Wechselbalg

Der Elbenprinz saß ganz ruhig.

Calin wartete auf seine Mutter. Vieles ging ihm durch den Kopf, und heute abend mußte er mit ihr sprechen. In letzter Zeit hatten sie nur selten Gelegenheit dazu gehabt. Je länger der Krieg andauerte, je wichtiger er wurde, desto weniger Zeit hatte er gefunden, sich in Elvandar einzufinden. Als Kriegsführer der Elben war er nahezu jeden Tag auf dem Feld gewesen, seit damals, als die Außerweltlichen versucht hatten, den Fluß zu überqueren und sie anzugreifen.

Seit der Belagerung von Schloß Crydee vor drei Jahren waren die Außerweltlichen jedes Frühjahr gekommen. Wie Ameisen waren sie über den Fluß geschwärmt. Auf jeden Elb kamen zwölf von ihnen. Jahr für Jahr hatte die Magie der Elben sie geschlagen. Hunderte von ihnen betraten die Schlafschneisen und fielen in endlosen Schlaf. Der Boden zehrte ihre Körper auf, und damit nährten sich die magischen Bäume. Andere folgten dem Ruf der Dryaden, ihren Weisen, bis sie in ihrem Gefängnis für die elementaren Wesen an Durst starben. Dabei befanden sie sich noch immer m der Umarmung ihrer unmenschlichen Geliebten und nährten die Dryaden mit ihrem Leben. Wieder andere starben durch die Bewohner des Waldes, durch gigantische Wölfe, Bären und Löwen, die dem Ruf der Kriegshörner der Elben folgten. Sogar die Zweige und Wurzeln der Bäume des Elbenforstes wehrten sich gegen die Eindringlinge, boten ihnen Widerstand, bis sie sich umdrehten und flohen.

Aber in diesem Jahr waren zum erstenmal die Schwarzen Roben gekommen. Viel von der Magie der Elben war abgewehrt worden. Die Elben hatten standgehalten, aber Calin fragte sich, wie es ihnen ergehen mochte, wenn die Außerweltlichen wiederkehrten.

In diesem Jahr hatten wieder einmal die Zwerge von den Grauen Türmen den Elben geholfen.

Nachdem die Moredhel das Grüne Herz verlassen hatten, waren die Zwerge schnell von ihrem Winterquartier in den Bergen herbeigeeilt und hatten bei der Verteidigung Elvandars geholfen. Zum drittenmal seit der Belagerung von Crydee war es den Zwergen zu verdanken, daß man die Außerweltlichen jenseits des Flusses halten konnte. Und wieder war mit ihnen der Mann gekommen, den sie Tomas nannten.

Calin schaute auf und erhob sich, als seine Mutter sich näherte. Königin Aglaranna nahm auf ihrem Thron Platz und sagte: »Mein Sohn, es ist schön, dich wiederzusehen.«

»Meine Mutter, ich freue mich auch, dich zu treffen.« Er ließ sich zu ihren Füßen nieder und wartete darauf, daß sie die Worte aussprach, deren er bedurfte. Seine Mutter blieb geduldig sitzen.

Sie spürte seine düstere Stimmung.

Endlich sprach er. »Ich mache mir Sorgen um Tomas.«

»Ich ebenfalls«, sagte die Königin nachdenklich.

»Entfernst du dich deshalb vom Hofe, wenn er kommt?«

»Deshalb… und aus anderen Gründen.«

»Wie kann es sein, daß die Magie der Alten nach all den Jahren noch immer so stark ist?«

Eine Stimme ertönte hinter dem Thron. »Also das ist es?«

Überrascht drehten sie sich um und sahen Dolgan, der aus der Dämmerung trat und seine Pfeife anzündete. Aglaranna sah erbost aus. »Sind die Zwerge der Grauen Türme unter die Lauscher gegangen, Dolgan?«

Der Zwergenhäuptling ignorierte den bissigen Ton dieser Frage. »Für gewöhnlich nicht, Königin. Aber ich habe einen Spaziergang gemacht. Diese kleinen Räume in den Bäumen füllen sich einfach zu schnell mit Rauch. Und da habe ich es zufällig mit angehört. Ich wollte Euch nicht unterbrechen.«

Calin bemerkte: »Ihr könnt Euch sehr leise und geschickt bewegen, wenn Ihr das wollt, Freund Dolgan.«

Dolgan zuckte mit den Schultern und blies eine Rauchwolke aus. »Die Elben sind nicht die einzigen, die wissen, wie man sich leise bewegt. Aber wir haben von dem Knaben gesprochen.

Wenn es stimmt, was Ihr sagt, dann ist das wirklich eine ernste Angelegenheit. Hätte ich das gewußt, hätte ich nie zugelassen, daß er das Geschenk annimmt.«

Die Königin lächelte ihm zu. »Es ist nicht Eure Schuld, Dolgan. Ihr konntet das nicht wissen. Ich habe das befürchtet, seit Tomas im Mantel der Ehemaligen bei uns erschien. Zuerst dachte ich, die Magie der Valheru würde für ihn, für einen Sterblichen, nicht arbeiten. Aber jetzt kann ich sehen, daß er von Jahr zu Jahr weniger ein Sterblicher ist.

Eine unglückliche Verkettung von Umständen hat dies ermöglicht. Die Ersinner unserer Zaubersprüche, unsere Bannweber, hätten diesen Schatz schon vor Jahren entdeckt, wäre da nicht die Magie des Drachen gewesen. Wir haben Jahrhunderte damit verbracht, auszuziehen und solche Relikte zu zerstören, damit sie nicht von den Moredhel benutzt werden konnten. Jetzt ist es zu spät, denn Tomas würde es niemals dulden, daß wir seine Rüstung zerstören.«

Dolgan paffte seine Pfeife. »In jedem Winter hockt er düster in den langen Hallen. Er wartet auf das Kommen des Frühlings, und damit auf die Schlacht. Für ihn gibt es kaum noch etwas anderes.

Er sitzt da und trinkt, oder er steht an der Tür und starrt in den Schnee hinaus. Dort sieht er, was kein anderer sehen kann. Zu solchen Zeiten hält er die Rüstung in seinem Zimmer verschlossen, und wenn wir ins Feld ziehen, legt er sie niemals ab, nicht einmal zum Schlafen. Er hat sich verändert. Aber das ist keine natürliche Verwandlung. Nein, er würde die Rüstung niemals freiwillig hergeben.«

»Wir könnten versuchen, ihn zu zwingen«, schlug die Königin vor, »aber das könnte sich als unklug erweisen. Etwas ist dabei, in ihm Gestalt anzunehmen, etwas, das vielleicht mein Volk retten wird, und für mein Volk würde ich vieles riskieren.«

»Ich verstehe Euch nicht, meine Dame«, sagte Dolgan.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das selbst verstehe, Dolgan, aber ich bin die Königin eines Volkes, das sich im Krieg befindet. Ein schrecklicher Feind wütet in unserem Land und wird von Jahr zu Jahr kühner. Die außerweltliche Magie ist stark, vielleicht stärker als alles, seit die Alten verschwunden sind. Es könnte sein, daß die Magie im Geschenk des Drachen mein Volk rettet.«

Dolgan schüttelte den Kopf. »Es erscheint mir merkwürdig, daß sich noch immer eine solche Macht und Kraft in einer Metall-Rüstung befinden soll.«

Aglaranna lächelte dem Zwerg zu. »Tut es das? Was ist dann mit dem Hammer des Tholin, den du bei dir trägst? Birgt nicht auch er Mächte aus längst vergangenen Zeiten in sich? Kräfte, die dich wieder einmal als Erbe des Thrones der Zwerge im Westen kennzeichnen?«

Dolgan warf der Königin einen scharfen Blick zu. »Ihr wißt viel über uns, meine Dame. Ich darf nie vergessen, daß Euer mädchenhaftes Äußeres nur wie eine Maske über dem Wissen von Jahrzehnten liegt.« Er winkte ab, als sie etwas dazu sagen wollte, und fuhr fort: »Seit vielen Jahren sind wir im Westen ohne Könige ausgekommen, seit Tholin im Mac Mordain Cadal verschollen ist.

Dabei geht es uns nicht schlechter als denen, die dem alten König Halfdan in Dorgin Untertan sind.

Sollte mein Volk jedoch wünschen, daß wieder ein König eingesetzt wird, dann werden wir eine Volksversammlung einberufen. Doch auch das werden wir nicht tun, ehe dieser Krieg beendet ist.

So, und was machen wir jetzt mit dem Knaben?«

Aglaranna schien besorgt. »Er wird, was er wird. Wir können diese Umwandlung unterstützen.

Unsere Bannweber arbeiten schon darauf hin. Sollte die volle Kraft der Valheru ungezügelt in Tomas ausbrechen, dann wäre er in der Lage, unsere beschützende Magie beiseite zu schieben, so, wie Ihr einen lästigen Zweig beiseite drücken würdet, der Euch den Weg versperrt. Aber er ist nicht als einer der Alten geboren. Seine Natur ist den Valheru ebenso fremd, wie die ihre es allen anderen war. Mit der Hilfe unserer Bannweber könnte seine menschliche Fähigkeit, zu lieben, Mitleid zu empfinden, zu verstehen, die ungezügelte Macht der Valheru bremsen. In diesem Fall könnte er sich… als Segen für uns alle erweisen.« Dolgan war überzeugt, daß die Königin etwas anderes hatte sagen wollen. Er schwieg aber, als sie fortfuhr: »Sollte diese Macht der Valheru jedoch mit der menschlichen Fähigkeit zu Haß, Gewalt und Grausamkeit verbunden werden, dann wäre er etwas, das wir zu fürchten hätten. Doch wir müssen abwarten. Nur dann können wir sehen, was aus ihm wird.«

»Die Drachenherrscher…« murmelte Dolgan. »In unseren Sagen werden sie erwähnt, aber nur vereinzelt, in Bruchstücken. Ich würde gern mehr über sie erfahren, wenn Ihr es gestattet.«

Der Blick der Königin schweifte in die Ferne. »Unsere Geschichten, die ältesten der heutigen Welt, berichten von den Valheru, Dolgan. Es gibt vieles, über das zu reden mir verboten ist, mächtige Namen, die ich nicht anrufen darf, Dinge so schrecklich, daß ich mich nicht daran erinnern mag. Aber so viel kann ich dir doch erzählen: Lange schon, ehe der Mensch oder der Zwerg auf diese Erde kam, herrschten hier die Valheru. Sie waren Teil dieser Welt und aus demselben Material geformt, aus dem auch sie geschaffen wurde. Ihre Macht war der der Götter gleich, ihr Ziel unergründlich. Ihr Wesen war chaotisch und nicht vorhersehbar. Sie waren mächtiger als alle anderen. Auf den Rücken ihrer großen Drachen flogen sie dahin. Kein Ort in diesem Universum war für sie unerreichbar. Sie begaben sich auch zu anderen Welten und brachten mit, was ihnen dort gefiel: Schätze und Wissen, das sie anderen Wesen genommen hauen. Sie waren keinem anderen Gesetz als ihrem eigenen Willen und ihren eigenen Launen unterworfen. Sie kämpften ebenso häufig miteinander, wie sie sich ruhig verhielten, und nur der Tod konnte Konflikte zwischen ihnen lösen. Diese Welt hier war ihr Reich. Und wir waren ihr Volk, ihre Untertanen.

