruthas Gesichtsausdruck blieb grimmig und unverändert. »Wie lange wird es dauern, bis wir wieder segeln können?«

»Wochen, mindestens drei. Wir müssen den Kiel reparieren lassen, und auch das Kielschwein muß ersetzt werden. Wie lange es genau dauern wird, hängt von den Schiffsbauern ab. Der Winter ist eine schlechte Zeit dafür. Da lassen die Händler ihre Schiffe überholen. Ich werde gleich morgen früh mit meinen Nachforschungen anfangen.«

»Das könnte zu lange dauern. Wenn es sein muß, kauft einfach ein neues.«

Amos zog die Brauen hoch. »Ihr habt genügend Kapital dabei?«

»In meiner Truhe an Bord.« Mit grimmigem Lächeln fügte er hinzu: »Die Tsuranis sind nicht die einzigen, die Politik mit Kriegen spielen. Für viele Adlige in Krondor und im Osten ist der Krieg ein fernes Etwas und kaum vorstellbar. Jetzt dauert er schon seit neun Jahren an, aber alles, was sie bislang gesehen haben, sind Depeschen.

Und unsere treuen Händler im Königreich stellen nicht einfach aus Liebe zu König Rodric Schiffe und Vorräte zur Verfügung. Mein Gold soll helfen, Soldaten aus Krondor nach Crydee zu bringen. Es soll gleichzeitig dazu dienen, Auslagen zu ersetzen und Männer zu bestechen.«

»Nun, trotzdem wird es ein, zwei Wochen dauern«, meinte Amos. »Normalerweise marschiert man nicht einfach in eine Werft und legt Gold für das erstbeste Schiff auf den Tisch, das angeboten wird. Jedenfalls nicht, wenn man kein Aufsehen erregen will. Und die meisten Schiffe, die verkauft werden, sind ihren Preis nicht wert. Es wird einige Zeit dauern.«

»Außerdem«, warf Martin ein, »ist da immer noch die Meerenge.«

»Richtig«, stimmte Amos zu. »Aber wir könnten ganz gemütlich an der Küste entlang bis nach Sarth schippern und dort warten, bis ein günstiger Zeitpunkt gekommen ist, um die Meerenge |zu durchfahren.«

»Nein«, wandte Arutha ein. »Sarth gehört noch immer zum Fürstentum. Wenn Guy jetzt Krondor beherrscht, dann wird er dort auch Agenten und Soldaten haben. Wir sind erst sicher, wenn wir das Bittere Meer hinter uns gelassen haben. In Krondor werden wir weniger Aufmerksamkeit erregen als in Sarth. Hier sind Fremde nichts Ungewöhnliches.«

Amos schaute Arutha lange an. Dann sagte er: »Ich will ja nicht behaupten, daß ich Euch so gut kenne wie einige andere Männer, denen ich begegnet bin. Aber ich glaube, Ihr seid nicht sehr um Eure eigene Haut besorgt.«

Arutha schaute sich im Raum um. »Besser, wir suchen uns ein ruhigeres Plätzchen, um uns zu unterhalten.«

Halb seufzend, halb stöhnend hievte sich Amos aus seinem Stuhl. »Ich bleib’ zwar nicht gern in der Matrosenunterkunft, aber für unsere Zwecke ist sie jetzt wohl das Beste.« Er bahnte sich seinen Weg zu der langen Bar hinüber und sprach geraume Zeit mit dem Wirt. Der untersetzte Besitzer des Gasthauses wies die Treppe hinauf, und Amos nickte. Er gab seinen Kameraden ein Zeichen, ihm zu folgen. Dann ging er voraus durch den Schankraum, die Treppe hinauf und einen langen Flur entlang bis zur letzten Tür. Er stieß sie auf und bedeutete ihnen, einzutreten.

Vor ihnen befand sich ein Zimmer, das alles andere als gemütlich aussah. Vier mit Stroh gestopfte Säcke lagen als Schlafstatt am Boden. Eine große Kiste in der Ecke diente als gemeinsamer Schrank. Eine primitive Lampe, ein Docht, der in einer Schale mit Öl schwamm, stand auf einem groben Tisch.

Amos schloß die Tür, als Arutha sagte: »Jetzt verstehe ich, was Ihr gemeint habt.«

»Ich habe schon in viel schlimmeren Unterkünften geschlafen«, berichtete Amos und ließ sich auf einem der Säcke nieder. »Aber wenn wir unsere Freiheit behalten wollen, dann müssen wir unsere Rolle glaubhaft spielen. Vorläufig werden wir Euch Arthur nennen. Das ist Eurem eigenen Namen so ähnlich, daß wir es erklären können, wenn jemand Euch Arutha rufen und Ihr darauf antworten solltet. Außerdem ist er leicht zu behalten.«

Arutha und Martin setzten sich, und Amos fuhr fort: »Arthur – gewöhnt Euch an diesen Namen! –, von Städten versteht Ihr so gut wie gar nichts, und das ist immer noch doppelt soviel wie Martin.

Ihr tätet gut daran, die Rolle des Sohnes eines kleinen Adligen zu spielen, der aus irgendeinem abgelegenen Nest kommt. Martin, Ihr seid ein Jäger aus den Bergen von Natal.«

»Ich spreche deren Sprache ganz passabel.«

Arutha lächelte leicht. »Besorgt ihm einen grauen Umhang, und er wird einen prächtigen Pfadfinder abgeben. Ich spreche weder die Sprache von Natal noch einen keshianischen Dialekt.

Also muß ich der Sohn eines kleinen Adligen aus dem Osten sein, der sich hier erholen will. Nur wenige in Krondor können die Barone des Ostens kennen.«

»Wenn es nur nicht zu dicht bei Bas-Tyra liegt. Es wäre eine schöne Sache, wenn man unter Guys Offizieren plötzlich einen Cousin hätte.«

Aruthas Gesicht verfinsterte sich. »Ihr hattet recht, was meine Sorgen angeht, Amos. Ich werde Krondor nicht verlassen, ehe ich nicht genau herausgefunden habe, was Guy hier tut und was das für den Krieg bedeutet.«

»Selbst wenn ich schon morgen ein Schiff für uns finden würde, was sehr unwahrscheinlich ist, hättet Ihr noch Zeit genug, um herumzuschnüffeln. Wahrscheinlich werdet Ihr mehr herausfinden, als Ihr wissen wollt. Die Stadt ist kaum der rechte Ort für Geheimnisse. Auf dem Markt werden Gerüchte umgehen, und jeder einfache Bürger in der Stadt wird genug wissen, um Euch etwas von dem zu vermitteln, was hier vorgeht. Denkt einfach bloß daran, die Ohren offen und den Mund geschlossen zu halten. Gerüchtekrämer verkaufen Euch, was Ihr zu wissen wünscht, und dann drehen sie sich um und verkaufen der Stadtwache die Neuigkeit, daß Ihr danach gefragt habt. Und das Ganze geht so schnell, daß Euch vom Zuschauen schon ganz schwindlig wird.« Amos reckte sich. »Es ist noch früh, aber ich glaube, wir sollten jetzt etwas Warmes essen und dann schlafen gehen. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns.« Mit diesen Worten erhob er sich, öffnete die Tür, und die drei Männer kehrten m den Schankraum zurück.

Arutha kaute an einem fast kalten Stück Pastete. Er senkte den Kopf und zwang sich, die fettige Ware des Straßenhökers weiter zu verzehren. Er wollte nicht darüber nachdenken, was sich zusätzlich zu dem Rind- und Schweinefleisch, von dem der Händler gesprochen hatte, noch innerhalb der klitschigen Kruste befand.