Damals gehörten wir und die Moredhel einer Rasse an, und die Valheru züchteten uns, wie Ihr das mit dem Vieh tun würdet. Einige aus beiden Rassen wurden auserwählt… als persönliche

›Lieblinge‹, oder zur Zucht, weil sie besonders schön waren… oder andere Eigenschaften aufwiesen.

Andere wurden aufgezogen, um Wald und Felder zu hegen und zu bearbeiten. Diejenigen, die wild lebten, wurden die Vorfahren der Elben, und diejenigen, die bei den Valheru blieben, die der Moredhel.

Doch dann kam eine Zeit der Veränderungen. Unsere Herren hörten auf, sich gegenseitig zu bekämpfen, und sie verbündeten sich miteinander. Wir wissen nicht mehr, warum sie das taten.

Vielleicht ist es unter den Moredhel noch bekannt. Vielleicht haben wir ihre Gründe damals gekannt. Aber es war die Zeit der Chaotischen Kriege, und vieles ist verlorengegangen. Nur dies wissen wir noch: Allen Dienern der Valheru wurde die Freiheit geschenkt, und die Alten wurden nie wieder gesehen, weder von den Elben noch von den Moredhel. Als die Chaotischen Kriege wüteten, entstanden große Risse in Zeit und Raum. Durch diese gelangten Trolle, Menschen und Zwerge auf diese unsere Welt. Nur einige wenige aus unserem Volk und den Moredhel überlebten.

Aber die bauten unsere Heime wieder auf. Die Moredhel sehnten sich danach, die Macht ihrer verlorenen Herren zu erben. Sie wollten nicht, wie die Elben, ihre eigene Bestimmung finden. So setzten sie all ihre List ein, um Zeichen der Valheru zu finden, und schlugen den Düsteren Pfad ein.

Das ist der Grund, warum wir – die wir doch einst Brüder waren – heute so verschieden voneinander sind.

Der alte Zauber ist immer noch mächtig. Was Mut und Kraft angeht, kann sich Tomas mit jedem messen. Er hat die Magie unwissentlich angenommen, und vielleicht ist das der große Unterschied.

Der alte Zauber hat aus den Moredhel die Bruderschaft des Finsteren Pfades gemacht, weil sie aus einer dunklen Sehnsucht heraus die Macht gesucht haben. Tomas war ein Knabe mit gutem und edlem Herzen. In seiner Seele gab es nichts Böses. Vielleicht wird es ihm gelingen, die dunkle Seite des Zaubers zu bannen.«

Dolgan kratzte sich am Kopf. »Das ist ein großes Risiko, nach allem, was Ihr sagt. Ich habe mir Sorgen um den Knaben gemacht und muß zugeben, daß ich nicht daran gedacht habe, den Zusammenhang im großen zu sehen. Ihr wißt besser Bescheid als ich, aber ich hoffe dennoch, daß wir es nicht eines Tages bereuen werden, ihm die Rüstung gelassen zu haben.«

Die Königin erhob sich von ihrem Thron und trat vor. »Auch ich möchte nicht, daß es ein Bedauern geben wird, Dolgan. Hier in Elvandar wird die alte Magie gemildert, und Tomas ist fröhlicher. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, daß wir das Richtige tun, indem wir die Verwandlung zügeln, aber ihr nicht entgegenwirken.«

Dolgan machte eine höfliche Verbeugung. »Ich unterwerfe mich Eurer Weisheit, meine Dame.

Und ich bete darum, daß Ihr recht habt.«

Die Königin wünschte ihnen eine gute Nacht und ging. Calin sagte: »Auch ich hoffe, daß meine Mutter-Königin aus Weisheit spricht, nicht aus einem anderen Gefühl heraus.«

»Ich verstehe Euch nicht, Elbenprinz.«

Calin blickte auf die untersetzte Gestalt hinab. »Versucht nicht, mich zum Narren zu halten, Dolgan. Eure Klugheit ist weithin bekannt und wird mit Recht hoch geschätzt. Ihr seht es ebenso klar wie ich. Zwischen meiner Mutter und Tomas ist etwas im Entstehen.«

Dolgan seufzte. Eine frische Brise trug den Rauch seiner Pfeife mit sich. »Tja, Calin, ich habe es auch gemerkt. Ein Blick, kaum mehr, aber genug.«

»Sie schaut Tomas so an, wie sie einst meinen Vater anzuschauen pflegte, obwohl sie es noch immer nicht einmal vor sich selbst zugeben mag.«

»Und da ist auch etwas mit Tomas«, sagte der Zwerg und beobachtete den Elbenprinzen genau.

»Aber es ist nicht so zart wie das, was Eure Königin fühlt. Trotzdem, er hält es gut im Zaum.«

»Kümmert Euch um Euren Freund, Dolgan. Sollte er versuchen, der Königin den Hof zu machen, wird es Ärger geben.«

»So sehr mißfällt er Euch, Calin?«

Calin schaute Dolgan nachdenklich an. »Nein, Dolgan. Das ist es nicht. Er macht mir angst. Das ist genug.« Eine Weile schwieg Calin. Dann sagte er: »Wir werden das Knie nie wieder vor einem anderen Herrn beugen, wir, die wir in Elvandar leben. Sollten sich die Hoffnungen meiner Mutter, Tomas’ Veränderung betreffend, als falsch erweisen, dann wird es zur Abrechnung kommen.«

Dolgan schüttelte langsam den Kopf. »Das wäre ein trauriger Tag, Calin.«

»Das wäre er allerdings, Dolgan.« Calin ging aus dem Kreis, am Thron seiner Mutter vorüber, und ließ den Zwerg allein zurück. Dolgan blickte auf die Lichter von Elvandar hinaus. Er betete, daß sich die Hoffnungen der Elbenkönigin nicht als unbegründet erweisen mochten.

 

Wind heulte über die Ebene. Ashen-Shugar saß rittlings auf den breiten Schultern von Shuruga.

Die Gedanken des großen, goldenen Drachen erreichten seinen Meister. Jagen wir? Hunger beherrschte das Gehirn des Drachen.

»Nein. Wir warten.«

Ein Brüllen dröhnte von oben, als ein anderer, großer Drache spiralförmig herabstieß. Es war eine prächtige, schwarze Herausforderung. Shuruga hob den Kopf und trompetete seine Antwort hinaus. Zu seinem Meister sagte er: Kämpfen wir?

»Nein.«

Ashen-Shugar spürte die Enttäuschung in seinem Reittier, beschloß aber, sie zu ignorieren. Er sah zu, wie sich der andere Drache in kurzer Entfernung geschickt zu Boden senkte und die mächtigen Schwingen auf dem Rücken faltete. Schwarze Schuppen reflektierten das Sonnenlicht wie poliertes Ebenholz. Der Reiter des Drachen hob eine Hand zum Salut.

Ashen-Shugar erwiderte den Gruß. Vorsichtig näherte sich nun der andere Drache. Shuruga zischte, und Ashen-Shugar versetzte ihm geistesabwesend mit der Faust einen Schlag. Sofort verstummte Shuruga.

»Ist der Herrscher des Reiches der Adler endlich doch noch gekommen, um sich uns anzuschließen?« fragte der Neuankömmling, Draken-Korin, der Herr der Tiger. Seine schwarz-orange gestreifte Rüstung funkelte, als er von seinem Drachen stieg.

Aus Höflichkeit tat Ashen-Shugar dasselbe. Seine Hand blieb jedoch immer in der Nähe seines goldenen, m einer weißen Scheide befindlichen Schwertes. Denn wenn sich die Zeiten auch änderten: Vertrauen war unter den Valheru unbekannt. Früher ja, da hätten sie vielleicht miteinander gekämpft, vielleicht auch nicht, aber jetzt war das Bedürfnis nach Information dringender als alles andere. Ashen-Shugar antwortete: »Nein. Ich schaue nur zu.«

Draken-Korin betrachtete den Herrscher des Reiches der Adler. Seine blaßblauen Augen verrieten keinerlei Emotion. »Du allein hast nicht zugestimmt, Ashen-Shugar.«

»Es ist eine Sache, sich zu verbünden, um jenseits des Kosmos zu plündern, Draken-Korin.

Aber… dieser Plan von euch ist verrückt.«

»Worin besteht diese Verrücktheit? Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Wir sind. Wir tun. Was gibt es sonst noch?«

»Das ist nicht unsere Art.«

»Wir lassen es nicht zu, daß sich andere unserem Willen entgegenstellen. Diese neuen Wesen streiten mit uns.«

Ashen-Shugar wandte seine Augen himmelwärts. »Ja, so ist es. Aber sie sind nicht wie andere.

Sie sind auch aus dem Stoff gemacht, aus dem diese Welt geschaffen wurde – genau wie wir.«

»Was bedeutet das schon? Wie viele von unserer Art hast du getötet? Wieviel Blut ist über deine Lippen gekommen? Wer immer sich gegen dich erhebt, muß getötet werden. Oder er wird dich umbringen. Das ist alles.«

»Was wird aus jenen, die zurückbleiben, den Moredhel und den Elben?«

»Was ist mit ihnen? Sie bedeuten nichts!«

»Sie gehören uns.«

»Du bist da unter deinen Bergen sonderbar geworden, Ashen-Shugar. Sie sind unsere Diener. Es ist ja nicht so, daß sie wahre Macht besäßen. Sie existieren zu unserem Vergnügen, mehr nicht. Was beunruhigt dich also?«

»Ich weiß es nicht. Da ist etwas…«

 

»Tomas.«

Einen Augenblick lang existierte Tomas auf zwei Ebenen. Er schüttelte den Kopf, und die Visionen verschwanden. Er wandte sich um und sah Galain, der im Busch neben ihm lag. In einiger Entfernung hinter ihnen wartete eine Streitmacht aus Elben und Zwergen. Der junge Cousin von Prinz Calin wies auf das Tsurani-Lager jenseits des Flusses. Tomas folgte den Blicken seines Kameraden, sah die außerweltlichen Soldaten an ihren Feuern sitzen und lächelte. »Sie halten sich an ihre Lager«, flüsterte er.

Galain nickte. »Wir haben sie genug geärgert. Jetzt suchen sie die Wärme ihres Camps.«

Der Nebel des späten Frühlingsabends hüllte das Lager der Tsuranis in dichten Dunst. Selbst die Feuer schienen jetzt weniger hell zu brennen. Wieder musterte Tomas alles. »Ich zähle dreißig, dazu dreißig weitere in jedem Lager im Osten und Westen.«

Galain sagte nichts. Er wartete auf Tomas’ nächsten Befehl. Obwohl Calin der Kriegsführer von Elvandar war, hatte Tomas das Kommando über die Streitkräfte der Elben und Zwerge übernommen. Niemand hätte sagen können, wann das Kommando auf ihn übergegangen war. Aber langsam, so, wie er größer geworden war, war er auch immer mehr in die Führerrolle hineingewachsen. Im Kampf mußte er nur rufen, daß etwas getan werden sollte, und schon stürzten Elben und Zwerge hinzu, um seinen Befehl auszuführen. Zuerst war das geschehen, weil seine Anordnungen logisch und eindeutig gewesen waren. Aber dann hatten sie sich daran gewöhnt, und jetzt gehorchten sie einfach, weil es Tomas war, der den Befehl gab.

Tomas bedeutete Galain, ihm langsam zu folgen. Sie entfernten sich vom Flußufer, bis sie außerhalb der Sichtweite der Tsuranis und bei jenen waren, die zwischen den Bäumen versteckt warteten. Dolgan schaute den jungen Mann an, der einmal der Knabe gewesen war, den er aus den Minen von Mac Mordain Cadal gerettet hatte.

Tomas war weit über sechs Fuß groß, etwa so wie ein Elb. Wenn er ging, strahlte er Selbstsicherheit aus. Er war der geborene Krieger. In den sechs Jahren, die er jetzt schon bei den Zwergen lebte, war er zum Mann herangewachsen… und zu mehr. Dolgan beobachtete ihn, als Tomas die Krieger betrachtete, die sich vor ihm versammelt hatten. Er wußte, jetzt konnte Tomas durch die dunklen Minen der Grauen Türme gehen, ganz ohne Furcht oder Gefahr.

»Sind die anderen Späher zurück?«

Dolgan nickte, als Zeichen, daß sie vorkommen sollten. Drei Elben und drei Zwerge traten aus den Reihen. »Irgendwelche Anzeichen der Schwarzen Roben?«

Als die Späher das verneinten, runzelte der Mann in Weiß und Gold die Stirn. »Es wäre gut, wenn wir einen von ihnen gefangennehmen und nach Elvandar bringen könnten. Ihr letzter Angriff war bislang der kühnste. Ich würde viel darum geben, die Grenzen ihrer Macht zu kennen.«

Dolgan zog seine Pfeife hervor. Er hoffte, daß sie weit genug vom Fluß entfernt waren, damit sie nicht gesehen werden würden. Als er sie ansteckte, sagte er: »Die Tsuranis bewachen die Schwarzen Roben wie ein Drache seinen Schatz.«

Darüber lachte Tomas, und Dolgan wurde an den Jungen erinnert, den er früher gekannt hatte.

»Tja, und das muß schon ein mutiger Zwerg sein, der das Lager eines Drachen plündert.«

Galain erklärte: »Wenn sie sich so verhalten wie in den vergangenen drei Jahren, dann sind sie jetzt wohl für diese Saison mit uns fertig. Es wäre möglich, daß wir bis zum kommenden Frühjahr keine Schwarze Robe mehr sehen.«

Tomas sah nachdenklich aus. Seine hellen Augen schienen von innen heraus zu leuchten. »Ihr Verhalten… das heißt nehmen, festhalten, noch mehr nehmen. Wir haben sie tun lassen, was sie wollten, solange sie nicht den Fluß überquerten. Jetzt ist es Zeit, einmal etwas zu verändern. Und wenn wir ihnen genug Angst machen, dann haben wir vielleicht sogar Gelegenheit, einen von diesen Schwarzen Roben zu ergreifen.«

Dolgan schüttelte den Kopf. Der Vorschlag war zu riskant. Doch lächelnd fügte Tomas hinzu:

»Außerdem würden die Zwerge und ich gezwungen sein, hier zu überwintern, wenn wir ihre Festen jenseits des Flusses nicht durchbrechen können. Denn inzwischen sind die Außerweltlichen schon tief ins Grüne Herz vorgedrungen.«

Galain schaute seinen großen Freund an. Mit jedem Jahr wurde Tomas elbenähnlicher, und Galain schätzte den trockenen Humor, der häufig seine Worte kennzeichnete. Er wußte, daß Tomas nur zu gern in der Nähe der Königin geblieben wäre. Und obwohl er sich Sorgen machte wegen Tomas’ Zauber, so hatte er den Mann doch auch gern. »Was sollen wir tun?«

»Schickt Bogenschützen in die Lager zur Rechten und Linken und dahinter. Wenn ich den Ruf einer Wildgans ausstoße, laßt sie über den Fluß feuern, aber so, als käme der Hauptangriff von Osten und Westen.« Er lächelte, aber sein Gesicht drückte keinerlei Humor aus. »Danach sollte das Lager lange genug verlassen werden, damit wir unser blutiges Werk verrichten können.«

Galain nickte und schickte zehn Bogenschützen in jedes Lager. Die anderen machten sich zum Angriff bereit. Nachdem genügend Zeit verstrichen war, hob Tomas beide Hände an den Mund, krümmte sie und stieß den Schrei einer Wildgans aus. Einen Augenblick später konnte er Geschrei von Osten und Westen her hören. Die Soldaten im Tsurani-Lager sprangen auf und schauten abwechselnd in beide Richtungen. Ein paar kamen auch an den Rand des Wassers und spähten in den dunklen Wald hinüber. Tomas hob die Hand und ließ sie plötzlich wieder fallen.

Dann regnete es Elbenpfeile auf das Lager jenseits des Flusses, und Tsurani-Soldaten jagten nach ihren Schilden. Ehe sie sich vollends erholen konnten, führte Tomas schon eine Gruppe von Zwergen durch das seichte Wasser einer Furt. Wieder sausten Pfeile über ihre Köpfe hinweg; dann schulterten die Elben ihre Bogen, zogen ihre Schwerter und stürmten hinter den Zwergen her. Nur ein Dutzend blieb zurück, um ihnen Deckung zu geben, wenn es erforderlich werden würde.

Tomas war der erste, der an Land kam. Er schlug einen Tsurani-Wachtposten nieder, der ihm am Flußufer entgegentrat. Und schon war er mitten unter ihnen. Tsurani-Blut troff von seiner goldenen Klinge, und die Schreie der verwundeten und sterbenden Männer erfüllten die feuchte Nacht.

Dolgan tötete einen Wachtposten und sah sich plötzlich ohne Gegner. Er drehte sich um und entdeckte Galain, der über einem weiteren toten Tsurani stand, aber an ihm vorbei auf etwas anderes starrte. Der Zwerg folgte seinem Blick und bemerkte Tomas, der über einem verwundeten Tsurani-Soldaten hockte. Der Mann lag am Boden. Blut lief aus einer Kopfwunde über sein Gesicht, und er hob den Arm in einer Bitte um Gnade. Das Gesicht von Tomas war eine Maske der Wut. Mit einem fremden, schrecklichen Schrei, in einer grausamen, harten Stimme, hieb er mit seinem goldenen Schwert zu und beendete das Leben des Tsuranis. Schnell wandte er sich um und suchte weitere Feinde. Als da keine mehr waren, schien er für einen Augenblick nicht zu wissen, was er tun sollte. Dann wurden seine Augen wieder klarer.

Galain hörte einen Zwerg rufen: »Sie kommen.« Schreie dröhnten von den anderen Tsurani-Lagern, als sie die List erkannten und sich hastig der wahren Kampfstätte näherten.

Ohne ein Wort eilte Tomas’ Gruppe durchs Wasser. Sie erreichten die andere Seite, als Bogenschützen der Tsurani schon auf sie schossen. Ihre Pfeile wurden von den Elben am anderen Ufer erwidert. Die Gruppe der Angreifer zog sich schnell tief in die Bäume zurück, bis sie in sicherer Entfernung waren.