Aus dem Augenwinkel musterte Arutha das Tor, durch das man in Prinz Erlands Palast gelangte.

Nachdem er die Pastete gegessen hatte, lief er schnell über den Platz zu einem Stand, an dem Bier verkauft wurde. Er bestellte einen großen Krug, um den Nachgeschmack fortzuspülen. In der letzten Stunde war er, scheinbar ohne Ziel, von einem Verkaufsstand zum nächsten geschlendert, hatte dies und das gekauft und dabei die Rolle eines kleinen Landadligen gespielt. Und in dieser Stunde hatte er eine ganze Menge erfahren.

Martin und Amos tauchten fast eine Stunde vor der verabredeten Zeit auf. Beide hatten grimmige Gesichter und schauten sich immer wieder nervös um. Ohne ein Wort machte Amos Arutha ein Zeichen, ihnen zu folgen, als sie an ihm vorbeigingen. Sie drängten sich durch die mittägliche Menge und entfernten sich schnell von dem großen Platz. Dann erreichten sie ein Gebiet, das weniger einladend aussah, aber ebenso belebt war. Auch hier gingen sie weiter, bis Amos schließlich auf ein Gebäude zeigte. Sie traten ein.

Er war kaum in der Tür, da wurde Arutha auch schon von einer heißen, dampfigen Atmosphäre empfangen. Ein Bediensteter kam, um ihn zu begrüßen. »Ein Badehaus?« fragte Arutha.

Ganz ernst erwiderte Amos: »Du mußt einiges von dem Straßenschmutz loswerden, Arthur.« An den Bediensteten gewandt, befahl er dann: »Ein Dampfbad für uns alle.«

Der Mann führte sie in einen Raum, in dem sie sich auskleiden konnten. Dann reichte er jedem ein grobes Tuch und einen Beutel für ihre Habe. Arutha stand still dabei, als erst Amos, dann auch Martin sich auszogen. Dann folgte er ihrem Beispiel. Sie hüllten sich in die Tücher und trugen ihre Kleider und ihre Waffen in den Beuteln in den Dampfraum.

Der große Raum war völlig mit Fliesen ausgelegt, aber die Wände und der Boden waren schmutzig, und hier und da zeigten sich grüne Flecken. Die Luft war stickig. Ein kleiner, halbnackter Knabe hockte in der Mitte des Raumes vor den Steinen, von denen der Dampf ausging.

Abwechselnd füllte er Holz in den großen Ofen unter den Steinen und goß Wasser über sie, wodurch sich riesige Wolken aus Wasserdampf bildeten.

Als sie auf einer Bank in der entlegensten Ecke des Raumes hockten, fragte Arutha: »Warum ausgerechnet ein Badehaus?«

Amos flüsterte: »An Orten wie diesem werden viele Geschäfte abgeschlossen. So erregen drei Männer, die flüsternd in einer Ecke hocken, keine unnötige Aufmerksamkeit.« Er rief dem Jungen zu: »He, Bursche, lauf und hol uns gekühlten Wein.« Amos warf dem Knaben eine Silbermünze zu, die dieser in der Luft auffing. Als er sich nicht rührte, gab Amos ihm noch eine weitere, und der Junge trollte sich. Seufzend meinte Amos: »Der Preis für gekühlten Wein hat sich verdoppelt, seit ich das letzte Mal hier war. Er wird jetzt eine Weile fort sein, aber nicht lange.«

»Was soll das alles?« fragte Arutha. Er bemühte sich nicht einmal, seine schlechte Laune zu verbergen. Das Tuch kratzte, der Raum stank, und er bezweifelte, daß er sauberer sein würde, wenn er dieses Haus verließ, als wenn er auf dem Platz geblieben wäre.

»Martin und ich haben beide schlechte Nachrichten.«

»Ich auch. Ich weiß bereits, daß Guy Vizekönig in Krondor ist. Was habt Ihr sonst noch erfahren?«

»Ich habe die Unterhaltungen belauscht und glaube jetzt, daß Guy Erland gefangengenommen hat, ebenso wie seine Familie«, berichtete Martin.

Aruthas Augen verengten sich. Seine Stimme war leise und wütend. »Nicht einmal Guy würde es wagen, dem Prinzen von Krondor ein Leid zuzufügen.«

Martin widersprach. »Doch, das würde er, wenn der König seine Genehmigung geben würde. Ich weiß nur wenig von diesem Ärger zwischen dem König und dem Prinzen, aber es ist klar, daß hier jetzt in Krondor Guy die Macht hat, und daß er mit Erlaubnis des Königs handelt, wenn nicht sogar mit seinem Segen. Ihr habt mir von Caldrics Warnung erzählt, die er ausgesprochen hat, als Ihr das letzte Mal in Rillanon gewesen seid. Vielleicht ist die Krankheit des Königs schlimmer geworden.«

»Irrsinn, wenn Ihr offen sein wollt«, bellte Arutha.

»Um die Dinge in Krondor noch unklarer erscheinen zu lassen«, wußte Amos zu berichten,

»sieht es so aus, als befänden wir uns im Krieg mit Groß Kesh.«

»Was!« brauste Arutha auf.

»Ein Gerücht, mehr nicht.« Amos sprach leise und schnell. »Ehe ich Martin gefunden habe, schnüffelte ich in der Nähe eines Freudenhauses herum, nicht weit von den Kasernen der Garnison entfernt. Ich habe gehört, wie ein paar Soldaten, die sich dort amüsierten, sagten, daß sie bei Tagesanbruch zu einem Feldzug aufbrechen würden. Als der Gegenstand der vorübergehenden Begierde eines der Soldaten sich erkundigte, wann sie ihn wiedersehen würde, antwortete er: ›So lange, wie man braucht, um ins Tal und zurück zumarschieren, wenn das Glück uns hold ist.‹ Dann rief er Ruthia an, damit die Glücksgöttin seine Bemerkung über ihr Amt nicht ungünstig aufnehmen würde.«

»Das Tal?« fragte Arutha. »Das kann nur einen Feldzug ins Tal der Träume hinunter bedeuten.

Kesh muß die Garnison in Shamata mit einer außergewöhnlichen Streitmacht von Hundesoldaten angegriffen haben. Guy ist kein Narr. Er weiß, daß die Antwort nur in einem schnellen Streich von Krondor aus bestehen kann. Wir müssen Groß Kesh und seiner Kaiserin zeigen, daß wir immer noch in der Lage sind, unsere Grenzen zu verteidigen. Wenn die Hundesoldaten erst einmal fortgejagt sind und sich im Süden des Tales befinden, dann kommt es zu einer erneuten Runde von nutzlosen Verhandlungsgesprächen darüber, wer Anspruch auf das Tal hat. Das bedeutet, daß Guy Crydee nicht einmal helfen könnte, selbst wenn er es wollte – was ich bezweifle. Die Zeit reicht nicht, um mit Kesh fertig zu werden, zurückzukehren, und dann im Frühjahr oder wenigstens im Frühsommer in Crydee zu sein.« Arutha fluchte. »Das sind allerdings bittere Neuigkeiten, Amos.«

»Es gibt noch mehr. Heute früh habe ich mir die Mühe gemacht, unserem Schiff einen Besuch abzustatten. Ich wollte einfach mal sehen, ob Vasco alles fest in der Hand hält und ob die Männer nicht zu wütend sind, weil sie nicht an Land gehen dürfen. Unser Schiff wird beobachtet.«

»Seid Ihr sicher?«

»Gewiß. Ein paar Jungen stehen da herum und tun so, als ob sie Netze flicken würden. Aber sie arbeiten nicht wirklich. Sie haben mich genau betrachtet, als ich hin- und zurückgerudert bin.«

»Was glaubt Ihr, wer sie sind?«

»Keine Ahnung. Sie könnten Guys Männer gewesen sein, oder andere, die noch immer Erland treu ergeben sind. Aber genauso gut können es Spione aus Groß Kesh gewesen sein, Schmuggler, sogar Spötter.«

»Spötter?« fragte Martin.

»Die Gilde der Diebe«, erklärte Arutha. »In Krondor geschieht nur wenig, ohne daß ihr Anführer, der Aufrechte Mann, es erfährt.«

Amos erläuterte: »Diese geheimnisvolle Persönlichkeit führt die Spötter mit fester Hand. Er kontrolliert sie besser als ein Kapitän seine Mannschaft. In der Stadt hier gibt es Stellen, die erreicht nicht einmal der Prinz. Aber kein Platz in Krondor ist für den Aufrechten Mann unerreichbar. Wenn er sich für uns interessiert, aus welchem Grund auch immer, dann haben wir eine Menge zu befürchten.«

Die Unterhaltung wurde unterbrochen, weil der Knabe zurückkehrte. Er stellte einen Tonkrug mit gekühltem Wein und drei Becher ab. Amos sagte: »Lauf zu dem nächsten Duftverkäufer, Junge.

Der Raum hier stinkt. Aber hol was Süßes, was man aufs Feuer werfen kann.«

Der Knabe musterte ihn ein wenig mißtrauisch, gehorchte aber achselzuckend, als Amos ihm eine weitere Münze zuwarf. Er lief aus dem Raum, und Amos sagte: »Er kommt bald wieder, und ich weiß nicht mehr, warum ich ihn noch fortschicken könnte. Außerdem wird das hier bald sehr voll sein, weil die Händler kommen, um ihr nachmittägliches Dampfbad zu nehmen.

Wenn der Junge zurückkehrt, nippt an eurem Wein, versucht euch zu entspannen und geht nicht zu schnell. Ach so, bei all dem Bösen und Durcheinander gibt es doch auch etwas Gutes.«

»Und was ist das?« wollte Arutha wissen.

»Guy wird die Stadt bald verlassen.«

Aruthas Augen verengten sich. »Aber seine Männer werden immer noch hier sein. Sie werden die Verantwortung übernehmen. Dennoch klingt das, was Ihr da sagt, tröstlich. Es gibt nur wenige in Krondor, die mich erkennen würden, denn es ist fast neun Jahre her, daß ich das letzte Mal hier war. Und die meisten von ihnen sind wahrscheinlich mit dem Prinzen verschwunden. Ich denke dabei an einen Plan. Wenn Guy sich nicht mehr in Krondor aufhält, habe ich vielleicht sogar noch eher Erfolg.«

»Was ist das für ein Plan?« fragte Amos.

Leise und schnell erklärte Arutha: »Heute morgen sind mir zwei Dinge aufgefallen. Erlands persönliche Wache patrouilliert noch immer auf seinem Besitz. Also muß es Grenzen für Guy geben. Außerdem haben verschiedene von Erlands Hofleuten den Palast frei betreten und verlassen. Das deutet darauf hin, daß ein großer Teil der täglichen Regierungsgeschäfte unverändert abläuft.«

Amos strich sich über das Kinn. »Das erscheint logisch. Guy hat seine Armee mitgebracht, nicht seine Verwaltungsbeamten. Die sind noch immer daheim und regieren Bas-Tyra.«

»Das heißt, daß Lord Dulanic und andere, denen Guy nicht sonderlich sympathisch ist, uns vielleicht immer noch helfen können. Wenn Dulanic uns beisteht, dann kann meine Mission immer noch erfolgreich verlaufen.«

»Wie das?« wollte Amos wissen.

»Als Erlands Hofmarschall hat Dulanic die Kontrolle über die Garnisonen von Krondor. Mit seiner Unterschrift allein könnte er die Garnisonen aus Durronys Tal und von Malacs Cross herbeirufen. Wenn er ihnen befehlen würde, nach Sarth zu marschieren, dann könnten sie sich der Garnison dort anschließen und ein Schiff nach Crydee nehmen. Es wäre ein harter Marsch, aber bis zum Frühjahr könnten sie in Crydee sein.«

»Und für Euren Vater wäre es auch nicht schlecht. Das wollte ich Euch ohnehin noch sagen. Ich habe gehört, daß Guy Soldaten aus der Garnison Krondor zu Eurem Vater entsandt hat.«

»Das erscheint mir merkwürdig. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Guy Vater helfen möchte.«

Amos schüttelte den Kopf. »So merkwürdig ist das gar nicht. Für Euren Vater wird es so aussehen, als wäre Guy vom König nur ausgeschickt, um Erland zu helfen. Ich vermute, daß das Gerücht, Erland werde in seinem eigenen Palast gefangengehalten, noch nicht so weit verbreitet ist.

Gleichzeitig ist das ein feiner Vorwand, um die Stadt von Offizieren und Soldaten zu räumen, die dem Prinzen treu ergeben sind.

Trotzdem ist das keine geringe Gefälligkeit für Euren Vater. Allen Erzählungen zufolge haben viertausend Mann die Stadt verlassen oder werden dies tun, um gen Norden zu ziehen. Das sollte reichen, um mit den Tsuranis fertig zu werden.«

»Aber was ist, wenn sie Crydee angreifen?« gab Martin zu bedenken.

»Für diesen Fall müssen wir eben Hilfe suchen. Wir müssen in den Palast eindringen und Dulanic finden.«

»Aber wie?«

»Ich hatte gehofft, daß Ihr einen Vorschlag haben würdet.«

Amos schaute zu Boden. Dann sagte er: »Gibt es irgend jemanden im Palast, von dem Ihr sicher wißt, daß Ihr ihm vertrauen könnt?«

»Früher einmal hätte ich Euch ein Dutzend nennen können, aber jetzt zweifle ich an jedem. Ich habe keine Ahnung, wer auf der Seite des Vizekönigs und wer auf der Seite des Prinzen steht.«

»Dann müssen wir eben noch ein bißchen weiter herumschnüffeln. Außerdem müssen wir auch die Ohren aufhalten, damit wir erfahren, wenn ein Schiff kommt, mit dem wir von hier verschwinden können. Wenn wir ein paar Männer angeheuert haben, dann bringen wir sie aus Krondor mit den Schiffen fort, die wir mieten. Immer ein oder zwei Fahrzeuge gleichzeitig, alle paar Tage. Wir brauchen mindestens zwanzig davon, um die Männer aus drei Garnisonen nach Crydee zu verschiffen. Vorausgesetzt natürlich, Ihr bekommt Dulanics Unterstützung, womit wir wieder am Anfang angelangt wären. Wie bekommen wir Zutritt zum Palast.« Amos fluchte leise.

»Seid Ihr sicher, daß Ihr dieses Geschäft nicht abblasen und lieber ein Freibeuter werden wollt?«

Aruthas Gesichtsausdruck verriet deutlich, daß er das nicht lustig fand. Amos seufzte. »Das dachte ich schon.«

»Ihr scheint die Stadt sehr gut zu kennen, Amos, vor allem den Untergrund«, bemerkte Arutha.