Als sie stehenblieben, setzten sich Elben und Zwerge nieder, um wieder Atem zu schöpfen und sich vom Kampf zu erholen. Galain sah Tomas an. »Wir haben gute Arbeit geleistet, keine Verluste, nur ein paar Leichtverwundete und dreißig Außerweltliche hingemetzelt.«

Tomas lächelte nicht, sondern schien für einen Augenblick in Gedanken verloren zu sein. Es war, als hörte er etwas. Dann wandte er sich Galain zu, als wären die Worte des Elben erst jetzt zu ihm durchgedrungen. »Aye, wir haben gut gearbeitet. Aber wir müssen wieder angreifen, morgen und übermorgen und am nächsten Tag, so lange, bis sie handeln.«

Nacht für Nacht überschritten sie von nun an den Fluß. Sie griffen ein Lager an und dann meilenweit entfernt, in der nächsten Nacht, ein anderes. Mal verging eine Nacht ohne Überfall, dann wieder wurde dasselbe Lager in drei aufeinanderfolgenden Nachten angegriffen. Manchmal tötete ein einzelner Pfeil einen Wachtposten vom jenseitigen Ufer aus. Dann geschah nichts mehr, während seine Kameraden auf einen Angriff warteten, der niemals kam. Einmal durchbrachen sie die Reihen der Verteidiger bei Morgengrauen, als diese der Meinung waren, daß keine Attacke mehr folgen würde. Sie stürmten ein Lager, drangen bis weit m den südlichen Wald vor und griffen einen Lastzug an. Ja, sie metzelten sogar die sonderbaren, sechsbeinigen Tiere nieder, die die Wagen zogen. Fünf getrennte Schlachten waren geschlagen worden, als sie von diesem Sturm zurückkehrten, und zwei Zwerge und drei Elben waren zu beklagen. – Jetzt saßen Tomas und seine Mannen, mehr als dreihundert Elben und zweihundert Zwerge, und warteten auf Nachricht aus anderen Lagern. Sie aßen einen Eintopf aus Wildbret, Moosen, Wurzeln und Knollen.

Ein Läufer erschien vor Tomas und Galain. »Kunde von der Armee des Königs.« Hinter ihm tauchte eine Gestalt in Grau am Lagerfeuer auf.

Tomas und Galain erhoben sich. »Heil, Langer Leon aus Natal«, sagte der Elb.

»Heil, Galain«, erwiderte der große, dunkelhäutige Förster.

Ein Elb brachte Brot und einen Teller mit dampfendem Eintopf zu den beiden Neuankömmlingen. Als sie sich setzten, fragte Tomas: »Was gibt es Neues vom Herzog?«

Kauend erwiderte Leon: »Lord Borric sendet Euch seine Grüße. Es steht dort nicht gut. Wie Moos an einem Baum dringen die Tsuranis im Osten langsam vor. Sie nehmen ein paar Meter ein und setzen sich dann fest. Sie scheinen nicht in Eile zu sein. Der Herzog vermutet, daß sie versuchen werden, die Küste bis zum nächsten Jahr zu erreichen. Dadurch würden sie die Freien Städte vom Norden trennen. Danach folgt vielleicht ein Angriff auf Zun oder LaMut, wer kann das sagen?«

»Irgendwelche Neuigkeiten aus Crydee?«

»Tauben sind eingetroffen, kurz ehe ich aufbrach. Prinz Arutha hält den Tsuranis stand. Sie haben dort nicht viel mehr Glück als hier. Aber sie ziehen südlich, durch das Grüne Herz.« Er betrachtete die Zwerge und Tomas. »Ich bin erstaunt, daß Ihr Elvandar erreichen konntet.«

Dolgan paffte an seiner Pfeife. »Es war ein langer Weg. Wir mußten uns schnell und leise bewegen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß wir in unsere Berge zurückkehren können, nun, da die Eindringlinge aufgescheucht worden sind. Wenn sie sich erst einmal irgendwo niedergelassen haben, dann geben sie ungern wieder her, was sie gewonnen haben.«

Tomas schritt am Feuer auf und ab. »Wie seid Ihr ihren Wachtposten aus dem Weg gegangen?«

»Eure Angriffe rufen in ihren Reihen große Bestürzung und Verwirrung hervor. Männer, die den Armeen des Westens gegenüberstanden, erhielten plötzlich den Befehl, zum Fluß zu eilen. Ich bin einfach einer solchen Gruppe gefolgt. Sie haben nie auch nur daran gedacht, hinter sich zu schauen.

Ich mußte nur an ihnen vorbeischlüpfen, als sie sich zurückzogen, und dann noch einmal über den Fluß.«

Calin wollte folgendes wissen: »Wie viele stehen uns gegenüber?«

Leon antwortete achselzuckend: »Ich habe sechs Kompanien gesehen. Aber da müssen noch andere sein.«

Sie hatten mit einer Tsurani-Kompanie gerechnet, mit zwanzig Schwadronen von jeweils dreißig Mann.

Tomas schlug seine behandschuhten Hände zusammen. »Die bringen doch nur dreitausend Mann zurück, wenn sie vorhaben, den Fluß noch einmal zu überqueren. Sie wollen bestimmt versuchen, uns wieder tief in den Wald hineinzutreiben, um uns davon abzuhalten, ihre Stellungen zu verwüsten.« Er trat zu dem dunkelhäutigen Mann. »Sind auch Schwarze Roben dabei?«

»Von Zeit zu Zeit habe ich einen bei der Kompanie gesehen, der ich gefolgt bin.«

Wieder klatschte Tomas in die Hände. »Diesmal kommen sie in voller Stärke. Benachrichtigt die anderen Lager. In zwei Tagen sollen sich alle am Hofe der Königin in Elvandar treffen, abgesehen von Pfadfindern und Läufern, die die Außerweltlichen beobachten müssen.«

Leise sprangen Läufer von ihren Plätzen am Feuer auf und eilten davon, um die Kunde zu den anderen Elben zu bringen, die ihre Lager am Ufer des Flusses Crydee aufgeschlagen hatten.

Ashen-Shugar saß auf seinem Thron, ohne die Tänzerinnen zu bemerken. Die Frauen der Moredhel waren aufgrund ihrer Schönheit und Grazie für ihn ausgewählt worden, aber er sah sie nicht. In Gedanken war er weit fort, bei der kommenden Schlacht. Ein merkwürdiges, fremdes, leeres Gefühl ohne Namen breitete sich in seinem Innern aus.

Es heißt Traurigkeit, sagte die Stimme in ihm.

Ashen-Shugar dachte: Wer bist du, daß du mich in meiner Einsamkeit besuchst?

Ich bin du. Ich bin, was du wirst. Ich bin, was du warst. Ich bin Tomas.

 

Ein Ruf von unten riß Tomas aus seinen Träumen. Er erhob sich und verließ sein kleines Zimmer, überquerte eine Brücke aus einem Ast, um zum Hof der Königin zu gelangen. In der Ferne konnte er schwach die Umrisse von Hunderten von Zwergen erkennen, die unterhalb der Höhen von Elvandar ihr Lager aufgeschlagen hatten. Eine Weile blieb er stehen und betrachtete die Lagerfeuer.

In jeder Stunde kamen unzählige von Elben und Zwergenkriegern und schlossen sich der Armee an, die er befehligte. Morgen würde er mit Calin, Tathar, Dolgan und anderen zu Rate sitzen und seinen Plan darlegen, wie man dem kommenden Angriff entgegentreten sollte.

Sechs Jahre des Kampfes hatten Tomas mit einem Gegengewicht zu den Träumen ausgestattet, die ihn immer noch heimsuchten. Wenn der Drang nach Kampf und Schlacht in ihm tobte, dann existierte er in den Träumen eines anderen. Wenn er sich vom Elbenforst entfernte, wurde der Ruf, diesen Träumen nachzugeben, immer drängender. Er fürchtete diese Visionen nicht mehr, wie es zu Anfang der Fall gewesen war. Er war mehr als menschlich, nur wegen der Träume eines längst verstorbenen Wesens. In ihm waren Kräfte, Kräfte, die er anwenden konnte, und jetzt waren sie ein Teil von ihm, so, wie sie vorher die des Trägers der weißgoldenen Rüstung gewesen waren. Er wußte, daß er nie wieder der Tomas aus Crydee sein würde, aber was würde er dann sein… ?

Ein leichter, leiser Schritt erklang hinter ihm. Ohne sich umzuwenden, sagte er: »Guten Abend, meine Dame.«

Die Elbenkönigin trat neben ihn, einen gezwungenen Ausdruck im Gesicht. »Du hast jetzt die Sinne eines Elben«, erklärte sie in ihrer eigenen Sprache.

»Es scheint so, Leuchtender Mond«, antwortete er in derselben Sprache und benutzte dabei die alte Übersetzung ihres Namens.

Er wandte sich ihr zu und sah das Staunen in ihren Augen. Sie streckte die Hand aus und berührte sacht sein Gesicht. »Ist das noch der Knabe, der so verlegen in der Ratskammer des Herzogs stand, verwirrt bei dem Gedanken, vor der Elbenkönigin sprechen zu sollen? Und jetzt beherrscht er die wahre Sprache, als wäre er einer von uns.«

Sanft schob er ihre Hand fort. »Ich bin, was ich bin, was Ihr seht.« Seine Stimme war fest, befehlsgewohnt.