»Setzt Eure ganze Erfahrung ein, um uns Zugang zum Palast zu verschaffen, und sei es durch das Abwassersystem. Ich halte die Augen offen, ob ich irgendeinen von Erlands Männern sehe, der vielleicht über den großen Platz schlendert. Martin, du muß einfach bloß die Ohren offenhalten.«

Amos seufzte anhaltend und resigniert. »In den Palast eindringen, das ist ein riskanter Plan. Mir gefällt das gar nicht, das sage ich Euch. Vielleicht springe ich noch bei Ruthias Tempel vorbei und bitte die Glücksgöttin, für uns zu lächeln.«

Arutha zog eine Goldmünze aus seiner Habe und warf sie Amos zu. »Betet auch in meinem Namen.«

Der Knabe kehrte zurück und warf ein kleines Bündel mit Duftstoffen aufs Feuer. Dadurch wurde die Unterhaltung unterbrochen. Arutha lehnte sich zurück und trank von dem gekühlten Wein, der in der Hitze des Dampfraumes schnell warm wurde. Er schloß die Augen, entspannte sich aber nicht, sondern dachte über die Lage nach. Nach einer Weile hatte er das Gefühl, sein Plan könnte sich verwirklichen lassen, wenn es ihm gelänge, Dulanic zu erreichen. Da ihn seine Geduld verließ, war er der erste, der sich erhob, abtrocknete, anzog und ging.

 

Die Stille der Nacht wurde von Trompetenstößen zerrissen, die die Männer an die Waffen riefen.

Arutha stand als erster am Fenster, stieß die Holzläden beiseite und spähte nach draußen. Die Stadtbewohner schliefen fast alle, und so gab es nur wenig Licht, welches das Glühen im Osten verdeckt hätte. Amos trat neben Arutha, Martin direkt hinter sich.

»Lagerfeuer, Hunderte von Lagerfeuern«, bemerkte Martin. Der Jagdmeister schaute zum Himmel empor, musterte die Position der Sterne am tiefblauen Horizont und sagte: »Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang.«

»Guy macht seine Armee zum Abmarsch bereit«, bemerkte Arutha leise.

Amos beugte sich weit aus dem Fenster. Wenn er den Hals verrenkte, konnte er gerade noch den Hafen ausmachen. In der Ferne wurden Männer an Bord gerufen. »Hört sich an, als ob sie die Schiffe auch klarmachten.«

Arutha stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch neben dem Fenster. »Guy wird seine Fußsoldaten per Schiff an der Küste entlang ins Meer der Träume und dann nach Shamata schicken, während seine Kavallerie nach Süden reitet. Seine Fußtruppe wird die Stadt erreichen und noch frisch genug sein, um die Verteidigung zu stützen. Wenn seine Pferde dann eintreffen, sind sie nicht von der Seefahrt geschwächt. Außerdem kommen beide Gruppen innerhalb weniger Tage ans Ziel.«

Wie zum Beweis seiner Worte klang von Osten her das Geräusch marschierender Männer herüber. Ein paar Minuten später kam die erste Kompanie von Bas-Tyras einfachen Soldaten in Sicht. Arutha und seine Kameraden schauten zu, wie sie an dem offenen Tor des Gasthofes vorüberzogen. Laternen verliehen den Soldaten ein fremdartiges Aussehen, so als kämen sie von einer anderen Welt. In Kolonnen marschierten sie im Gleichschritt die Straße entlang. Die Banner mit dem Goldenen Adler flatterten über ihren Köpfen. »Gut ausgebildete Gruppen«, bemerkte Martin.

»Guy ist vieles, und das meiste davon ist unschön. Aber eines kann man nicht abstreiten: Er ist der beste General im Königreich. Selbst Vater mußte das zugeben, obgleich er sonst nichts Gutes über den Mann zu sagen hat. Wenn ich König wäre, würde ich die Truppen des Ostens unter seinem Kommando ausschicken, um gegen die Tsuranis zu kämpfen. Dreimal ist Guy gegen Kesh in den Krieg gezogen, und immer hat er gesiegt. Wenn die Keshianer nicht wissen, daß er in den Westen gekommen ist, dann genügt schon der Anblick seines Banners im Feld, um sie an den Friedenstisch zu treiben, denn sie fürchten und respektieren ihn.« Aruthas Stimme wurde nachdenklich. »Da ist folgendes: Als Guy damals Herzog von Bas-Tyra wurde, erlitt er eine persönliche Schande – Vater hat uns nie gesagt, was es wirklich gewesen ist. Deshalb hat er es sich angewöhnt, nur Schwarz zu tragen, als Zeichen seines Makels, und das hat ihm den Namen Schwarzer Guy eingebracht. Diese Art von Ereignissen wirkt ich manchmal seltsam auf den persönlichen Mut aus. Was immer man vom Schwarzen Guy aus Bas-Tyra auch sagen mag, niemand wird ihn feige nennen.«

 

Während unten die Soldaten weiter vorüberzogen, schauten Arutha und seine Freunde schweigend zu. Dann, als die Sonne m Osten aufstieg, verschwanden auch die letzten Soldaten auf per Straße, die zum Hafen führte.

 

Am Morgen nachdem Guys Armee abmarschiert war, wurde bekanntgegeben, daß niemand die Stadt verlassen dürfe. Der Hafen wurde blockiert und die Tore für alle Reisenden und Händler verschlossen. Arutha hielt das für völlig normal, denn es würde verhindern, daß keshianische Spione aus der Stadt entkommen und Nachricht von Guys Abmarsch verbreiten könnten. Amos nutzte einen Besuch auf der Morgenwind, um die Hafenblockade zu begutachten. Zufrieden stellte er fest, daß sie kein großes Ausmaß hatte. Der Großteil der Flotte lag in einigem Abstand von der Küste vor Anker und hielt Ausschau nach keshianischen Schiffen, die sicher kommen würden, wenn man in Kesh erfuhr, daß die Stadt ohne Soldaten war. Jetzt, da die letzten gen Norden gezogen waren, wurde die Stadt von Wächtern in Guys Uniform kontrolliert. Gerüchte besagten, daß Guy die Garnisonssoldaten auch nach Shamata an die Front senden wollte, sobald der Kampf mit Kesh beendet sein würde. So wäre dann jede Garnison im Fürstentum mit Soldaten bemannt, die Bas-Tyra treu dienen würden.

Arutha verbrachte die meiste Zeit in Kneipen, Geschäftshäusern und auf den offenen Märkten.

Amos trieb sich am Hafen oder in öden schäbigeren Vierteln der Stadt herum. Dabei fing er schon an, diskrete Erkundigungen über die Möglichkeit einzuziehen, Schiffe zu erstehen. Martin nutzte seine Verkleidung als einfacher Waldmensch, jeden Ort zu inspizieren, der ihm irgendwie verheißungsvoll erschien.

Fast eine Woche verging auf diese Weise, ohne daß sie viel Neues erfahren hätten. Doch dann, am späten Nachmittag des sechsten Tages nachdem Guy die Stadt verlassen hatte, winkte Martin Arutha in die Mitte des belebten großen Platzes.

»Arthur!« rief der Jäger und lief auf Arutha zu. »Komm schnell!« Dann begab er sich zum Meer und in Richtung auf ihre Unterkunft zu.