Sie musterte sein Gesicht und unterdrückte ein Schaudern, als sie in seiner Haltung etwas erkannte, was ihr angst machte. »Aber was sehe ich, Tomas?«

Ohne auf ihre Frage einzugehen, fragte nun er: »Warum meidet Ihr mich, meine Dame?«

Ihre Antwort kam leise. »Zwischen uns entsteht etwas, was nicht sein darf. Es begann in demselben Augenblick, als du das erste Mal zu uns kamst, Tomas.«

Fast belustigt widersprach ihr Tomas: »Noch früher, meine Dame, in dem Augenblick, als ich Euch zum erstenmal sah.« Er stand vor ihr und überragte sie bei weitem. »Aber warum darf das nicht sein? Wer wäre besser geeignet, an Eurer Seite zu sitzen?«

Sie trat von ihm zurück und verlor für einen kurzen Augenblick die Kontrolle. In diesem Moment sah er etwas, was nur wenige jemals erblickt hatten. Er erkannte, wie die Elbenkönigin verwirrt war, wie sie an ihrer eigenen Weisheit zweifelte. »Was immer du auch sonst sein magst, du bist ein Mann, ein Mensch. Trotz aller Mächte, die dir verliehen worden sind, wirst du doch nur so lange leben wie jeder andere Mensch. Ich dagegen werde regieren, bis mein Geist zu den Segensreichen Inseln zieht, wo ich mit meinem Herrn Zusammensein werde, der diese Reise schon gemacht hat. Dann wird Calin regieren, als Sohn eines Königs, als König. So ist das bei meinem Volk.«

Tomas streckte den Arm nach ihr aus und drehte sie zu sich herum. »Es war nicht immer so.«

Ein Funken Angst zeigte sich in ihren Augen. »Nein, wir waren nicht immer ein freies Volk.«

Sie spürte die Ungeduld in ihm, aber sie sah auch, wie er dagegen ankämpfte und sich zwang, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Empfindet Ihr also nichts?«

Sie machte einen Schritt zurück. »Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, daß ich nichts empfinde. Aber es ist ein sonderbares Ziehen, und etwas, das mich mit Unsicherheit und Furcht erfüllt. Wenn du mehr Valheru wirst, mehr, als der Mensch ertragen kann, dann können wir dich hier nicht willkommen heißen. Wir würden nicht zulassen, daß die Alten zurückkehren.«

Tomas lachte. Es war eine merkwürdige Mischung aus Bitterkeit und Humor. »Als Knabe verehrte ich Euch, und die Sehnsucht eines Knaben erfüllte mich. Jetzt bin ich ein Mann und verehre Euch mit der Sehnsucht eines Mannes. Ist die Macht, die mich so kühn macht, Euch zu umwerben, und die mir die Mittel verleiht, das zu tun, auch die Macht, die uns voneinander trennt?«

Aglaranna legte eine Hand an die Wange. »Ich weiß es nicht. In der königlichen Familie hat noch niemand versucht, anders zu sein, als wir sind. Vielleicht suchen andere die Verbindung mit Menschenwesen. Aber ich möchte diesen Kummer nicht erleben, wenn du alt und grau bist, und ich bin immer noch so, wie du mich jetzt siehst.«

Tomas’ Augen blitzten auf, und seine Stimme wurde scharf. »Das wird niemals geschehen, meine Dame. Ich werde tausend Jahre in dieser Schneise hier leben. Daran hege ich keinen Zweifel.

Aber ich werde Euch nicht länger belästigen… nicht, solange noch andere Angelegenheiten zu regeln sind. Das Schicksal hat uns füreinander bestimmt, Aglaranna. Ihr werdet das noch erkennen.«

Sie stand vor ihm. Sie hatte eine Hand zum Mund erhoben, und ihre Augen waren feucht. Er schritt davon, ließ sie allein m ihrem Hof zurück, wo sie darüber nachdachte, was er gesagt hatte.

Zum erstenmal, seit ihr Herrscher-König verschieden war, fühlte sich Aglaranna zwischen zwei Gefühlen hin- und hergerissen: Furcht und Sehnsucht.

Tomas wandte sich um, als er vom Rande der Lichtung angerufen wurde. Ein Elb trat zwischen den Bäumen heraus. Ihm folgte ein einfach gekleideter Mann. Er unterbrach seine Unterhaltung mit Calin und Dolgan, und die drei eilten dem Fremden hinterher, als er zum königlichen Hof geleitet wurde. Aglaranna saß auf ihrem Thron. Ihre Ratgeber hatten sich auf Bänken zu beiden Seiten von ihr niedergelassen. Tathar stand neben der Königin.

Der Fremde näherte sich dem Thron und verbeugte sich leicht. Tathar warf einen kurzen Blick auf den Wachtposten, der den Mann begleitet hatte, aber der Elb sah verstört aus. Der Mann in Braun sagte: »Ich grüße Euch, meine Dame.« Er sprach in perfektem Elbisch.

Aglaranna antwortete in der Sprache der Könige. »Ihr tretet kühn bei uns auf, Fremdling.«

Der Mann lächelte und stützte sich noch schwerer auf seinen Stock. »Aber ich habe mir wenigstens einen Führer gesucht, denn ich wollte Elvandar nicht ungeheißen betreten.«

Tathar bemerkte: »Ich glaube, Eurem Führer blieb kaum eine Wahl.«

»Es gibt immer eine Wahl, wenngleich sie nicht immer offensichtlich scheint«, lautete die Antwort des Mannes.

Tomas trat vor. »Was ist Euer Begehren?«

Der Mann wandte sich der Stimme zu und lächelte. »Ah! Der Träger des Geschenks des Drachen. Tomas von Crydee.«

Tomas trat zurück. Die Augen des Mannes strahlten Macht aus, und hinter seiner lockeren Art verbarg sich Kraft, was Tomas deutlich fühlte. »Wer seid Ihr?«

»Ich habe viele Namen. Aber hier nennt man mich Macros den Schwarzen.« Er zeigte mit dem Stab auf die versammelte Menge. »Ich bin gekommen, weil Ihr einen kühnen Plan gefaßt und angefangen habt, ihn in die Tat umzusetzen.« Bei den letzten Worten wies er mit seinem Stock auf Tomas. Er senkte die Spitze und stützte sich wieder darauf. »Aber der Plan, eine Schwarze Robe gefangenzunehmen, wird Elvandar nichts anderes als Zerstörung bringen, wenn Ihr Euch nicht meiner Hilfe vergewissert.« Er lächelte ein wenig. »Ihr werdet beizeiten eine Schwarze Robe bekommen, aber noch nicht jetzt.«

Aglaranna erhob sich. Sie straffte die Schultern und sah ihm fest in die Augen. »Ihr wißt viel.«

Macros neigte leicht den Kopf. »Aye, ich weiß viel, manchmal mehr, als mir lieb ist.« Er trat an ihr vorüber und legte eine Hand auf Tomas’ Schulter. Er führte ihn zu einem Sitz in der Nähe der Königin und drückte ihn sanft hinein. Dann nahm er neben ihm Platz und legte den Stab an seinen Nacken. Er schaute die Königin an und sagte: »Die Tsurani kommen mit dem ersten Licht des Tages, und sie werden sich direkt nach Elvandar begeben.«

Tathar trat vor Macros hin. »Woher wißt Ihr das?«

Wieder lächelte dieser. »Erinnerst du dich nicht, daß ich im Rat mit deinem Vater saß?«

Tathar riß die Augen auf und wich zurück. »Ihr…«

»Ich bin es, obwohl man mich nicht mehr so nennt wie damals.«

Tathar schien bestürzt. »So lange ist das her. Ich hätte es nicht für möglich gehalten.«

»Vieles ist möglich.« Damit schaute Macros vielsagend von der Königin zu Tomas.

Aglaranna setzte sich zögernd hin und gab sich Mühe, ihr Unbehagen nicht zu zeigen. »Seid Ihr der Zauberer?«

Macros nickte. »So nennt man mich. Aber dahinter verbirgt sich mehr, als ich hier und jetzt erzählen kann. Werdet Ihr mir zuhören?«

Tathar nickte der Königin zu. »Vor langer Zeit kam uns dieser hier zu Hilfe. Ich verstehe nicht, wie es sich um denselben Mann handeln kann, aber damals war er Eurem Vater und dem meinen ein wahrer Freund. Wir können ihm vertrauen.«

»Wie lautet also Euer Rat?« fragte die Königin.

»Die Magier der Tsuranis haben Eure Wachtposten entdeckt und wissen, wo sie sich versteckt halten. Mit dem ersten Tageslicht werden sie kommen und den Fluß in zwei Gruppen überqueren.

Sie werden wie die Hörner eines Bullen vorstoßen. Wenn Ihr ihnen gegenübertretet, wird eine Gruppe dieser Geschöpfe, die sie Cho-Ja nennen, in der Mitte vorstoßen, dort, wo Ihr schwach seid.

Bislang haben sie sie noch nicht gegen Euch eingesetzt, aber die Zwerge können Euch von ihrem Geschick im Kampf erzählen.«

Dolgan trat vor. »Das ist richtig, meine Dame. Sie sind Kreaturen, die wir fürchten müssen, denn sie kämpfen im Dunkeln ebenso gut wie mein Volk. Ich hatte gedacht, sie würden nur in den Minen eingesetzt.«

»So war es auch, bis Ihr angegriffen habt«, erklärte Macros. »Sie haben ein ganzes Heer von ihnen zusammengestellt, das sich jetzt jenseits des Flusses, außerhalb der Sichtweite Eurer Späher, auf den Kampf vorbereitet. Sie werden in riesigen Mengen erscheinen. Die Tsuranis sind Eurer Angriffe müde und wollen dem Krieg über den Fluß hin ein Ende machen. Ihre Magier haben hart gearbeitet, um hinter die Geheimnisse von Elvandar zu kommen. Jetzt wissen sie, daß die Elben ihre Macht und ihre Stärke verlieren, wenn das geheiligte Herz des Elbenforstes fällt.«

Tomas sagte: »Dann werden wir uns zurückhalten und uns gegen den Mittelsturm verteidigen.«

Einen Augenblick blieb Macros stumm, so als erinnerte er sich an etwas. »Das wäre ein Anfang.