Dort fanden sie Amos schon in ihrem Zimmer. Er ruhte sich auf seinem Schlafsack aus, ehe er seinen nächtlichen Streifzug durch das Armenviertel antreten würde. Kaum war die Tür zu, als Martin auch schon sagte: »Ich glaube, sie wissen, daß Arutha in Krondor ist.«

Amos fuhr auf, während Arutha sagte: »Was? Wie…?«

»Ich war heute kurz vor dem Mittagsmahl in einer Kneipe in der Nähe der Kasernen. Es war nicht viel los, jetzt, wo die Armee die Stadt verlassen hat. Ein Mann trat ein, gerade als ich gehen wollte. Es war der Schreiber des städtischen Quartiermeisters, und er platzte fast vor Neuigkeiten, die er unbedingt jemandem erzählen mußte. Mit Hilfe von etwas Wein tat ich ihm den Gefallen, spielte den kleinen Hinterwäldler und zeigte meinen Respekt vor seiner wichtigen Persönlichkeit.

Drei Dinge hat mir dieser Mann erzählt. Lord Dulanic ist aus Krondor in der Nacht verschwunden, in der Guy die Stadt verlassen hat. Es heißt, er hätte sich auf irgendeinen unbekannten Besitz im Norden zurückgezogen, jetzt, da Guy Vizekönig ist. Aber der Schreiber hielt das für unwahrscheinlich. Das zweite war die Nachricht von Lord Barrys Tod.«

Aruthas Gesicht verriet sein Entsetzen. »Der Admiral des Prinzen ist tot?«

»Barry muß unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sein. Eine offizielle Bekanntgabe ist allerdings nicht beabsichtigt. Irgendein Lord aus dem Osten, Jessup, hat jetzt das Kommando über die Flotte von Krondor.«

»Jessup ist Guys Mann«, erklärte Arutha. »Er hat das Flottengeschwader von Bas-Tyra in der königlichen Flotte befehligt.«

»Und schließlich machte der Mann noch ein großes Getue darum, daß jemand gesucht würde, den er als ›einen königlichen Verwandten des Vizekönigs‹ bezeichnete.«

Amos fluchte. »Ich weiß nicht, wie, aber irgend jemand hat Euch erkannt. Jetzt, da Erland und seine Familie im Palast gefangengehalten werden, ist es kaum wahrscheinlich, daß noch irgendein königlicher Verwandter in den letzten paar Tagen durch Krondor gestreift ist. Außer Ihr habt noch einige, von denen Ihr uns nichts erzählt habt.«

Arutha ignorierte Amos’ schwachen Versuch, Humor zu zeigen. In der kurzen Zeit, die Martin benötigt hatte, um seine Geschichte zu erzählen, waren all seine Pläne zur Hilfe Crydees zunichte gemacht worden. Die Stadt war fest in den Händen von Menschen, die entweder Guy treu ergeben waren oder denen es gleichgültig war, wer hier im Namen des Königs herrschte. Es gab hier niemanden, an den er sich um Hilfe hätte wenden können, und es war bitter für ihn, bei seinem Bemühen so zu versagen. Leise sagte er: »Dann gibt es für uns nichts anderes, als nach Crydee zurückzukehren, so bald wie möglich.«

»Das könnte schwierig werden«, meinte Amos. »Es passieren noch mehr merkwürdige Dinge.

Ich war an Orten, an denen ein Mann für gewöhnlich Kontakt mit Männern aufnehmen kann, die ein, zwei unehrenhafte Aufgaben für ihn erledigen. Aber wo ich meine Erkundigungen auch anstellte – ganz diskret, dessen seid versichert! –, ich stieß überall nur auf eine Mauer des Schweigens. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich schwören, der Aufrechte Mann hat sein Geschäft beendet, und alle Spötter dienen jetzt in Guys Armee. Ich habe noch nie so viele taube Barmänner, unwissende Dirnen, uninformierte Bettler und stumme Spieler gesehen. Man muß kein Genie sein, um zu erkennen, daß eine Parole ausgegeben wurde. Niemand darf mit Fremden sprechen, ganz gleich, wie verlockend die Angebote auch sein mögen, die da gemacht werden. Also können wir beim Fliehen aus der Stadt keine Hilfe erwarten. Und wenn Guys Spione wissen, daß Ihr in Krondor seid, dann wird weder die Blockade aufgehoben noch werden die Tore geöffnet, ehe Ihr gefunden seid, ganz gleich, wie laut die Händler schreien.«

»Wir sitzen ganz schön in der Falle«, bemerkte Martin.

Amos schüttelte langsam den Kopf. »Eine verfahrene Situation, und es ist bestimmt nicht Eure Schuld, Arutha.« Er seufzte. »Trotzdem: nur keine Panik. Freund Martin hat vielleicht die letzte Bemerkung des Schreibers falsch verstanden, oder der Mann hat nur geredet, weil er seine Stimme so gern hört. Wir müssen vorsichtig sein, aber wir können und dürfen nun nicht scheuen und davonlaufen. Wenn Ihr jetzt völlig von der Bildfläche verschwindet, würde das vielleicht jemandem auffallen. Am besten bleibt Ihr in der Nähe des Gasthofs und verhaltet Euch weiterhin so wie bisher – jedenfalls vorläufig. Ich versuche eine Person zu finden, die über Mittel und Wege verfügt, uns aus der Stadt zu bringen – Schmuggler, vielleicht sogar die Spötter.«

Arutha erhob sich von seiner Schlafstatt. »Ich habe zwar keinen Appetit, aber wir haben jeden Abend zusammen im Schankraum gegessen. Also gehen wir am besten bald nach unten.«

Amos winkte ihn zurück auf sein Bett. »Bleibt noch ein bißchen hier. Ich gehe inzwischen zum Hafen hinunter und statte dem Schiff einen Besuch ab. Wenn Martins Schreiber nicht bloß Wind gemacht hat, dann werden sie gewiß auch die Schiffe im Hafen durchsuchen. Besser, ich warne Vasco und die Mannschaft, sich bereit zu halten und nötigenfalls über Bord zu gehen. Außerdem müssen wir ein Versteck für Eure Truhe finden. Es dauert noch mindestens eine Woche, bis das Schiff zum Überholen aus dem Wasser gehievt wird. Also müssen wir vorsichtig handeln. Ich habe schon früher mit Blockaden zu tun gehabt. Ich würde sie nicht gern mit einem so windigen Schiff wie der Morgenwind brechen, aber wenn es sein muß…« An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Es ist ein schwerer Sturm, Jungs, aber wir sind schon mit einem schlimmeren fertig geworden.«

 

Arutha und Martin saßen schweigend da, als Amos die Schankstube betrat. Der Seemann zog sich einen Stuhl zurecht und rief nach Bier und einem Mahl. Nachdem er beides erhalten hatte, sagte er: »Alles in Ordnung. Eure Truhe ist in Sicherheit, solange das Schiff vor Anker liegt.«

»Wo hast du sie versteckt?«

»Sie ist sauber in Öltuch eingewickelt und sicher am Anker befestigt.«

Arutha sah ihn beeindruckt an. »Unter Wasser?«

»Ihr könnt neue Kleider kaufen, und Gold und Edelsteine rosten nicht.«

Martin fragte: »Wie geht es den Männern?«

»Sie murren, weil sie noch eine Woche im Hafen liegen und immer noch an Bord sind, aber es sind gute Kerle.«

Die Tür zum Gasthof ging auf, und sechs Männer traten ein. Fünf zogen sich Stühle in der Nähe der Tür heran, während einer den Raum musterte. Amos zischelte: »Seht ihr diesen rattengesichtigen Knaben, der sich gerade hingesetzt hat? Das ist einer von den Kerlen, die in der letzten Woche das Dock beobachtet haben. Sieht aus, als wäre man mir gefolgt.«

Der Mann, der stehengeblieben war, hatte Amos entdeckt und näherte sich ihrem Tisch. Er war einfach aussehend und hatte einen offenen Gesichtsausdruck. Sein rötlichblondes Haar flatterte um seinen Kopf, und er trug die Kleidung eines einfachen Matrosen. Mit einer Hand umklammerte er eine Wollmütze, als er sie anlächelte.