Aber sie bringen ihre Magier mit, so sehr wünschen sie sich ein Ende. Ihre Magie wird es ihren Kriegern erlauben, ungestört von der Macht eurer Bannweber durch den Wald zu kommen. Und sie werden hierher gelangen.«

Aglaranna sagte: »Dann werden wir ihnen hier gegenübertreten und bis zum Ende aushalten.«

Macros nickte. »Tapfere Worte, meine Dame. Aber Ihr werdet meine Hilfe benötigen.«

Dolgan musterte den Zauberer. »Was kann ein einzelner Mann ausrichten?«

Macros erhob sich. »Viel. Am Morgen wirst du es sehen. Fürchte dich nicht, Zwerg. Die Schlacht wird hart, und viele werden den Weg zu den Segensreichen Inseln antreten. Aber wenn wir fest entschlossen sind, werden wir obsiegen.«

Tomas sagte: »Ihr sprecht wie jemand, der bereits gesehen hat, wie diese Dinge geschehen sind.«

Macros lächelte, und seine Augen verrieten tausend Dinge und doch auch nichts. »Das tue ich, Tomas von Crydee, oder nicht?« Er wandte sich an die anderen, schwenkte seinen Stab und erklärte: »Macht euch bereit. Ich werde bei euch sein.« Zur Königin gewandt sagte er: »Ich würde gern ruhen, wenn Ihr ein Plätzchen für mich habt?«

Die Königin wandte sich an den Elb, der Macros vor den Rat geführt hatte. »Führe ihn in einen Raum und bring ihm alles, was er benötigt.«

Der Zauberer verbeugte sich und folgte seinem Führer. Die anderen blieben schweigend zurück, bis Tomas sagte: »Laßt uns uns bereit machen.«

 

Die Nacht würde bald der Morgendämmerung weichen, und die Königin stand allein neben ihrem Thron. In all den Jahren ihrer Herrschaft war es ihr niemals so ergangen wie jetzt. Ihre Gedanken rasten, Bilder zeigten sich vor ihrem geistigen Auge, Bilder, die so weit zurücklagen wie ihre Jugend und doch so neu waren wie von vor zwei Nächten.

»Sucht Ihr die Antworten in der Vergangenheit, meine Dame?«

Sie wandte sich um und sah den Zauberer hinter sich stehen, der sich auf seinen Stab stützte. Er kam näher und stellte sich neben sie.

»Könnt Ihr meine Gedanken lesen, Zauberer?«

Lächelnd winkte Macros mit der Hand und sagte: »Nein, meine Dame. Aber es gibt in der Tat vieles, was ich weiß und sehen kann. Euer Herz ist Euch schwer, und Ihr macht Euch Sorgen.«

»Und versteht Ihr auch, warum?«

Macros lachte leise. »Ohne Frage. Ich wollte mit Euch über ebendiese Dinge sprechen.«

»Warum, Zauberer? Welche Rolle spielt Ihr dabei?«

Macros blickte über die Lichter Elvandars hin. »Eine Rolle, wie sie jeder Mann spielt.«

»Aber Ihr kennt die Eure gut.«

»Das ist wahr. Manchen ist es gegeben zu verstehen, was anderen unklar bleibt. Das ist auch mein Schicksal.«

»Warum seid Ihr gekommen?«

»Weil man mich braucht. Ohne mich könnte Elvandar fallen, und das darf nicht geschehen. Es ist so bestimmt, und ich kann nur meine Rolle dabei spielen.«

»Werdet Ihr bleiben, wenn die Schlacht gewonnen ist?«

»Nein. Ich habe andere Aufgaben. Aber ich werde noch einmal kommen, wenn die Not wieder groß sein wird.«

»Wann?«

»Das darf ich Euch nicht sagen.«

»Wird es bald sein?«

»Bald genug, wenn auch nicht bald genug.«

»Ihr sprecht in Rätseln.«

Macros lächelte. Es war ein trauriges Lächeln. »Das Leben ist ein Rätsel. Es liegt in den Händen der Götter. Ihr Wille geschehe, und viele werden ihr Leben verändert finden.«

»Tomas?« Aglaranna sah dem Zauberer tief in die dunklen Augen.

»Er am deutlichsten, aber auch alle anderen, die diese Zeit durchleben.«

»Was ist er?«

»Was möchtet Ihr denn, das er ist?«

Die Elbenkönigin stellte fest, daß es ihr unmöglich war, darauf zu antworten. Macros legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. Sie fühlte die Ruhe, die von seinen Fingern ausging, und sie hörte sich sagen: »Ich wünsche meinem Volk keine Sorgen, aber sein Anblick erfüllt mich mit Sehnen.

Ich habe Verlangen nach einem Mann… einem Mann mit seiner… Macht. Tomas ist meinem verlorenen Herrn ähnlicher, als er es je wissen wird. Und ich fürchte ihn. Denn wenn ich ihn erst erwähle, wenn ich ihn über mich stelle, dann verliere ich die Macht, zu regieren. Glaubt Ihr, die Ältesten würden das zulassen? Mein Volk würde niemals bereitwillig das Joch der Valheru erneut auf sich nehmen.«

Der Zauberer schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Trotz all meiner Künste gibt es Dinge, die mir verborgen bleiben. Aber versteht dieses: Hier bei uns befindet sich eine Magie, die jenseits allen Vorstellungsvermögens ist. Ich kann das nicht erklären, kann nur sagen, daß sie über die Zeiten hinweg reicht, mehr, als es den Anschein hat. Denn so, wie der Valheru jetzt in Tomas vorhanden ist, so ist auch Tomas in dem Valheru der vergangenen Zeit anwesend.

Tomas trägt das Gewand von Ashen-Shugar, dem letzten der Drachenherren. Als die Chaotischen Kriege wüteten, blieb er allein auf dieser Welt zurück, denn er empfand Dinge, die seiner Art fremd waren.«

»Tomas?«

Macros lächelte. »Denkt nicht zu lange darüber nach, meine Dame. Diese Gedanken können das Gehirn zum Wirbeln bringen. Was Ashen-Shugar fühlte, war eine Verpflichtung, diese Welt zu beschützen.«

Aglaranna studierte im funkelnden Licht Elvandars Macros Gesicht. »Ihr wißt mehr von der uralten Kunde als irgend jemand sonst, Zauberer.«

»Man hat mir viel… geschenkt, meine Dame.« Er schaute über den Elbenforst hin und sprach mehr zu sich selbst als zu der Königin: »Bald wird eine Zeit der Prüfung für Tomas anbrechen. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was geschehen wird, aber eins weiß ich: Irgendwie ist es diesem Knaben aus Crydee in seiner Liebe für Euch und die Euren gelungen, aus seinem schlichten, menschlichen Gefühl der Sorge heraus, dem mächtigsten Mitglied der stärksten sterblichen Rasse standzuhalten, die jemals auf dieser Welt gelebt hat. Und dabei wird er gut von den sanften Künsten Eurer Bannweber unterstützt.«

Sie musterte Macros scharf. »Ihr wißt davon?«

Er lachte. »Meine Dame, nur wenig Magie in dieser Welt entgeht mir. Was Ihr getan habt, ist weise. Vielleicht trägt es dazu bei, den Würfel zu Tomas’ Gunsten fallen zu lassen.«

»Das ist der Gedanke, mit dem ich mich auch selbst immer wieder beruhige«, gestand Aglaranna leise, »denn ich sehe in Tomas einen Herrscher, der dem König meiner Jugend in nichts nachsteht, dem Ehemann, der allzu früh von meiner Seite gerissen wurde. Kann es denn wahr sein?«

»Wenn er die Zeit der Prüfung überlebt – ja. Es kann sein, daß dieser Konflikt das Ende für beide bedeutet – für Ashen-Shugar sowohl als auch für Tomas. Aber sollte Tomas überleben, dann wird er vielleicht zu dem, nach dem Ihr euch insgeheim am meisten sehnt.

Jetzt will ich Euch etwas erzählen, was nur die Götter und ich wissen. Ich kann vieles beurteilen, was erst noch geschehen muß, aber vieles bleibt auch mir unbekannt. Eines jedoch weiß ich: An Eurer Seite wird Tomas vielleicht zu einem weisen und guten Herrscher heranwachsen. Wenn seine Jugend durch Weisheit ersetzt wird, mag er zum Herrn Eurer Wünsche werden – wenn seine Macht irgendwie durch sein menschliches Herz gezügelt werden kann. Sollte er jedoch fortgeschickt werden, könnten sowohl das Königreich als auch die freien Völker des Westens von einem schrecklichen Schicksal heimgesucht werden.«

Ihre Augen schauten fragend, und er fuhr fort: »Ich kann nicht in diese dunkle Zukunft blicken, meine Dame. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Sollte er seine Kraft erkennen, und sollte die dunkle Seite seines Wesens überwiegen, dann wird er eine schreckliche Macht sein, die unbedingt zerstört werden muß. Diejenigen, die ihn sehen, wenn ihn der Schlachten- und Kampfesdurst überkommt, sehen nur einen bloßen Schatten der wahren Dunkelheit, die sich in ihm aufbaut. Selbst wenn ein Gleichgewicht besteht und Tomas’ Menschlichkeit überlebt, könnten die menschlichen Eigenschaften, die Fähigkeit zu Wut, Schmerz und Haß die Oberhand gewinnen, wenn Ihr ihn dennoch fortschickt. Ich frage Euch: Wenn Tomas vertrieben wird und eines Tages die Standarte der Drachen im Norden erhebt, was würde dann geschehen?«

Die Königin bekam Angst, und sie zeigte sie offen. Sie hatte die Maske der Beherrschung völlig abgelegt. »Die Moredhel würden sich sammeln.«

»Richtig, meine Dame. Nicht als vereinzelte Grüppchen von ärgerlichen Banditen, sondern als ganze Truppe. Zwanzigtausend Finstere Brüder, begleitet von hunderttausend Trollen und Kompanien von Menschen, deren düsteres Wesen sich voll Freude auf Zerstörung und Plünderung stürzen würde. Eine mächtige Armee unter dem stählernen Handschuh eines geborenen Kriegers, eines Generals, dem selbst Euer eigenes Volk folgt, ohne Fragen zu stellen.«

»Ratet Ihr mir also, ihn hierzubehalten?«

»Ich kann Euch nur die Alternativen aufzeigen. Die Entscheidung müßt Ihr selbst treffen.«

Die Elbenkönigin warf den Kopf zurück. Ihre rotgoldenen Locken flogen, und ihre Augen waren feucht, als sie über Elvandar hinwegschaute. Das erste Licht des Tages brach herein. Rosiges Licht blitzte durch die Bäume und warf tiefblaue Schatten. Die Morgenlieder der Vögel konnten überall um die Lichtung her gehört werden. Sie drehte sich nach Macros um und wollte ihm für seinen Rat danken. Aber er war schon gegangen.