Amos nickte, und der Mann sagte: »Wenn Ihr der Kapitän der Morgenwind seid, hätte ich mit Euch zu reden.«

Amos zog eine Braue hoch, er sagte aber nichts. Er zeigte auf den freien Stuhl, und der Mann setzte sich. »Mein Name is’ Radburn. Ich such’ ‘ne Stellung, Käpt’n.«

 

Amos sah sich um und bemerkte, daß Radburns Kameraden so taten, als bemerkten sie nicht, was am Tisch vorging. »Warum mein Schiff?«

»Ich hab’s schon auf anderen versucht. Sind alle voll. Da dachte ich, ich frag’ Euch einfach mal.«

»Wer war dein letzter Kapitän ? Und warum bist du aus seinem Dienst ausgetreten?«

Radburn lachte. Es war ein freundliches Geräusch. »Nun, zuletzt bin ich mit ein paar Fährleuten gefahren. Haben Ladung vom Schiff an Land gebracht. Hab’ das ein Jahr lang gemacht.« Er verstummte, als sich die Bedienung näherte. Amos bestellte eine weitere Runde Bier. Als auch eines vor Radburn gestellt wurde, sagte der: »Danke, Käpt’n.« Er nahm einen tiefen Zug und wischte sich den Mund mit dem Handrücken. »Ehe ich gestrandet bin, hab’ ich unter Käpt’n John Avery gedient, an Bord der Bantamina

»Ich kenne John Avery. Ich habe ihn aber nicht mehr gesehen, seit ich das letzte Mal in Durbin war, vor fünf oder sechs Jahren.«

»Nun ja, ich war ‘n bißchen betrunken, und der Käpt’n hat mir erklärt, er wollte niemanden an Bord seines Schiffes haben, der trinkt. Ich trinke auch nicht mehr als andere, Käpt’n. Ihr kennt ja sicher Meister Averys Ruf, daß er ein enthaltsamer Anhänger von Sang dem Weißen sei.«

Amos schaute Martin und Arutha an, sagte aber nichts. Radburn fragte: »Sind das Eure Offiziere, Käpt’n?«

»Nein, Geschäftspartner.« Als es klar war, daß Amos nicht mehr sagen würde, ließ Radburn dies Thema fallen. Schließlich meinte Amos: »Wir sind seit etwas über einer Woche in der Stadt, und ich war mit persönlichen Angelegenheiten beschäftigt. Was gibt es Neues?«

»Seit der Vizekönig gekommen ist, ist es hier in Krondor nicht mehr wie früher«, lautete Radburns ruhige Antwort. »Ein ehrlicher Mann ist auf der Straße nicht mehr sicher, weil die Sklavenjäger aus Durbin umherstreifen, und dann noch die Preßpatrouillen. Die sind fast genauso schlimm. Darum brauche ich ja ein Schiff, Käpt’n.«

»Preßpatrouillen!« Amos explodierte. »Seit dreißig Jahren hat es in einer Stadt des Königreiches keine Preßpatrouillen mehr gegeben.«

»Das war bisher so, aber jetzt haben sich die Dinge wieder geändert. Wenn man sich ‘n bißchen betrinkt und keine sichere Koje findet – schon ist die Preßpatrouille da und schleppt einen ab. Das is’ einfach nich’ in Ordnung, Herr. Bloß, weil ein Mann gerade kein Schiff hat, hat noch niemand das Recht, ihn mit Lord Jessups Flotte für sieben Jahre loszuschicken! Sieben Jahre, in denen man Piraten jagen und gegen Kriegsgaleeren aus Quegan kämpfen muß!«

»Gut, Radburn, ich kann immer einen guten Mann gebrauchen, der unter John Avery gefahren ist. Ich will dir was sagen. Ich muß heute abend noch einmal zum Schiff gehen, und ich habe ein paar Dinge in meinem Zimmer, die ich dorthinbringen will. Komm mit und trage sie für mich.«

Amos erhob sich. Er ließ dem Mann gar keine Zeit zum Widerspruch, sondern packte ihn am Arm und schob ihn auf die Treppe zu. Arutha warf einen Blick auf die Gruppe, die mit Radburn eingetreten war. Sie schienen im Augenblick wirklich nicht zu bemerken, was auf der anderen Seite des überfüllten Raumes vor sich ging. Er führte Radburn die Treppe hinauf, und Arutha und Martin folgten ihm.

Amos schob Radburn den Flur entlang, und als dieser kaum durch die Tür zu ihrem Zimmer getreten war, da drehte er ihn herum und landete einen kräftigen Schlag in dessen Magen. Der Mann klappte zusammen. Ein brutales Knie schoß ihm ms Gesicht, und betäubt lag Radburn am Boden.

»Was soll das alles?« wollte Arutha wissen.

»Der Mann ist ein Lügner. John Avery darf sich in Kesh nicht sehen lassen. Er hat die Kapitäne aus Durbin vor zwanzig Jahren an die Flotte Quegans verraten. Aber Radburn hat nicht mit der Wimper gezuckt, als ich sagte, ich hätte Avery vor sechs Jahren in Durbin getroffen. Außerdem zeigt er zu deutlich, daß er keinen Respekt vor dem Vizekönig hat. Seine Geschichte stinkt wie ein zwei Wochen alter Fisch. Wenn wir mit ihm durch die Tür gehen, dauert es keine zwei Minuten, und ein Dutzend Männer oder mehr stürzt sich auf uns.«

»Was sollen wir also tun?« fragte Arutha.

»Wir verschwinden. Seine Freunde werden gleich hier oben sein.« Er zeigte aufs Fenster. Martin stellte sich neben die Tür, während Arutha ein Stück schmutzigen Stoff beiseite fetzte und die Holzläden öffnete. »Jetzt wißt Ihr, weshalb ich dieses Zimmer gewählt habe«, bemerkte Amos.

Kaum einen Meter unterhalb des Fenstersimses befand sich das Dach des Stalles.

Arutha kletterte hinaus, und Amos und Martin folgten ihm. Vorsichtig eilten sie das steil abfallende Dach entlang, bis sie an den Rand kamen. Arutha sprang hinunter, und einen Augenblick später kam Martin ihm nach. Beide landeten auf leisen Sohlen. Amos setzte etwas schwerfälliger auf. Es wurde aber nur sein Stolz verletzt, und auch der nur leicht.

Sie hörten ein Husten und Fluchen. Als sie aufschauten, sahen sie ein blutiges Gesicht am Fenster. Radburn rief: »Sie sind im Hof!«, als die drei Flüchtenden bereits aufs Tor zu rannten.

Amos fluchte. »Ich hätte ihm die Kehle durchschneiden sollen.«

Sie liefen durch das Tor. Als sie auf die Straße kamen, ergriff Amos Aruthas Arm. Eine Gruppe von Männern lief die Straße entlang auf sie zu. Arutha und seine Kameraden flohen in entgegengesetzter Richtung und bogen in eine dunkle Gasse ein.