Die Tsuranis stießen vor, wie Macros es vorhergesagt hatte. Die Cho-jas griffen über den Fluß hinweg an, nachdem die beiden menschlichen Wellen die Flanken gestützt hatten. Tomas hatte Posten aufgestellt, einige Reihen von Bogenschützen und einige mit Schilden. Sie zogen sich zurück und schossen dabei in die vorstoßende Armee. Sie erweckten dadurch den Anschein von Widerstand.

Tomas stand vor der versammelten Armee von Elvandar und den Zwergen aus den Grauen Türmen. Nur fünfzehnhundert Krieger standen den sechstausend Eindringlingen und ihren Magiern gegenüber. Sie warteten schweigend. Als sich der Feind näherte, konnten die Rufe der Tsurani-Krieger und die Schreie derjenigen, die durch Elbenpfeile starben, durch die Bäume vernommen werden. Tomas blickte zu der Königin empor. Sie stand auf einem Balkon, von dem aus sie die kommende Schlacht überblicken konnte, und neben ihr befand sich der Zauberer.

Plötzlich rannten Elben auf sie zu, und die ersten, leuchtendbunten Tsurani-Rüstungen blitzten zwischen den Bäumen auf. Als die Schützen die Hauptgruppe erreicht hatten, hob Tomas sein Schwert.

»Wartet!« rief eine Summe von oben, und der Zauberer deutete auf die andere Seite der Lichtung, wo sich die ersten Kämpfer der Tsurani-Streitmächte zeigten. Als sie sich mit der Elbenarmee konfrontiert sahen, blieb die Vorhut stehen und wartete, bis ihre Kameraden sie erreicht hatten. Ihre Offiziere erließen den Befehl, Stellung zu beziehen. Das war Kämpfen, wie sie es kannten und verstanden. Hier trafen sich zwei Armeen auf einer offenen Ebene, und der Vorteil lag bei ihnen.

Auch die Cho-jas standen in ordentlichen Reihen und befolgten die Befehle der Offiziere. Tomas war fasziniert, denn er wußte noch immer wenig von diesen Kreaturen. Für ihn waren sie sowohl Tiere als auch intelligente Verbündete der Tsuranis.

Macros rief wieder: »Wartet!« und schwenkte seinen Stab über dem Kopf und vollführte große Kreise in der Luft. Stille senkte sich auf die Schneise herab.

Plötzlich flog eine Eule an Tomas’ Kopf vorbei und direkt auf die Reihen der Tsuranis zu. Einen Moment lang kreiste sie über dem Feind, dann stürzte sie sich herab und hackte einem Soldaten ins Gesicht. Der Mann schrie vor Schmerzen auf, als ihre Krallen nach seinen Augen schlugen.

Ein Habicht sauste vorbei und wiederholte den Angriff der Eule. Dann schoß eine große, schwarze Krähe aus dem Himmel abwärts. Ein Schwärm Spatzen erhob sich aus den Bäumen hinter den Tsuranis und pickte nach ihren Gesichtern und den ungeschützten Armen. Aus allen Teilen des Waldes flogen Vögel herbei und griffen die Eindringlinge an. Schon bald war die Luft vom Klatschen der Flügel erfüllt, als sich alle nur erdenklichen Arten von Vögeln auf die Tsuranis stürzten. Tausende und Abertausende, vom winzigen Kolibri bis hin zum mächtigen Adler, griffen den außerweltlichen Feind an. Männer schrien auf, brachen aus der Reihe und rannten davon. Sie bemühten sich, den spitzen Schnäbeln und scharfen Krallen zu entfliehen, die versuchten, die Augen auszukratzen, die an Umhängen zerrten und Fleisch herausrissen. Die Cho-jas bäumten sich auf. Ihr gepanzertes Fell war zwar dem Hacken und Kratzen gegenüber unempfindlich, aber ihre großen, juwelenartigen Augen waren leichte Ziele für die gefiederten Angreifer.

Ein Kommando erscholl unter den Elben, als die Tsuranis sich ungeordnet zurückzogen. Tomas gab den Befehl, und Elbenpfeile wurden abgeschossen. Die Tsurani-Soldaten wurden getroffen und fielen, ehe sie überhaupt wußten, wer ihr Feind war. Ihre eigenen Bogenschützen konnten das Feuer nicht erwidern, weil sie von Hunderten winziger Angreifer gequält wurden.

Die Elben sahen zu, wie die Tsuranis versuchten, ihre Position zu halten, während die Vögel weiterhin in ihrer Mitte ihr blutiges Werk verrichteten. So gut sie konnten, erwiderten die Tsuranis den Kampf und töteten viele Vögel mitten im Flug. Aber für jeden, den sie getroffen hatten, kamen drei neue.

Plötzlich zerriß ein scharfer, zischender Ton die Stille. Alles, was sich auf der Tsurani-Seite der Lichtung befand, schien vorübergehend stillzustehen. Dann schossen die Vögel aufwärts, als wären sie von einer unsichtbaren Kraft zurückgeschleudert worden. Ihr Flug wurde von einem Zischen vor lauter Energie begleitet. Als die Vögel das Gebiet verlassen hatten, konnte Tomas die schwarzen Roben der Tsuram-Magier erkennen. Sie bewegten sich zwischen den Soldaten hindurch und stellten die Ordnung wieder her. Hunderte von verwundeten Tsuranis lagen am Boden. Aber die schlachtgewohnten Fremdlinge stellten hastig ihre Reihen wieder auf, ohne sich um die Verletzten zu kümmern.

Wieder sammelte sich der riesige Schwärm Vögel über den Eindringlingen und schickte sich an, auf sie herniederzustoßen. Augenblicklich bildete sich ein rotglühender Energieschild um die Tsuranis. Als die Vögel ihn erreichten, erstarrten sie und fielen herab. Ihre Federn rauchten und erfüllten die Luft mit einem brennenden, stechenden Gestank. Elbenpfeile, die den Schild berührten, wurden mitten im Flug aufgehalten und brachen in Flammen aus, ehe sie zu Boden fielen, ohne Schaden angerichtet zu haben.

Tomas gab den Befehl, das Feuer einzustellen, und wandte sich an Macros. Wieder rief der Zauberer: »Wartet!«

Macros schwenkte seinen Stab, und die Vögel verschwanden, als sie sein stillschweigendes Kommando vernahmen. Dann richtete Macros seinen Stab auf die rote Barriere – und damit auf die Tsuranis. Eine goldene Energiekugel schoß vorwärts. Sie raste über die Lichtung und durchdrang die rote Barriere und traf einen Schwarzgewandeten Magier in die Brust. Dieser sackte zu Boden.

Ein Gebrüll der Wut und des Entsetzens erhob sich unter den Tsuranis. Die anderen Magier wandten ihre Aufmerksamkeit der Plattform oberhalb der Elbenarmee zu. Blaue Feuerbälle schossen auf Macros zu. Wütend brüllte Tomas: »Aglaranna!«, als die winzigen, blauen Sternchen die Plattform trafen und ihm mit ihrem blendendhellen, grellen Licht jede Sicht auf die Königin raubten. Aber bald sah er sie wieder.

Der Zauberer stand unverletzt auf der Plattform, ebenso wie die Königin. Tathar zog sie beiseite, und wieder richtete Macros seinen Stab auf die Tsuranis. Ein weiterer schwarzgewandeter Magier fiel. Die vier restlichen betrachteten Macros’ Überleben und Gegenangriff mit einem Ausdruck aus Ehrfurcht und Wut. Selbst diesseits der Schneise konnte es deutlich von ihren Gesichtern abgelesen werden. Sie verdoppelten ihren Angriff auf den Zauberer. Eine Welle nach der anderen aus blauem Licht und Feuer traf Macros’ schützende Barriere. Alle, die am Boden standen, waren gezwungen, sich abzuwenden, wenn sie nicht von den schrecklichen Energien geblendet werden wollten, die hier freigesetzt wurden. Nachdem auch dieser magische Kampf beendet war, schaute Tomas empor.

Wieder war der Zauberer unverletzt geblieben.

Ein Magier stieß einen Schrei reiner Wut und Verzweiflung aus und zog einen Gegenstand aus seiner Robe. Er betätigte ihn, doch gleich darauf verschwand er von der Lichtung. Augenblicke später folgten ihm auch seine drei Kameraden. Macros blickte auf Tomas hinab, deutete mit seinem Stab auf die Tsuranis und rief: »Jetzt!«

Tomas hob sein Schwert und gab das Zeichen zum Angriff. Ein Schauer von Pfeilen flog über seinen Kopf, als er seine Männer vorwärts führte. Die Disziplin der Tsuranis war untergraben, nachdem ihr Vorgehen von den Vögeln vereitelt und auch ihre Magier vertrieben worden waren.

Trotzdem nahmen sie die Herausforderung an und verteidigten sich. Hunderte waren durch die Klauen und Schnäbel der Vögel gestorben, und noch mehr durch die Pfeile. Aber noch immer kamen drei Tsuranis auf einen Elben oder Zwerg.

Die Schlacht ging weiter, und ein roter Schleier legte sich über Tomas. Er konnte an nichts anderes mehr denken als daran, zu töten. Er hackte nach rechts und nach links, bahnte sich seinen Weg durch die Tsuranis und wehrte jeglichen Versuch ab, ihn niederzumetzeln. Tsuranis und Cho-jas fielen durch seine Klinge, als er alle niedermachte, die ihm in den Weg traten.

Hin und her wogte die Schlacht, und Männer, Cho-jas, Eiben und Zwerge fielen. Die Sonne zog ihre Bahn über den Himmel und stand jetzt schon hoch, aber noch immer war kein Ende des Gemetzels abzusehen. Die Geräusche des Todes erfüllten die Luft, und hoch über allem sammelten sich schon die Geier.

Langsam drängte die Tsurani-Streitmacht die Elben und Zwerge zurück und bewegte sich auf das Herz von Elvandar zu. Eine kurze Pause entstand, als wäre ein Gleichgewicht zwischen beiden Seiten entstanden. Die Gegner traten auseinander, und ein offener Raum entstand zwischen ihnen.

Tomas hörte die Stimme des Zauberers über dem Kampfgetümmel. »Zurück!« schrie er, und wie ein Mann schritt Elvandars Streitmacht wieder nach hinten.

Die Tsuranis zögerten einen Moment. Dann, als sie das Abwarten der Elben und Zwerge spürten, drängten sie vorwärts. Plötzlich erhob sich ein grollendes Geräusch, und die Erde fing zu zittern und zu beben an. Alle verharrten regungslos, und die Tsuranis schauten sich angsterfüllt um, denn tödliche Vorahnungen stürzten auf sie ein.

Tomas konnte sehen, wie die Bäume zitterten. Es wurde immer heftiger, als das Beben weiter zunahm. Dann kam der Höhepunkt des Lärms. Es war, als dröhne der Urvater allen Donners über ihnen. Und mit diesem irrsinnigen Krach brach ein riesiges Stück Erde hervor und schoß nach oben, als wäre es von der unsichtbaren Hand eines Giganten hochgehoben worden. Die Tsuranis, die obendrauf gestanden hatten, wurden emporgerissen und stürzten dann schwer zu Boden, und diejenigen in der Nähe wurden beiseite geschleudert. Ein weiteres Stück Boden erhob sich, dann ein drittes. Plötzlich war die Luft von riesigen Erdbrocken erfüllt, die aufwärts flogen und dann auf die Tsuranis herabstürzten. Schreie des Entsetzens erfüllten die Luft, und die Tsuranis wandten sich um und flohen. Ihr Rückzug hatte keine Ordnung mehr, denn sie wichen von einem Ort, an dem die Erde selbst sie angriff. Tomas sah zu, wie sich die Lichtung leerte. Nur die Toten und die Sterbenden blieben zurück.

Innerhalb von Minuten war es in der Lichtung wieder still. Die Erde beruhigte sich, und die schockierten Zuschauer blieben stumm stehen. Sie konnten hören, wie sich die Tsurani-Armee durch den Wald zurückzog. Ihre Schreie kündeten von anderen Entsetzen, die sich während ihrer Flucht auf sie senkten.

Tomas fühlte sich schwach und müde. Als er an sich herabsah, stellte er fest, daß seine Arme von Blut befleckt waren. Sein Wappenrock, sein Schild und sein goldenes Schwert waren rein, wie sie es immer waren, aber zum erstenmal fühlte er sich von menschlichem Leben besprenkelt. Hier in Elvandar blieb der Irrsinn der Schlacht nicht erhalten, und Tomas fühlte sich bis tief in sein innerstes Wesen hinein krank.

Er drehte sich um und sagte leise: »Es ist vorbei.« Ein leises Jubeln erklang von den Elben und Zwergen, aber es war nur halbherzig, denn niemand fühlte sich als Sieger. Sie hatten gesehen, wie eine mächtige Armee urzeitlichen Mächten zum Opfer fiel, die sich nicht beschreiben ließen.

Langsam ging Tomas an Calin und Dolgan vorüber und erklomm die Treppe. Der Elbenprinz sandte Soldaten hinter den Eindringlingen her. Sie sollten die Verwundeten versorgen und den sterbenden Tsuranis den Gnadentod gewähren.

Tomas begab sich zu dem kleinen Raum, in dem er hauste, und zog den Vorhang beiseite. Er ließ sich schwer auf seine Schlafstatt fallen und schleuderte sein Schwert und seinen Schild beiseite. Ein dumpfes Pochen in seinem Kopf zwang ihn, die Augen zu schließen. Erinnerungen stürzten auf ihn ein.

 

Die Himmel wurden zerrissen, als Wirbelstürme reinster Energie von einem Horizont zum anderen stürmten. Ashen-Shugar saß auf dem Rücken des mächtigen Shuruga und sah zu, wie das Material riß, aus dem Zeit und Raum geschaffen waren.

Trompetenschall ertönte, der Ton der Verkündung, den er dank seiner Magie vernehmen konnte.

Der Augenblick, den er erwartet hatte, war gekommen. Ashen-Shugar lenkte Shuruga aufwärts und tastete dabei mit den Augen die Himmel ab. Er suchte das, was kommen und sich diesem verrückten Gehabe in den Himmeln entgegenstellen mußte. Shuruga unter ihm erstarrte genau in dem Augenblick, als er sah, was er gesucht hatte. Die Gestalt von Draken-Korin war zu erkennen, als er seinen schwarzen Drachen zügelte. In seinen Augen war ein merkwürdiger Ausdruck, der fremd war. Zum erstenmal, solang er sich zurückerinnern konnte, begann Ashen-Shugar zu begreifen, was Entsetzen bedeutete. Er konnte es nicht benennen, nicht beschreiben, aber in Draken-Korins gequälten, gepeinigten Augen sah er es.

Ashen-Shugar trieb Shuruga vorwärts. Dieser mächtige, goldene Drache brüllte seine Herausforderung, und Draken-Korins ebenso mächtiger schwarzer erwiderte sie. Im Himmel stießen die beiden aufeinander, und ihre Reiter kämpften auf ihre eigene, kunstvolle Weise gegeneinander.

Ashen-Shugar schwang seine goldene Klinge über dem Kopf und schlug zu und hieb den schwarzen Schild mit dem grinsenden Tigerkopf in zwei Teile. Es war fast zu einfach, wie Ashen-Shugar es vorausgesehen hatte. Draken-Korin hatte zu viel seines Seins aufgegeben. Gegenüber der Macht des letzten Valheru war er kaum mehr als ein Sterblicher. Ein-, zwei-, dreimal noch schlug Ashen-Shugar zu, und der letzte seiner Brüder fiel vom Rücken seines schwarzen Drachen. Er taumelte herab und stürzte zu Boden. Kraft seines Willens verließ Ashen-Shugar Shurugas Rücken und schwebte hernieder, um neben dem hilflosen Körper Draken-Korins zu stehen. Er überließ es Shuruga, den Kampf mit dem halbtoten schwarzen Drachen zu beenden.

Noch immer hielt sich ein Fünkchen Leben in der gebrochenen Gestalt. Ein flehender Ausdruck trat in Draken-Korins Augen, als Ashen-Shugar sich ihm näherte. Er wisperte: »Warum?«

Ashen-Shugar wies mit der goldenen Klinge gen Himmel und antwortete: »Niemals hätte diese Obszönität erlaubt werden dürfen. Ihr macht allem ein Ende, was wir kennen und wissen.«

Draken-Korin schaute zum Himmel empor, dorthin, wohin Ashen-Shugar zeigte. Er beobachtete das Wüten dieser Energien, sah, wie sie sich verzerrten und kreischende Regenbogen aus Licht über den Himmel jagten. Er wurde Zeuge der Entstehung dieses neuen Entsetzens, das sich aus der Lebenskraft seiner Brüder und Schwestern formte. Es war ein geistloses, wütendes Etwas aus Haß und Zorn.

Mit krächzender Stimme erklärte Draken-Korin: »Sie waren so stark. Das haben wir nie ahnen können.« Sein Gesicht verzerrte sich vor Entsetzen und Haß, als Ashen-Shugar seine goldene Klinge erhob. »Aber ich hatte das Recht dazu!« brüllte er.

Ashen-Shugars Klinge sauste herab und trennte säuberlich den Kopf Draken-Korins von seinem Körper. Sofort wurden Kopf und Körper von einem schimmernden Licht verschlungen, und die Luft zischte um Ashen-Shugar. Dann verschwand der gefallene Valheru, spurlos. Seine Existenz kehrte zu dem geistlosen Ungetüm zurück, das sich gegen die neuen Götter erhob. Von Bitterkeit erfüllt, meinte Ashen-Shugar: »Es gibt kein Recht. Es gibt nur Macht.«

War es so?

»Ja, so habe ich den letzten meiner Brüder getötet.«

Und die anderen ?

»Sie sind jetzt ein Teil dessen.« Er deutete auf den schrecklichen Himmel.

Gemeinsam, niemals getrennt, beobachteten sie den Wahnsinn über sich, als die Chaotischen Kriege wüteten. Nach einer Weile sagte Ashen-Shugar: »Komm, das ist ein Ende. Laß es uns hinter uns bringen.«

Sie schickten sich an, zu dem wartenden Shuruga zu gehen. Dann erklang eine Stimme.

 

»Du bist still.«

Tomas öffnete die Augen. Aglaranna kniete vor ihm. Sie hatte ein Becken mit Wasser, das süß nach Krautern duftete, und ein Tuch in der Hand. Sie begann, ihm das Blut vom Gesicht und den Armen zu waschen und sagte nichts, während er ihr zusah.

Als er sauber war, nahm sie ein trockenes Tuch und drückte es auf sein Gesicht. »Ihr seht müde aus, mein Herr.«

»Ich sehe so viele Dinge, Aglaranna, Dinge, die nicht für einen Menschen bestimmt sind. Ich trage die Last von Jahren und Jahrhunderten auf meiner Seele, und ich bin müde.«

»Gibt es denn keinen Trost?«

Er sah sie an, und ihre Blicke versenkten sich ineinander. Sein harter, befehlsgewohnter Blick wurde ein wenig durch Sanftheit gemildert, aber dennoch war sie gezwungen, die Augen niederzuschlagen.

»Macht Ihr Euch über mich lustig, meine Dame?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Tomas, ich… bin gekommen, um dich zu trösten, wenn du dessen bedarfst.«

Er streckte den Arm aus, ergriff ihre Hand und zog sie mit einer leidenschaftlichen Geste an sich.

Als sie in seinen Armen lag und er spürte, wie die Sehnsucht nach ihr in seinem Körper stärker wurde, hörte sie ihn sagen: »Mein Bedarf ist groß, meine Dame.«

Sie schaute in seine hellen Augen und riß schließlich die letzte Barriere ein, die noch zwischen ihnen bestand. »Wie der meine, mein Herr.«