Sie hasteten zwischen zwei Gebäuden hindurch, überquerten eine belebte Straße, stießen dabei mehrere Schubkarren um und verschwanden dann in einer weiteren Gasse. Die Verwünschungen der Karrenbesitzer folgten ihnen. Sie liefen weiter. Der Lärm ihrer Verfolger war nie sehr weit hinter ihnen. Sie irrten durch ein verworrenes Netz von Gassen und Seitenstraßen in einem verdunkelten Krondor.

Als sie um eine Ecke bogen, befanden sie sich in einer langen, schmalen Straße, kaum mehr als eine Gasse, die auf beiden Seiten von hohen Gebäuden flankiert wurde. Amos bog zuerst um die Ecke. Er bedeutete Arutha und Martin stehenzubleiben. Mit gedämpfter Stimme sagte er: »Martin, lauf zu der Ecke dort und spähe herum. Arutha, Ihr geht in die andere Richtung.« Er zeigte auf einen Fleck, an dem schwaches Licht zu sehen war. »Ich halte hier Wache. Wenn wir getrennt werden, versucht, zum Schiff zu gelangen.«

Arutha und Martin liefen die Straße in entgegengesetzten Richtungen entlang, während Amos zurückblieb und Wache hielt. Plötzlich erschollen Rufe in der schmalen Straße, und Arutha schaute sich um. Am anderen Ende konnte er schwach die Gestalt Martins erkennen, der mit mehreren Männern kämpfte. Er wollte schon zurücklaufen, aber Amos brüllte: »Lauft weiter! Ich werde ihm helfen. Verschwindet von hier!«

Arutha zögerte, lief dann aber weiter auf das ferne Licht zu. Er keuchte, als er die Ecke erreichte, und kam dann schlitternd zum Stehen. Plötzlich befand er sich auf einer strahlend hell erleuchteten, dicht begangenen und befahrenen Allee. Aus Karren, die mit Laternen versehen waren, verkauften Straßenhändler ihre Waren an vorbeischlendernde Bürger. Das Wetter war mild – es schien in diesem Winter nicht schneien zu wollen –, und viele Menschen machten noch einen Spaziergang nach dem Abendessen. Nach Aussehen und Zustand der Gebäude und auch nach der Kleidung der Leute, die unterwegs waren, schloß Arutha, daß er sich in einem wohlhabenderen Bereich der Stadt befand.

Arutha trat auf die Straße und ging gemächlich weiter. Er drehte sich um und prüfte mit viel Getue die Ware eines Kleiderverkäufers, als mehrere Männer aus der Straße auftauchten, die er soeben verlassen hatte. Er zupfte einen roten, grellen Umhang aus dem Stapel und warf ihn sich um die Schultern. Dann zog er die Kapuze über den Kopf. »He, was glaubt Ihr eigentlich, wer Ihr seid?

Was macht Ihr da?« erkundigte sich ein alter Mann in rauhem Flüsterton.

Hochmütig und mit nasaler Stimme gab Arutha zurück: »Mein guter Mann, Ihr erwartet doch nicht, daß ich ein Kleidungsstück kaufe, ohne es vorher probiert zu haben?«

Der Mann wurde umgehend übertrieben freundlich, als er sich unerwartet einem Käufer gegenübersah. »Aber nein, gewiß nicht, mein Herr.« Er betrachtete Arutha in dem schlecht geschneiderten Umhang und sagte: »Er ist perfekt, mein Herr. Sitzt prächtig, und die Farbe steht Euch gut, wenn ich das sagen darf.«

Arutha riskierte einen Blick auf seine Verfolger. Der Mann namens Radburn stand an der Ecke.

Seine Nase war geschwollen, sein Gesicht blutverkrustet, aber er war immer noch in der Lage, seinen Männern Anweisungen zu erteilen. Arutha zupfte an dem Umhang, einem riesigen Ding, das fast bis zum Boden hing. Er spielte den Zimperlichen. »Glaubt Ihr wirklich? Ich möchte nicht gern bei Hofe erscheinen und wie ein Vagabund aussehen.«

»Oh, bei Hofe, mein Herr? Glaubt mir, das ist genau das Richtige dafür. Der Umhang verleiht Eurer Erscheinung eine gewisse Eleganz.«

»Was soll er kosten?« Arutha sah Radburns Männer durch die geschäftige Menge gehen. Einige schauten im Vorübergehen in jede Kneipe und jedes Geschäft, und andere eilten in andere Richtungen davon, zu neuen Zielen. Noch immer kamen neue Männer aus der kleineren Straße hinzu, und Radburn sprach hastig auf sie ein. Er stellte einige auf, die die Menschen auf der Straße beobachten sollten. Dann drehte er sich um und führte den Rest der Männer den Weg zurück, den sie gekommen waren.

»Das ist beste Stoffqualität, mein Herr«, erklärte der Verkäufer. »Ist unter großen Kosten von der Küste des Meeres des Königreiches hierhergebracht worden. Ich muß mindestens zwanzig Goldmünzen dafür bekommen.«

Arutha erbleichte. Einen Augenblick war er so wütend über diesen unverschämten Preis, daß er sich fast vergessen hätte. »Zwanzig!« Er senkte die Summe, als ein vorbeikommendes Mitglied von Radburns Truppe ihm einen kurzen Blick zuwarf. »Mein guter Mann«, sagte er, nachdem er sich wieder gefaßt hatte und seine Rolle weiterspielen konnte, »ich wollte einen Umhang kaufen und nicht die Rente für Eure Enkel übernehmen.« Radburns Mann wandte sich ab und verschwand in dem Gedränge der Menge. »Es ist schließlich doch ein ganz einfacher Umhang. Ich würde zwei Goldmünzen für mehr als ausreichend halten.«

Der Mann sah ihn empört an. »Mein Herr, Ihr wollt einen Bettler aus mir machen. Ich könnte mich niemals für eine geringere Summe als achtzehn Goldmünzen von ihm trennen.«

Sie feilschten noch weitere zehn Minuten, und schließlich erhielt Arutha den Umhang für acht Gold- und zwei Silbermünzen. Es war das Doppelte von dem Preis, den er hätte zahlen dürfen, aber die Verfolger hatten sich auf diese Weise nicht um einen Mann gekümmert, der mit einem Straßenhändler feilschte. Ihnen zu entkommen war ihm hundertmal mehr wert.

Arutha hielt die Augen auf, ob er beobachtet wurde, als er die Straße hinabschlenderte. Leider kannte er Krondor kaum und hatte keine Ahnung, wo er sich jetzt, nach der Flucht, befand. Er hielt sich an den geschäftigeren Teil der Straße und blieb in der Nähe größerer Gruppen, immer bemüht, sich darunter zumischen.

Dann sah er einen Mann, der an der Ecke stand. Scheinbar vertrieb er sich nur die Zeit, aber ganz offensichtlich beobachtete er alle, die vorüberkamen. Arutha sah sich um und entdeckte auf der anderen Seite der Straße eine Wirtschaft, über deren Eingang eine strahlendweiße, gemalte Taube prangte. Schnell überquerte er die Straße, wobei er das Gesicht abgewandt hielt und den Mann an der Ecke nicht ansah. Er näherte sich dem Eingang zur Taverne. Als er die Tür erreichte, packte eine Hand nach seinem Umhang. Arutha wirbelte herum, das Schwert schon halb gezogen. Ein Knabe von etwa dreizehn Jahren stand da. Er trug eine einfache, vielfach geflickte Tunika und Männerhosen, die an den Knien abgeschnitten waren. Er hatte dunkles Haar und dunkle Augen, und sein schmutziges Gesicht war zu einem Grinsen verzogen. »Nicht dort hinein, mein Herr«, erklärte er fröhlich.

Arutha schob sein Schwert in die Scheide zurück und verfiel wieder in seine Rolle.

»Verschwinde, Junge. Ich habe keine Zeit für Bettler, auch nicht, wenn sie so klein sind wie du.«

Das Grinsen des Knaben wurde noch breiter. »Wenn Ihr also darauf besteht. Aber da drin sind zwei von ihnen.«

Arutha ließ seinen nasalen Akzent fallen. »Von wem?«

»Von den Männern, die Euch aus der Seitenstraße gejagt haben.«

Arutha schaute sich um. Der Junge schien allein zu sein. Er sah ihm in die Augen und fragte:

»Wovon redest du überhaupt?«

»Ich habe gesehen, wie Ihr Euch verhalten habt. Ganz schön flink auf den Beinen, mein Herr.

Aber die haben die ganze Gegend umstellt. Allein schlüpft Ihr nicht durch ihre Reihen.«

Arutha beugte sich vor. »Wer bist du, mein Junge?«

Er schüttelte sein zerzaustes Haar und antwortete: »Heiße Jimmy. Ich arbeite hier in der Gegend.

Ich kann Euch rausbringen. Gegen Bezahlung natürlich.«

»Und wie kommst du darauf, daß ich hier fort will?«

»Versucht nicht, mich zum Narren zu halten, wie Ihr es mit dem Händler getan habt, mein Herr. Ihr müßt jemanden loswerden, der mich wahrscheinlich gut dafür bezahlen wird, wenn ich ihm zeige, wo Ihr seid. Ich kenne Radburn und seine Männer, denn ich bin schon früher mit ihnen zusammengestoßen. Deshalb stehe ich auf Eurer Seite. Jedenfalls so lange, wie Ihr mir mehr für Eure Freiheit zahlt als er mir für Eure Gefangennahme.«

»Du kennst Radburn?«

Jimmy grinste. »Ich lege zwar keinen Wert auf seine Bekanntschaft, aber wir hatten schon miteinander zu tun.«

Arutha war verblüfft über die kühle Art des Jungen. Er hätte so etwas von den Knaben, die er von daheim kannte, niemals erwartet. Hier stand ein alter Kenner der geheimen Pfade durch die Stadt. Und er lebte gefährlich. »Wieviel?«

»Radburn zahlt mir fünfundzwanzig Goldmünzen, wenn er Euch findet, fünfzig, wenn er besonders scharf auf Eure Haut ist.«

Arutha zog seinen Beutel mit Münzen hervor und reichte ihn dem Knaben. »Da drin sind mehr als hundert Goldmünzen, mein Junge. Bring mich hier raus und zum Hafen, und ich verdopple die Summe noch.«

Die Augen des Knaben zuckten einen Moment, aber sein Grinsen wich nicht aus seinem Gesicht.

»Ihr müßt jemanden mit einer Menge Einfluß beleidigt haben. Kommt mit.«

Er schoß so schnell davon, daß Arutha ihn in der dichten Menge fast verloren hätte. Mit einer Leichtigkeit, die seine Erfahrung verriet, bewegte sich der Junge durch das Gedränge, während Arutha sich schwertat, nicht ständig die Leute auf der Straße anzurempeln.

Jimmy führte ihn ein paar Häuserblöcke weiter in eine Gasse. Als sie ein kurzes Stück die Gasse entlanggegangen waren, blieb Jimmy stehen. »Besser, Ihr werft den Umhang jetzt fort. Rot ist nicht gerade meine Lieblingsfarbe, wenn es darum geht, unauffällig zu bleiben.« Als Arutha den Mantel in ein leeres Faß gestopft hatte, fuhr Jimmy fort: »Im Hafen werdet Ihr augenblicklich entdeckt werden. Wenn jemand über uns stolpert, dann seid Ihr auf Euch allein gestellt. Aber wegen der anderen hundert Goldtaler bin ich bereit, Euch den ganzen Weg zu führen.«

Sie gingen bis ans Ende der Gasse. Sie wurde anscheinend nur wenig benutzt, denn sie war dicht mit Abfall und Gerumpel überhäuft. Da waren gebrochene Möbel, Kisten und andere Gegenstände, die an den Mauern lehnten, die sie umgaben. Jimmy schob eine Kiste beiseite. Dahinter kam ein Loch zum Vorschein. »Dadurch sollten wir durch die Maschen von Radburns Netz schlüpfen können. Das hoffe ich wenigstens«, bemerkte Jimmy.

Arutha mußte sich ducken, um dem Jungen durch den kleinen Gang folgen zu können. Dem Gestank nach zu urteilen, war erst kürzlich etwas m diesen Tunnel gekrochen, um hier zu verenden.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, erklärte Jimmy: »Alle paar Tage werfen wir eine tote Katze hier herein. Das hält die anderen davon ab, ihre Nase zu weit reinzustecken.«

»Wir?« fragte Arutha.

Jimmy ignorierte die Frage und ging weiter. Gleich darauf verließen sie den Tunnel und standen in einer anderen Gasse, die ebenfalls voll Abfall war. An deren Beginn bedeutete Jimmy ihm, stehenzubleiben und zu warten. Er eilte die dunkle Straße entlang und kehrte dann laufend zurück.

»Radburns Männer. Sie müssen gewußt haben, daß Ihr zum Hafen wollt.«

»Können wir an ihnen vorbeischlüpfen?«

»Unmöglich. Die sind in Massen da. Wie Läuse auf einem Bettler.« Der Junge entfernte sich in entgegengesetzter Richtung die Straße hinunter, die sie von der Gasse aus betreten hatten. Arutha folgte ihm, als Jimmy in eine kleinere Nebenstraße einbog. Er hoffte, daß er keinen Fehler gemacht hatte, als er dem Straßenjungen vertraute. Nach ein paar Minuten blieb Jimmy stehen. »Ich weiß einen Ort, da könnt Ihr Euch eine Weile verstecken. So lange, bis ich ein paar andere gefunden habe, die Euch helfen können, Euer Schiff zu erreichen. Aber das kostet Euch mehr als einhundert Goldmünzen.«

»Bringt mich vor Sonnenaufgang zu meinem Schiff, und ich gebe euch alles, was ihr wollt.«

Jimmy grinste. »Ich will eine Menge.« Er musterte Arutha noch einen Augenblick länger, nickte dann kurz mit dem Kopf und ging wieder voraus. Arutha folgte ihm, und sie begaben sich tiefer in die Stadt hinein. Der Lärm der Leute auf den Straßen ließ nach, und er vermutete, daß sie sich einem Viertel näherten, in dem nachts nicht mehr so viel los war. Die Häuser um sie her verrieten ihm, daß sie sich in einen anderen, armen Teil der Stadt begaben. Soweit er es sagen konnte, waren sie jedoch nicht mehr nah am Hafen.

Nach einigen scharfen Wendungen und nachdem sie ein paar dunkle, schmale Gassen durchquert hatten, wußte Arutha überhaupt nicht mehr, wo sie sich befanden. Plötzlich drehte sich Jimmy um.

»Da sind wir.« Er zog eine Tür in einer ansonsten kahlen Wand auf und trat hindurch. Arutha stieg hinter ihm eine lange Treppe hinauf.

Am Ende der Treppe führte Jimmy ihn einen langen Korridor entlang und zu einer Tür. Der Junge öffnete sie und bedeutete Arutha, einzutreten. Dieser machte einen einzigen Schritt vorwärts.

Dann blieb er stehen, denn drei Schwertspitzen zielten auf seinen Magen.